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The Holocaust History Project.
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Auschwitz-Prozess - Urteil

LG Frankfurt/Main vom 19./20.8.1965, 4 Ks 2/63

1. Abschnitt:
Die Einrichtung und Entwicklung der Konzentrationslager im NS-Staat

2. Abschnitt:
Das Konzentrationslager Auschwitz
I. Allgemeines
II. Beschreibung des Konzentrationslagerbereiches
1. Das Stammlager
2. Das Lager Birkenau
3. Das Lager Monowitz mit seinen Nebenlagern
III. Die innere Organisation des Konzentrationslagers Auschwitz
1. Die Lagerkommandantur (Abteilung I)
2. Die Politische Abteilung (Abteilung II)
a. Die Aufnahmeabteilung
b. Die Vernehmungsabteilung
c. Das Standesamt
d. Der Erkennungsdienst
e. Die Fürsorgeabteilung
3. Die Schutzhaftlagerführung (Abteilung III)
a. Der Schutzhaftlagerführer
b. Der Rapportführer
c. Der Blockführer
4. Die Abteilung Verwaltung (Abteilung IV)
5. Der ärztliche Dienst (Abteilung V)
6. Der Arbeitseinsatz
7. Die Häftlingsfunktionäre
8. Der Wachsturmbann
IV. Unterstellungsverhältnisse, Befehlsweg
V. Die Lebensverhältnisse der Schutzhaftgefangenen
1. Unterbringung
2. Sanitäre und hygienische Verhältnisse im Lager
3. Bekleidung
4. Ernährung
5. Die Arbeitsfron der Gefangenen
6. Krankheiten und Seuchen
7. Richtlinien für die Behandlung der Häftlinge
8. Die tatsächliche Behandlung der Gefangenen im KL Auschwitz durch die SS-Angehörigen und die Häftlingsfunktionäre
VI. Die Disziplin der SS-Angehörigen in Auschwitz
VII. Das KL Auschwitz als Vernichtungslager
1. Das KL Auschwitz als Hinrichtungsstätte für Polen
2. Das KL Auschwitz als Exekutionsstätte für polnische Geiseln
3. Das KL Auschwitz als Exekutionsstätte für russische Kriegsgefangene
4. Das Konzentrationslager Auschwitz als Vernichtungsstätte kranker und entkräfteter Lagerinsassen
5. Das KL Auschwitz als Massenvernichtungsanstalt für die Tötung jüdischer Menschen

Zwischenstück:
Beweismittel und Beweisgrundlagen für die im ersten und
zweiten Abschnitt getroffenen Feststellungen

