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DR. STEINBAUER: Der Protest, den Seyß-Inquart namens der Nationalen gegen die Volksabstimmung dem Kanzler gegenüber zum Ausdruck brachte, war formal juristisch vollkommen berechtigt. Abgesehen davon, daß infolge der Kürze der Zeit keine Kautelen für eine geordnete Wahl gegeben waren, war die Wahl auch verfassungsrechtlich nicht begründet. Artikel 65 der österreichischen Verfassung vom 1. Mai 1934 bestimmt genau, unter welchen Umständen das Volk zur Abstimmung aufgerufen werden kann. Dr. Schuschnigg stützt sich daher auch bei der Ausschreibung der Wahl auf Artikel 93 der Verfassung, welcher Artikel nur allgemein sagt: »Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik.« Die Durchführung der Wahl oblag der Vaterländischen Front, also der politischen Organisation. Die Weiterentwicklung ist bekannt, insbesondere die Ereignisse vom 11. März 1938. Hier ist der Hauptvorwurf der Verschwörung wohl der, daß Seyß-Inquart durch sein Telegramm über angebliche Unruhen den Einmarsch der deutschen Truppen verursacht habe. Wir finden diese Geschichtslüge, die dem Angeklagten den Namen eines »Judas von Österreich« eingebracht hat, in den Darstellungen des Anschlusses. Wir finden ihn zum Beispiel in Raphael Lemkins »Axis rule in Occupied Europa«, Seite 109. Wir finden ihn vor allem noch in der Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklägers, Oberrichter Jackson, obwohl durch die Vorlage der Telephongespräche Görings, 2949-PS, in Verbindung mit der Zeugenaussage Görings einwandfrei erwiesen ist, daß dieses Telegramm nie abgegangen und in einem Zeitpunkt diktiert würde, und zwar an eine dritte Person, in welchem die deutschen Truppen schon den Befehl hatten, über die Grenze zu marschieren. Diese Telephongespräche Görings stellen daher ein historisches Dokument von größter Bedeutung dar. Die Kärntner Rede Rainers und seine Aussage als Zeuge vor Gericht widerlegt auch die Anklage hinsichtlich der Beteiligung Seyß-Inquarts an der Machtergreifung. Es war nach dieser Urkunde, 4005-PS, Globocznik, der das Telephon des Bundeskanzleramtes mißbrauchte, um die Bundesländer zu alarmieren. Durch den erzwungenen Rücktritt Schuschniggs zum Bundeskanzler designiert, bespricht der Angeklagte die Bildung des Ministeriums, lädt die Minister zum Eintritt ein und bringt den scheidenden Regierungschef im eigenen Wagen nach Hause. Wenn man dann schließlich noch aus der Aussage der Zeugen Stuckart und Glaise-Horstenau erwähnt, unter welchen Umständen das Anschlußgesetz zustandegekommen ist, dann kann man wohl sagen, daß Zernatto recht gehabt hat, wenn er schreibt, daß Österreich erobert worden ist: seiner Meinung nach sogar gegen Seyß-Inquart und dessen Regierung: Exhibit Nummer 63. Wer daher leidenschaftslos die ganzen Ereignisse der Märztage 1938 bezüglich des Anschlusses überblickt und insbesondere die Rolle des Angeklagten untersucht, der kann nur zu dem Schluß kommen, daß da von einem sorgfältig erwogenen »Verschwörungsplan«, von einer genau aufeinander abgestimmten Durchführung eines Verbrechens wohl nicht gesprochen werden kann. Was Österreich aber anbelangt, so hat der Engländer Geyde recht, wenn er sagt, mit dem Einmarsch der Truppen war der Vorhang in der »Tragödie Österreich« gefallen. Er sollte sich bald noch einmal erheben, zu einem neuen Schauspiel: »Das Martyrium Österreich«.

Am 15. März 1938 kam Adolf Hitler nach Wien. Wir haben hier im Gerichtssaal im Film seine Begrüßung gesehen. Mit innerer Bewegung meldete ihm der Angeklagte:

»Wonach Jahrhunderte deutscher Geschichte gerungen haben, wofür ungezählte Millionen der besten Deutschen geblutet haben und gestorben sind, was in heißem Ringen letztes Ziel, was in bittersten Stunden letzter Trost war, heute ist es vollendet. Die Ostmark ist heimgekehrt. Das Reich ist wiedererstanden, das Volksdeutsche Reich ist geschaffen.«

Hiermit hatte Seyß-Inquart sein politisches Ziel ausgesprochen, das der Leitstern seines Handelns war und blieb.

Mit dem Führer kam Josef Goebbels und ließ seine gigantische Propagandamaschine auf höchsten Touren laufen. Eine Kundgebung jagte die andere. Feste wurden gefeiert. Im ganzen Lande gab es kein Haus, das nicht Flaggenschmuck trug. Der Führer der sozialistischen Arbeiter sagte: »Ich stimme mit Ja«, und die Bischöfe mahnten zur Erfüllung einer nationalen Pflicht »Gebt Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Beide sollten getäuscht werden. Denn mit Goebbels kam auch Himmler mit seiner Gestapo und SS. Bereits in der Nacht zum 13. März begann eine große Verhaftungsaktion in Wien. Sie umfaßte die Angehörigen der früheren Wehrverbände samt den prominenten Führern des sozialistischen Schutzbundes, die im politischen und öffentlichen Leben wirkenden Juden, Kommunisten und Monarchisten, Priester und Freimaurer, selbst die Leiter der Pfadfinder und der österreichischen Jugendorganisationen. Allein in Wien wurden über 76000 Verhaftungen durchgeführt. Schon am 2. April 1938 rollte der erste Dachauer Transport aus dem Westbahnhof mit 165 führenden Funktionären, darunter der jetzige Bundeskanzler Figl, Unterrichtsminister Hurdes und der Justizminister Dr. Gerö. Am 21. Mai folgte der zweite Transport, Ende Mai der dritte, und dann ging es so fort. Pünktlich alle acht Tage gingen die Transporte nach Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen ab. Am 10. Mai 1946 hat das Wiener Volksgericht Anton Brunner zum Tode verurteilt, der die Verschickung von 49000 Menschen, meistens Juden, in die Vernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz, Minsk und Riga veranlaßte.

Und der Angeklagte? Er wurde kaltgestellt und an die Wand gedrückt. Zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich wurde der Sieger der Saarwahlschlacht Josef Bürckel bestellt und mit diktatorischer Macht ausgerüstet. Die Befugnisse des Angeklagten waren kaum größer als die eines Oberpräsidenten im Reich, also einer Verwaltungsbehörde zweiter Instanz. Im Gegenteil, er hatte unmittelbar vor sich Bürckel, der unter dem Prätext der Angliederung in alles eingriff und alles für sich beanspruchte, insbesondere die Kirchen- und Judenfrage, was die Dokumente 67, 70, 91 beweisen. Der Angeklagte stellte sich gegen Bürckels Methoden. Er hat ja selbst bei Hitler gegen Bürckels Vorgehen in Graz am 8. April 1938 Einspruch erhoben.

Wir wissen dies aus den Zeugenaussagen Neubacher, Schirach und Stricker und aus den von der Verteidigung vorgelegten Dokumenten. Aber Bürckel, den Churchill in seinem Buche »Schritt für Schritt« als den »Gouverneur« für Wien bezeichnet hat, blieb der Stärkere, und der unbequeme Mahner Seyß-Inquart wird als Provinzkommissar nach Südpolen abgeschoben. Schon diese Behandlung durch seine angeblichen Mitverschwörer zeigt doch nur allzu deutlich, daß Seyß-Inquart, geleitet von seiner Anschlußbegeisterung, kein Verschwörer gewesen sein kann. Kein Führer, sondern ein Geführter oder nach meiner Ansicht noch richtiger ein Irregeführter, oder vielleicht auch williges Werkzeug in der Hand der beiden Großen Hitler und Göring, aber nur für sein politisches Ideal: den Anschluß ohne jede Angriffskriegsabsicht.

Gewiß hat es in Österreich nach dem Anschluß so etwas wie eine wirtschaftliche Konjunktur gegeben, es war zum Teil die Scheinkonjunktur der Aufrüstung. Aber was sich sonst abspielte, war nicht der Anschluß, wie sich ihn auch die begeisterten Anschlußanhänger in Österreich vorgestellt hatten, besonders als der Krieg Anlaß und Vorwand bot, die Gleichschaltung und Unterdrückung jeder anderen oder kritischen Meinung auf das rücksichtsloseste zu betreiben.

