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VORSITZENDER: Ich bitte nun Herrn Donnedieu de Vabres die Verlesung fortzusetzen.

PROFESSOR HENRY DONNEDIEU DE VABRES, MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK:

Die Besitzergreifung Österreichs.

Der Einfall in Österreich war eine im voraus geplante Angriffsmaßnahme4 zur Förderung des Planes, gegen andere Länder Angriffskriege zu führen. Als Ergebnis wurde Deutschlands Flanke geschützt und die Tschechoslowakei5 erheblich geschwächt. Der erste Schritt zur Ergreifung von »Lebensraum« war getan; viele neue Divisionen ausgebildeter Soldaten waren gewonnen, und durch die Ergreifung ausländischer Devisenreserven war das Aufrüstungsprogramm gestärkt worden.

Am 21. Mai 1935 verkündete Hitler im Reichstag, daß Deutschland keine Absicht habe, sei es, Österreich anzugreifen, sei es, sich in seine inneren Angelegenheiten einzumischen. Am 1. Mai 1936 hat er bei seiner Verkündung friedlicher Absichten die Tschechoslowakei und Österreich in aller Öffentlichkeit in dieser Verbindung zusammen erwähnt, und noch am 11. Juni 19366 hat er durch Vertrag die volle Souveränität Österreichs anerkannt.

Im März 1938 hat Deutschland dann tatsächlich von Österreich Besitz ergriffen. Vor jener Zeit hatten die Nationalsozialisten seit einer Reihe von Jahren mit den Nationalsozialisten Österreichs zusammengearbeitet, mit dem Endziel, die Einverleibung Österreichs ins Deutsche Reich zustande zu bringen. Der Putsch vom 25. Juli 1934, der zur Ermordung des Kanzlers Dollfuß führte, hatte die Besitzergreifung Österreichs zum Ziele. Aber der Putsch schlug fehl, und die Folge war, daß die Nationalsozialistische Partei in Österreich verboten wurde. Am 11. Juli 1936 wurde zwischen beiden Ländern ein Vertrag abgeschlossen, dessen Artikel 1 wie folgt lautete:

»Im Sinne der Feststellungen des Führers und Reichskanzlers vom 21. Mai 1935 anerkennt die Deutsche Reichsregierung die volle Souveränität des Bundesstaates Österreich.«

In Artikel 2 hieß es:

»Jede der beiden Regierungen betrachtet die in dem anderen Lande bestehende innerpolitische Gestaltung, einschließlich der Frage des österreichischen Nationalsozialismus, als eine innere Angelegenheit des anderen Landes, auf die sie weder unmittelbar noch mittelbar Einwirkung nehmen wird« (TG-22, GB-20).

Die nationalsozialistische Bewegung in Österreich setzte jedoch ihre ungesetzliche Tätigkeit heimlich fort; und die Nationalsozialisten Deutschlands gewährten der Partei tatkräftige Unterstützung. Die sich daraus ergebenden »Zwischenfälle« wurden von den deutschen Nationalsozialisten als Vorwand zur Einmischung in österreichische Angelegenheiten benützt. Nach der Konferenz vom 5. November 1937 vermehrten sich diese »Zwischenfälle« rasch. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern verschlechterten sich ständig, und zum Schluß wurde der österreichische Kanzler Schuschnigg von dem Angeklagten von Papen und anderen dazu überredet, um eine Unterredung mit Hitler nachzusuchen, die dann am 12. Februar 1938 in Berchtesgaden stattfand; der Angeklagte Keitel war bei der Konferenz zugegen. Hitler drohte Dr. Schuschnigg mit einem sofortigen Einfall in Österreich. Schuschnigg hat sich schließlich mit der Gewährung einer politischen Amnestie für verschiedene wegen Verbrechen verurteilte Nazis einverstanden erklärt und willigte auch darin ein, das Amt des Ministers des Innern und der öffentlichen Sicherheit, einschließlich der Aufsicht über die Polizei, dem Nazi Seyß-Inquart zu übertragen. Am 9. März 1938 entschloß sich Dr. Schuschnigg zu dem Versuch, die Unabhängigkeit seines Landes durch eine Volksabstimmung über die österreichische Unabhängigkeitsfrage zu erhalten; sie wurde für den 13. März 1938 angesetzt. Zwei Tage später sandte Hitler ein Ultimatum an Schuschnigg: Die Volksabstimmung müsse abgesagt werden. Am Nachmittag und am Abend des 11. März 1938 stellte der Angeklagte Göring eine Reihe von Forderungen an die Österreichische Regierung und drohte in jedem Fall damit, daß bei Nichterfüllung einmarschiert werde. Nachdem sich Schuschnigg mit der Absagung der Volksabstimmung einverstanden erklärt hatte, wurde die weitere Forderung gestellt, daß Schuschnigg zurücktrete und daß der Angeklagte Seyß-Inquart zum Kanzler ernannt werden müsse. Infolgedessen trat Schuschnigg zurück und Präsident Miklas gab, nachdem er sich zuerst geweigert hatte, Seyß-Inquart zum Kanzler zu ernennen, nach und vollzog die Ernennung.