3. Abschnitt:
Die Straftaten der Angeklagten
A. Die Straftaten des Angeklagten Mulka
I. Lebenslauf des Angeklagten Mulka
II. Die Mitwirkung des Angeklagten Mulka an der Massentötung
jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)
III. Die Einlassung des Angeklagten Mulka
IV. Beweiswürdigung
1. Allgemeine Vorbemerkung zur Beweiswürdigung
2. Beweisgrundlagen und Beweiswürdigung zu den allgemeinen
Feststellungen über die Abwicklung der sog. RSHA-Transporte
3. Beweiswürdigung im Falle Mulka
V. Rechtliche Würdigung
1. Taten und Strafbarkeit der Haupttäter
2. Strafrechtliche Beurteilung der Beteiligung des Angeklagten
Mulka an den Vernichtungsaktionen
VI. Hilfsbeweisanträge
VII. Strafzumessung
1. Allgemeine Erwägungen zu der Bemessung der Strafen wegen Beihilfe zum Mord
2. Strafzumessung bezüglich des Angeklagten Mulka
B. Die Straftaten des Angeklagten Höcker
I. Lebenslauf des Angeklagten Höcker
II. Die Mitwirkung des Angeklagten Höcker an der Massentötung
jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)
III. Die Einlassung des Angeklagten Höcker
IV. Beweiswürdigung
V. Rechtliche Würdigung
VI. Hilfsbeweisanträge
VII. Strafzumessung
C. Die Straftaten des Angeklagten Boger
I. Lebenslauf des Angeklagten Boger
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger bei einer sog.
Lagerselektion (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
3. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger bei den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2 und 3)
4. Die Tötung von Häftlingen bei verschärften Vernehmungen (Eröffnungsbeschluss Ziffer 4)
5. Die Tötung von mindestens 100 Häftlingen nach einem Aufstand des jüdischen Sonderkommandos
III. Die Einlassung des Angeklagten Boger
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
4. Zu II. 4.
5. Zu II. 5.
IV. Beweisgrundlagen für die Feststellungen unter I. und II., Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
4. Zu II. 3.
5. Zu II. 4.
6. Zu II. 5.
V. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
4. Zu II. 4.
5. Zu II. 5.
VI. Hilfsbeweisanträge
VII. Strafzumessung
D. Die Straftaten des Angeklagten St.
I. Der Lebenslauf des Angeklagten St.
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten St. an Erschiessungen im kleinen Krematorium (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Erschiessung von zwei Kindern (EB 1)
3. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Tötung jüdischer Menschen durch Gas im kleinen Krematorium (Eröffnungsbeschluss Ziffer 3)
4. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Tötung jüdischer Menschen, die ab Sommer 1942 mit Eisenbahnzügen nach Auschwitz deportiert und auf der alten Rampe selektiert wurden (Eröffnungsbeschluss Ziffer 4)
5. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei weiteren Vergasungen von jüdischen Menschen im kleinen Krematorium im Mai und Juni 1942, die nicht angeklagt sind und die in dem Eröffnungsbeschluss dem Angeklagten St. nicht zur Last gelegt werden
III. Einlassung des Angeklagten St., Beweismittel und Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1. a. und b.
3. Zu II. 2.
4. Zu II. 3.
5. Zu II. 4.
6. Zu II. 5.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1., 3., 4.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 5.
V. Anwendung des Jugendstrafrechts auf den Angeklagten St.
VI. Hilfsbeweisanträge
VII. Strafzumessung
E. Die Straftaten des Angeklagten Dylewski
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dylewski
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Dylewski an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Beteiligung des Angeklagten Dylewski an den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen der für den Tod ausgesuchten Häftlingen (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2, 3 und 4)
III. Einlassung des Angeklagten Dylewski, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
V. Strafzumessung
F. Die Straftaten des Angeklagten Broad
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Broad
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Broad an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Beteiligung des Angeklagten Broad an den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen an der Schwarzen Wand (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2)
III. Einlassung des Angeklagten Broad, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
IV. Rechtliche Würdigung der unter II getroffenen Feststellungen