Österreich hörte nicht auf, auf seine Befreiung zu hoffen und dafür zu kämpfen. Viel Leid gab es und vielfachen Tod. 6000 wurden in Österreich hingerichtet. Im Wiener Landesgericht starben allein 1200 Mann unter dem Fallbeil, darunter 800 nur wegen ihrer antinazistischen Gesinnung. In den letzten Tagen des Krieges stürzten die schönsten Bauten Wiens in Trümmer und ging der Stephansdom, eines der erhabensten Denkmäler deutscher Gotik, in Flammen auf. So erfüllte sich das Versprechen, das Hitler am 15. März 1938 gegeben hat; »Die Perle hat die Fassung, die ihre Schönheit verdient.«

Nicht die Anschlußidee, das heißt der Wunsch, die nationale Einigung eines Volkes herbeizuführen, war ein Verbrechen; verbrecherisch aber war die Einführung eines Systems, das seine Verwirklichung vermutlich auf immer verschüttete. Dies wollte der Angeklagte doch bestimmt nicht.

Zum Abschluß meiner Ausführungen über die österreichische Frage gehe ich nunmehr dazu über, kurz vom Standort des Angeklagten Seyß-Inquart her die Frage zu prüfen, was in rechtlicher Hinsicht auf die Anklage gegen meinen Mandanten zu sagen ist.

Zur Klarstellung seiner rechtlichen Verantwortung fasse ich nun sein Verhalten in folgender Übersicht kurz zusammen. Zuerst in seiner politischen Tätigkeit:

Erstens: Nach dem Übereinkommen vom 11. Juli 1936 hat Bundeskanzler Dr. Schuschnigg den Angeklagten Seyß-Inquart als einen Vertreter der nationalen Opposition zur Mitarbeit herangezogen, also nicht als politischen Gesinnungsgenossen und Parteigänger, wie zum Beispiel den Zeugen Guido Schmidt.

Zweitens: Seyß-Inquart hat immer – zum erstenmal zu Dr. Dollfuß im Juli 1934 – erklärt, die nationale Opposition bestehe nur mehr aus Nationalsozialisten, die sich nur nach dem Willen Hitlers richten, jedenfalls niemals gegen den Willen Hitlers handeln werden.

Drittens: Seyß-Inquart erklärte, Nationalsozialist zu sein, er vertrat also auch immer die Interessen der österreichischen Nationalsozialisten. Das bestätigt nicht nur der Zeuge Skubl, sondern darauf verweisen die von mir früher zitierten Gewährsmänner.

Viertens: Um jeden militärischen oder internationalen Konflikt zu vermeiden, verfolgte Seyß-Inquart das Ziel, Betätigung für die von der Reichspartei unabhängigen österreichischen Nationalsozialisten bei engstem Zusammengehen Österreichs und Deutschlands.

Fünftens: Seyß-Inquart erklärte, dies Ziel könnte nur erreicht werden, wenn Hitler damit einverstanden ist und die österreichischen Nationalsozialisten auf diese Politik ausdrücklich verweist. Dies will er erreichen.

Sechstens: Den Kulminationspunkt fanden Seyß- Inquarts Bemühungen in der Unterredung mit Hitler am 7. Februar 1938. Obwohl Minister, sozusagen von Hitlers Gnaden, vertrat er sein österreichisches Programm.

Hier liegt der Irrtum Seyß-Inquarts. Er glaubte, Hitler und Berlin würden Politik machen, das heißt – um mit Bismarck zu sprechen – die Kunst des Möglichen üben. Aber Berlin wollte ja keine Politik machen. Vor dieser Tatsache ist die Politik Seyß-Inquarts am 11. März zusammengebrochen. Ist dieser Irrtum straffällig, zumal die österreichischen Staatsführer den gleichen Weg der Verständigung gehen wollten und Dr. Schuschnigg ihn in Kenntnis seines Programms wirksam sein ließ?

Angesichts dieser Grundhaltung des Angeklagten bis März 1938 sind Einzelheiten des politischen, taktischen Verhaltens von untergeordneter Bedeutung.

Und nun die Tätigkeit des Angeklagten als Innen- und Sicherheitsminister.

Siebentens: Von irgendeiner nazistischen Einflußnahme auf die österreichische Exekutive ist keine Spur zu finden. Der Zeuge Skubl bestätigte dies mit nicht zu überbietender Deutlichkeit. Seyß-Inquart verbot der Polizei jede politische Stellungnahme, Dokument 51; er verbot nationalsozialistische Demonstrationen, Dokument 59; er wich solchen Gelegenheiten aus, Dokument 59; er forderte die österreichischen Nazis zur Legalität auf, Dokument 52.

Achtens: Am 11. März 1938 erfüllte Seyß-Inquart seine Verpflichtungen als Verbindungsmann laut Berchtesgadener Übereinkommen. Mit Glaise-Horstenau gab er Dr. Schuschnigg am Vormittag des 11. März eine vollkommen offene Darlegung der Lage. Er verwies insbesondere auf drohende nationalsozialistische Kundgebungen und die Möglichkeit eines deutschen Einmarsches. Nachmittags überbrachte er Görings Forderungen an Schuschnigg, beziehungsweise dessen Antworten zu Göring.

Neuntens: Nach Dr. Schuschniggs Demissionsangebot zog sich Seyß-Inquart zurück. Er befolgte in keiner Weise Görings Verlangen, die Übertragung der Bundeskanzlerschaft zu betreiben, beziehungsweise die Macht zu ergreifen. Die Ultimaten mit der Einmarschdrohung des Reiches wurden bekanntlich durch Botschaftsrat von Stein und General von Muff überreicht, deren Druck Präsident Miklas schließlich nachgab. Dies ergibt sich aus den Aussagen des Präsidenten Miklas, 3697-PS, und der Zeugen Rainer und Schmidt.

Zehntens: Erst nach der Abschiedsrede Schuschniggs forderte Seyß-Inquart öffentlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf. Er bezeichnete sich nicht als provisorische Regierung, sondern in gutem Glauben als Innen- und Sicherheitsminister, wie Zeuge Schmidt bestätigte. Den Auftrag, den deutschen Truppen keinen Widerstand zu leisten, übernahm er aus Dr. Schuschniggs Abschiedsrede.

Elftens: Seyß-Inquart versuchte solange als möglich, Österreichs Unabhängigkeit zu wahren, und zwar in den telephonischen Gesprächen mit Göring, Dokument 58; aus den Gründen für die Aufforderung an Guido Schmidt, als Außenminister in sein Ministerium zu treten, wie Zeuge Schmidt bestätigt; nach den Darlegungen des Zeugen Skubl; aus der Ablehnung des verlangten Telegramms, Dokument 58; aus dem Ersuchen an Hitler, nicht einzumarschieren, wie Göring bestätigt; aus dem Ersuchen an Hitler, auch österreichische Truppen ins Reich marschieren zu lassen.

Zwölftens: Am 13. März 1938 wurde das Anschlußgesetz gemäß Artikel III der österreichischen Verfassung vom 1. Mai 1934 erlassen. Die psychologische Situation für Seyß-Inquart war die gleiche wie für alle Österreicher, die am 10. April in einem geheimen Wahlgang mit 4381070 Ja- gegen etwa 15000 Nein-Stimmen für den Anschluß gestimmt haben.

Seyß-Inquart wird unter anderem vorgeworfen:

Erstens: Einmal habe er seine verschiedenen Stellungen und seinen persönlichen Einfluß dazu benutzt, die Besitzergreifung, Eingliederung und Kontrolle Österreichs durch die Nazi-Verschwörer zu fördern.

Zweitens: Zum anderen als integrierender Bestandteil seiner bösen Absicht im Sinne der Anklage habe er an den politischen Plänen und Vorbereitungen der Nazi-Verschwörer für Angriffskriege und Verbrechen unter Verletzung internationaler Verträge, Vereinbarungen, Zusicherungen teilgenommen.

Zu Eins: Was die erstgenannte Beschuldigung anlangt, so verweise ich auf die obige Übersicht und kann mich dazu auf folgende kurze Feststellungen beschränken:

Die Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich als politisches Ziel ist nirgends unter Strafe gestellt, und nur für eine solche war der Angeklagte tätig. Die Anklage geht hier – wie übrigens auch noch in anderen Punkten – über den Rahmen des Statuts hinaus.

Zu Zwei: Was die zweite Beschuldigung anlangt, der Mitangeklagte Seyß-Inquart habe sich konspiratorisch an Verbrechen gegen den Frieden beteiligt, so ist sie an Paragraph 6, Absatz 2a des Statuts zu messen. Dort ist unter anderem gemeinsames Planen, Vorbereitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Abmachungen als Friedensbruch unter Strafe gestellt.

Ich überlasse es der Prüfung des Gerichts, ob auf den Fall des Einmarsches in Österreich die Anwendung dieser Bestimmung überhaupt in Frage kommen könnte, obgleich es hier nicht zu einem Kriege gekommen ist. Es spricht viel dafür, daß nach dem Sinn der genannten Vorschrift der Ausbruch eines Krieges Bedingung der Strafbarkeit wegen Friedensbruches ist.

