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[Das Gericht vertagt sich bis

5. Juli 1946, 10.00 Uhr.]

Einhundertzweiundsiebzigster Tag.

Freitag, 5. Juli 1946.

Vormittagssitzung.

VORSITZENDER: Dr. Stahmer!

DR. STAHMER: Ich fahre fort:

Zweitens, hätte es eine Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen gegeben, so wäre doch von Anfang an der Krieg mit aller Rücksichtslosigkeit und Verachtung des Kriegsrechts geführt worden. Das Gegenteil ist geschehen. Gerade in den ersten Kriegsjahren wurde, wie unbestritten ist, das Völkerrecht von beiden Seiten im großen und ganzen eingehalten.

VORSITZENDER: Dr. Stahmer! Der Gerichtshof ist der Meinung, daß Sie in Ihrer Rede schon etwas weitergekommen waren.

DR. STAHMER: Ich war etwas weitergekommen, das ist richtig, aber um wieder in Zusammenhang zu kommen, habe ich bei Ziffer 2 wieder angefangen. Aber wenn es das Gericht wünscht, kann ich dort weiterfahren.

Gerade anfangs war man bemüht, den Kampf mit Anstand und Ritterlichkeit zu führen. Bedarf es dafür eines Beweises, so genügt ein Blick in die Vorschriften, die das OKW für das Verhalten der Truppe in Norwegen, Belgien und Holland herausgegeben hat. Und ferner: Dem Soldaten wurde beim Ausrücken ins Feld in seinem Soldbuch ein Merkblatt »Zehn Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten« mitgegeben. Feldmarschall Milch hat sie hier aus seinem Soldbuch verlesen. Sie alle verpflichteten den Soldaten zu loyalem und völkerrechtsgemäßem Verhalten. Eine Verschwörerbande an der Spitze des Staates, die den Plan hat, einen Krieg ohne Rücksicht auf Recht und Moral zu führen, wird doch wahrhaftig nicht ihre Soldaten mit einem detaillierten schriftlichen Befehl, der das Gegenteil gebietet, in das Feld hinausschicken.

Ich glaube: Wenn die Anklagebehörde meint, diese 22 Männer seien eine Verschwörung, und zwar eine Verschwörung gegen Frieden, Kriegsrecht und Menschlichkeit, so geht sie völlig in die Irre.

Den Verteidigern der einzelnen Angeklagten bleibt es überlassen zu zeigen, in welcher Beziehung jeweils ihr Mandant zu der angeblichen Verschwörung gestanden haben kann.

Soeben ist von mir erwähnt, daß Reichsmarschall Göring der zweite Mann im Staate war; im Verlauf des Prozesses hat sich auch die Anklagebehörde wiederholt auf diese bevorzugte Stellung Görings berufen und hieraus eine besondere Belastung des Angeklagten herzuleiten versucht, unter Hinweis darauf, daß Göring kraft dieser Sonderstellung über alle, auch die geheimsten Vorgänge unterrichtet gewesen sei und die Möglichkeit gehabt habe, in den Ablauf der Regierungsgeschäfte selbständig gestaltend einzugreifen. Diese Auffassung ist verfehlt und beruht auf einer Unkenntnis von der Bedeutung dieser Stellung.

Sie bedeutet: Göring war rangmäßig der zweite Mann im Staat.

Dieser Rang ergab sich daraus, daß Hitler im Herbst 1934 durch Hinterlegung eines Testaments und durch einen geheimen Führererlaß Göring als seinen Nachfolger innerhalb der Regierung eingesetzt hatte. Im Jahre 1935 oder 1936 wurde diese Nachfolge in einem nicht veröffentlichten Reichsgesetz festgelegt, das von sämtlichen Ministern unterzeichnet war.

Am 1. September veröffentlichte Hitler dieses Gesetz im Reichstag; dadurch wurde die Nachfolgeschaft Görings dem deutschen Volk bekanntgegeben.

Eine Stellvertretung des Führers in der Regierung durch Göring erfolgte nur im Falle der Behinderung Hitlers durch Krankheit oder Abwesenheit von Deutschland – so trat sie ein, als Hitler im März 1938 einige Tage in Österreich sich aufhielt.

Während Hitlers Anwesenheit – also solange Hitler sein Amt selbst ausübte – ergaben sich aus der Stellvertretung keinerlei besondere Befugnisse für Göring.

In dieser Zeit war seine Anweisungsbefugnis beschränkt auf die ihm unmittelbar unterstellten Ressorts und war er nicht berechtigt, anderen Ressorts irgendwelche dienstlichen Anweisungen zu geben.

Daraus folgt:

Göring konnte als zweiter Mann im Staate Hitlers Befehle weder aufheben noch abändern oder ergänzen. Er konnte keinerlei Befehle erteilen an Dienststellen, denen er nicht direkt vorgesetzt war. Er hatte nicht die Möglichkeit, einem anderen Ressort, sei es einer Dienststelle der Partei, der Polizei, des Heeres oder der Marine, verbindliche Anweisung zu geben und in die Befehlsgewalt dieser fremden Ressorts einzugreifen.

Diese Stellung als zweiter Mann im Staate kann somit gegen Göring nicht als besonders belastend verwertet werden; sie ist ferner nicht geeignet, als Grundlage für die Annahme einer Verschwörung zu dienen.

Der Angeklagte Göring nahm auch niemals teil an der Ausarbeitung oder Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung, welche die in der Anklage bezeichneten Verbrechen zum Gegenstand hatte. Wie bereits hervorgehoben, hat die Teilnahme an einer solchen Verschwörung in erster Linie zur Voraussetzung, daß ein solcher gemeinsamer Plan überhaupt bestanden hat und daß demnach die Beteiligten die Absicht hatten und darüber einig waren, die ihnen zur Last gelegten Verbrechen zur Durchführung zu bringen. Diese Voraussetzungen sind bei Göring nicht gegeben. Man wird das Gegenteil annehmen müssen. Göring wollte zwar den Vertrag von Versailles beseitigen und Deutschland wieder eine Machtstellung verschaffen. Aber dieses Ziel glaubte er, wenn auch nicht schon mit den Rechtsbehelfen des Völkerbundes, so doch lediglich durch politische Mittel erreichen zu können. Die Aufrüstung sollte nur dazu dienen, der Stimme Deutschlands mehr Gewicht zu geben. Denn Göring führt gleich Hitler die außenpolitische Erfolglosigkeit der Weimarer Regierungen, die ja das von ihnen selbst vertretene Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nach 1918 nicht einmal in der gewiß bescheidenen Form einer deutschösterreichischen Zollunion durchzusetzen wußten, hauptsächlich auf das Fehlen respektgebietender deutscher Machtmittel zurück. Göring hoffte, bestärkt durch die erstaunlichen Anfangserfolge Hitlers, daß eine starke deutsche Wehrmacht schon durch ihr bloßes Dasein die friedliche Durchsetzung der deutschen Ziele ermöglichen würde, solange diese Ziele sich in gemessenen Grenzen hielten. In der Politik kann ein Staat nur ein Wort mitreden und wird nur gehört, wenn er eine starke Wehrmacht hinter sich hat, die den anderen Staaten Achtung einflößt. So hat noch kürzlich der amerikanische Generalstabschef Marschall in seinem zweiten Jahresbericht festgestellt: Die Welt beachtet nicht ernstlich die Wünsche der Schwachen. Schwäche stellt eine zu starke Versuchung der Starken dar.

Für einen Angriffskrieg wurde nicht gerüstet; auch der Vierjahresplan, dessen Zweck und Ziel von dem Angeklagten selbst und dem Zeugen Körner klar herausgestellt ist, sollte nicht einen Angriffskrieg vorbereiten.

Die Generalfeldmarschälle Milch und Kesselring haben übereinstimmend bekundet, daß die bei der Aufrüstung geschaffene Luftwaffe nur eine Verteidigungsluftwaffe war, die sich für einen Angriffskrieg nicht eignete, und die daher von ihnen als Risiko- Luftwaffe bezeichnet wurde. Eine so bescheidene Aufrüstung läßt nicht auf Angriffsabsichten schließen.

Nach allem ist klar:

Göring wollte keinen Krieg.

Seiner Wesensart nach war er ein Gegner des Krieges. Er hat auch nach außen hin bei Gesprächen mit auswärtigen Diplomaten und in seinen öffentlichen Reden seine ablehnende Ansicht über den Krieg bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Über Görings Einstellung zum Krieg gibt am zuverlässigsten die Aussage des Generals Bodenschatz Aufschluß, der ihm aus dem ersten Weltkrieg hier besonders nahestand und der über die Stellung Görings zum Krieg aus häufigen, mit Göring geführten Gesprächen genau unterrichtet ist. Bodenschatz gibt an, Göring habe ihm wiederholt erklärt, er kenne die Schrecken eines Krieges sehr gut aus dem ersten Weltkrieg. Sein Bestreben sei friedliche Lösung aller Konflikte, um die Schrecken des Krieges dem deutschen Volke nach Möglichkeit zu ersparen. Ein Krieg sei immer eine unsichere, riskante Sache. Es sei nicht tragbar, der Generation, die bereits die Schrecken eines großen Weltkrieges und seine bitteren Folgen erlebt habe, einen zweiten Krieg zuzumuten.

Auch Generalfeldmarschall Milch weiß aus Gesprächen mit Göring, daß dieser einem Krieg ablehnend gegenüberstand, daß er schon mit der Rheinlandbesetzung nicht einverstanden war und daß er Hitler vergeblich von einem Krieg gegen Rußland abgeraten hatte.

In der Öffentlichkeit hat der Angeklagte Göring in seinen vielen Reden vom Jahre 1933 ab häufig betont, wie sehr ihm die Erhaltung des Friedens am Herzen liege und daß die Aufrüstung nur vorgenommen sei, um Deutschland nach außen hin stark zu machen und ihm die Möglichkeit zu geben, wieder eine politische Rolle zu spielen.

Am klarsten ist sein ernster und aufrichtiger Wille zum Frieden zu erkennen aus der Rede, die er Anfang Juli 1938 in Karinhall vor den sämtlichen Gauleitern des Deutschen Reiches hielt. In dieser Rede betonte er mit allem Nachdruck, die Außenpolitik Deutschlands müsse so gelenkt werden, daß es unter gar keinen Umständen zu einem Krieg komme. Der jetzigen Generation liege ein verlorener Weltkrieg noch in den Knochen; ein Kriegsbeginn würde einen Schock im deutschen Volk auslösen. Vor dieser Versammlung, die sich ausschließlich aus den höchsten Parteiführern zusammensetzte, hatte Göring nicht die geringste Veranlassung, seine wahre Meinung zu verbergen. Aus diesem Grunde ist diese Rede ein wertvoller und zuverlässiger Beweis für den wahren Friedenswillen Görings.

Wie sehr dem Angeklagten Göring daran lag, das gute Einvernehmen mit England aufrechtzuerhalten, zeigt sein Verhalten bei der Unterredung mit Lord Halifax im November 1937 zu Karinhall, in der Göring dem Lord Halifax mit aller Offenheit die Ziele der deutschen auswärtigen Politik:

a) Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes an Deutschland,

b) Rückkehr von Danzig zu Deutschland unter vernünftiger Lösung der Korridorfrage,

bekanntgibt mit dem Hinweis darauf, daß er dieserhalb keinen Krieg wünsche und England zur friedlichen Lösung beitragen könne.

Das Treffen in München im Herbst 1938 ist auf seine Anregung zustande gekommen. Der Abschluß des Münchener Abkommens ist im wesentlichen auf seinen Einfluß zurückzuführen.

Als infolge der im März 1939 erfolgten Besetzung der Rest-Tschechoslowakei die Beziehungen zu England sich wesentlich verschlechtert hatten – da England über dieses, einen Bruch des Münchener Abkommens darstellende Verhalten Hitlers sehr erzürnt war –, hat Göring ernstliche Bemühungen zur Wiederherstellung normaler Beziehungen aufgenommen.