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
V. Strafzumessung
G. Die Straftaten des Angeklagten Schlage
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Schlage
II. Die Beteiligung des Angeklagten Schlage an sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand (Eröffnungsbeschluss betr. den Angeklagten Schlage)
III. Einlassung des Angeklagten Schlage, Beweismittel, Beweiswürdigung
IV. Rechtliche Würdigung der unter II getroffenen Feststellungen
V. Strafzumessung
H. Die Straftaten des Angeklagten Hofmann
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Hofmann
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Hofmann an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Mitwirkung des Angeklagten Hofmann bei den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 (Eröffnungsbeschluss 2)
3. Die Tötung eines Häftlings durch einen Flaschenwurf (Eröffnungsbeschluss 6)
4. Weitere Taten des Angeklagten Hofmann, die nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten sind
III. Einlassung des Angeklagten Hofmann, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
4. Zu II. 3.
5. Zu II. 4.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
4. Zu II. 4.
V. Hilfsbeweisanträge
J. Die Straftaten des Angeklagten Kaduk
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Kaduk
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Auswahl kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge im Stammlager zur Vergasung durch den Angeklagten Kaduk (Eröffnungsbeschluss 1a)
2. Die Tötung eines Häftlings durch den Angeklagten Kaduk (Eröffnungsbeschluss 7)
3. Die Tötung eines Häftlings im September oder Oktober 1943 (Eröffnungsbeschluss 18)
4. Die Tötung von drei Häftlingen im September oder Oktober 1943 im Quarantänelager in Birkenau (Eröffnungsbeschluss Ziffer 19)
5. Die Tötung eines Häftlings im Spätsommer oder Herbst 1943 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 20)
6. Die Tötung eines Zigeuners im Sommer 1944 im Stammlager (Eröffnungsbeschluss Ziffer 21)
7. Die Tötung von drei Häftlingen auf dem Evakuierungsmarsch (Eröffnungsbeschluss Ziffer 24)
III. Einlassung des Angeklagten Kaduk, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3., 4. und 5.
4. Zu II. 6.
5. Zu II. 7.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.a. und b.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
4. Zu II. 4.
5. Zu II. 5.
6. Zu II. 6.
7. Zu II. 7.
K. Die Straftaten des Angeklagten Baretzki
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Baretzki
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Baretzki an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Mitwirkung des Angeklagten Baretzki bei den sog. Lagerselektionen (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
3. Die Tötung des Häftlings Lischka durch den Angeklagten Baretzki (Eröffnungsbeschluss Ziffer 6)
4. Die Beteiligung des Angeklagten Baretzki an der Vernichtung der im sog. Theresienstädter Lager (B II b) untergebrachten jüdischen Häftlinge im März 1944 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 9)
5. Die Ertränkung von vier Häftlingen durch den Angeklagten Baretzki in einem Feuerlöschteich (Nachtragsanklage)
6. Weitere Taten des Angeklagten Baretzki, die nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten sind
III. Einlassung des Angeklagten Baretzki, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
4. Zu II. 3.
5. Zu II. 4.
6. Zu II. 5.
7. Zu II. 6.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
4. Zu II. 4.
5. Zu II. 5.
6. Zu II. 6.
V. Hilfsbeweisanträge
VI. Strafzumessung
L. Die Straftaten des Angeklagten Dr. L.
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dr. L.
II. Die Mitwirkung des Angeklagten Dr. L. an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)
III. Einlassung des Angeklagten Dr. L., Beweismittel, Beweiswürdigung
IV. Rechtliche Würdigung
V. Hilfsbeweisanträge
VI. Strafzumessung
M. Die Straftaten des Angeklagten Dr. Frank
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dr. Frank
II. Die Mitwirkung des Angeklagten Dr. Frank an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)
III. Die Einlassung des Angeklagten Dr. Frank, Beweismittel, Beweiswürdigung
IV. Rechtliche Würdigung
V. Hilfsbeweisanträge
VI. Strafzumessung
N. Die Straftaten des Angeklagten Dr. Capesius
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dr. Capesius