Ich kann mich jedenfalls mit einer Auslegung dieser Bestimmung nicht befreunden, die so ungemein weit geht, daß sie auch aufgegebene Kriegsplanung oder eine schließlich unblutig verlaufene Eventualplanung eines Krieges unter Strafe des vollendeten Verbrechens stellt.

Mit größtem Nachdruck aber muß darauf hingewiesen werden, daß keinerlei Beweis dafür erbracht ist, mein Mandant habe seine Tätigkeit in der Anschlußfrage jemals in der Vorstellung entfaltet, es könne mit Österreich oder mit irgendeiner anderen Macht wegen des Anschlusses, oder in Verfolg desselben zu einem Kriege kommen. Im Gegenteil, sein Entschluß nach dem Drama des 25. Juli 1934, sich aktiv mit Politik zu befassen, war ja allein von dem Bestreben diktiert, die Anschlußfrage nicht zur Ursache militärischer oder internationaler Verwicklungen kommen zu lassen. Und darüber hinaus mußte ihm die Vorstellung völlig fern bleiben, Hitler oder seine Umgebung hätte eine derartige Folge als möglich ernsthaft ins Auge gefaßt. Der Ausgang des Österreich-Unternehmens hat ihm recht gegeben. Die deutschen Truppen sind bei ihrem Einmarsch in Österreich mit Jubel und Blumen empfangen worden.

Was die großen Mächte anbelangt, so protestierten Frankreich und England zwar am 12. März 1938 wegen dem Anschluß. Aber das war nur ein sehr milder und platonischer Protest. Eine militärische Unterstützung Schuschniggs erfolgte nicht; vor allem wurde der Völkerbund, der Garant der Unabhängigkeit Österreichs, nicht angerufen.

Am 14. März 1938 ließ die Englische Regierung im Unterhaus erklären, sie habe mit den Freunden der Genfer Entente die neue Sachlage beraten, und es sei Einstimmigkeit darüber erzielt worden, daß eine Erörterung in Genf zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen wird.

Als der Völkerbund durch das deutsche Auswärtige Amt vom Anschluß verständigt wurde, hat er davon widerspruchslos Kenntnis genommen und dem österreichischen Vertreter beim Völkerbund, Pflügl, die Pässe zugestellt.

Der Haager Schiedsgerichtshof hat sein österreichisches Mitglied, den Wiener Professor Verdroß, von der Richterliste gestrichen. Die diplomatischen Vertretungen wurden abberufen oder in Konsulate im Deutschen Reich verwandelt.

Es verging auch nur eine ganz kurze Zeit, und schon wenige Monate nach der Besetzung und Angliederung dieses kleinen Landes wurde mit dem angeblichen Aggressor am 29. September 1938 in München ein Staatsvertrag hinsichtlich eines zweiten kleinen Staates geschlossen.

Der französische Ankläger de Menthon hat in seiner Anklagerede die Erinnerung an den großen Politiker und Staatsmann Politis wachgerufen. Auch ich will hier an ihn erinnern. Er hat kurz vor seinem vorzeitigen Tode in seinem Buch: »La morale internationale« die Worte geschrieben: »Qui menace les petites nations menace l'humanité tout entière.«

Diesen Satz haben die Völkerbundsmächte im Falle Österreich nicht beachten zu müssen geglaubt.

Aber sie haben auch noch ein anderes internationales Ordnungsprinzip gegenüber dem österreichischen Anschluß anzuwenden sich nicht veranlaßt gesehen.

Jenen Grundsatz meine ich, der unter der Bezeichnung Stimson-Doktrin in die Wissenschaft des Völkerrechts und die Diplomatensprache Eingang gefunden hat.

Es ist der Satz, nach dem die Staaten der Welt es ablehnen, gewaltsam herbeigeführte Gebietsverschiebungen anzuerkennen. Dieser Satz ist mindestens ebenso stark in das internationale Rechtsbewußtsein der Gegenwart eingegangen, wie das Verbot des Angriffskrieges, auf dem sich der Nürnberger Prozeß als einem seiner großen Grundpfeiler aufbaut. Ich erinnere hier zum Beleg für diese Tatsache an den Vorschlag des brasilianischen Vertreters Braga auf der zweiten Völkerbundsversammlung, in dem er gegen Angreiferstaaten einen »blocus juridique universel« vorschlug und dabei als eine der zu beschließenden Maßnahmen die Verweigerung des Rechts von Annexionen für Angreiferstaaten. Sie finden diese Erklärung abgedruckt in dem Urkundenbuch, das Professor Jahrreiss als Ergänzung zu seinen rechtlichen Ausführungen dem Gericht vorgelegt hat, und das sich dort als Stück Nummer 10 Seite 35 abgedruckt findet.

Ferner erinnere ich an den sogenannten Saavedra- Lamas-Pakt, den am 10. Oktober 1933 in Rio de Janeiro einige südamerikanische Staaten abschlossen und dem die Kleine Entente und Italien beigetreten sind. Hier verpflichteten sich die Signatare dazu, die Gültigkeit einer gewaltsamen Besetzung oder Annexion von Staatsgebiet nicht anzuerkennen. Die VII. Panamerikanische Konferenz akzeptierte am 26. Dezember 1933 diesen Grundsatz unter Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Es stimmt inhaltlich überein mit einem dem Völkerbundsrat bereits vorher, am 14. Januar 1930, seitens des peruanischen Delegierten Cornejo vorgelegten Antrag.

Es ist vor allem enthalten in den berühmten Noten des amerikanischen Staatssekretärs Stimson an China und Japan vom 27. Januar 1932, in welchen Noten der Satz steht: »Die Amerikanische Regierung beabsichtigt nicht, irgendeine Lage, einen Vertrag oder ein Abkommen anzuerkennen, die durch Mittel herbeigeführt sind, die den Satzungen und den Verpflichtungen von Paris vom 27. August 1928 widersprechen.«

Und endlich rufe ich dem Gericht ins Gedächtnis die Erklärungen des Völkerbundsrates vom 16. Februar 1932, in welcher die Stimson-Doktrin, ins Grundsätzliche erhoben, folgenden Ausdruck gefunden hat:

»Kein Einbruch in die territoriale Unversehrtheit und keine Verletzung der politischen Unabhängigkeit eines Mitgliedes des Völkerbundes, begangen entgegen dem Artikel 10 (der Völkerbundsatzung), könnte von den Mitgliederstaaten als rechtsgültig anerkannt werden.«

Und dennoch haben sämtliche Staaten der Erde die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich anerkannt, ohne daß sie sich dabei um die Stimson-Doktrin kümmern zu müssen glaubten.

Hiermit ist zugleich Wesentliches gegen die Anklage wegen vertragsverletzenden Friedensbruchs gesagt. Drei Verträge soll Deutschland gebrochen haben: Nämlich einmal das deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1936, zum anderen Artikel 80 des Vertrags von St-Germain, endlich Artikel 80 des Vertrags von Versailles.

Auch hier ist darauf hinzuweisen, daß sämtliche in Betracht kommenden Staaten den Vertragsbruch nicht nur hingenommen, sondern ihn darüber hinaus durch ihre Haltung stillschweigend gebilligt haben. Hierin liegt zumindest ein völkerrechtlicher Verzicht, und die beteiligten Mächte haben sich dadurch jeden Rechtes auf eine nachträgliche Reaktion wegen Vertragsverletzung enthoben, die jeder Billigkeit widersprechen würde.

Was im besonderen Artikel 88 des Vertrags von St-Germain anlangt, so kann eine Verletzung dieser Bestimmung der Deutschen Regierung und damit dem Angeklagten Seyß-Inquart als angeblichem Mitverschwörer schon deshalb nicht zur Last gelegt werden, weil Deutschland an diesen Vertrag, den es nicht mit unterzeichnet hatte und der für es eine Res inter alia acta darstellte, nicht gebunden war.

Der deutsch-österreichische Vertrag vom 11. Juli 1936 andererseits war für andere Mächte als Deutschland und Österreich eine Res inter alia acta; hier hätte nur Österreich Vertragsbruch einwenden können. In diesem Zusammenhang sei auch darauf aufmerksam gemacht, daß das wiedererstandene Österreich nicht zu den Signataren des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 gehört. Demgemäß sind die vier Gründerstaaten des Internationalen Militärgerichtshofs nicht dazu berechtigt, in diesem Prozeß österreichische Belange geltend zu machen.

Was Artikel 80 des Vertrags von Versailles anlangt, so widerstehe ich der Versuchung einer Erörterung der Frage nach der Rechtsgültigkeit dieser Bestimmung; insbesondere will ich nicht auf die Bedeutung eingehen, die der Widerspruch dieses Artikels zu den sogenannten 14 Wilson-Punkten in rechtlicher Beziehung haben könnte.