Zur Erreichung dieses Zieles veranlaßte er das von dem Zeugen Dahlerus geschilderte Zusammentreffen mit englischen Industriellen Anfang August 1939 im Sönke-Nissen-Koog. In einer Ansprache wies er darauf hin, daß es auf keinen Fall zu einem Krieg mit England kommen dürfe. Er bat die Teilnehmer, nach besten Kräften dazu beizutragen, das gute Verhältnis mit England wiederherzustellen. Als nach der hier oft zitierten Ansprache Hitlers an die Oberbefehlshaber der Wehrmacht auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 die Gefahr eines Krieges drohend wurde, rief Göring unverzüglich, und zwar bereits am nächsten Tag, den Zeugen Dahlerus aus Schweden zu sich und versuchte unter Umgehung des Auswärtigen Amtes auf eigene Verantwortung eine Verständigung mit England zur Abwendung des Krieges zu erzielen.

Es ist hier der Einwand erhoben, Göring habe Dahlerus über seine wahren Absichten im unklaren gelassen. Sein Bestreben sei nicht auf die Erhaltung des Friedens, sondern nur darauf gerichtet gewesen, England zu bewegen. Polen den vertraglich zugesicherten Beistand zu versagen und also England von Polen zu trennen, damit Deutschland nach dieser Trennung auf Polen einen Druck ausüben könne, sich den deutschen Forderungen zu fügen oder damit es alsdann Polen angreifen und ohne Risiko seinen Plan Polen gegenüber verwirklichen könne.

Die Zweifel an dem ernstlichen Friedenswillen sind unberechtigt; die ihm unterstellte Absicht hat Göring ferngelegen.

Wenn dieser Einwand begründet wird, daß Göring den Zeugen Dahlerus weder über den Inhalt der Führeransprache vom 23. Mai 1939 noch über die Rede Hitlers vom 22. August 1939 unterrichtet habe, so greift dieser Einwand nicht durch und ist mit ihm nichts gewonnen.

Von diesen streng geheimen Ansprachen konnte Göring unter keinen Umständen einem Dritten – und noch dazu einem Ausländer – Kenntnis geben, ohne sich dem Vorwurf des Hochverrats oder Landesverrats auszusetzen. Diese Ansprachen waren auch für den dem Zeugen erteilten Auftrag ohne Bedeutung, zumal sich hier die eigenartige Situation ergab, daß Göring – nachdem die Bemühungen der Diplomaten auf einem toten Punkt angelangt waren – als Ultima ratio keinen anderen Ausweg mehr wußte, als seine persönlichen Beziehungen, seinen persönlichen Einfluß und seine persönliche Geltung einzusetzen.

Für die Tätigkeit von Dahlerus kam es allein darauf an, daß die außenpolitische Lage, die durch den auch dem Zeugen bekannten Streit zwischen Deutschland und Polen eine bedrohliche Verschärfung erfahren hatte, durch eine entsprechende Haltung Englands wieder in ruhige Bahnen gelenkt wurde.

Daß es Göring nicht darauf ankam, England von Polen zu trennen, ergibt sich aus der Tatsache, daß Göring zunächst dem Englischen Botschafter in Berlin, Henderson, den Wortlaut der Note übermitteln ließ, welche die von Deutschland an Polen gemachten Vorschläge enthielt – Vorschläge übrigens, die von Henderson als maßvoll bezeichnet sind – und daß er dadurch eine direkte Verhandlung mit Polen zu erreichen versuchte. Aber Polen wollte offenbar keine Verständigung mit Deutschland. Darauf weisen verschiedene Umstände hin:

a) Der Streit mit Polen bestand seit fast einem Jahre. Warum verlangte Polen nicht schiedsgerichtliche Lösung auf Grund des abgeschlossenen Schiedsgerichtsvertrags? Warum rief Polen nicht den Völkerbund an? Offenbar wollte Polen keinen Schiedsspruch über Danzig und den Korridor.

Noch klarer spricht gegen den Verständigungswillen Polens die von dem Zeugen Dahlerus bekundete Äußerung des Polnischen Botschafters Lipski gegenüber dem Botschaftsrat Forbes. Lipski meinte, er habe kein Interesse an irgendeiner Note oder einem Vorschlag von Deutschland; er sei überzeugt, daß im Falle eines Krieges in Deutschland alsbald ein Aufstand ausbrechen und die polnische Armee im Triumph nach Berlin marschieren werde.

Diese ablehnende und unverständliche Haltung Polens findet ihre Erklärung offenbar darin, daß es sich durch die Zusicherung Englands allzu stark und sicher fühlte.

Der Hinweis auf den bevorstehenden Aufstand läßt vermuten, daß Polen über die Pläne der Gruppe Canaris, einen Aufstand herbeizuführen, unterrichtet war. Von einem zweideutigen Verhalten oder falschen Spiel Görings kann somit keine Rede sein.

Der ernste Wille Görings, den Frieden zu erhalten und gute Beziehungen mit England wiederherzustellen, wird auch anerkannt von dem Botschafter Henderson, der infolge seiner genauen Kenntnisse der deutschen Verhältnisse und seiner Beziehung zu den führenden Männern Deutschlands ein treffendes Urteil auch über Göring hat. Ich verweise hierzu auf ein Zitat aus dem bekannten Buch »Failure of a Mission«, in dem es auf Seite 83 heißt:

»Ich möchte hier meinem Glauben Ausdruck geben, daß der Feldmarschall, wenn es von ihm abgehangen hätte, nicht um den Preis des Krieges gespielt haben würde, wie Hitler es 1939 tat. Wie später erörtert wird, stand Göring im September 1938 entschieden auf der Seite des Friedens.«

Auch Lord Halifax hatte nach der von ihm erteilten Auskunft keinen Zweifel, daß Görings Bemühungen um die Vermeidung des Krieges aufrichtig waren.

Daß Göring nach dem Ausbruch des Krieges, den er mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln hatte verhindern wollen, aber nicht hatte verhindern können, als Oberbefehlshaber der Luftwaffe alle Kraft daran gesetzt hat, für Deutschland den Sieg zu erringen, steht der Ehrlichkeit seines Willens, den Krieg zu vermeiden, nicht entgegen. Von diesem Zeitpunkt ab kannte er nur seine soldatische Pflicht gegenüber seinem Vaterland.

Hitler hat zu verschiedenen Zeiten an die Oberbefehlshaber der Wehrmacht Ansprachen gehalten, so im November 1937, am 23. Mai 1939 und am 22. August 1939. Über die Bedeutung und den Zweck dieser Ansprachen hat Göring bei seiner persönlichen Vernehmung sich ausführlich geäußert. Für die Frage, ob die Anwesenheit bei diesen Ansprachen sich etwa als Teilnahme an einer Verschwörung im Sinne der Anklage darstellt, ist von Bedeutung, daß bei diesen Gelegenheiten Hitler lediglich einseitig seine Meinung über militärische oder politische Fragen bekanntgab. Die Teilnehmer wurden nur darüber unterrichtet, mit welchen möglichen politischen Entwicklungen Hitler rechne. Um ihre Meinung wurden die Teilnehmer niemals befragt. Ihnen wurde auch nicht die Möglichkeit gegeben, zu der Ansicht Hitlers kritisch Stellung zu nehmen. Hitler verlangte von seinen Generalen nicht, daß sie seine Befehle verstanden, er verlangte aber von ihnen, daß sie seine Befehle befolgten.

Seine autoritäre Staatsführung war ausschließlich ausgerichtet nach dem Grundsatz: »Sic volo sic iubeo, stet pro ratione voluntas«, den er bis zur letzten Konsequenz durchführte.

Wie starr Hitler diesen Grundsatz befolgte, kann man daraus entnehmen, daß er nach dem Vortrag vom 23. Mai 1939, wie Milch in seiner Aussage erwähnt, ausdrücklich jede Besprechung der Teilnehmer auch untereinander verboten hatte.

Daß Hitler zu einem Angriffskrieg fest entschlossen war, konnten die Teilnehmer aus den oben erwähnten Vorträgen nicht entnehmen und haben sie auch nicht entnommen. Das wird von allen Zeugen übereinstimmend bestätigt, die bei diesen Ansprachen Hitlers anwesend waren.

Zu jener Zeit hat Hitler auch tatsächlich einen Krieg noch nicht beabsichtigt. In dieser Richtung ist sehr aufschlußreich die Aussage des Zeugen Milch. Als dieser Zeuge in den auf die Rede vom 23. Mai 1939 folgenden Monaten Hitler in persönlichen Vorträgen wiederholt darauf hinwies, daß die Luftwaffe mit der Bomberflotte nicht aktionsbereit sei, die Luftwaffe auch kaum über irgendwelche Bombenvorräte verfüge, lehnte Hitler die Erteilung eines Befehls zur Herstellung von Bomben ab mit dem Bemerken, daß die Fertigung nicht nötig und überflüssig sei. Bei dieser Ablehnung verblieb Hitler, obwohl Milch darauf aufmerksam machte, daß die Fabrikation mehrere Monate dauern würde. Einen entsprechenden Befehl erließ Hitler erst am 20. Oktober 1939.

Die Ausführungen Hitlers vor den Oberbefehlshabern lassen sich zwanglos aus der Eigenart Hitlers erklären, daß er häufig politische Ideen entwickelte, ohne an ihre konkrete Durchführung zu denken.

Seine praktische Politik ergab sich jeweils aus den Bedürfnissen der lebendigen Entwicklung.

Der Angeklagte wird beschuldigt, die von Deutschland besetzten Gebiete rücksichtslos ausgeplündert und dadurch die Haager Landkriegsordnung verletzt zu haben. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt.

Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte Göring mit durchaus beachtlichen Gründen eingehend dargelegt, daß die Haager Landkriegsordnungen aus den Jahren 1899 und 1907 auf einen modernen Krieg nicht anwendbar sind, da sie bei Beginn des zweiten Weltkrieges in mancher Hinsicht veraltet und unzulänglich waren. Zur Zeit ihrer Entstehung waren der Luftkrieg, der Wirtschaftskrieg und der Propagandakrieg noch unbekannt. Unbekannt war auch der totale Krieg, der das Volk in seiner Gesamtheit und die gesamte Volkswirtschaft restlos dem Krieg dienstbar machte. Vor allem hatte der Wirtschaftskrieg keinerlei Berücksichtigung gefunden. Infolge dieser Lücke gibt es für den Wirtschaftskrieg kein unbestrittenes geltendes Völkerrecht. Daher steht der Wirtschaftskrieg unter dem alten Satz des Hugo Grotius, daß im Kriege alles erlaubt ist, »quod ad finem belli necessarium est«.

Natürlich gilt dieser Grundsatz nur insoweit, als nicht ausdrücklich eine abweichende vertragliche Regelung erfolgt ist.

Zu der geltenden Rechtslage ist zu sagen:

Bis zu dem Beginn des ersten Weltkrieges war im Völkerrecht, jedenfalls soweit es sich um den Landkrieg handelt, unbestritten, daß der Krieg die privatrechtlichen Beziehungen zwischen den Staatsangehörigen der kriegführenden Staaten nicht berührte, daß das Privateigentum grundsätzlich unverletzlich war, daß der Krieg also nur mit den Waffen ausgetragen und die feindliche Zivilbevölkerung nicht davon betroffen würde. Diese Methode der Kriegführung erlitt eine grundlegende Änderung mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, als England im Bereiche des Seekrieges seine Auffassung vom Krieg, von Volk gegen Volk zur Anwendung brachte. Damals gingen die Feindmächte dazu über, unter Außerachtlassung aller feststehenden Regeln des Seekriegsrechtes und des Neutralitätsrechtes die gesamte deutsche Volkskraft durch die Abschneidung der notwendigen Rohstoffe und der Lebensmittelzuführung lahmzulegen. Diese neue Kriegführung entsprach der angelsächsischen Auffassung, der sich Frankreich bei Beginn des ersten Weltkrieges anschloß, daß der Krieg nicht nur gegen die kämpfende Truppe, sondern gegen die gesamte Bevölkerung des Feindes geführt wird. Der Staatsangehörige des feindlichen Staates ist der Feind Englands, sein Eigentum ist feindliches Eigentum, das dem Zugriff der englischen Staatsgewalt unterliegt.

Damit wurde der Seekrieg nicht nur gegen die Streitmacht gerichtet, sondern auch auf die friedlichen Angehörigen des Kriegsgegners ausgedehnt.

Dieses Ziel wurde erreicht durch die von England durchgeführte totale Blockade. Die Haager Abkommen hatten eine Totalblockade in der Form, wie sie hier durchgeführt wurde, nicht vorgesehen. Durch diese Blockade wurde Deutschland jede Versorgung über das neutrale Ausland unmöglich gemacht.