II. Die Mitwirkung des Angeklagten Dr. Capesius an der Massentötung der jüdischen Menschen in Auschwitz Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
III. Einlassung des Angeklagten Dr. Capesius, Beweismittel, Beweiswürdigung
Zu II. 1.
Zu II. 2.
Zu II. 3.
Zu II. 4.
IV. Rechtliche Würdigung
V. Hilfsbeweisanträge
VI. Weitere Hilfsbeweisanträge des Verteidigers Dr. Latern. für sämtliche von ihm vertretenen Angeklagten (Dylewski, Broad, Dr. Frank, Dr. Capesius)
VII. Strafzumessung
O. Die Straftaten des Angeklagten Klehr
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Klehr
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Klehr bei Selektionen durch den Lagerarzt im HKB und die Tötung der durch den Lagerarzt ausgesonderten Häftlinge durch den Angeklagten Klehr (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2)
2. Eigenmächtige Selektionen und eigenmächtige Tötungen von Häftlingen durch den Angeklagten Klehr (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2 Satz 2, zweite Hälfte)
3. Eigenmächtige Selektionen durch den Angeklagten Klehr im HKB, durch die kranke Häftlinge zur Tötung mit Zyklon B ausgesucht wurden (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1, zweiter Halbsatz)
4. Die Mitwirkung des Angeklagten Klehr bei der Tötung von 280 Schonungskranken aus dem Block 20 des Häftlingskrankenbaus (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1a)
5. Die Mitwirkung des Angeklagten Klehr bei der Tötung von 700 Infektionskranken (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1b)
6. Die Mitwirkung des Angeklagten Klehr bei der Massentötung der sog. RSHA-Juden (Eröffnungsbeschluss Ziffer 3, Ziffer 1, erster Halbsatz)
7. Die Mitwirkung des Angeklagten Klehr bei der Tötung des jüdischen Sonderkommandos in Stärke von 200 Mann (Eröffnungsbeschluss Ziffer 3)
8. Einzeltötungen durch den Angeklagten Klehr durch Phenolinjektionen (Ziffer 2 des Eröffnungsbeschlusses)
III. Die Einlassung des Angeklagten Klehr, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2a.
4. Zu II. 2b.
5. Zu II. 2c.
6. Zu II. 2d.
7. Zu II. 3a.
8. Zu II. 3b.
9. Zu II. 4
10. Zu II. 5.
11. Zu II. 6a.
12. Zu II. 6b.
13. Zu II. 7.
14. Zu II. 8a.
15. Zu II. 8b.
16. Zu II. 8c.
17. Zu II. 8d.
18. Zu II. 8e.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2a-d.
3. Zu II. 3a.
4. Zu II. 3b.
5. Zu II. 4.
6. Zu II. 5.
7. Zu II. 6a und b.
8. Zu II. 7.
9. Zu II. 8a und e.
10. Zu II. 8b.
11. Zu II. 8c.
12. Zu II. 8d.
V. Hilfsbeweisanträge
VI. Strafzumessung
P. Die Straftaten des Angeklagten Scherpe
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Scherpe
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Scherpe bei der Tötung von sog. Arztvorstellern durch Phenolinjektionen in Block 20 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Tötung von mindestens 20 polnischen Knaben durch den Angeklagten Scherpe
3. Die Mitwirkung des Angeklagten Scherpe bei der Vernichtung der 700 Infektionskranken aus Block 20 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2)
III. Einlassung des Angeklagten Scherpe, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
4. Zu II. 3.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
3. Zu II. 3.
V. Strafzumessung
Q. Die Straftaten des Angeklagten Hantl
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Hantl
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Mitwirkung des Angeklagten Hantl bei der Tötung von kranken und schwachen Häftlingen durch Phenol
2. Die Beteiligung des Angeklagten Hantl an Selektionen durch den Lagerarzt Dr. Entress im HKB
III. Einlassung des Angeklagten Hantl, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu I.
2. Zu II. 1.
3. Zu II. 2.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Zu II. 1.
2. Zu II. 2.
V. Strafzumessung
R. Die Straftaten des Angeklagten Bednarek
I. Der Lebenslauf des Angeklagten Bednarek
II. Tatsächliche Feststellungen
1. Die Tötung von Häftlingen im Block 8A des Stammlagers durch den Angeklagten Bednarek (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)
2. Die Tötung von Häftlingen in der Strafkompanie durch den Angeklagten Bednarek (Eröffnungsbeschluss: Obersatz und Ziffern 2 und 7)
3. Die Tötung von Häftlingen aus dem sog. Siemens-Kommando im Block 11 (Lagerabschnitt B II d)
III. Einlassung des Angeklagten Bednarek, Beweismittel, Beweiswürdigung
1. Zu II. 1a.
2a. Zu II. 1b.
2b. Zu II. 2a und b.
3. Zu II. 2c.
4. Zu II. 2d.
5. Zu II. 3.
6. Zu II. 3c.
7. Zu II. 3d.
IV. Rechtliche Würdigung