Aber einen allgemeinen Gedanken kann ich zum Schluß dieser meiner Rechtsausführungen über die österreichische Angelegenheit nicht ganz unterdrücken:

Eines der großen internationalen Ordnungsprinzipien, das sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts unter Schmerzen, vielen Wirrungen und Abwegen durchgerungen und immer mehr verwirklicht hat, ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

So stark hat sich dieser Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in den zwischenstaatlichen Rechtsvorstellungen unseres Jahrhunderts verankert, daß man zu dem Gedanken gedrängt ist, ihn den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts zuzuzählen, ein Gedanke, der demokratischem Denken besonders nahe liegt.

Als allgemeiner Völkerrechtsgrundsatz aber würde er neben dem Statut, dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht und drittens dem Vertragsrecht die maßgebliche Urteilsform für den Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof bilden, der sich ja auch in anderen Fragen auf eine solche Grundlage berufen muß. Und weiter würde er, wie alle allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze, zwingenden Charakters sein und Vorrang, insbesondere vor völkerrechtlichem Vertragsrecht haben.

Eine Reihe von Staaten verdanken diesem erhabenen Ausdruck demokratischer Gedanken ihr Dasein. Den Österreichern ist nach dem ersten Weltkrieg solche Gnade versagt geblieben. Obgleich das Volk in Österreich wie in Deutschland im Jahre 1918 übereinstimmend zusammenstrebte, wurde Österreich dazu gezwungen, als ein künstliches naturwidriges Staatengebilde, das nicht leben und nicht sterben konnte, sein Dasein zu fristen.

Wie bitter klingen die Worte der Enzyklika »Ubi areano« vom 23. Dezember 1922:

»Wir hofften auf den Frieden, aber er brachte nicht das Heil; wir hofften auf die Heilung, aber es kam der Schrecken; wir hofften auf die Stunde der Genesung, aber es kam die Wirrnis; wir erwarteten das Licht, aber es kam die Finsternis.«

Auch im Jahre 1938 strebten Österreich und Deutschland nach dem überwiegenden Wunsche ihrer Bürger zusammen, und diesmal gelang es.

Unter weltgeschichtlichen Aspekten bedeutet die Einverleibung Österreichs nichts anderes als die erfolgreiche Integration eines mächtigen, in unserer Zeit lebendigen internationalen Ordnungsprinzips, des »Selbstbestimmungsrechts der Völker«.

Diese Dynamik ist über künstliche und unnatürliche Vertragsbestimmungen hinweggerollt.

Wer darf hier von Schuld sprechen?

Zur Frage der Tschechoslowakei habe ich nichts zu sagen und zur Frage Polens nicht viel, denn mein Klient ist den Polen gegenüber in der kurzen Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht in Erscheinung getreten, sondern war in der Hauptsache mit den organisatorischen Fragen des Aufbaus des deutschen Verwaltungsapparates beschäftigt. Es genügt in dieser Frage, wenn ich auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens verweise.

Auch über seinen Ehrengrad in der SS will ich nicht mehr sprechen, als daß ein Ehrenrang niemals unter der Befehls- und Disziplinargewalt Himmlers stand, noch, selbst eine solche Gewalt in der SS hatte.

Was seine Stellung als Minister ohne Geschäftsbereich anlangt, so wird die Bedeutung dieser Funktion im Rahmen der Organisationen beim Kapitel »Reichsregierung« erörtert werden.

Ich eile daher, ohne weiter auf dieses Zwischenspiel einzugehen, zum zweiten Schauplatz dieser Rechtssache, zu den Niederlanden.

Die Niederlande: Viele kennen diese nur als das Land der Windmühlen, Holzschuhe und Pluderhosen, den roten Backsteinbauten, den großen Viehherden auf den grünen Matten und den weiten, bunten Tulpenfeldern. Ich kannte es als das Land, das der Menschheit einen Rembrandt und die vielen Meister der niederländischen Schule, den großen Völkerrechtslehrer de Grotius schenkte, das in blutigen Kämpfen mit Philipp II. von Spanien um seine Freiheit rang und den großen Seehelden de Ruyter hervorbrachte, der am 21. August 1673 eine der größten Seeschlachten der Geschichte gewann. Hier im Prozeß aber lernten wir kennen, daß von allen besetzten Ländern die Niederlande den geschlossensten und zähesten politischen und einen immer wirksameren tatsächlichen Widerstand leisteten, und daß dieses Volk die ganzen Jahre hindurch nie die Hoffnung aufgab, daß der Tag der Freiheit wieder einmal kommen müßte!

Der Wahlspruch der niederländischen Provinz Seeland: »Luctor et emergo«, »Ich ringe und bleibe oben«, war das Losungswort des ganzen Landes geworden.

In dieses Land kam im Mai 1940 Seyß-Inquart als oberster Chef der zivilen Verwaltung. Was immer er gedacht und geplant haben mag, es ist seine Tragik, daß er als der Repräsentant Adolf Hitlers und eines in der Welt verhaßten Systems kam. Hunderte von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen trugen immer wieder seine Unterschrift, und mögen sie auch noch so gesetzlich vollkommen korrekt gewesen sein, so waren sie doch in den Augen des Volkes immer Maßnahmen des Feindes und Seyß-Inquart sein Bedrücker. Mein Klient hat sich zu diesem Amt nicht gedrängt; er hatte vielmehr gebeten, als Soldat an die Front gehen zu dürfen. Adolf Hitler hat dies abgelehnt. Seyß-Inquart hat auch seine Verantwortung nie bestritten und sich auch nach dem Zusammenbruch selbst gestellt. Bei Beurteilung seiner Verwaltungstätigkeit muß, falls die Rechtsmeinung der Verteidigung hinsichtlich des höheren Befehls von dem Gericht nicht geteilt wird, schon mit Rücksicht auf Paragraph 8 des Statuts, die Gesamtorganisation des Reiches einerseits und andererseits das Verhalten der niederländischen Bevölkerung beachtet werden. In welcher Weise Seyß-Inquart sich grundsätzlich mit seinen beiden widerstreitenden Aufgaben auseinandergesetzt hat, nämlich die Interessen des Reiches zu vertreten und doch der Obsorge für die Bevölkerung im Sinne der Haager Landkriegsordnung nachzukommen, ergibt sich aus seiner diesbezüglichen Stellungnahme wie folgt:

Folgende rechtliche Vorstellungen sind es, von denen sich mein Mandant bei der Verwaltung Hollands vornehmlich hat leiten lassen.

Die Entwicklung der Kriegstechnik, insbesondere auch im Bereich des Luftkrieges, die ungemeine Ausdehnung des Wirtschaftskrieges, die Ausweitung des Krieges zum »totalen und unteilbaren Kriege«, die Entstehung des Begriffs der totalen Blockade haben das Völkerrecht, wie es in den Jahren 1899 und 1907 bei Entstehung der Haager Abkommen in Kraft war, teils unter dem Gesichtspunkt der Clausula rebus sic statibus gegenstandslos gemacht, teils hat es sich zufolge der neuen Bedürfnisse und Gegebenheiten als durchaus lückenhaft und unbrauchbar erwiesen. Nur wenige Reste aus der alten Zeit ragten noch in den zweiten Weltkrieg hinein.

Besonders drastisch zeigt sich dieser Wandel gegenüber den durch die ungeheuere Entwicklung der Flugtechnik und der Sprengstoffe ermöglichten Bombenangriffe auf Wohnviertel, die nach früherem Recht keinerlei Berechtigung hatten und die, wenn sie sich überhaupt rechtfertigen lassen, dies nur aus dem Begriff des totalen Krieges können.

Insbesondere aber hat diese Entwicklung das Einzelindividuum, nicht zuletzt auch unter dem Einfluß des anglo-amerikanischen Kriegsbegriffs, als Objekt in den Krieg mit einbezogen.

Dementsprechend sind auch die feindliche Zivilbevölkerung, ebenso wie die Ressourcen besetzter Gebiete, im Zuge dieser Entwicklung zum Kriegspotential der besetzenden Macht bis an die durch die Menschlichkeit gebotenen Grenzen geworden.

Eine weitere Grenze bildet der allgemeine Völkerrechtsgrundsatz, daß die Inanspruchnahme dieser Kräfte für die Zwecke des Krieges notwendig sein muß, und drittens muß ex aequo et bono diese Anspruchnahme zumutbar sein.