Unter diesen Umständen kann es Deutschland nicht verdacht werden, daß es die von England mit Mitteln der Seekriegführung angewandte Methode auf der Führung eines Krieges zu Lande entsprechend zur Anwendung brachte.

Diese Sachlage führt zu der folgenden Betrachtung:

Die Landkriegsordnung galt ihrem Sinne nach für den Landkrieg. Dort herrschte der Grundsatz des Schutzes des Privateigentums. Im Seekrieg dagegen ist das Privateigentum ungeschützt. Kann nun die Landkriegsordnung mit ihren Beschränkungen auch bei einem kombinierten See-Landkrieg gelten? Wäre es billig, daß dem einen zur See Güter weggenommen werden, während er genau die gleichen Güter des Wegnehmenden auf dem Lande nicht anrühren dürfte?

Nach geltendem Völkerrecht besteht nach wie vor der Grundsatz, daß das Privateigentum im Krieg an sich unverletzlich ist. Dieser Grundsatz wird nur insofern durchbrochen, als die Haager Landkriegsordnung gewisse Eingriffe in das Privateigentum erlaubt- die als Eingriffe auch durch den Notstand, in dem sich ein Staat befindet, veranlaßt sein können – die dann in dem Umfang gerechtfertigt sind, in dem sie im Interesse der Selbsterhaltung des Staates notwendig erscheinen. In diesem Rahmen sind danach im Krieg auch Handlungen gestattet, die mit dem Kriegsrecht sonst nicht in Einklang stünden, also an sich völkerrechtswidrig sind.

Dadurch, daß die feindliche Kriegführung sich über das geltende Seekriegsrecht hinwegsetzte, geriet Deutschland in einen wirtschaftlichen Notstand.

Hätten auch die Feindmächte dieses Seekriegsrecht beachtet, so hätte sich Deutschland auf dem Wege über die Neutralen versorgen können. Die wirtschaftliche Notlage im Krieg wäre demnach nicht eingetreten, wenn die Absperrung Deutschlands nicht mit völkerrechtswidrigen Mitteln durchgeführt worden wäre.

Wenn die Feindmächte aber die geltenden Blockadebestimmungen nicht eingehalten haben, können sie dann von Deutschland Beschränkung auf die Requisitionsbestimmungen der Landkriegsordnung fordern?

Durch das Vorgehen der Feindmächte geriet Deutschland in einen Notstand. Voraussetzung für den völkerrechtlichen Notstand ist nach herrschender Lehre eine gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Staat, die auf andere Weise nicht abwendbar ist und die Lebensinteressen sowie die Unabhängigkeit und Existenz des Staates aufs schwerste bedroht.

Wo also die Lebensinteressen eines Staates in dieser Weise bedroht sind, liegt ein Staatsnotstand vor, der die rechtliche Wirkung hat, daß der Staat nicht rechtswidrig handelt, wenn er eine Völkerrechtsverletzung vornimmt, die zur Abwendung drohender Gefahr erforderlich ist.

Durch das Vorgehen der Feindmächte war die wirtschaftliche Lage Deutschlands im Verlauf des zweiten Weltkrieges in höchstem Maße bedrohlich geworden. Durch die totale Blockade war für Deutschland jede Verbindung mit dem neutralen Ausland vollständig unterbunden; dadurch war eine ausreichende Versorgung mit den für die Kriegführung erforderlichen Rohstoffen und den für die Ernährung der Zivilbevölkerung notwendigen Lebensmitteln unmöglich geworden.

Zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Wirtschaft, die sonst zusammengebrochen wäre, war daher Deutschland gezwungen, die in besetzten, feindlichen Gebieten vorhandenen Vorräte an Rohstoffen und Lebensmitteln und alle für die Fortführung des Krieges notwendigen Gegenstände für sich in Anspruch zu nehmen, wobei auf die Interessen der in den besetzten Gebieten befindlichen Bevölkerung die erforderliche Rücksicht genommen wurde. Dabei wurden durchaus beachtet die in der Präambel zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 aufgestellten Grundsätze, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens. Ein Verzicht auf die Inanspruchnahme von Hilfsquellen in den besetzten Gebieten hätte die Preisgabe der Unabhängigkeit und der Existenz des Staates, hätte bedingungslose Unterwerfung bedeutet. Eine Not, die zur Unterwerfung im Kriege zwingt, ist die höchste und echteste Not im Leben eines Staates.

Durch die Berufung auf den Notstand werden allerdings nur solche Handlungen gedeckt, die zur Behebung der anderweitig nicht abwendbaren Gefahr erforderlich sind. Die Grenzen sind natürlich flüssig, und im Einzelfall mag die Feststellung, ob eine echte Notstandshandlung vorliegt, nicht immer leicht zu treffen sein. Hier wird das Gericht die besonderen Umstände und die zum Teil schwer übersehbaren Verhältnisse der Kriegszeit zugunsten des Angeklagten berücksichtigen müssen.

Daß von dem Angeklagten absichtlich oder fahrlässig diese Grenzen nicht beachtet sind, ist nicht bewiesen.

Ob der Angeklagte für eine etwaige vorsätzlich oder fahrlässig begangene Überschreitung – die ausschließlich von ihm in seiner Eigenschaft als Bevollmächtigter des Führers begangen wäre – persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann oder ob in solchen Fällen nur eine Haftung des Staates gegeben ist, wird zur Nachprüfung des Gerichts gestellt. Diesseits wird jedoch die Ansicht vertreten, daß auch insoweit nur ein völkerrechtliches Delikt vorliegt, das eine persönliche Haftung nicht begründet.

Besonders liegen die Verhältnisse auf dem östlichen Kriegsschauplatz, da in Rußland keine Privatwirtschaft vorhanden war, sondern nur eine straff zentral geregelte Staatswirtschaft. Hier war die Rechtslage im allgemeinen so, daß Eigentum des feindlichen Staates als Kriegsbeute in Anspruch genommen werden konnte. Im übrigen war hier eine besonders sorgfältige Regelung getroffen, die in der sogenannten »Grünen Mappe« ihren Niederschlag gefunden hat. Die in dieser Mappe enthaltenen Vorschriften waren nicht auf Ausplünderung oder Vernichtung der Bevölkerung gerichtet, wie von der Anklagebehörde behauptet ist, sie hatte vielmehr zum Gegenstand die wirtschaftliche Mobilmachung und die Inganghaltung der Wirtschaft, die Erfassung und ordnungsmäßige Verwendung der Vorräte, Verkehrseinrichtungen in den durch Kriegseinfluß zu besetzenden Gebieten, wobei insbesondere berücksichtigt war, daß man bei dem russischen Verhalten mit weitgehenden Zerstörungen rechnen mußte. Die Mappe enthält nirgends einen Befehl und einen Hinweis, der gewisse Bevölkerungsgruppen über die kriegsbedingte Notwendigkeit hinaus belastete. Diese Vorschrift, für die der Angeklagte Göring die volle Verantwortung übernommen hat, gibt demnach zu einer Beanstandung keinen Anlaß.

Bei allem wird man aber das eine nicht unbeachtet lassen dürfen: Es handelt sich um einen Krieg von einer Schwere, einer Ausweitung, einer Dauer und einer Totalität, von der sich die Schöpfer der Haager Landkriegsordnung sicherlich auch nicht im entferntesten eine Vorstellung gemacht haben und haben machen können. Es war ein Krieg, in dem um das Bestehen oder den Untergang von Völkern gerungen wurde. Es war ein Krieg, in dem alle Werte umgewertet wurden.

So hatte der Angeklagte schon das richtige Empfinden, als er sich darauf berief: Im Kampf auf Leben und Tod gibt es schließlich keine Legalität!

Aus dem Gesichtspunkt des Notstandes wird sich auch die Deportation der Arbeiter aus dem besetzten Gebiet nach Deutschland rechtfertigen lassen.

Der Angeklagte hat als Zeuge eingehend dargelegt, aus welchen Gründen er die Maßnahmen für notwendig erachtete. Im übrigen wird der Verteidiger des Angeklagten Sauckel, Herr Dr. Servatius, dieses Gebiet ausführlich behandeln. Ich kann daher von weiteren Ausführungen absehen.

Zu dem Vorwurf der Plünderung von Kunstschätzen hat der Angeklagte eine umfassende Sachdarstellung gegeben; auf sie wird zur Rechtfertigung des Verhaltens verwiesen. Ergänzend wird bemerkt:

Mit der Sicherstellung der Kunstschätze in Polen war er überhaupt nicht unmittelbar befaßt.

Aus diesen Kunstschätzen entnahm er für seine Sammlung nichts. Hier ist demnach der Angeklagte in keiner Weise belastet.

In Frankreich waren auf Befehl des Führers die Kunstgegenstände aus jüdischem Besitz zugunsten des Reiches einstweilen beschlagnahmt, und zwar handelte es sich um herrenlosen Besitz, da die Eigentümer das Land verlassen hatten. Von diesen beschlagnahmten Gegenständen erhielt Göring einen geringen Teil mit ausdrücklicher Genehmigung des Führers, nicht für sich persönlich, sondern für die von ihm zu errichtende Galerie, der er auch die bereits in seinem Besitz befindlichen Kunstgegenstände zu überweisen beabsichtigte.

Diese Gegenstände wollte er zu einem Preis erwerben, den französische Kunstsachverständige abschätzen sollten. Der Erlös sollte den Hinterbliebenen der französischen Kriegsopfer ausgeliefert werden.

Die Rechtslage war demnach folgende:

Die Gegenstände waren durch den Erlaß des Führers zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt. Durch die Beschlagnahme hatten die früheren Eigentümer ihr Eigentumsrecht verloren, dieses Recht war auf das Reich übergegangen. Die ihm überlassenen Gegenstände erwarb Göring von dem Reich als dem gegenwärtigen Eigentümer der Gegenstände.

Das Reich sah darin offenbar einen durch den Ablauf der Ereignisse allerdings widerlegten Vorgriff auf den nach Beendigung des Krieges abzuschließenden Friedensvertrag, bei dem die endgültige Verrechnung stattfinden sollte.

Es liegt hier ähnlich wie bei den Beschlagnahmen und Enteignungen, welche heute in Deutschland im Vorgriff auf den späteren Friedensvertrag durchgeführt werden.

Ob das Reich zur Beschlagnahme rechtlich befugt war und an diesen Gegenständen das Eigentum erwarb, kann dahingestellt bleiben.

Einer Lösung dieser Frage bedarf es nicht, weil Göring bei dem Erwerb jedenfalls gutgläubig war; er hob bei seiner Aussage ausdrücklich hervor, er habe geglaubt, zum Erwerb berechtigt zu sein, weil diese Gegenstände durch Führererlaß beschlagnahmt waren.

Von einer Plünderung kann bei dieser Sachlage nicht gesprochen werden.

Völlig unbedenklich sind jedenfalls die im normalen Geschäftsverkehr zustande gekommenen Ankäufe von Gegenständen, die dem Angeklagten freiwillig angeboten und ihm von den Verkäufern nur allzugern überlassen wurden, weil sie einen guten Kaufpreis erhielten.

In gleicher Weise verhält es sich mit den Gegenständen, die der Angeklagte durch einen freiwilligen Tausch erworben hat, bei dem der Vertragsgegner als völlig gleichberechtigter Partner auftrat.

Ich will nunmehr behandeln die Beschuldigung der Erschießung von 50 aus dem Gefangenenlager Sagan entflohenen englischen Fliegeroffizieren.

In der Anklageschrift ist hierzu vorgetragen: »Im März 1944 wurden 50 RAF-Offiziere, die aus Stalag- Luft III in Sagan entflohen waren, nach der Wiedergefangennahme ermordet.« Nach dem späteren Vorbringen der Anklage handelt es sich hierbei um folgenden Vorgang:

In der Nacht vom 24. zum 25. März 1944 sind aus dem Gefangenenlager Stalag-Luft III in Sagan 76 RAF-Offiziere durch die Flucht entkommen. 50 Offiziere sind nach ihrer Wiederergreifung durch den SD erschossen worden.