Mittlerweile hatte Hitler endgültigen Befehl gegeben, daß die deutschen Truppen bei Tagesanbruch am 12. die Grenze überschreiten sollten; Seyß-Inquart wurde angewiesen, Formationen der österreichischen Nationalsozialisten zur Absetzung von Miklas und zur Übernahme der Kontrolle der Österreichischen Regierung einzusetzen. Nachdem die deutschen Truppen den Marschbefehl erhalten hatten, telephonierte Göring mit der Deutschen Gesandtschaft in Wien und diktierte ein Telegramm, das Seyß-Inquart an Hitler senden sollte, um die bereits angeordnete militärische Aktion zu rechtfertigen. Der Wortlaut des Telegramms war:

»Die Provisorische Österreichische Regierung, die nach der Demission der Regierung Schuschnigg ihre Aufgabe darin sieht, die Ruhe und Ordnung in Österreich wieder herzustellen, richtet an die Deutsche Regierung die dringende Bitte, sie in ihrer Aufgabe zu unterstützen und ihr zu helfen, Blutvergießen zu verhindern. Zu diesem Zweck bittet sie die Deutsche Regierung um baldmöglichste Entsendung deutscher Truppen.« (2949-PS, US-76.)

Keppler, ein Beamter der Deutschen Gesandtschaft, erwiderte:

»Also es marschieren SA und SS durch die Straßen, es ist aber sehr ruhig.«

Nach einigen weiteren Erörterungen sagte Göring:

»Also bitte, legen Sie ihm das Telegramm vor und sagen Sie ihm, wir bitten – er braucht das Telegramm gar nicht zu schicken, er braucht nur zu sagen: Einverstanden.« (2949-PS, US-76.)

Seyß-Inquart hat das Telegramm nie abgeschickt, noch hat er auch nur jemals »einverstanden« telegraphiert.

Es scheint, daß er, sobald er zum Kanzler ernannt worden war, kurz nach 10.00 Uhr abends, Keppler zu sich berief und ihm sagte, er solle Hitler anrufen und ihm Seyß-Inquarts7 Protest gegen die Besetzung übermitteln. Diese Handlungsweise empörte den Angeklagten Göring, da »sie die Ruhe des Führers stören würde, der am nächsten Tag nach Österreich gehen wollte«.

Ein Beamter des Propagandaministeriums telephonierte mit der Deutschen Botschaft in Wien um 11.15 Uhr nachts und Keppler sagte ihm: »Richten Sie dem Generalfeldmarschall aus, daß Seyß-Inquart zustimmt.«

Im Morgengrauen des 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, ohne Widerstand zu begegnen. In der deutschen Presse wurde bekanntgegeben, daß Seyß-Inquart zum Nachfolger Schuschniggs ernannt worden war, und das Telegramm, das Göring vorgeschlagen hatte, das aber nie abgesandt worden war, wurde zitiert, um zu zeigen, daß Seyß- Inquart zur Vermeidung von Unruhen um die Entsendung deutscher Truppen ersucht hatte. Am 13. März 1938 erging ein Gesetz zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Seyß-Inquart verlangte von Präsident Miklas, daß er dieses Gesetz unterzeichne; dieser weigerte sich jedoch und trat von seinem Amt zurück. Seyß-Inquart wurde sein Nachfolger und unterzeichnete das Gesetz im Namen Österreichs. Dieses Gesetz wurde dann als ein Reichsgesetz durch ein Gesetz der Reichsregierung vom gleichen Tage angenommen, und durch Hitler, Göring, Frick, von Ribbentrop und Heß unterzeichnet.

Hier vor Gericht wurde behauptet, daß die Annexion Österreichs in dem weitverbreiteten Wunsch einer Vereinigung Österreichs und Deutschlands ihre Rechtfertigung gefunden habe, daß die beiden Völker vieles gemein hätten, das diese Vereinigung wünschenswert mache, und daß schließlich dieses Ziel ohne Blutvergießen erreicht worden sei.

Selbst wenn dies alles wahr wäre, wäre es ganz unerheblich, da die Tatsachen klar beweisen, daß die Methoden, derer man sich zur Erlangung jenes Zieles bediente, die eines Angreifers waren. Entscheidend war, daß Deutschlands bewaffnete Macht zum Einsatz für den Fall des Widerstandes bereitstand. Weiterhin zeigt das Hoßbach-Protokoll der Sitzung vom 5. November 1937, daß keine dieser Überlegungen das treibende Motiv für Hitlers Handeln gewesen ist; ganz im Gegenteil, es wurden nur die Vorteile betont, die der militärischen Stärke Deutschlands durch die Annexion Österreichs winkten.