Totalität und Unteilbarkeit des modernen Krieges verbieten es dabei auch, einzelne Räume gesondert zu behandeln. Es geht nicht mehr an, die personellen und wirtschaftlichen Kräfte eines bestimmten Gebietes nur für dessen Bedürfnisse in Anspruch zu nehmen, wie das die Haager Landkriegsordnung zum Teil noch vorschreibt. Diese Kräfte haben nunmehr dem ganzen Machtbereich eines kriegführenden Staates als einer Einheit zur Verfügung zu stehen, fruktifizieren andererseits von ihrer Zugehörigkeit zum Ganzen. Die neuzeitliche technische Entwicklung, besonders auf dem Gebiete des Nachrichten- und Verkehrswesens stellt ferner die Einstellung zu einem anderen Problem der Kriegführung, nämlich zu dem der sogenannten Partisanen, vor neue, schwerwiegendste Aufgaben.

Das Partisanenwesen hat gegenüber der Zeit des ersten Weltkrieges geradezu unvorstellbare Ausmaße im zweiten Weltkrieg angenommen und ist für die kämpfende Truppe zu einer ungeheuren Gefahr geworden, höchstens vergleichbar mit dem zermürbenden Guerillakrieg gegen Napoleon I. in Spanien. Zur Abwendung dieser Gefahr stellte das alte Völkerrecht keinerlei irgendwie ausreichende Regeln zur Verfügung.

Der beherrschende Grundsatz bei solcher Bekämpfung muß selbstverständlich die Sicherheit der kämpfenden Truppe um jeden Preis sein.

Das bedeutet, sowohl für die Armee wie auch die Okkupationsverwaltung, Recht wie Pflicht der Vornahme strengster Repressiv- und Präventivmaßnahmen bis zur Grenze der Zumutbarkeit und Menschlichkeit.

Nach diesen Richtlinien hat mein Mandant sein Amt ausgeübt und in der steten Vorstellung verwaltet, damit seine Pflicht nach den Weisungen des völkerrechtlichen Rechtssubjektes, das ist der Obersten Reichsführung, zu erfüllen. Jeder Gedanke, etwa rechtswidrig zu handeln oder gar sich strafbar zu machen, hat ihm dabei ferne gelegen.

Das hat nichts mit der Anwendbarkeit des Grundsatzes auf diesen Fall zu tun, daß Nichtwissen des einschlägigen Strafrechts einen Täter nicht vor Strafe schützt. Denn es handelt sich hier nicht um nationales Strafrecht, sondern um Völkerrecht, und es handelt sich zum andern nicht um Rechtsirrtum, sondern um subjektive Pflichtauffassung, die da und dort fehlgegangen sein mag, aber stets gutgläubig war!

Nunmehr nach dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung auf die einzelnen Verwaltungsakte des Angeklagten eingehend, muß darauf hingewiesen werden, daß, wie überall in den besetzten Gebieten, insbesondere aber in Deutschland selbst, die nationalsozialistische Verwaltung eine immer mehr und vielfacher sich schneidende Überorganisation und zugleich eine äußerst straffe Zentralisation nach Berlin aufwies. Es gab sohin in den Niederlanden folgende Zuständigkeiten:

1. Das Reichskommissariat (Zivile Verwaltung und Wahrung der Reichsinteressen).

2. Den Wehrmachtsbefehlshaber und die verschiedenen Oberbefehlshaber, einschließlich eigener Gerichte.

3. Die Polizei, auf die ich noch zu sprechen komme.

4. Vierjahresplan Göring.

5. Einsatzstab Rosenberg.

6. Generalarbeitseinsatz Sauckel.

7. Rüstungsministerium Speer und

8. nicht zuletzt die NSDAP mit ihren Dienststellen und Organisationen.

Den Weisungen dieser Zentralstellen hatte der Reichskommissar laut Führerbefehl also de jure unbedingt Folge zu leisten, beziehungsweise durfte er in deren Maßnahmen nicht eingreifen: Es wird vielleicht noch einmal eine spätere Geschichtsschreibung aufhellen, mit wieviel Geschick der Angeklagte manches hiervon verhindert oder zumindest gemildert hatte.

Was nun die niederländische Bevölkerung anbelangt, so verhielt sich dieselbe, wie bereits erwähnt, absolut ablehnend, und nahmen die Kräfte der Widerstandsbewegung, organisiert, ausgerüstet und geleitet durch die Niederländische Regierung in London, Jahr für Jahr zu. Von diesen beiden Gesichtspunkten muß man das Verhalten des Angeklagten betrachten, um zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Ich wende mich nun der Anklage zu, indem ich in großen Zügen der Einteilung der französischen Ankläger folge.

Der erste Vorwurf ist der angebliche Bruch der Souveränität des Landes durch die Einführung des Reichskommissariats mit seinen vier Generalkommissariaten, Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Einführung des Führerprinzips und Auflösung der gesetzlichen Körperschaften und politischen Parteien. In diesen Maßnahmen kann kein Bruch des Völkerrechts erblickt werden. Da sich Deutschland, das so wie die Niederlande Signatarmacht des IV. Haager Abkommens von 1907 war, während des Krieges auf die Landkriegsordnung berief, muß trotz des Fehlens der Allbeteiligungsklausel nach Eintritt der Sowjets in den Krieg die Geltung der Landkriegsordnung im Sinne der Einschränkung eingangs dieser Ausführungen auch für die Niederlande angenommen werden. Die Grundsätze derselben scheinen nicht verletzt. Durch die vollständige Besetzung des Landes und die Flucht der Königin und der Minister aus demselben ging die höchste Regierungsgewalt in zivilen Angelegenheiten von der Krone und dem Parlament auf die Besatzungsmacht und sohin auf den Reichskommissar über. Der mit besonderen Vollmachten im Lande zurückgelassene General Winkelmann hat auf die Ausübung jeder Befugnis in der bedingungslosen Kapitulation vom 10. Mai 1940 verzichtet. Es ist überdies anerkanntes Recht der Besatzungsmacht, die Verwaltung so zu regeln, wie es ihre Bedürfnisse verlangen. Es darf nur hierbei nichts unternommen werden, was die endgültige Klärung des Schicksals des Landes vorwegnimmt. Dies wurde auch vom Obersten Gerichtshof der Niederlande in der von mir vorgelegten Entscheidung vom 12. Januar 1942 ausdrücklich anerkannt. Auch die im Führererlaß vorgesehene Teilung der Gewalt zwischen dem Reichskommissar und dem Wehrmachtsbefehlshaber ist eine interne Kompetenzverteilung der Besatzungsmacht. Dies stellt das British Manual of Military Law von 1936 ausdrücklich fest. Daß das Staatsparlament suspendiert, die Tätigkeit des Staatsrates auf die Abgabe von Gutachten in Verwaltungsstreitigkeiten beschränkt und die parlamentarischen Parteien schließlich aufgelöst wurden, ist ebenfalls kein Verstoß gegen das Völkerrecht; denn während der Besetzung entscheidet der Okkupant selbst, inwieweit eine Notwendigkeit zu legislativen Maßnahmen und zur Abänderung der Landesgesetzgebung besteht.

Um die 150 Sitze des niederländischen Parlaments pflegten sich bei jedem Wahlgang 50 Parteien rund zu bekämpfen. Da die sich einander streitenden Parteien aber in der Ablehnung der Besatzungsmacht nicht nur einig waren, sondern sich auch vielfach in den verschiedensten Widerstandsbewegungen aktiv gegen die Besatzungsmacht betätigten, war ihre Suspendierung und spätere Auflösung, die erst mit Verordnung vom 5. Juli 1941 erfolgte, ein gutes Recht der Besatzungsmacht, zumal das Land auf der Linie der zu gewärtigenden Kriegsereignisse lag und mit einer Invasion gerechnet werden konnte. Dies machte eine straffe Zusammenfassung des Verwaltungsapparats unter Ausschaltung aller parlamentarischen Hemmnisse und der in diesen Institutionen gelegenen Möglichkeit feindlicher Propaganda notwendig.

Wenn dagegen darauf hingewiesen wird, daß die NSB dafür gefördert wurde, so ist kurz zu sagen, daß der Reichskommissar die Bildung einer Regierung durch diese Parteien konsequent ablehnte. Daß die Parteien, die im Lande vorhanden waren oder sich neu bildeten und weltanschaulich der Besatzungsmacht nahestanden, von ihr gefördert wurden, ist ebenfalls völkerrechtlich nicht unzulässig. Da der NSB keine offiziellen Verwaltungsbefugnisse eingeräumt wurden und politische Organisationen keinen Einfluß auf die Verwaltung erhielten, spielte auch die im Jahre 1943 erfolgte Erklärung dieser Partei zum Vertreter des politischen Willens des niederländischen Volkes keine Rolle. Es war und ist auch heute noch Gepflogenheit der Besatzungsmächte, ihnen nahestehende Parteien zu fördern und zu unterstützen.