Zu untersuchen ist: Wer befahl diese Erschießung? War der Reichsmarschall Göring an diesem Vorgang irgendwie beteiligt? Wirkte er insbesondere mit bei dem Erlaß des Befehls zur Erschießung dieser 50 Flieger? Billigte er diese Maßnahme, obwohl sie einen gröblichen Verstoß gegen Artikel 50 des Genfer Abkommens über Behandlung der Kriegsgefangenen enthielt?

Die Anklage behauptet, Göring habe bei diesem Befehl mitgewirkt. Sie berief sich unter anderem auf die in der englischen Gefangenschaft gefertigten Berichte des Generalmajors Westhoff und des Kriminalrats Wielen. Die Vernehmung dieser Zeugen vor dem Gerichtshof, sowie die weitere vor diesem Gerichtshof mit größter Sorgfalt durchgeführte Beweiserhebung ergab indessen, daß die früheren Angaben von Westhoff und Wielen ungenau waren und bezüglich der Anwesenheit Görings bei der Lagebesprechung und seiner Kenntnis von dem Befehl zur Erschießung auf Vermutungen beruhten, die darauf gegründet waren, daß es sich um ein Luftwaffengefangenenlager handelte. Die Beweisaufnahme hatte folgendes Ergebnis:

Bei der Lagebesprechung vom 25. März 1944 meldete Himmler dem Führer die Flucht der 76 Offiziere. Hitler machte deswegen dem Generalfeldmarschall Keitel schwere Vorwürfe; er sah in diesem Vorgang eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, weil die geflohenen Offiziere die in Deutschland befindlichen sechs Millionen Ausländer bei der Organisation eines bewaffneten Aufstandes unterstützen könnten. Hitler erteilte dann den Befehl: Die Gefangenen bleiben bei Himmler!

Eine Übergabe der bereits von der Wehrmacht wieder ergriffenen und in das Lager zurückgebrachten 15 Offiziere an Himmler lehnte Keitel ausdrücklich ab; diesen Offizieren ist kein Leid geschehen.

Daß die Gefangenen, die bei Himmler verbleiben sollten, zu erschießen seien, ist von Hitler bei dieser Lagebesprechung in Gegenwart von Keitel nicht befohlen worden. Solche Maßnahmen haben auch weder Keitel noch Jodl erwartet. Jodl nahm an, daß die geflohenen Gefangenen für einige Zeit in ein Konzentrationslager geschafft werden sollten.

Bei dieser Besprechung war Göring – wie Keitel und Jodl übereinstimmend als Zeugen bekundet haben – nicht anwesend. Es kann daher unmöglich richtig sein, daß Generalfeldmarschall Keitel bei der Besprechung mit General Westhoff erklärt hat, Reichsmarschall Göring habe ihm bei der Lagebesprechung wegen des Entweichens der Gefangenen Vorwürfe gemacht.

General Koller hat als Zeuge angegeben, daß General Korten ihm bei einem Ferngespräch etwa Ende März, Anfang April 1944 versichert habe, die Luftwaffe, nämlich der Reichsmarschall und er selbst, Korten, seien an dem Befehl nicht beteiligt gewesen und hätten erst nachträglich von diesem Kenntnis erhalten. Ferner bestätigt Koller, daß der Reichsmarschall über die Erschießung sehr aufgebracht war.

Diese Angaben stehen durchaus im Einklang mit der Darstellung Görings, der zur Zeit der Lagebesprechung bei Hitler sich in Urlaub befand. Ihm ist nur die Tatsache der Flucht durch seinen Adjutanten fernmündlich gemeldet. Erst nach seiner Rückkehr vom Urlaub um Ostern 1944 erfuhr er durch seinen Generalstabschef Korten von der Tatsache, daß Erschießungen von Gefangenen erfolgt seien. Über diese letztere Meldung war Reichsmarschall Göring sehr erregt, weil er die Tat als solche verurteilte und überdies Repressalien hinsichtlich seiner eigenen Flieger befürchtete.

Auf Anfrage bestätigte Himmler dann dem Reichsmarschall Göring die Erschießung mit der Begründung, daß ihm ein entsprechender Befehl von Hitler erteilt sei.

Durch diese Unterredung ist klargestellt, wie die Erschießung möglich war und die Ausführung der Wehrmacht verborgen bleiben konnte. Hitler erteilte in Abwesenheit von Keitel und Jodl den Befehl zur Erschießung an Himmler, der dann ohne Wissen der Wehrmacht den Befehl an das Reichssicherheitshauptamt, und zwar nach der Aussage von Kaltenbrunner an Müller beziehungsweise Nebe unmittelbar weiterleitete.

Reichsmarschall Göring machte wegen dieses Vorgehens nicht nur Himmler schwere Vorwürfe – weil dieser den Befehl ausgeführt habe, ohne Göring zu verständigen –, sondern erhob auch bei einer späteren Unterredung mit Hitler schärfsten Protest gegen die Maßnahme. Es kam aus diesem Anlaß zwischen Göring und Hitler zu einer heftigen Auseinandersetzung.

Weil Göring diese Vorkommnisse schärfstens verurteilte, bat er kurze Zeit später um Abnahme der Gefangenenlager durch das OKW. Auf Befragen hat Generalfeldmarschall Keitel als Zeuge bestätigt, daß er einige Wochen nach dem Vorfall ein Schreiben vom Generalquartiermeister der Luftwaffe erhielt, in welchem die Luftwaffe um die Übernahme ihrer Lager durch das OKW ersuchte. Dieses Ergebnis der Beweisaufnahme, durch das die in manchen Punkten abweichende erste Aussage der Zeugen Westhoff und Wielen, sowie eine frühere Erklärung Keitels vom 10. November 1945 richtiggestellt sind, rechtfertigt die Feststellung, daß Reichsmarschall Göring an diesem Vorgang in keiner Weise beteiligt war, daß er ihn nach Kenntnis schärfstens verurteilte und daß er demnach für diesen in höchstem Maße bedauerlichen Befehl, den zu verhindern außerhalb seiner Macht lag, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.

Die Anklage hat sich weiterhin mit der Lynchjustiz befaßt, die im Jahre 1944 in einzelnen Fällen von der deutschen Bevölkerung an abgeschossenen feindlichen Fliegern ausgeübt wurde. Für diese Vorgänge werden die Angeklagten, insbesondere auch der Reichsmarschall Göring, verantwortlich gemacht. Der Vorwurf, daß der Angeklagte Göring oder die Wehrmacht an diesem Vorgehen irgendwie beteiligt sind, daß sie entweder entsprechende Befehle oder Anweisungen veranlaßten oder das Vorgehen auch nur gebilligt hätten, erweist sich als völlig unhaltbar. Hier ist durch die Beweisaufnahme eine restlose Aufklärung zugunsten des Angeklagten Göring erfolgt.

Zur Stützung ihrer Vorwürfe gegen Göring beruft sich die Anklage in erster Linie auf ein Protokoll vom 19. Mai 1944 (Dokument L-166) über die sogenannte Jäger-Besprechung, die am 15. und 16. Mai 1944 unter Leitung des Angeklagten stand. Unter Ziffer 20 dieser Niederschrift ist verzeichnet ein Ausspruch des Angeklagten, er werde dem Führer vorschlagen, daß feindliche Terrorflieger sofort am Ort der Tat erschossen werden. Mit aller Entschiedenheit bestreitet der Angeklagte, sich in diesem Sinne geäußert zu haben und weist mit Recht auf folgende Umstände hin, die einer solchen Erklärung entgegenstehen: Die Sitzung erstreckte sich über zwei Tage. Zahlreiche technische und organisatorische Fragen wurden besprochen. Die in Ziffer 20 berührte Frage hatte mit dem übrigen Verhandlungsgegenstand nicht das geringste zu tun und fiel vor allem aus dem Rahmen des Zweckes der Verhandlung heraus. Die Bemerkung hat ihren Platz inmitten von Themen, die sich mit völlig anders gearteten Dingen befassen und ist in diesem Zusammenhang nicht verständlich. Einen solchen Befehl hätte Göring außerdem, wenn er ihn gebilligt und gewollt hätte, bei der ihm bekannten Einstellung des Führers ohne weiteres unmittelbar selbst erteilen können.

Entscheidend ist aber, daß die Erklärung in schärfstem Widerspruch zu der Grundeinstellung des Angeklagten stand. Er hat immer die Ansicht vertreten, daß der abgeschossene feindliche Flieger sein Kamerad sei und als Kamerad behandelt werden müsse, worauf auch in anderem Zusammenhang von mir hingewiesen ist. Er hat auch in der Frage, wie die Terrorflieger zu behandeln seien, sich mit aller Offenheit gegen die von Hitler vertretene Auffassung gewehrt und Hitler gegenüber von seiner völlig anderen Einstellung kein Hehl gemacht.

Bei dieser ständig gleichgebliebenen Einstellung und seinem konsequenten Verhalten ist es völlig ausgeschlossen, daß er nun plötzlich Hitler empfohlen haben soll, den oben erwähnten Befehl gegen die Terrorflieger zu erlassen, einen Befehl, den er mit aller Energie bekämpft und dessen Durchführung er mit allen Mitteln zu verhindern suchte, sobald er zu seiner Kenntnis gelangte. Es gelang ihm auch, dessen Durchführung zu verhindern.

Sollte über die Terrorflieger in der Sitzung hier tatsächlich gesprochen worden sein, so kann diese Ansprache nur in dem Sinne gefallen sein, daß der Führer eine solche Maßnahme vorgeschlagen habe.

Zu dem Protokoll ist aber grundsätzlich noch folgendes zu bemerken:

Es handelt sich um die zusammengefaßte Aufzeichnung eines jungen Offiziers über eine zweitägige Verhandlung, bei der sehr viel gesprochen und durcheinandergeredet worden ist. Die Erfahrung, die in vielen anderen Fällen gemacht wurde, hat gelehrt, daß solche Niederschriften häufig sehr unzuverlässig sind, zuweilen auch völlig verkehrt den Inhalt der Verhandlung wiedergegeben haben, weil eben der Verfasser der Niederschrift, zumal wenn mehrere Teilnehmer anwesend waren und diese noch durcheinanderredeten, dem Gang der Verhandlung nicht folgen konnte, ihren Inhalt daher nicht richtig wiedergab und ihm außerdem noch Personenverwechselungen unterliefen. Daraus erklären sich viele sachliche Irrtümer, sowie die Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit solcher Protokolle.

Das Protokoll ist dem Angeklagten nie vorgelegt, er hat es also auf seinen Inhalt nicht nachprüfen und die Irrtümer nicht richtigstellen können.

Derartige Niederschriften, die in der eben geschilderten Form zustande kommen und den Beteiligten nicht zur Durchsicht und Genehmigung vorgelegen haben, sind für die Beweisführung wertlos. Für sich allein können sie nicht als ein ausreichendes Beweismittel zur Belastung oder gar Überführung des Angeklagten dienen. Sie können daher nur dann zuungunsten der Beteiligten verwertet werden, wenn die bestrittenen Tatsachen durch andere Beweismittel außerhalb dieses Protokolls bestätigt werden. Hier ist nun in anderer Weise nicht bestätigt, daß Göring die in Ziffer 20 enthaltene Äußerung tatsächlich getan hat und in dieser Richtung bei Hitler vorstellig geworden ist.

Die Notiz vom 21. Mai (Dokument 731-PS), die dem Angeklagten ebenfalls vorgehalten ist, vermag die Behauptung nicht zu unterstützen. Der Vermerk: »General Korten teilt nach Vortrag des Reichsmarschall mit«, hat nach der unwiderlegten Darstellung des Angeklagten nicht etwa die Bedeutung, daß der Reichsmarschall bei Hitler über die Frage Vortrag gehalten hat, sondern lediglich den Sinn, daß Korten einen entsprechenden Vortrag bei dem Reichsmarschall gehalten und Korten den Reichsmarschall von dem Befehl des Führers in Kenntnis gesetzt hat.

Die übrige Beweisaufnahme hat klargestellt, daß Göring sich einer besonderen Behandlung der abgeschossenen feindlichen Terrorflieger und dem Befehl Hitlers widersetzt hat.

Der Zeuge Oberst Bernd von Brauchitsch hat bei seiner Vernehmung am 12. März 1946 darauf hingewiesen, daß im Frühjahr 1944 die Verluste der Zivilbevölkerung durch Bordwaffenangriffe feindlicher Flieger plötzlich angestiegen sind.