4. Abschnitt:
Die Schuldvorwürfe gegen die freigesprochenen Angeklagten Sch., B. und Dr. Sc.
1. Die Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Sch.
Zu a.
Zu b.
Zu c.
2. Der Schuldvorwurf gegen den Angeklagten B.
3. Der Schuldvorwurf gegen den Angeklagten Dr. Sc.

5. Abschnitt:
Weitere Schuldvorwürfe gegen die Angeklagten Mulka, Höcker, Boger, St., Dylewski, Broad, Schlage, Hofmann, Kaduk, Baretzki, Dr. Capesius, Klehr und Bednarek, die nicht zu einer Verurteilung dieser Angeklagten führten
I. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Mulka
1. Beteiligung an der Vernichtung jüdischer Menschen als Kompanieführer einer Wacheinheit
2. Tötung von Lagerinsassen
3. Erschiessung von drei jüdischen Häftlingen (Nachtragsanklage)
II. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Höcker
III. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Boger
1. Selektion im Zigeunerlager
2. Erschiessung von sowjetischen Kriegsgefangenen
3. Misshandlung mit Todesfolge bei Vernehmungen
4. Erschiessung der Lilli Tofler
5. Erschiessung der Journalistin Novotny
6. Erschiessung eines jungen jüdischen Häftlings
7. Erschiessung von 46 Häftlingen des Kommandos "Union"
8. Erhängung von Häftlingen am 30.12.1944
9. "Liquidierung" des Zigeunerlagers im Sommer 1944
IV. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten St.
1. Erschiessungen an der Schwarzen Wand
2. Erschiessung sowjetischer Kommissare
3. Erschiessung eines Häftlings an der Schwarzen Wand im Frühjahr 1942
4. Tötung von Häftlingen der Strafkompanie (Nachtragsanklage)
V. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Dylewski
1. Erschiessung von sowjetischen Kriegsgefangenen
2. Misshandlung mit Todesfolge beim Verhör
VI. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Broad
VII. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Schlage
VIII. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Hofmann
1. Misshandlungen mit Todesfolge
2. Erschiessung eines Juden
3. Tötung von sowjetischen Kriegsgefangenen
4. Tötung von Kindern zwischen 6 und 12 Jahren
5. Auswahl von etwa 600 Häftlingen zur Vergasung
IX. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Kaduk
1. Misshandlung mit Todesfolge
2. Erschiessungen an der Schwarzen Wand
3. Erhängung von Häftlingen am 30.12.1944
4. Tötung des holländischen Häftlings Ackermann
X. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Baretzki
1. Tötungen durch einen "Spezialschlag" mit der Hand
2. Erhängung von Häftlingen
3. Tötung am elektrisch geladenen Lagerzaun
4. Beteiligung an einer sog. "Hasenjagd"
5. Tötung eines Häftlings im Barackengang
6. Tötung einer Frau aus Lodz
7. Tötung von Häftlingen nach einem Aufstand
8. Erschiessung eines jüdischen Häftlings im Lager Birkenau
XI. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Dr. Capesius
1. Selektionen im Lager Birkenau
2. Medizinische Versuche an Häftlingen mit Todesfolge
3. Verwaltung und Verteilung des zur Tötung der Häftlinge verwendeten Phenols
XII. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Klehr
1. Aussonderung von Häftlingen zur Vergasung
2. Weitere Tötungshandlungen
3. Tötung des Häftlings Rudek durch "Sportmachen"
4. Feuertod zweier Jüdinnen
XIII. Weitere Schuldvorwürfe gegen den Angeklagten Bednarek
1. Tötung von Häftlingen der Strafkompanie
2. Liquidierung des Familienlagers
3. Tötung eines Ungarn
4. Tötung eines Häftlings mit einem Schaufelstiel