Auch der erhobene Vorwurf der Germanisierung ist unzulässig. Das niederländische Volk wurde seiner Abstammung nach immer zu den Germanen gerechnet, und man kann daher aus ihm nicht Germanen machen wollen. Wenn man die niederländische Geschichte durchblättert, so sehen wir, daß die Niederlande durch Jahrhunderte im Reichsverband des Deutschen Reiches waren, und wer durch das Land wandert, kann in Groningen noch den Reichsadler im Wappen sehen, genau so wie Amsterdam die Kaiserkrone seit 1489 im Wappen führt. In Utrecht starben der erste und der letzte salische Kaiser Konrad II. und Heinrich V. Daß die Besatzungsmacht das durch die Blockade vom Meer und den Kolonien abgeschlossene Land zur Mitte Europas orientieren will, war begreiflich, aber es bestand niemals die Absicht, jedenfalls nicht beim Reichskommissar, die völkischen Eigenschaften und Selbständigkeit der Niederländer auszuschalten. Mit Recht hat der Angeklagte in seiner Rede vom 9. November 1943 in Utrecht – Dokumentenbuch 102 – unter anderem gesagt:

»Wir selbst würden aufhören, Europäer zu sein, wenn wir unsere Berufung nicht mehr darin sehen würden, diesen Blütenreichtum der arteigenen und blutgebundenen Kulturen der europäischen Völker zu erhalten und zu fördern.«

Auch der Vorwurf der Französischen Anklage, die Niederlande zur Teilnahme an dem Kriege zu gewinnen, ist ungerechtfertigt. Die Einstellung von Freiwilligen niederländischer Staatsangehörigkeit in die Deutsche Wehrmacht war nicht unzulässig. Artikel 45 der Landkriegsordnung verbietet nur die Zwangsrekrutierung zu Kriegshandlungen gegen das eigene Vaterland. Hierdurch wurden die von der Anklage angezogenen, während des Krieges durch königliche Verordnung verschärften Bestimmungen des niederländischen Strafrechts dem freiwilligen Waffennehmer gegenüber nicht aufgehoben. Das gleiche gilt auch bezüglich der Regelung der Staatsbürgerschaft bezüglich dieser Kriegsfreiwilligen und der Verheiratung mit deutschen Staatsbürgern. Da diese Verordnungen des Reichskommissars nur im Rahmen des Deutschen Reiches Rechtswirkungen haben konnten, kann man mit gutem Gewissen die Rechtsauffassung vertreten, daß sie keinen Widerspruch, keinen Mißbrauch der Souveränität im Sinne der Anklage darstellen. Daß eine Presse, die notorisch gegen die Besatzungsmacht Stellung nahm, zum Stillstand gebracht wurde, ist eine Maßregel, die selbstverständlich ist.

Die Französische Anklage sieht eine weitere Unterdrückung der Souveränität durch Ausschaltung des geistigen Lebens in der Schließung von Universitäten und Forderung einer Loyalitätserklärung. Es wird insbesondere auf die Schließung der Universität von Leyden verwiesen. Die Sperre der Universität von Leyden erfolgte aber wegen Studentenunruhen, und dies stellt daher eine völkerrechtlich nicht zu beanstandende Maßnahme zur Sicherung der Besatzungsmacht dar. Auch die Loyalitätserklärung bewegt sich im Rahmen der Landkriegsordnung. Artikel 45 verbietet, die Bevölkerung eines besetzten Landes zur Leistung des Treueides zu zwingen. Nach dem Text der verlangten Erklärung wird nur versprochen, sich jeder gegen das Deutsche Reich oder seine Armee gerichteten Handlungen zu enthalten. Da die Bevölkerung der besetzten Gebiete zum Gehorsam gegenüber der die Staatsgewalt ausübenden Besatzungsmacht jedoch verpflichtet ist, kann sohin in dieser Erklärung, die kein aktives Begehren stellt, nichts Völkerrechtswidriges erblickt werden.

Die Behördenorganisation wurde fast ganz übernommen und trotz ausgesprochen ablehnender, ja feindseliger Haltung beibehalten und insbesondere ein Eingriff in die Gerichtsbarkeit unterlassen. Der einzige Vorwurf in dieser Richtung ist die Absetzung des Gerichtspräsidenten von Leeuwarden. Der Angeklagte hat ausdrücklich erklärt, für diesen Fall die Verantwortung zu übernehmen, und er kann dies auch mit vollem Recht tun. Die Besatzungsmacht darf in die Rechtspflege nur dann eingreifen, wenn der Besetzungszweck gefährdet wurde. Wenn ein Richter sich weigert, Recht zu sprechen, zumal der Grund seiner Beschwerde vom Reichskommissar behoben wurde, wie es im vorliegenden Falle geschehen ist, dann war die Besatzungsmacht im Recht, wenn sie den in Frage kommenden Richter aus dem Amte entfernt hat.

Die Französische Anklage fährt fort und behauptet, daß der Angeklagte eine Reihe von Terrorakten gesetzt habe. Wir haben im Beweisverfahren hierzu gehört, was es für eine Bewandtnis mit den Kollektivstrafen gehabt hat. Ferner wurde durch die Zeugenschaft des Kammergerichtsrats Rudolf Fritsch und des Präsidenten Joppich bewiesen, daß der Angeklagte äußerst gewissenhaft bei der Ausübung des Gnadenrechts war und Kapitalstrafen möglichst einschränkte, und bezüglich der Polizeistandgerichte haben der Angeklagte und der Zeuge Wimmer nachgewiesen, daß es sich um ein von einem richterlichen Beamten geleitetes Verfahren, zu dem der jeweils Angeklagte einen freigewählten Verteidiger, auch einen Niederländer, beiziehen konnte, in Ausnahmefällen gehandelt habe, das übrigens ganz kurz, nämlich vierzehn Tage, in Ausübung stand.

Wir finden solche Ausnahmeverfahren auch jetzt noch bei den einzelnen Besatzungsmächten in viel schärferer Form. Die Ausschaltung der ordentlichen Gerichte und Überantwortung der Aburteilung der Saboteure und Widerstandsleute ab Juli 1944 erfolgte trotz des Protestes des Angeklagten auf direkten Führerbefehl. Einer der Schwerpunkte der Anklage ist die Geiselfrage, die ich daher ausführlich besprechen muß. Über die rechtliche Seite im allgemeinen hat schon Herr Dr. Nelte gesprochen, und ich verweise auf dessen Ausführungen.

Die Anklage hat nun insbesondere in F-879 zwei Fälle herausgegriffen: die sogenannte Geiselerschießung in Rotterdam und die nach dem Attentat auf den Höheren SS- und Polizeiführer Rauter. Schon in seiner ersten Vernehmung durch den Ankläger hat der Angeklagte bezüglich des ersten Falles von der Forderung nach 25 bis 50 Geiseln durch die Wehrmacht gesprochen. Der Zeuge Wimmer hat bestätigt, daß diese Geiseln von der Wehrmacht verlangt wurden, daß die Zahl durch Einwirkung des Angeklagten schließlich auf fünf herabgesetzt wurde, und daß die Durchführung der Erschießung in den Händen des Höheren SS- und Polizeiführers lag.

Das Verhältnis der Wehrmacht zum Reichskommissar, sowie das Verhältnis der Wehrmacht zur Polizei ist in dem Erlaß vom 18. Mai 1940, Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 778, 1376-PS, im Paragraph 2 und 3 geregelt.

Um den Angeklagten zu überführen, hat der Ankläger das Beschuldigten-, also nicht ein Zeugenprotokoll des Generals Christiansen vorgelegt. In einer Beschuldigtenvernehmung ist der Aussagende nicht zur Wahrheit verpflichtet. Aus diesem Protokoll ergibt sich nun:

a) Der Befehl erging mit Rücksicht auf die schweren Sabotagefälle von der Wehrmacht, und zwar in Analogie des inzwischen bekanntgewordenen sogenannten »Geiselrechts« in Belgien und Frankreich.

b) Die Verhaftung der Geiseln erfolgte sodann auf Befehl des Wehrmachtsbefehlshabers der Niederlande durch die deutsche Polizei, »Befehl ist Befehl«.

c) OKW oder Kommando West beharrt trotz Vorstellungen auf der Durchführung.

d) Vollzug durch die Polizei.

e) Proklamation I in der juristischen Abteilung des WBN gemacht; Proklamation II vom Höheren SS- und Polizeiführer verfaßt.

Würde das Gericht die Verantwortung des Angeklagten für stichhaltig erachten, wenn er sich zu seiner Verantwortung der Argumente des Generals Christiansen bedienen würde?