Diese Angriffe feindlicher Flieger richteten sich im Innern des Heimatgebietes gegen auf den Feldern arbeitende Zivilisten, gegen Nebenbahnen ohne jede militärische Bedeutung, gegen Fußgänger und Radfahrer.

Hier lag eine grobe Verletzung der Haager Landkriegsordnung vor, nach der jede Kampfhandlung gegen die friedliche Bevölkerung des Landes, jeder Angriff oder jede Beschießung unverteidigter Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude verboten ist.

Dieses offensichtlich völkerrechtswidrige Verhalten hatte nach Ansicht des Zeugen von Brauchitsch Hitler Veranlassung gegeben, neben Abwehrbefehlen auch Befehle zu Maßnahmen gegen diese Flieger selbst vorzusehen. Hitler vertrat hierbei – soweit dem Zeugen bekannt – die schärfsten Maßnahmen; der Lynchjustiz sollte freier Lauf gelassen werden.

Diese Stellungnahme Hitlers zu den Völkerrechtsverletzungen der feindlichen Flieger fand indessen nicht die Billigung der Wehrmacht, insbesondere nicht des Reichsmarschalls Göring und seines Generalstabschefs, des Generals Korten. Beide verurteilten zwar die ausschließlich gegen die wehrlose Zivilbevölkerung gerichteten Angriffe aufs schärfste. Sie verwarfen aber trotzdem die schutzlose Preisgabe der abgeschossenen Flieger an die empörte Volksmenge zur Vornahme der Lynchjustiz und sahen in diesen Maßnahmen kein geeignetes Mittel zur Bekämpfung dieses völkerrechtswidrigen Verhaltens.

Im gleichen Sinne äußerte sich der Zeuge General Koller. Dieser Zeuge hat anfangs Juni 1944 General Korten darüber unterrichtet, daß der Führer die Absicht habe, einen Befehl dahin zu erlassen, daß Terrorflieger der Volkswut preisgegeben werden sollten.

In wiederholten Besprechungen sind der Zeuge Koller und General Korten übereinstimmend zu der Ansicht gelangt, daß die Auffassung des Führers abzulehnen sei. Sie haben wohl die direkten Angriffe der feindlichen Tiefflieger gegen einzelne Zivilpersonen, Frauen und Kinder, Ansammlung von Zivilpersonen, spazierengehende Schulklassen und Kindergärten, Bauern bei der Feldarbeit, sowie die Angriffe gegen Personenzüge des öffentlichen Verkehrs und Lazarette für grausam gehalten; beide sehen aber auch in dem beabsichtigten Führerbefehl keinen gangbaren Weg und keine Lösung des schwierigen Problems. Sie waren der Ansicht, daß ein solcher Befehl in Widerspruch stand zur soldatischen Grundauffassung, zu den Kriegsartikeln und zu dem Völkerrecht, und daß er Veranlassung zu zahlreichen Mißständen geben würde, durch die auch andere feindliche wie eigene Besatzungen zu Schaden kommen müßten. Endlich konnte ein solcher Befehl auch in seinen Auswirkungen auf die Moral eigener Besatzungen schädlich wirken.

Alle diese Gründe geben der Wehrmacht Veranlassung, das Verlangen Hitlers abzulehnen, und das Bestreben der Wehrmacht war nun dahin gerichtet, die nicht gebilligte Auffassung Hitlers zu verhindern. Der Zeuge von Brauchitsch gibt daher glaubwürdig an, daß nunmehr von der Wehrmacht nach einem Ausweg gesucht wurde, der darin gesehen wurde, daß nach oben hin Maßnahmen vorgetäuscht wurden, die nicht zur Ausführung gelangten.

Der Zeuge Brauchitsch erhielt den Auftrag von Reichsmarschall Göring mit dem OKW über die Festlegung des Begriffes der Terrorflieger zu sprechen. In den anschließenden Besprechungen und im Schriftverkehr wurden die Fälle erörtert, die völkerrechtswidrige Verstöße darstellten und als verbrecherische Handlungen anzusehen waren. Durch diese Feststellung sollte eine Lynchjustiz verhindert werden. Der sich über einen längeren Zeitraum hinziehende Schriftwechsel zeigt die Tendenz der Dienststelle, die Angelegenheit möglichst in die Länge zu ziehen.

Mit Recht hebt Zeuge Koller hervor, daß dieser Schrittwechsel alle Merkmale eines »Gefechts auf Zeitgewinn« aufweist, das heißt die Beteiligten wollten entweder keine Entscheidung, oder eine solche so lange wie irgend möglich verschieben.

Insbesondere läßt die Randnotiz auf dem Dokument D-785, GB-318: »vom OBL keine Antwort zu erhalten«, den Schluß zu, daß der Reichsmarschall die Sache absichtlich in die Länge ziehen wollte. Überdies hatte Reichsmarschall Göring, wie aus dem Schreiben vom 19. Juni 1944 klar hervorgeht, sich auf den Standpunkt gestellt, daß er in jedem Falle auch gegen die Terrorflieger ein gerichtliches Verfahren für unbedingt erforderlich halte. Wenn es in einer späteren Urkunde vom 26. Juni 1944 heißt: »Reichsmarschall ist mit der mitgeteilten Formulierung über Begriff der Terrorflieger und mit dem vorgeschlagenen Verfahren einverstanden«, so bezieht sich dies Einverständnis mit dem Verfahren ausschließlich auf das im Schlußabsatz des Schreibens vom 15. Juni 1944 vorgeschlagene Verfahren der Veröffentlichung, um dessen Zustimmung Reichsmarschall Göring gebeten war. Daß der Reichsmarschall bis zum Schluß des Krieges den alten Fliegerstandpunkt eingenommen hat, nach dem die feindlichen Flieger nach ihrem Abschuß als Kameraden zu betrachten und zu behandeln sind, wird nicht nur von dem Zeugen Generalfeldmarschall Milch ausdrücklich bekundet, sondern wird auch von dem General Koller mit folgenden Worten hervorgehoben:

»Unbeschadet gelegentlicher Mißfallensäußerungen blieb die Haltung des Reichsmarschalls stets korrekt und ritterlich, entsprechend seiner aus dem ersten Weltkriege herübergebrachten und oft betonten fliegerischen Tradition. Im verständlichen Ärger über größte Schwie rigkeiten in der Luftverteidigung, bedrängt vom Führer, vielleicht einmal gebrauchte harte Worte, wurden schnell vergessen«, und der Zeuge weiß keinen Fall, »daß solch spontaner Mißmut sich beim Reichsmarschall zu unkorrekten oder harten Maßnahmen gegen Angehörige der feindlichen Luftwaffe richtete.«

Auch die Haltung der gesamten Luftwaffe war stets korrekt und menschlich. Ritterlich zu kämpfen war Ehrensache der deutschen Flieger. Bei dieser Auffassung blieben die Luftwaffe und auch der Angeklagte Göring, obwohl von der fliegenden Truppe die Angriffe des Gegners mit Bordwaffen gegen die deutschen am Fallschirm hängenden Besatzungen, wie Koller ausdrücklich erwähnt, äußerst bitter empfunden wurden und von einzelnen Heißspornen den gleichen Maßnahmen als Vergeltung das Wort geredet wurde.

Das beste Zeugnis für die vorbildliche kameradschaftliche Einstellung der Luftwaffe auch einem Feinde gegenüber, der die Regeln des Kriegsrechtes nicht beachtete, ergibt sich klar aus der Schilderung des Zeugen Koller über den Einsatz des Seenotdienstes der Luftwaffe, der in gleicher Weise den Deutschen wie den Gegnern Hilfe brachte und sich auch durch die völkerrechtswidrigen Angriffe seitens der Gegner in seinem Bestreben, Freund und Feind in Not Hilfe zu leisten, nicht abhalten ließ. Danach ist festzustellen:

Die Wehrmacht und der Angeklagte Göring haben die Lynchjustiz, sowie jedes mit den gesetzlichen Bestimmungen nicht im Einklang stehendes Vorgehen gegen die Terrorflieger abgelehnt und keinerlei Befehle an die ihm unterstellten Truppen erteilt; auch sind durch die Luftwaffe oder das Heer feindliche Flieger in keinem Falle erschossen oder dem SD übergeben worden.

Die Anklage wirft dem Angeklagten Göring weiter vor, er habe sofort nach dem 30. Januar 1933 in der Stellung als preußischer Innenminister und alsbald darauf als preußischer Ministerpräsident eine Terrorherrschaft in Preußen zum Zwecke der Unterdrückung aller Opposition gegen das Nazi-Programm geschaffen. Zur Durchführung seines Planes habe er sich der preußischen Polizei bedient, der er bereits im Februar 1933 zum Schutze der neuen Regierung rücksichtsloses Vorgehen gegen alle politischen Gegner ohne Rücksicht auf die Folgen befohlen habe.

Zur Sicherung der Macht habe er die gefürchtete Geheime Staatspolizei aufgebaut und bereits im Frühjahr 1933 Konzentrationslager errichtet.

Zu diesen Vorwürfen ist folgendes zu sagen:

Es war selbstverständlich und kann dem Angeklagten nicht zur Last gelegt werden, hätte vielmehr eine schwere Verletzung der dem Angeklagten übertragenen Pflichten bedeutet, wenn er nicht mit ganzer Kraft sich für die Sicherung der neuen Regierung eingesetzt und jede nur denkbare Vorsorge getroffen hätte, um jeglichen Angriff auf diese neue Regierung von vornherein unmöglich zu machen. Für die Erreichung dieses Zieles kamen in erster Linie die polizeilichen Einrichtungen in Frage.

Zu prüfen bleibt lediglich, ob die Mittel, deren Anwendung der Angeklagte für nötig hielt, zu beanstanden sind.

Die Frage ist aus folgenden Erwägungen zu verneinen:

Die Polizei ist in jedem Staat das innenpolitische Machtinstrument; sie hat in jedem Staate die Aufgabe, die Regierung zu unterstützen, sie nach allen Richtungen zu Schützen und den Friedensstörer und Rechtsbrecher erforderlichenfalls mit Waffengewalt unschädlich zu machen. Die gleichen Aufgaben hatte der Angeklagte der unter seiner Leitung stehenden Polizei übertragen, die er in der von der Anklage erwähnten Rede aufforderte, energisch durchzugreifen und gewissenhaft ihre Pflicht zu erfüllen. Inwiefern eine solche Aufforderung zur Pflichterfüllung unerlaubt sein soll, bleibt unverständlich.

Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte Göring ausführlich geschildert, aus welchem Grunde und nach welchen Richtlinien er eine Neuordnung der Polizei vorzunehmen für erforderlich hielt und vornahm. Diese Richtlinien sind in keiner Weise zu beanstanden.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach den geltenden völkerrechtlichen Grundsätzen ein souveräner Staat seine innerpolitischen Verhältnisse nach seinem Gutdünken zu ordnen befugt ist. Bezüglich der Neuorganisation der Polizei handelte es sich aber ausschließlich um eine innerstaatliche Angelegenheit. Es kann keine Rede davon sein, daß hierbei allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts verletzt worden sind.

Eine politische Polizei hat auch vor der Machtergreifung in Preußen bestanden. Es war vor dem 30. Januar 1933 die Polizeiabteilung Ia, zu deren Aufgabenbereich die Überwachung und Bekämpfung der politischen Gegner, damals insbesondere der Nationalsozialisten und der Kommunisten, gehörte. Eine solche Polizei mit dem gleichen Aufgabenkreis war auch nach der Machtergreifung noch nötig, um den neuen Staat gegen Angriffe zu sichern, die besonders von seiten der sehr starken Kommunistischen Partei befürchtet wurden. Zur Klarstellung, daß sich dieses Dezernat der Polizei ausschließlich mit der Sicherung des Staates gegen Staatsfeinde zu befassen hatte, erhielt sie den Namen Geheime Staatspolizei. Solange der Angeklagte Göring die Leitung der Polizei hatte – das war de facto nur bis 1934 der Fall, da von diesem Zeitpunkte ab Himmler die Leitung übertragen wurde –, hat sie sich streng in dem Rahmen der vorgezeichneten Aufgaben gehalten, ihre Befugnisse nicht überschritten und sind nennenswerte Übergriffe nicht vorgekommen. Die Beweiserhebung hat für diese Zeit auch nichts den Angeklagten Göring besonders Belastendes ergeben. Wenn in späterer Zeit die Geheime Staatspolizei die ihr zustehenden Befugnisse überschritten und ungesetzliche Handlungen begangen haben sollte, hat der Angeklagte von solchem Verhalten keine Kenntnis gehabt und es nicht gebilligt. Für etwaige ihm unbekannt gebliebene Fehler und Vergehen seiner Nachfolger kann er nicht verantwortlich gemacht werden.

