Kriegsverbrechen.
Raeder ist der Kriegsverbrechen auf hoher See beschuldigt. Die »Athenia«, ein unbewaffnetes englisches Passagierschiff, wurde am 3. September 1939 auf seinem Wege nach Amerika versenkt. Zwei Monate später erhoben die Deutschen die Beschuldigung, daß Mr. Churchill die »Athenia« absichtlich versenkt habe, um die feindselige Haltung Amerikas gegenüber Deutschland zu stärken. Tatsächlich aber wurde sie durch das deutsche U-Boot 30 versenkt.
Raeder behauptet, daß ein unerfahrener U-Boot- Kommandant sie in Verwechslung mit einem bewaffneten Handelskreuzer versenkt habe, daß dies erst einige Wochen nach dem Dementi, als U 30 zurückkehrte, bekannt geworden sei, und daß Hitler dann der Marine und dem Auswärtigen Amte Weisung gegeben habe, bei der Ableugnung zu verharren. Raeder leugnete jegliche Kenntnis eines Propagandafeldzuges gegen Mr. Churchill.
Die schwerste Beschuldigung gegen Raeder ist die Führung des uneingeschränkten Unterseebootkrieges, einschließlich der Versenkung von unbewaffneten Handelsschiffen und von Neutralen, sowie der Nichtbergung und Beschießung von Schiffbrüchigen mit Maschinengewehren unter Verletzung des Londoner Protokolls von 1936.
Der Gerichtshof kommt in Bezug auf Raeder hinsichtlich dieser Beschuldigung für die Zeitspanne bis zum 30. Januar 1943, dem Zeitpunkt, an dem er in den Ruhestand trat, zu der gleichen Entscheidung wie im Falle Dönitz, die bereits verkündet wurde.
Der Kommandobefehl vom 18. Oktober 1942, der sich ausdrücklich nicht auf den Seekrieg bezog, wurde den untergeordneten Marinebefehlshabern durch die Seekriegsleitung mit der Weisung übermittelt, daß er durch die Flottillenführer und Abteilungsbefehlshaber mündlich an ihre Untergebenen weiter zu geben sei. Am 10. Dezember 1942 wurden in Bordeaux 2 Kommandosoldaten durch die Marine, und nicht durch den SD, hingerichtet. Die Erklärung der Seekriegsleitung dafür war, daß dies »im Einklang mit dem Sonderbefehl des Führers geschehen sei, aber daß es trotzdem etwas Neues im Völkerrecht darstelle, da die Soldaten Uniformen trugen«. Raeder gibt zu, daß er den Befehl auf dem Dienstwege weiterleitete und daß er keinen Einspruch bei Hitler erhob.
Schlußfolgerung.
Der Gerichtshof stellt fest, daß Raeder unter Punkt 1, 2 und 3 schuldig ist.
Von Schirach.
Von Schirach ist unter Anklagepunkten 1 und 4 angeklagt. Er trat der Nazi-Partei und der SA im Jahre 1925 bei. Im Jahre 1929 wurde er Führer des Nationalsozialistischen Studentenbundes. Im Jahre 1931 wurde er zum Reichsjugendführer der Nazi-Partei ernannt, mit Kontrolle über alle Nazi-Jugendorganisationen einschließlich der Hitlerjugend. Im Jahre 1933, nachdem die Nazis die Kontrolle über die Regierung erlangt hatten, wurde von Schirach zum Jugendführer des Deutschen Reiches ernannt, eine Stellung, die ursprünglich zum Innenministerium gehörte; aber nach dem 1. Dezember 1936 wurde es eine Stelle im Reichskabinett. Im Jahre 1940 trat von Schirach als Leiter der Hitlerjugend und Reichsjugendführer zurück, behielt aber seine Stellung als Reichsleiter mit der Kontrolle über die Jugenderziehung bei. Im Jahre 1940 wurde er zum Gauleiter von Wien, zum Reichsstatthalter von Wien und Reichsverteidigungskommissar für dieses Gebiet ernannt.
Verbrechen gegen den Frieden.
Nach der Machtübernahme durch die Nazis löste von Schirach mit Hilfe von Gewalt und offiziellem Druck alle mit der Hitlerjugend konkurrierenden Jugendverbände entweder auf oder übernahm sie. Ein Hitler-Erlaß vom 1. Dezember 1936 gliederte die gesamte deutsche Jugendbewegung in die Hitlerjugend ein. Als im Jahre 1940 der Beitrittszwang offiziell eingeführt wurde, waren 97 % der in Frage kommenden Jugendlichen schon Mitglieder.
Von Schirach benutzte die Hitlerjugend, um die deutsche Jugend »im nationalsozialistischen Geiste« zu erziehen und unterwarf sie einem intensiven Nazi- Propagandaprogramm. Er machte aus der Hitlerjugend eine Nachschubquelle für die Nazi-Parteiformationen. Im Oktober 1938 traf er eine Abmachung mit Himmler, derzufolge Mitglieder der Hitlerjugend, die den SS-Anforderungen genügten, als Hauptnachschubquelle für die SS betrachtet werden sollten.
Von Schirach benutzte die Hitlerjugend auch für die vormilitärische Ausbildung. Spezialeinheiten wurden eingerichtet, deren Hauptzweck es war, Fachleute für die verschiedenen Dienstzweige auszubilden. Am 11. August 1939 traf er ein Abkommen mit Keitel, demzufolge die Hitlerjugend sich damit einverstanden erklärte, ihre vormilitärische Betätigung den Anforderungen der Wehrmacht anzugleichen, und die Wehrmacht sich bereit erklärte, jährlich 30000 Hitlerjugend-Instruktoren auszubilden. Die Hitlerjugend legte besonderen Wert auf militärischen Geist, und ihr Ausbildungsprogramm betonte die Wichtigkeit der Wiedergewinnung der Kolonien, die Notwendigkeit, Lebensraum zu gewinnen, und die edle Bestimmung der deutschen Jugend, für Hitler zu sterben.
Trotz der kriegsähnlichen Tätigkeit der Hitlerjugend hat es jedoch nicht den Anschein, als ob von Schirach in die Ausarbeitung des Hitlerschen Planes für territoriale Ausdehnung durch Angriffskriege verwickelt war, oder als ob er an der Planung oder Vorbereitung irgendeines der Angriffskriege beteiligt war.