Was nun den zweiten sogenannten Geiselfall anbelangt, so handelt es sich hier um die Folgen eines Attentats im März 1945 gegen den Höheren SS- und Polizeiführer, SS-Obergruppenführer Rauter, den höchsten Polizeifunktionär in den Niederlanden, der Himmler direkt unterstellt war. Wenn wir uns erinnern, welche Folgen eintraten, als im Mai 1942 der Tyrann Heydrich von tschechischen Patrioten ermordet wurde, so können wir uns vorstellen, wie Himmler im Jahre 1945, auf der Höhe seiner Macht, darauf drängte, daß ein Anschlag gegen eines seiner nächsten und unmittelbaren Organe entsprechend gerächt werde. Daß auch der Angeklagte anläßlich des Attentats auf einen seiner Generalkommissare als Chef der Verwaltungsmacht im Sinne der Generalprävention abschreckende Maßnahmen verlangte, ist verständlich. Er hat aber keine Geiselnahme verlangt, sondern den Vollzug bereits rechtskräftig abgeschlossener Kriminalfälle. Aus F-879 ergibt sich die Richtigkeit dieser Behauptungen, indem die Zeugen Schöngarth, Lages, Kolitz und Gerbig übereinstimmend bestätigen, daß nur bereits zum Tode Verurteilte, und zwar nicht 200, sondern 117, zum Teil vielleicht vor dem vorgesehenen Vollstreckungstermin, hingerichtet wurden. Dies bestätigt auch der Kriminalkommissar Munt in D II des holländischen Regierungsberichts und ebenso der als Zeuge vor Gericht vernommene Dr. Friedrich Wimmer. Es handelt sich demnach in diesem Falle gar nicht um Geiseln im eigentlichen Sinne, sondern um vom Standpunkt der Besatzung an sich gerechtfertigte Exekutionen von Saboteuren, Plünderern et cetera, die man der Bevölkerung gegenüber zur Abschreckung als Geiselhinrichtung bezeichnete. Daß es dem Angeklagten gelang, die von Himmler ursprünglich geforderte Ziffer von 500 wirklichen Geiseln auf 117 Vollstreckungsfälle herabzubringen, kann nicht Anlaß sein, den Angeklagten für die Grausamkeiten Himmlers verantwortlich zu machen.

Die Anklage behauptet weiter, daß der Angeklagte als Reichskommissar die Verschickung einer ungeheuren Anzahl niederländischer Staatsbürger in das Reich billigte, leitete und unterstützte. Was nun die prinzipiellen Fragen der Verwendung ausländischer Arbeiter anlangt, so wurde dies bereits von anderen Verteidigern eingehend besprochen. Es seien aber auch zu diesem Anklagepunkt noch einige Bemerkungen erlaubt. Wie ich durch Auskunft des statistischen Amtes nachgewiesen habe, war die Arbeitslosigkeit von 300000 bis 500000 Menschen bei weniger als neun Millionen Einwohnern vor dem Kriege eine chronische Erscheinung im Wirtschaftsleben der Niederlande, die mit mehr oder weniger Recht als eines der reichsten Länder Europas angesehen wurden. Als daher mit der Besetzung die Regierungsgewalt in die Hände des Reichskommissars überging, war es geradezu seine Pflicht, zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung der Arbeitslosigkeit entgegenzutreten. Daß dies nicht nach liberalistischen Grundsätzen erfolgte, war klar, zumal auch in Ländern liberaler Wirtschaftsordnung die Wirtschaft entsprechend den Erfordernissen der Kriegszeit einheitlich gelenkt wurde. Bis zum Jahre 1943 erfolgte der Arbeitseinsatz nach dem Prinzip der Freiwilligkeit. Daß eine gewisse wirtschaftliche Nötigung vorlag, hat der Angeklagte selbst erklärt. Er hatte insbesondere bei Minister Speer großes Verständnis dafür gefunden, durch Verlegung von Arbeiten aus dem Reich in die Niederlande die Möglichkeit zu schaffen, den Arbeiter in seiner Heimat verwenden zu können. Im Jahre 1943 erfolgte ein Aufruf von drei Jahrgängen, und zwar junger unverheirateter Männer, durch die Arbeitsämter und nicht durch gewaltsame Aktionen. Als im Jahre 1944 das Reich 250000 Arbeiter verlangte, hat der Reichskommissar dies, was auch Lammers bestätigt hat, abgelehnt. Als dann im Herbst 1944 die sogenannte »Menschenfangaktion« durch Zusammenfangen der wehrfähigen Bevölkerung erfolgte, war dies, wie die Zeugen Hirschfeld, Schwebel und Wimmer bestätigt haben, eine Aktion der Wehrmacht, für die der Angeklagte nicht verantwortlich gemacht werden kann. Es muß im Gegenteil hier ausdrücklich festgehalten werden, daß der Reichskommissar durch die inzwischen erfolgte Ausstellung von 1000000 Rückstellungsscheinen und durch Drängen auf eine geregelte Transportmöglichkeit, sowie durch die von ihm eingeleitete Arbeitsmobilisierung die Härten dieser Maßnahmen abschwächte, wobei nicht übersehen werden darf, daß das ständige Anwachsen der Widerstandsbewegung die Wehrmacht mit Recht befürchten ließ, daß die in den Südwestprovinzen massierten Menschen eine ernste Gefahr für die Besatzungsmacht darstellen. Zusammenfassend muß hier rechtlich bemerkt werden, daß der Angeklagte an die Weisungen der Zentralstellen im Rahmen des Vierjahresplans gebunden war, ohne solche Weisungen und Anforderungen niemals Arbeiter ins Reich geschickt hätte, und daß er, soweit die Durchführung nicht den Gesetzen der Humanität entsprach, Einspruch erhob. Im Rahmen seiner Aktionen hat der Angeklagte die Humanität gewahrt.

Was den nächsten Punkt der Anklage, die sogenannte Wirtschaftsausplünderung des Landes betrifft, sei gleichfalls auf die grundsätzlichen Eingangserklärungen verwiesen. Die Beschlagnahme der Rohstoffe erfolgte sogleich bei Besatzungsbeginn im Rahmen des Vierjahresplans und wurde unter Einschaltung der niederländischen Behörden durchgeführt, die dabei Gelegenheit hatten, unnütze Härten zu vermindern. Daß der Angeklagte lieber alle diese Vorräte in seinem Verwaltungsbereich behalten hätte, ist klar. Der Angeklagte hat bei allen Requisitionen auf einem ordentlichen Entschädigungsverfahren bestanden, den ungerechtfertigten Transport von Institutionen, wie zum Beispiel bei der Margarinefabrik in Dortrecht oder des Kälteinstituts in Leyden, verhindert. Da die Niederländer nicht schlechter gestellt werden sollten als die deutschen Staatsbürger laut einem auf Drängen des Reichskommissars gegebenen Versprechen Görings, so erscheint bei einer nicht zu engen Auslegung auch in diesem Punkte – was den Angeklagten betrifft – die Haager Landkriegsordnung, Artikel 53, gewahrt. Daß die Beschlagnahmen in erster Linie von der Wehrmacht ausgingen und durch die Kriegslage bedingt waren, ergibt sich aus dem Bericht des Feldwirtschaftsoffiziers beim Wehrmachtsbefehlshaber Niederlande vom 9. Oktober 1944, RF-132, und aus dem Bericht des Leutnants Haupt, 3003-PS, US-196, welch letzterer insbesondere darauf hinweist, daß eine Schwierigkeit in der ganzen Lage darin besteht, daß der Reichskommissar Seyß-Inquart noch in dem Gebiete steht, wenn er auch fast zurückgetreten ist. Das deutet wohl darauf hin, daß der Angeklagte immer wiederum auch auf diesem Gebiet, soweit es in seiner Macht war, Härten verminderte oder entgegentrat. Daß die Wehrmacht im totalen Kriege nach der Invasion bei Herannahen des Feindes Rohstoffe und rollendes Material entfernte, ist ebenfalls völkerrechtlich vollkommen vertretbar.

Die durch den Krieg geschaffene Zwangslage verlangte eine Neuausrichtung der niederländischen Wirtschaft auf dem europäischen Kontinent. Nach einer offiziellen Statistik waren in den Niederlanden vor dem Kriege 39 Prozent der Erwerbstätigen in Gewerbe und Industrie, 23 Prozent in Handel und Verkehr, 20 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt. Durch die Absperrung von der Außenwelt war die Schiffahrt vollständig stillgelegt, und es sei nur als ein Beispiel angeführt, daß 60 Prozent des Handels, der über den Rotterdamer Hafen ging, den deutschen Warenverkehr betraf. Die hochentwickelte Landwirtschaft war eine ausgesprochene Veredelungswirtschaft und auf den Kunstdünger aus Südamerika und Kraftfutter aus Kanada abgestellt. Wir haben aus der Zeugenaussage des Dr. Hirschfeld entnommen, wie relativ günstig die Landwirtschaft der Niederlande, insbesondere deren weltberühmte Viehzucht, den Krieg überstand. Dies war nur durch ein verständnisvolles Zusammenarbeiten des Reichskommissars mit den einheimischen Dienststellen und Unterstützung derselben durch den Angeklagten möglich.