Nun ist hier ein Zeuge aufgetreten, der den Angeklagten schwer belastete: der Zeuge Dr. Gisevius.

Der Angeklagte lehnt es ab, sich mit diesem Zeugen und dessen Aussage zu befassen. Er will nur darauf hinweisen, daß die Aussage in allen ihren belastenden Punkten unwahr ist. Die Beweiskraft der Aussage wird abhängen von der Bewertung der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen. Mein Kollege Dr. Nelte hat es übernommen, diese Frage ausführlich zu behandeln, so daß ich zur Vermeidung von Wiederholungen davon Abstand nehmen kann, hierzu weitere Ausführungen zu machen.

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Partei stieß natürlich auf Widerstand, und vor allem die linksgerichteten Parteien waren mit der durch diese Machtübernahme geschaffenen Lage nicht einverstanden. Die Gegner waren keineswegs schwach, weder zahlenmäßig noch nach den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Aus diesem Grunde befürchteten die neuen Machthaber ernste Gefahren für den Bestand ihrer Macht, sofern diese ihnen feindlichen Parteien ungestört ihre Tätigkeit weiter fortsetzen konnten. Sie mußten sich daher rechtzeitig und vorbeugend gegen diese Gefahren sichern. Um ihre eigene Macht zu stabilisieren und jeden Unruheherd von vorneherein im Keime zu ersticken, hielt der Angeklagte Göring es aus Gründen der Staatsräson für nötig, schlagartig die kommunistischen Führer und Funktionäre der Partei und der ihnen angeschlossenen Verbände festzusetzen. Die Gründe für ein solches Vorgehen hat der Angeklagte selbst ausführlich dargelegt. Zur Beseitigung der Gefahr und zur Sicherung des Staates war die von dem Angeklagten ergriffene Maßnahme eine durch die Unruhe der Zeit bedingte Staatsnotwendigkeit. Weil es sich um eine vorbeugende Maßnahme handelte, war es nicht Voraussetzung für eine vorläufige Festnahme, daß bereits eine staatsfeindliche strafbare Handlung vorlag oder nachweisbar vorbereitet wurde. Es genügte – da es sich eben um einen politischen Akt der Staatsnotwehr handelte – zur Festnahme die Zugehörigkeit zu der vorbezeichneten Gruppe und eine bisher aktive Betätigung in derselben.

Diese Erwägungen führten sehr bald nach der Machtergreifung zu der Errichtung der Konzentrationslager, deren Zahl zu der Zeit, in der der Angeklagte Göring die Leitung der Polizei hatte, zwei betrug.

In diesen Lagern sollten politisch unzuverlässige, die Sicherheit des neuen Staates gefährdende Personen einstweilen untergebracht werden, bis sie sich entweder den neuen politischen Verhältnissen angepaßt hatten oder die Macht des Staates so gefestigt war, daß sie dem neuen Staat nicht mehr gefährlich werden konnten.

Ihre rechtliche Stütze fand diese Einrichtung in der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933. Diese Verordnung wurde von dem Reichspräsidenten von Hindenburg auf Grund des Art. 48 Abs. 2 der Reichsverfassung zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte erlassen; sie ist also verfassungsmäßig einwandfrei zustande gekommen. Durch diese Verordnung wurden bestimmte Grundrechte der Verfassung bis auf weiteres außer Kraft gesetzt und unter anderem Beschränkungen der persönlichen Freiheit für zulässig erklärt.

Die Errichtung und Anwendung der Konzentrationslager beruhte nach der damaligen Auffassung des Angeklagten auf der revolutionären Oberzeugung der siegreichen Bewegung, daß nur in ihr sich die geschichtliche Wahrheit enthülle; daß nur sie den rechten Weg verkörpere; daß damit alles unrecht sei, was sich ihr entgegenstelle. Es gab ja kein Diskutieren um die richtige politische Anschauung auf Grund logischer Argumente wie im weltanschaulich neutralen Liberalismus, sondern es gab nur die totale Durchsetzung einer im Glauben erfaßten Volksordnung als der geschichtlich notwendigen Wahrheit.

Wer also von der Bewegung nicht erfaßt war, sich ihr vielmehr hemmend entgegenstellte, war als Feind der wahren Ordnung auszuschalten. Er konnte bei diesen Voraussetzungen nicht im herkömmlichen Justizverfahren wegen Verstoßes gegen einzelne Ordnungsvorschriften bestraft werden, sondern er stellte sich nach Ansicht der nationalsozialistischen Regierung außerhalb der neugefundenen Volksgemeinschaft, außerhalb aller Grundlagen, auf denen die Rechtsordnung selbst erst erwächst. Er mußte daher ausgeschaltet werden. Es handelte sich also nicht um eine Strafmaßnahme, sondern um einen politischen Säuberungsakt getragen von weltanschaulicher Intoleranz. Darum auch versagte man dem von solcher Maßnahme Betroffenen die Nachprüfung der polizeilichen Akte durch das Gericht oder ein Verwaltungsverfahren. Wer sich außerhalb der Volksgemeinschaft stellte, hatte keinen Anspruch auf die Rechtsgarantien, die die Volksordnung dem Volksgenossen gewährte. Volksgenosse war aber nur, wer sich zur derartigen Volksgemeinschaft bekannte. Für die Behandlung der Volksfeinde galten neben den Rechtsprinzipien die Gesichtspunkte der Staatsräson.

Gerade, weil es sich um eine Handlung politischer Zweckmäßigkeit handelte, konnte der Angeklagte Göring in einzelnen Fällen auf eigene Verantwortung entscheiden, daß eine Notwendigkeit zu weiterer Haft nicht bestehe und sich für die Freilassung einzelner, die keine Gefahr für die Staatssicherheit bildeten, mit seiner Persönlichkeit einsetzen. Hier handelt es sich eben nicht um Durchbrechung eines Rechtsprinzips durch einen Gnadenakt, aber auch nicht um Anerkennung eines allgemein an den übrigen Betroffenen begangenen Unrechts, sondern um Handeln aus dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, die von Fall zu Fall eine andere Entscheidung bedingen konnte.

Diese Grundsätze bei Behandlung solcher Elemente, die sich einer totalen politischen Ordnung nicht einfügen können, sind keineswegs nur dem Nationalsozialismus eigen, sie beherrschen vollständig die Politik auch der Siegerstaaten gegenüber der unterworfenen deutschen Bevölkerung, wer sich der neu auflebenden demokratischen Ordnung in Deutschland nicht fügt, ja, von dem man nur auf Grund seiner bisherigen Verwurzelung im Nationalsozialismus eine grundsätzliche Ablehnung der Demokratie erwarten zu können glaubt, ist interniert. Während, wie uns das Dokument der Anklage R-129 gezeigt hat, bei Kriegsbeginn in Nazi-Deutschland 21000 Menschen im KZ. eingesperrt waren, befinden sich nach den Veröffentlichungen der Besatzungsmächte zur Zeit allein in der USA-Zone über 300000 Nationalsozialisten und Militaristen in Internierungslagern.

Eine Bestätigung für die Tatsache, daß es sich bei solchen Akten politischer Säuberung nicht um juristische, sondern um politische Akte handelt, zeigt ein kürzlich ergangener Beschluß des Länderrats der amerikanischen Besatzungszone. Nach ihm sollen die Arbeitslager, in denen sich die auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit zur Zwangsarbeit verurteilten Nazis befinden, nicht der Justizverwaltung unterstellt werden, da es sich um justizfremde Einrichtungen handle.

Nichts anderes waren die Beweggründe des Angeklagten Göring, als er die Konzentrationslager einrichtete und die Gesetze über die Geheime Staatspolizei veranlaßte. Sie stellten ein Mittel zur Säuberung und Stärkung der jungen Volksgemeinschaft dar, wie er sie auffaßte. Er erstrebte dabei keine endgültige Vernichtung der politischen Gegner, sondern trat nach einer gewissen Zeit der Erziehung großzügig für Freilassung ein und entließ Weihnachten 1933 an die 5000, im September 1934 2000 Häftlinge.

Unausbleiblichen Mißständen und Fehlern, die er in seinem, für die englische Öffentlichkeit bestimmten Buch von 1934 »Aufbau einer Nation« offen zugab, trat er energisch entgegen. So ließ er sich von dem Kommunistenführer Thälmann persönlich über seine Beschwerden im Konzentrationslager berichten und sorgte für die Abstellung. Die sogenannten wilden Lager von Stettin und Breslau löste er auf, bestrafte den Gauleiter von Pommern, der dieses Lager ohne sein Wissen und gegen seinen Willen eingerichtet hatte und ließ die Schuldigen der wilden Konzentrationslager wegen der Übergriffe vor Gericht stellen.

Aus dieser Einstellung des Angeklagten Göring ergibt sich, daß er nie an die physische Vernichtung der Häftlinge gedacht hat.

Wenn die Anklage feststellt, es habe sich hierbei um die Ausführung einer Verschwörung gehandelt, die sich Verbrechen gegen die Humanität zum Ziele gesetzt habe, so geht diese Auffassung an der Wirklichkeit des politischen Lebens jener Jahre vorbei. Weder bestand eine solche Verschwörung, noch war die Absicht des Angeklagten, Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen, noch hat er solche Verbrechen begangen. Als einer der politischen Beauftragten der Deutschen Regierung fühlte er sich verpflichtet, diese vor gefährlichen Störern zu sichern und damit der nationalsozialistischen Lebensordnung zum Fortbestand zu verhelfen. Weit entfernt davon, ein Verbrechen in diesen Maßnahmen zu sehen, hielt er sie vielmehr gerade für das unvermeidliche Mittel, um die politische Ordnung als die Grundlage allen Rechts zu festigen.

Im Jahre 1936 ging die Leitung der Polizei und damit der Konzentrationslager auch de jure von dem Angeklagten an den Reichsführer-SS Himmler über. Was in der Folge aus den Konzentrationslagern wurde, wie sie sich insbesondere nach Kriegsausbruch zu einer immer scheußlicheren Stätte der Qual und der Vernichtung entwickelten, wie sie – zum Teil beabsichtigt, zum Teil durch die immer chaotischeren Kriegsverhältnisse bedingt – zur Vernichtung zahlloser Menschen führten, um schließlich in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch zu einem Massengrab zu werden, kann man dem Angeklagten nicht zurechnen.

Gewiß, er hat gewußt, daß es noch Konzentrationslager gab, daß auch die Zahl der Häftlinge durch die Kriegsspannungen angestiegen war und infolge der Ausdehnung der Kriegsmaschine über ganz Europa auch Ausländer enthielt, aber die entsetzlichen Vorgänge, wie sie dies Verfahren enthüllt hat, waren ihm unbekannt. Er wußte nichts von den unverantwortlichen Experimenten, die in Verkennung wahrer Wissenschaftlichkeit an Häftlingen vorgenommen wurden. Die Aussage des Zeugen Generalfeldmarschall Milch hat ergeben, daß die Luftwaffe an diesen Experimenten nicht interessiert war und daß der Angeklagte persönlich überhaupt nichts Näheres von dieser Angelegenheit erfuhr.

Keinesfalls hat die Einrichtung der Konzentrationslager als solche etwas mit der späteren Ausrottung der Juden zu tun, die offenbar Heydrichs und Himmlers Gehirn entsprungen und meisterlich geheimgehalten, als Grauen von Auschwitz und Maidanek nach dem Zusammenbruch enthüllt wurde.

Damit komme ich zur Judenfrage:

Seine Ansicht zur Judenfrage hat der Angeklagte Göring bei seiner Vernehmung als Zeuge ausführlich dargelegt; er hat ferner die Gründe in allen Einzelheiten aufgezeigt, die die Nationalsozialistische Partei und nach der Machtübernahme den Staat veranlaßten, eine die Juden ablehnende Stellung einzunehmen.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, daß er im Jahre 1935 die Nürnberger Gesetze verkündete, die der Reinhaltung der Rasse dienen sollten, und daß er in den Jahren 1938 und 1939 in seiner Eigenschaft als der Generalbevollmächtigte für den Vierjahresplan Verordnungen erließ, die auf die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben gerichtet waren.