Die Ausrichtung der Wirtschaft auf den europäischen Großraum, der während des Krieges fast ganz von Deutschland mit seinen Verbündeten beherrscht wurde, bot zweifellos große Absatzmöglichkeiten für den niederländischen Handel und Industrie. Es war daher selbstverständlich, daß auch in finanzieller Beziehung eine Angleichung der Wirtschaft an die Verhältnisse im Deutschen Reich, respektive an den europäischen Wirtschaftsraum, erfolgen mußte. Schon im Hinblick auf die Preispolitik war eine Regelung der Finanzwirtschaft notwendig. Es würde über den Rahmen dieses Prozesses hinausgehen, hier Näheres auszuführen.

Der Anklage gegenüber sei nur darauf hingewiesen, daß der Angeklagte auf die Höhe der Besatzungskosten keinerlei Einfluß, ja nicht einmal eine Überprüfungsmöglichkeit hatte, lediglich der zivile Haushalt des Reichskommissariats wurde vom Reichskommissar geregelt, unter Genehmigung durch das Reich und der Überwachung durch den Reichsrechnungshof. Einvernehmlich mit den niederländischen Dienststellen wurde der zivile Bedarf mit drei Millionen Gulden monatlich festgesetzt, nicht überschritten, im Gegenteil, Ende 1943 ergab sich eine Einsparung von 60 Millionen Gulden, die in den Niederlanden blieben. Das Fallen der Zollgrenzen im zwischenstaatlichen Verkehr war durch die gemeinsame Preispolitik gerechtfertigt und konnte sich nur zugunsten der Niederlande auswirken. Auch die Relation zwischen Mark und Gulden wurde einvernehmlich festgesetzt. Eine Differenz ergab sich erstmalig erst bei Aufhebung der Devisensperre. Hier gingen die Meinungen des bisherigen niederländischen Generalsekretärs Trip und die des Generalkommissars Fischböck auseinander. Der Angeklagte, der ja schließlich kein Finanzmann war, hat diese wichtige Frage den zentralen Reichsstellen zur Entscheidung vorgelegt, und der Angeklagte Göring hat im Beweisverfahren ausdrücklich erklärt, daß er gegen die Meinung des Wirtschaftsministers Funk sich für die Auffassung Dr. Fischböcks entschied. Den Angeklagten kann daher keine strafrechtliche Verantwortung treffen, nicht einmal eine Culpa in eligendo, wenn er an Stelle des zurückgetretenen Generalsekretärs Trip nun Rost van Tonningen berief, der als ehemaliger Völkerbundskommissar sicherlich ein ausgezeichneter Finanzfachmann war.

Der Angeklagte Funk hat hier auch bekundet, daß er immer die Clearingschulden für echte Schulden aufgefaßt habe. Im niederländischen Regierungsbericht wird darauf verwiesen, daß die finanzielle Anforderung des Reiches in allen besetzten Westgebieten ungefähr die gleiche Höhe erreicht habe und nur die Methoden verschieden waren. Die in den Niederlanden befolgte Methode hätte bei einem für Deutschland erfolgreichen Kriegsausgang das Ergebnis gehabt, daß die Niederlande eine echte Forderung in der Höhe von viereinhalb Milliarden Gulden gegen das Reich gehabt hätten. Die ganze Frage gehört daher nicht in einen Strafprozeß, sondern in die Friedensverhandlungen. Es wurde übrigens über alles genau Buch geführt; so sei nur bemerkt, daß die Schaffner der niederländischen Straßenbahngesellschaften immer fein säuberlich notierten, wenn ein Wehrmachtsangehöriger mit Freifahrschein die Trambahn benutzte. Was die angebliche Ausplünderung von Museen und Bibliotheken anbelangt sowie des königlichen Vermögens, so sei der Kürze halber auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens verwiesen, aus dem sich zweifellos ergibt, daß der Angeklagte besonders auf die Wahrung der weltberühmten öffentlichen Kunstschätze bedacht war und Übergriffe der Reichsstellen, falls solche vorlagen, auf ein Minimum herabdrückte.

Soweit die Wegnahme nichtkriegswichtiger Dinge, zum Beispiel Kunstschätze, Bibliotheken et cetera in Frage kommt, hat sich der Angeklagte daran nicht beteiligt. Die wenigen von ihm für Wien gekauften Bilder erwarb er auf dem freien Markt. Bezüglich des königlichen Vermögens selbst gab er aber solche Anweisungen, daß diese Vermögenseinziehung nur eine Demonstration blieb. Dies läßt auch der niederländische Regierungsbericht erkennen. Die mehrfach erwähnte Bibliothek Rosenthaliana kam nicht ins Reich; der Angeklagte hielt den wider seinen Willen erfolgten Abtransport in Groningen auf. Ebenso erscheint der Fall Arnheim durch die Zeugen Dr. Hirschfeld und Wimmer und den Bericht des Feldwirtschaftskommandos, Dokument 81, geklärt.

Mit den Wirtschaftsfragen steht auch im gewissen Zusammenhang die Judenfrage. Bevor ich auf diesen Hauptpunkt eingehe, muß ich unbedingt über die Stellung der Polizei in den Niederlanden sprechen. Die Anklage will beweisen, daß die Polizei, und zwar auch die deutsche Polizei, insbesondere auch die Sicherheitspolizei, dem Angeklagten unterstand; diesem Versuch kommt die Tatsache entgegen, daß bei allen Signatarmächten, mit Ausnahme der Sowjets, die Polizei tatsächlich ein Teil der zivilen, insbesondere der inneren Verwaltung ist. In Deutschland war die Sachlage so: De facto und nicht de jure war Himmler selbständig, sogar mächtiger als jeder Minister, obwohl er nominell Staatssekretär im Innenministerium war. Ihm als Reichsführer unterstand, straff und zentral geleitet, die SS. Der Angeklagte Keitel hat am 5. April 1946 ausgesagt, daß die SS seit Beginn des Krieges immer mehr ein selbständiger Machtfaktor innerhalb des Reiches geworden ist. Er und seine Mitarbeiter hätten keine Einsicht in die Vollmachten Himmlers gehabt, und Himmler und Heydrich hatten die Rechtsprechung über Leben und Tod in den besetzten Ländern durch den mehrfach erwähnten Führerbefehl an sich gerissen.

Wie war nun die Lage in den Niederlanden?

Erstens: Schon im Führererlaß vom 18. Mai 1940 ist ersichtlich, daß die deutsche Polizei nicht ein Teil der Organisation des Reichskommissars und diesem unterstellt war. Es heißt nämlich in dem Erlaß: »Die Polizei steht dem Reichskommissar zur Verfügung«, was nicht nötig wäre, wenn sie ein Teil der Dienststelle des Reichskommissars war.

Wenn also der Reichskommissar oberste Regierungsgewalt im zivilen Bereich ist, so ist darin die Polizei nicht enthalten.

Zweitens: In der Verordnung Nummer 4 hat der Reichskommissar die Verwaltungsorgane kundgemacht, und zwar so, daß die Niederländer klar sehen konnten, was sie angeht, ohne von der Aufspaltung der Reichsinstanzen berührt zu werden. Bezüglich der Polizei, und zwar der deutschen und der niederländischen, wird als zweiter Generalkommissar ein solcher für das Sicherheitswesen – Höherer SS- und Polizeiführer – eingesetzt. Nach Paragraph 5 dieser Verordnung führt der Höhere SS- und Polizeiführer:

a) die deutsche Polizei und Waffen-SS. Diese Feststellung ist deklarativ für die Niederländer, denn der Höhere SS- und Polizeiführer wurde vom Führer auf Vorschlag Himmlers ernannt, ohne daß der Reichskommissar befragt wurde. Rauter stellte sich dem Reichskommissar als bereits ernannt vor, und für die Waffen-SS hätte der Reichskommissar auch nach Ansicht der Anklage niemals den Befehlshaber ernennen können.

b) Die niederländische Polizei. Diese Feststellung ist konstitutiv, denn für die niederländische Polizei war der Reichskommissar zuständig.

Der niederländische Zeuge, Dr. Hirschfeld, der durch die ganze Besatzungszeit Generalsekretär war, hat ausdrücklich bestätigt, daß Rauter direkt Himmler unterstellt war, und daß die laut Verordnung scheinbare Einheit der Polizei und Verwaltung in Wirklichkeit nicht bestanden hat.

Raphael Lemkin hat in seinem Buche »Axis rule in Occupied Europe« auf Seite 21 als Aufgabe der Polizei die Liquidation von politisch unerwünschten Personen und Juden bezeichnet, wie auch der Polizei die Hauptverantwortung für die Erfassung und Deportation der Arbeitskräfte des Arbeitseinsatzes in den besetzten Ländern oblag.

VORSITZENDER: Wäre jetzt nicht ein passender Zeitpunkt für die Vertagung?