Es werden ihm weiter eine Reihe anderer Gesetze zur Last gelegt, welche einen einseitigen schweren Eingriff in die Rechtssphäre der Juden bedeuteten.

Die rechtliche Begründung dieses Vorwurfs ist nicht ganz verständlich.

Denn hier handelte es sich um ein rein innerstaatliches Problem – nämlich um die Ordnung der Rechtsstellung der eigenen Staatsangehörigen; ein solches Problem konnte das deutsche Volk als souveräner Staat nach derzeit international anerkannter Rechtsauffassung frei regeln.

Waren diese Eingriffe auch hart und die Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte außerordentlich stark, so stellten sie keineswegs Vergehen gegen die Menschlichkeit dar.

Derartige gesetzliche Bestimmungen, die eine bestimmte Rasse oder einen bestimmten Kreis von Staatsbürgern in ihrer rechtlichen Stellung beschränken, haben auch andere Staaten getroffen, ohne daß an solchen Maßnahmen Anstoß genommen worden wäre oder fremde Staaten sich zur Intervention veranlaßt gesehen hätten. Jedes ungesetzliche und gewalttätige Vorgehen gegen die Juden hat der Reichsmarschall Göring aber stets abgelehnt. Das zeigt klar sein Verhalten gegenüber dem von Goebbels veranlaßten Vorgehen gegen die Juden in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, von dem er erst nach geschehener Tat Kenntnis erhielt und das er schärfstens verurteilte. Er erhob bei Goebbels und Hitler diesbezügliche ernste Vorstellungen. Darüber liegen genaue Angaben der Zeugen Bodenschatz und Körner vor. Wie sehr Göring dieses Vorgehen mißbilligte, zeigt die Aussage von Dr. Uiberreither. Danach berief der Angeklagte einige Wochen nach diesem Vorfall sämtliche Gauleiter nach Berlin und tadelte in einer Ansprache mit scharfen Worten das gewalttätige Vorgehen, das der Würde der Nation nicht entsprochen und dem deutschen Ansehen im Auslande schweren Schaden zugefügt habe.

Daß der Angeklagte kein Rassenfanatiker war, ist allgemein bekanntgeworden durch seine Äußerung: »Wer Jude ist, bestimme ich«. Daß er vielen Juden geholfen hat, ist hinreichend festgestellt.

Von einer biologischen Vernichtung der Juden hat er erst am Ende des Krieges Kenntnis erhalten. Eine solche Maßnahme hätte er nie gebilligt und sich ihr mit aller Kraft widersetzt. Denn er besaß zu viel politische Einsicht, um nicht die ungeheueren und dabei sinnlosen Gefahren zu erkennen, die für das deutsche Volk aus einer so brutalen und verwerflichen Vernichtungsaktion zwangsläufig erwachsen mußten.

Daß Göring es wegen der Behandlung der Juden nicht mit der Weltöffentlichkeit und der Weltmeinung verderben wollte, hatte er schon durch seine oben erwähnte Rede an die Gauleiter unter Beweis gestellt.

Es ist daher ausgeschlossen, daß er einem solchen Unternehmen zugestimmt oder an ihm in irgendeiner Weise mitgewirkt hat. Es ist verständlich, wenn dem Angeklagten entgegengehalten ist, er habe als der zweite Mann im Staate über diese furchtbaren Maßnahmen unterrichtet sein müssen.

Und es ist weiterhin nicht verwunderlich, wenn der Angabe des Angeklagten, er habe von solchen Missetaten nichts gewußt, mit einem gewissen Mißtrauen begegnet wird.

Trotz solcher Zweifel bleibt aber der Angeklagte dabei, daß zu ihm keine Kunde von derartigen Taten gelangt ist.

Diese Nichtkenntnis des Angeklagten, die nur von einem mit den deutschen Verhältnissen Vertrauten voll verstanden wird, ist daraus zu erklären, und des Rätsels Lösung liegt ausschließlich darin, daß Himmler, wie auch Generaloberst Jodl bei seiner Zeugenvernehmung hervorhob, es meisterhaft verstanden hat, sein Vorgehen zu verheimlichen, alle Spuren seiner Greueltaten zu verwischen und die Umwelt und selbst seine und Hitlers nähere Umgebung zu täuschen.

In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Aussage des Zeugen Höß, der die Anweisung Himmlers über die absolute Geheimhaltung gegen jedermann bestätigt.

Es mag die Frage hier sich aufdrängen: Bestand für den Angeklagten nicht die Rechtspflicht, Nachforschungen darüber anzustellen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen, wo denn die angeblich evakuierten Juden tatsächlich verbleiben und was ihr Schicksal war? Und welche Rechtsfolge ergibt sich, wenn er fahrlässig solche Nachforschungen unterließ und dadurch die ihm kraft seiner Stellung obliegende Rechtspflicht zum Handeln fahrlässig verletzte? Die Entscheidung dieser überaus komplizierten Rechts- und Tatfrage kann dahingestellt bleiben, weil Göring auch als zweiter Mann im Staate nicht die Macht hatte, solche Maßnahmen zu verhindern, wenn sie von Himmler ausgeführt und von Hitler befohlen oder jedenfalls gebilligt wurden.

Herr Präsident, ich hatte gestern schon gesagt, daß ich den Fall Katyn auch noch zu behandeln habe, und ich habe die Absicht, ihn jetzt hier einzuschalten, bevor ich zum Schlußwort komme. Es war mir leider nicht möglich, Übersetzungen zu beschaffen, weil erst in den letzten Tagen die Beweisaufnahme war. Der Vortrag ist nicht sehr lange, die Dolmetscher haben einen Durchschlag, so daß ich glaube, jetzt mit diesem Vortrag beginnen zu können.

Einer eingehenden Stellungnahme bedarf noch der Fall Katyn, in dem vor einigen Tagen das Beweisaufnahmeverfahren abgeschlossen wurde. Die Russische Anklagebehörde hat ihre Anklage auf das Ergebnis der Untersuchung gestützt, das in dem Dokument USSR-54 niedergelegt ist. Aus dem gesamten Untersuchungsmaterial sind dort folgende Schlüsse gezogen:

Erstens: Kriegsgefangene Polen, die sich in den drei Lagern westlich von Smolensk befanden, waren dort auch nach dem Einfall der Deutschen in Smolensk bis einschließlich September 1941.

Zweitens: Im Wald von Katyn wurden von den deutschen Okkupationsbehörden im Herbst 1941 Massenerschießungen an polnischen Kriegsgefangenen aus den obengenannten Lagern vorgenommen.

Drittens: Die Massenerschießungen von polnischen Kriegsgefangenen im Walde von Katyn wurden von einer deutschen Militärbehörde ausgeführt, die sich unter dem Decknamen »Stab des Baubataillons 537« verborgen hielt und an deren Spitze der Oberstleutnant Ahrens und seine Mitarbeiter Oberleutnant Rex und Leutnant Hodt standen.

Es fragt sich, hat die Anklagebehörde diese Beschuldigung bewiesen? Diese Frage ist zu verneinen. Aus dem Inhalt des Dokuments läßt sich eine solche Schuldfeststellung nicht treffen. Die Beschuldigung richtet sich gegen eine bestimmte militärische Einheit und gegen bestimmte namentlich bezeichnete Offiziere. Als Zeitpunkt für die Begehung der Tat ist der Herbst, September 1941, genannt. Als Tatort ist der Katyner Wald angegeben. Bei diesem die Tatumstände so eng begrenzenden Vorbringen war es lediglich die Aufgabe der Verteidigung, darzulegen, daß diese Feststellung einer Nachprüfung nicht standhält. Zunächst der bezeichnete Personenkreis. Oberst Ahrens, der offenbar mit dem Oberstleutnant Ahrens gemeint ist, scheidet schon deshalb als Täter aus, weil die Tat im September 1941 begangen sein soll, Ahrens das Regiment 537 erst Ende November 1941 übernommen hat. Erst zu dieser Zeit kam er nach Katyn, vorher ist er niemals auf dem östlichen Kriegsschauplatz gewesen. Vor Ahrens führte Oberst Bedenck das Regiment. Dieser kam mit dem Regimentsstab im August 1941 nach Katyn. Schon vor Bedenck bezog Oberleutnant Hodt im Juli 1941 unmittelbar nach der Einnahme von Smolensk mit einem Vorkommando des Regiments 537 das Dnjepr-Schlößchen und verblieb dort bis zum Eintreffen des Regimentsstabes, zu dem er damals noch nicht gehörte. Zum Regimentsstab wurde er erst im September 1941 versetzt, und von da ab wohnte er in diesem kleinen Schloß. Besondere Tatsachen, die Hodt oder Bedenck belasten könnten, gehen aus den überreichten Urkunden nicht hervor und sind nicht vorgebracht worden. Danach ist nicht erwiesen, daß Bedenck und Hodt als Täter in Frage kommen. Folgende Umstände sprechen dagegen, daß die Einheit 537 oder eine andere militärische Einheit an der Tat beteiligt gewesen ist. Die polnischen Gefangenen sollen in den drei Lagern westlich Smolensk den Deutschen in die Hände gefallen sein. Sie wären damit deutsche Kriegsgefangene geworden. Ihre Gefangennahme hätte der Heeresgruppe Mitte gemeldet werden müssen. Eine solche Meldung ist nach der Aussage des Zeugen Eichborn nicht erfolgt. Im Hinblick auf die große Zahl der Gefangenen ist es ausgeschlossen, daß eine solche Meldung versehentlich unterblieben wäre. Überdies konnte die Gefangennahme von 11000 polnischen Offizieren auf keinen Fall der Heeresgruppe verborgen bleiben. Die Heeresgruppe hat, wie sich aus der Aussage des Generals Oberhäuser ergibt, niemals davon Kenntnis erhalten. Aus diesen Angaben der beiden Zeugen Eichborn und Oberhäuser ist zu entnehmen, daß zur Zeit der Eroberung von Smolensk durch die Deutschen die polnischen Offiziere in diesen Lagern sich nicht befunden haben können. Auch Zeugen, welche die Offiziere in den Lagern nach diesem Zeitpunkt noch gesehen haben, sind von der russischen Kommission nicht vernommen worden. Der über diese Frage gehörte Eisenbahnangestellte weiß aus eigener Wahrnehmung nichts. Nun sollen diese 11000 Gefangenen aus diesen Lagern nach Katyn gebracht worden sein. Der Transport so vieler polnischer Gefangener konnte der russischen Bevölkerung nicht verborgen bleiben, selbst wenn die Beförderung möglichst unauffällig und geheim durchgeführt worden wäre. Eine Erschießung in so großem Umfange hätte ebenfalls nicht unbemerkt von der russischen Bevölkerung durchgeführt werden können. Mochte auch das Wäldchen abgesperrt sein, so führte doch in einer Entfernung von 200 Metern eine öffentliche Straße vorbei, die für den Verkehr unbeschränkt freigegeben war. Sie wurde auch von der russischen Zivilbevölkerung täglich stark benutzt. Was sich in dem Wäldchen von Katyn zutrug, konnte von der Straße aus übersehen und beobachtet werden. In der unmittelbaren Nähe des Dnjepr-Schlößchens befanden sich außerdem einzelne Bauerngehöfte, die während der ganzen Zeit der deutschen Besetzung bewohnt blieben und die täglich Fühlung mit dem Regimentsstab hatten. Es liegen aber weder über den Transport noch über die Wahrnehmung von Erschießungen zuverlässige Angaben und Aussagen vor. Kaum würde auch von deutscher Seite für eine derartige Massenexekution ein Platz wie der Fundort der Gräber ausgewählt worden sein. Der Platz war wegen seiner Lage zwischen Hauptstraße und Regimentsquartier für solche Missetaten völlig ungeeignet. Es herrschte, wie bereits erwähnt, ein sehr lebhafter Verkehr nicht nur auf der in der Nähe vorbeiführenden Straße, sondern auch unmittelbar an den Gräbern vorbei auf dem Zufahrtswege zum Regimentsstabsquartier. Es hätte also auch von unbeteiligten Soldaten die Tat beobachtet werden können. Auch für die Ausführung der Tat war die gewählte Truppengattung denkbar ungünstig. Eine technische Truppe, wie es das Heeresnachrichtenregiment war, ist am wenigsten für eine solche Aufgabe geeignet. Die Zeugen Eichborn und Oberhäuser haben zwar erst am 20. September 1941 ihr Quartier in der Nähe des Tatortes bezogen. Sie können daher erst von diesem Zeitpunkt ab eigene Wahrnehmungen bekunden, während sich bereits von Ende Juli ab zunächst das Vorkommando und von August ab dann der Regimentsstab sich im Schlößchen befunden haben. Es ist jedoch ausgeschlossen, daß in dieser Zeitspanne von etwa sechs Wochen die Tat ausgeführt sein konnte. Die wenigen Leute, die überhaupt zur Verfügung standen, waren mit militärischen Aufgaben vollauf belastet und konnten in dieser kurzen Zeit unmöglich 11000 Gefangene erschießen und außerdem die Leichen beseitigen. Nun sollen allerdings nach der Behauptung der Anklage russische Kriegsgefangene bei der Beseitigung der Leichen geholfen haben. Das ist nicht bewiesen. Auch hier hat niemand von der Bevölkerung solche Gefangene gesehen. Auf keinen Fall ließen sich die Spuren der Tat nicht so schnell verwischen und der Tatort so rasch unkenntlich machen, daß nicht die Zeugen Oberhäuser und Eichborn bei ihren häufigen Fahrten nach dem Dnjepr-Schlößchen verdächtige Anzeichen bemerkt hätten. Die Bekundung des hier gehörten Zeugen ist unzulänglich. Er hat nur aus Erzählungen eines gewissen Menchagin, der nicht mehr auffindbar ist, von solchen Erschießungen gehört. Eigene Wahrnehmungen hat dieser Zeuge nicht gemacht. Er selbst hat keine Polen gesehen. Dies ist ihm von Studenten erzählt worden, daß sie Polen gesehen hätten, über deren Zahl und Aufenthaltsort sie jedoch nichts wußten.

Eine nach jeder Richtung hin so dürftige Aussage ist wertlos. Auch die Aussagen der beiden als Zeugen gehörten Ärzte sind für eine Verwertung im Sinne der Anklage nicht geeignet. Im Rahmen der von dem Gerichtshof zugelassenen Beweiserhebung wäre eine restlose Klärung aller medizinischen Fragen nicht möglich gewesen, die für die Sachverständigen bei der von ihnen getroffenen Feststellung entscheidend war. Die Verteidigung hat daher auch davon Abstand genommen, einen medizinischen Sachverständigen zur Entlastung der Angeklagten zu stellen. Aber eines darf hier nicht übersehen werden; das von der Deutschen Regierung veranlaßte Gutachten ist von einer aus zwölf Mitgliedern bestehenden Kommission führender Vertreter der gerichtlichen Medizin europäischer Hochschulen erstattet, während das von der Anklage in Bezug genommene Gutachten ausschließlich von russischen Sachverständigen abgegeben worden ist. Das erstere Gutachten verdient daher den Vorzug, weil es von Sachverständigen stammt, die völlig unpolitisch sind. Nun ist der Zeuge Professor Markov bei seiner Vernehmung von dem im Protokoll vom 30. April 1943 enthaltenen Gutachten abgerückt. Er will schon damals nach dem Befund der von ihm obduzierten Leichen die Angabe für unrichtig gehalten haben, daß die Erschießungen in den Monaten März und April 1940 stattgefunden haben. Diese Aussage unterliegt indessen erheblichen Bedenken. Der Zeuge hat keine einleuchtende Erklärung dafür geben können, weshalb er bei einer solchen Einstellung gegen die Fassung des Protokolls vom 30. April 1943 nicht sofort Widerspruch erhob und dessen Unterschrift nicht abgelehnt hat, weshalb er auch später nicht mindestens...

VORSITZENDER: Dr. Stahmer! Sie wissen natürlich, daß Sie den Bericht dieser deutschen Kommission nicht als Beweismittel vorgelegt haben. Soweit ich es verstehe, haben Sie ausdrücklich davon abgesehen, den Bericht der deutschen Kommission vorzulegen. Und Sie...

DR. STAHMER: Das ist ein Irrtum, Herr Präsident. Ich habe nicht davon abgesehen, es wurde nicht erlaubt, daß ich das Weißbuch vorlege; es wurde aber erlaubt, daß ich den Bericht vom 30. April 1943 vorlege. Ich konnte ihn nur nicht sofort überreichen, weil er nur im Weißbuch war und ich davon Abschriften machen lassen sollte. Diese Abschriften wurden angefertigt und überreicht. Ich habe auch aus dem Protokoll im einzelnen einige Vorhaltungen gemacht, und zwar mit der ausdrücklichen Zustimmung des Gerichts.

VORSITZENDER: Ich weiß, daß Sie es getan haben, und selbstverständlich wird kein Einspruch dagegen erhoben werden, wenn Sie es vorlegen wollen. Ich habe Sie aber so verstanden, daß Sie nur die Teile, die Sie dem Zeugen vorlegten, als Beweismaterial einreichen wollten. Ich glaube, das ist Ihnen auch gesagt worden, als Sie die Anklagezeugen im Kreuzverhör vernahmen.

So habe ich Sie verstanden. Wenn Sie aber sagen, daß Sie es anders aufgefaßt haben und daß Sie den ganzen Bericht vorlegen wollen, so wird dies vom Gerichtshof, soweit er es noch nicht getan hat, erwogen werden.

Sagen Sie, daß der Gerichtshof bereits den ganzen Bericht als Beweismaterial zugelassen hat?

DR. STAHMER: Herr Präsident! Ich habe leider das Buch...

VORSITZENDER: Dr. Stahmer! Was Sie zum Beweis vorlegen wollen, ist die Schlußzusammenfassung des Berichts oder das Protokoll, oder wie es sich sonst nennt. Stimmt das? Ich nehme an, daß das kein sehr langes Dokument ist, nicht wahr?

DR. STAHMER: Nein, Herr Präsident. Darf ich noch einmal erklären. Ich habe leider das Sitzungsprotokoll nicht bekommen, so daß ich nicht weiß, was in diesem Protokoll steht. Ich habe aber folgendes in Erinnerung, und das wurde mir eben auch von einem Kollegen bestätigt. Ich habe damals den ganzen sogenannten Bericht der Kommission vorlegen dürfen und habe aus diesem Bericht, nicht nur aus der Schlußzusammenfassung, sondern aus dem ganzen Bericht mit Erlaubnis des Hohen Gerichts einzelne Vorhaltungen gemacht und hatte in Aussicht gestellt mit Erlaubnis des Gerichts, daß ich das gesamte Gutachten noch nachreichen werde.

VORSITZENDER: Gut, ich verstehe nicht, was Sie mit dem ganzen Bericht oder mit dem Protokoll meinen.

DR. STAHMER: Herr Präsident! Wenn ich das noch einmal schildern darf.

Es war ein ziemlich umfangreiches Protokoll, in dem also das Ergebnis der Untersuchungen geschildert war. Es war in ihm der ganze Sachverhalt enthalten, und dieses Protokoll schloß mit einem gemeinsamen Gutachten. Also es setzt sich zusammen, wie gesagt, aus Tatbestand und Gründen. Es enthält zunächst eine sehr umfangreiche Sachdarstellung, in dem die einzelnen Tatsachen geschildert sind, die die Sachverständigen dort in Augenschein genommen haben. Daß sie da an Ort und Stelle die russische Bevölkerung verhört haben, wie die Grabstelle beschaffen war, daß eine Leichenschau vorgenommen worden war, alle diese Dinge hatte ich aus dem Protokoll mit Erlaubnis des Gerichts vorgehalten.

Herr Präsident! Darf ich zur tatsächlichen Aufklärung mir noch eine Bemerkung gestatten? Ich erinnere mich des Vorganges deswegen so genau: Herr Präsident, Sie regten zunächst an, Sie fragten, ob ich eine Abschrift des Protokolls hätte, und da sagte ich, nein, ich habe hier nur das Weißbuch, und dann wurde es dem Zeugen vorgelegt, und dann habe ich vorgeschlagen, den anderen Zeugen zunächst vorzunehmen, damit ich von dem Protokoll sofort eine Abschrift fertigen könne, und dann meinten Sie, Herr Präsident, das sollte nicht geschehen, ich sollte das Buch wieder zurücknehmen und dann hinterher die Abschrift einreichen.

VORSITZENDER: Gut, der Gerichtshof wird im Protokoll nachsehen lassen, um genau zu sehen, was geschah.

DR. STAHMER: Wie gesagt, das Sitzungsprotokoll selbst habe ich noch nicht gesehen. Wenn das nicht so aufgenommen ist, dann ist das Protokoll eben nicht vollständig. Aber ich erinnere mich ganz genau, daß es sich so abgespielt hat.

VORSITZENDER: Fahren Sie bitte fort.

DR. STAHMER: Die Aussage des Zeugen unterliegt erheblichen Bedenken. Der Zeuge hat keine einleuchtende Erklärung dafür abgeben können, weshalb er bei einer solchen Einstellung gegen die Fassung des Protokolls vom 30. April 1943 nicht sofort Widerspruch erhoben und dessen Unterzeichnung nicht abgelehnt hat und weshalb er auch später nicht zumindest den anderen beteiligten Sachverständigen gegenüber seiner wahren wissenschaftlichen Überzeugung Ausdruck verliehen hat.

Durch diese Erklärung kann das deutsche Gutachten somit nicht an seiner Bedeutung verlieren und entkräftet werden, zumal die übrigen elf Sachverständigen offenbar die in diesem Gutachten enthaltenen Feststellungen gebilligt haben. Bei dieser Sachlage wird es nicht erforderlich sein, die Gründe im einzelnen klarzulegen, die für die Richtigkeit des im deutschen Weißbuch enthaltenen Gutachtens vom 30. April 1943 sprechen. Der von den russischen Sachverständigen festgestellte Zeitpunkt für die Erschießung, Herbst 1941, ist willkürlich bestimmt und kann auf keinen Fall richtig sein, weil die Leichen Winterbekleidung trugen, wie der Zeuge Markov bei der von ihm obduzierten Leiche festgestellt hat. Die Tatsache, daß in den Gräbern Pistolenmunition deutschen Fabrikats gefunden wurde, läßt nicht den Schluß zu, daß die Erschießung durch Deutsche ausgeführt sein muß. In dem deutschen Weißbuch ist bereits darauf hingewiesen, daß die deutsche Fabrik, die diese Munition herstellte, in größerem Umfange nach zahlreichen anderen Ländern, vornehmlich nach dem Osten geliefert hat.

Abschließend ist zu sagen: Aufgabe dieses Prozesses ist, lediglich festzustellen, ob die 11000 polnischen Offiziere erschossen worden sind erst nach der Eroberung von Smolensk durch die Deutschen, so daß die Tat durch Deutsche begangen sein kann. Dieser Beweis ist der Anklagebehörde nicht gelungen. Damit scheidet diese Beschuldigung aus der Anklage aus.

Herr Präsident, ich komme jetzt zu meinen letzten Ausführungen, zu meinem Schlußwort. Ich nehme an, daß ich nicht in zehn Minuten fertig werde. Es wäre aber zweckmäßig, daß dies im Zusammenhang vorgetragen wird. Entweder muß ich über 1.00 Uhr hinaus sprechen oder das Gericht macht jetzt eine Pause, wenn ich mir eine Anregung erlauben darf. Soll ich jetzt sprechen?

VORSITZENDER: Wenn Sie in zehn Minuten fertig sein können, Dr. Stahmer, so werden wir die Sitzung weiterführen, bis Sie fertig sind.

DR. STAHMER: Ja, in zehn Minuten werde ich nicht ganz fertig werden, und darauf möchte ich besonders hinweisen: ich möchte das Schlußwort nicht gern unterbrochen haben.

VORSITZENDER: Wenn es Ihnen angenehmer ist, wir werden tun, was Sie wünschen, wir werden jetzt die Pause einschalten, wenn Sie wollen. Es ist sehr heiß heute, und wenn Sie es vorziehen, werden wir jetzt eine Pause machen.

DR. STAHMER: Ich möchte darum bitten, jetzt Pause zu machen. Ich bin jetzt etwas angegriffen durch die Hitze.

VORSITZENDER: Sehr gut.