6. Abschnitt:
Verfahrensvoraussetzungen, Prozesshindernisse
I. Kein Verbot der Doppelbestrafung beim Angeklagten Kaduk
II. Keine Verjährung der Straftaten der Angeklagten
1. Verjährungsfrist
2. Beginn und Unterbrechung der Verjährung

7. Abschnitt:
Nebenentscheidungen
I. Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
II. Anrechnung der Untersuchungshaft
III. Kostenentscheidung

4 Ks 2/63

Im Namen des Volkes

In der Strafsache gegen

1. den Exportkaufmann Robert Karl Ludwig Mulka aus Hamburg, dort geboren am 12.April 1895, zur Zeit in Untersuchungshaft,
2. den Hauptkassierer Karl Höcker aus Lübbecke, geboren am 11.Dezember 1911 in Engershausen, Kreis Lübbecke, zur Zeit in Untersuchungshaft,
3. den kaufmännischen Angestellten Friedrich Wilhelm Boger aus Memmingen, geboren am 19.Dezember 1906 in Stuttgart-Zuffenhausen, zur Zeit in Untersuchungshaft,
4. den Assessor der Landwirtschaft Hans St. aus Darmstadt, dort geboren am 14.Juni 1921, zur Zeit in Untersuchungshaft,
5. den Diplom-Ingenieur Klaus Hubert Hermann Dylewski aus Hilden/Rheinland, geboren am 11.Mai 1916 in Finkenwalde, Krs.Stettin, zur Zeit in Untersuchungshaft,
6. den Kaufmann Pery Broad aus Düsseldorf-Rath, geboren am 25.4.1921 in Rio de Janeiro, zur Zeit in Untersuchungshaft,
7. den Landwirt Sch. aus ..., dort geboren am 17.Dezember 1922,
8. den Hausmeister Bruno Schlage aus Dehne - Bad Oeynhausen, geboren am 11.Februar 1903 in Truttenau, Krs.Königsberg, zur Zeit in Untersuchungshaft,
9. den Heizer Franz Johann Hofmann aus Kirchberg a.d.Jagst, geboren am 5.April 1906 in Hof/Saale, zur Zeit in anderer Sache in Strafhaft,
10. den Krankenpfleger Oswald Kaduk aus Berlin, geboren am 26.August 1906 in Königshütte/Oberschlesien, zur Zeit in Untersuchungshaft,
11. den Arbeiter Stefan Baretzki aus Plaidt/Eifel, geboren am 24.März 1919 in Czernowitz/Rumänien, zur Zeit in Untersuchungshaft,
12. den kaufmännischen Angestellten B. aus Bad Godesberg, geboren am 31.Juli 1910 in Lemberg/Galizien,
13. den Facharzt für Frauenkrankheiten Dr.med. L. aus Elmshorn, geboren am 15.September 1911 in Osnabrück, zur Zeit in Untersuchungshaft,
14. den Zahnarzt Dr.med.dent. Willi Frank aus Stuttgart - Bad Cannstatt, geboren am 9.Februar 1903 in Regensburg, zur Zeit in Untersuchungshaft,
15. den Zahnarzt Dr.med.dent. Sc. aus Hannover, geboren am 1.Februar 1905 in Hannover,
16. den Apotheker Dr. Victor Capesius aus Göppingen, geboren am 7.Februar 1907 in Reussmarkt/Rumänien, zur Zeit in Untersuchungshaft,
17. den Tischler Josef Klehr aus Braunschweig, geboren am 17.Oktober 1904 in Langenau (Kreis Leobschütz/Oberschlesien), zur Zeit in Untersuchungshaft,
18. den Pförtner Herbert Scherpe aus Mannheim, geboren am 20.Mai 1907 in Gleiwitz, zur Zeit in Untersuchungshaft,
19. den Weber Emil Hantl aus Marktredwitz, geboren am 14.Dezember 1902 in Mährisch-Lotschnau, zur Zeit in Untersuchungshaft,
20. den Kaufmann Emil Bednarek aus Schirnding, geboren am 20.Juli 1907 in Königshütte, zur Zeit in Untersuchungshaft,

wegen Mordes und wegen Beihilfe zum Mord

hat das Schwurgericht bei dem Landgericht in Frankfurt/Main auf die Hauptverhandlung in der Zeit vom 20.Dezember 1963 bis 20.August 1965 am 19. und 20.August 1965 für Recht erkannt:

A.I. Es sind schuldig:
1. der Angeklagte Mulka der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je
siebenhundertfünfzig Menschen,
2. der Angeklagte Höcker der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens drei Fällen an mindestens je tausend Menschen,
3. der Angeklagte Boger des Mordes in mindestens einhundertvierzehn Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens tausend Menschen sowie einer weiteren gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens zehn Menschen,
4. der Angeklagte St. des gemeinschaftlichen Mordes in mindestens vierundvierzig Fällen, davon in einem Fall begangen an mindestens zweihundert Menschen und in einem weiteren Fall an mindestens hundert Menschen,
5. der Angeklagte Dylewski der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens zweiunddreissig Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je siebenhundertfünfzig Menschen,
6. der Angeklagte Broad der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens zweiundzwanzig Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je tausend Menschen,
7. der Angeklagte Schlage der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens achtzig Fällen, 8. der Angeklagte Hofmann des Mordes in einem Fall, des gemeinschaftlichen Mordes in mindestens dreissig Fällen, sowie des gemeinschaftlichen Mordes in mindestens drei weiteren Fällen an je mindestens siebenhundertfünfzig Menschen,
9. der Angeklagte Kaduk des Mordes in zehn Fällen und des gemeinschaftlichen Mordes in mindestens zwei Fällen, begangen in einem Fall an mindestens tausend, in dem anderen an mindestens zwei Menschen,
10. der Angeklagte Baretzki des Mordes in mindestens fünf Fällen sowie der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens elf Fällen, davon in einem Fall begangen an mindestens dreitausend Menschen, in fünf Fällen begangen an mindestens je tausend Menschen und in fünf Fällen begangen an mindestens je fünfzig Menschen,
11. der Angeklagte Dr. L. ~.....~,
12. der Angeklagte Dr. Frank der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen an mindestens je tausend Menschen,
13. der Angeklagte Dr. Capesius der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je zweitausend Menschen,
14. der Angeklagte Klehr des Mordes in mindestens vierhundertfünfundsiebzig Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je
siebenhundertfünfzig Menschen; im 3. Falle an mindestens zweihundertundachtzig Menschen, im 4. Falle an mindestens siebenhundert Menschen, im 5. Falle an mindestens zweihundert Menschen und im 6. Falle an mindestens fünfzig Menschen,
15. der Angeklagte Scherpe der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens zweihundert Fällen und einer weiteren gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens siebenhundert Menschen,
16. der Angeklagte Hantl der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vierzig Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in zwei weiteren Fällen an mindestens je einhundertsiebzig Menschen,
17. der Angeklagte Bednarek des Mordes in vierzehn Fällen.

II. Es werden danach unter Freisprechung im übrigen verurteilt:
1. der Angeklagte Mulka zu einer Gesamtzuchthausstrafe von vierzehn Jahren;
2. der Angeklagte Höcker zu einer Gesamtzuchthausstrafe von sieben Jahren;
3. der Angeklagte Boger zu lebenslangem Zuchthaus und einer Gesamtstrafe von fünf Jahren Zuchthaus;
4. der Angeklagte St. zu zehn Jahren Jugendstrafe;
5. der Angeklagte Dylewski zu einer Gesamtstrafe von fünf Jahren Zuchthaus;
6. der Angeklagte Broad zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren Zuchthaus;
7. der Angeklagte Schlage zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Zuchthaus;
8. der Angeklagte Hofmann zu lebenslangem Zuchthaus;
9. der Angeklagte Kaduk zu lebenslangem Zuchthaus;
10. der Angeklagte Baretzki zu lebenslangem Zuchthaus und einer Gesamtstrafe von acht Jahren Zuchthaus;
11. der Angeklagte Dr. L. ~.....~;
12. der Angeklagte Dr. Frank zu einer Gesamtzuchthausstrafe von sieben Jahren;
13. der Angeklagte Dr. Capesius zu einer Gesamtzuchthausstrafe von neun Jahren;
14. der Angeklagte Klehr zu lebenslangem Zuchthaus und einer Gesamtstrafe von fünfzehn Jahren Zuchthaus;
15. der Angeklagte Scherpe zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren und sechs Monaten Zuchthaus;
16. der Angeklagte Hantl zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus, die durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüsst gilt;
17. der Angeklagte Bednarek zu lebenslangem Zuchthaus.

III. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden aberkannt:
1. den Angeklagten Boger, Hofmann, Kaduk, Baretzki, Klehr und Bednarek auf Lebenszeit;
2. dem Angeklagten Mulka auf die Dauer von zehn Jahren;
3. dem Angeklagten Schlage auf die Dauer von sechs Jahren;
4. den Angeklagten Höcker, Dr. Frank, Dr. Capesius auf die Dauer von je fünf Jahren;
5. den Angeklagten Dylewski, Broad und Scherpe auf die Dauer von je vier Jahren und
6. dem Angeklagten Hantl auf die Dauer von drei Jahren.

IV. Den Angeklagten Mulka, Höcker, Boger, St., Dylewski, Broad, Schlage, Baretzki, Dr. L., Dr. Frank, Dr. Capesius, Klehr und Scherpe wird die in dieser Sache erlittene Polizei- und Untersuchungshaft auf die erkannten zeitigen Freiheitsstrafen angerechnet.

B. Die Angeklagten Sch., B. und Dr. Sc. werden freigesprochen.

C. Die Angeklagten tragen die Kosten des Verfahrens, soweit sie verurteilt sind, im übrigen fallen die Kosten der Staatskasse zur Last.

GRÜNDE

1. Abschnitt:
Die Einrichtung und Entwicklung der Konzentrationslager im NS-Staat

Bald nach der sogenannten Machtübernahme am 30.1.1933 errichteten die NS-Machthaber Lager, in die sie politische Gegner einsperrten und dort, abgeschirmt gegen die Öffentlichkeit, den Rechtsgarantien eines Rechtsstaates entzogen und der Willkür der Bewachungsmannschaften ausgesetzt, gefangenhielten. Hierdurch sollten die politischen Gegner aus dem politischen öffentlichen Leben ausgeschaltet und jede Opposition gegen das NS-Regime von Anfang an unterdrückt werden. Die Einweisung in die Lager erfolgte auf Grund eines schriftlichen "Schutzhaftbefehls" der von den zuständigen Polizeibehörden ohne richterliche Nachprüfung erlassen werden konnte. Grundlage für diese Massnahmen der Polizeibehörden war die nach dem Reichstagsbrand erlassene Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.1933 (RGBl. I, 83), die verschiedene in der Weimarer Verfassung verankerte Grundrechte, u.a. das Grundrecht der Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit, aufhob. Die Befugnis zur Schutzhaftverhängung stand nach den auf Grund der Notverordnung vom 28.2.1933 ergangenen ersten preussischen Erlassen zur Durchführung der "Schutzmassnahmen" den Kreispolizeibehörden zu. Die "Schutzhaft" sollte offiziell vorbeugende Polizeimassnahme zur Ausschaltung sogenannter Staatsgegner sein. Sie war also keine Strafmassnahme zur Ahndung strafbarer Handlungen.

Die NS-Führer, an ihrer Spitze Hitler, Göring, Röhm, der Stabschef der SA, und Himmler, der Reichsführer SS, hatten schon während des Kampfes um die Macht im Staat deutlich ihre Absicht proklamiert, nach der Übernahme der Macht mit den Kommunisten und anderen Feinden der nationalsozialistischen Bewegung abzurechnen. Die Notverordnung zum Schutze für Volk und Staat diente nun der Verwirklichung dieses Vorhabens. Damit die Verhaftung politischer Gegner gründlich durchgeführt werde, räumten die neuen Machthaber Angehörigen der SA und SS hilfspolizeiliche Befugnisse ein. Diese halfen bei der sofort nach dem Erlass der genannten Verordnung im gesamten Reichsgebiet einsetzenden Grossaktion, die zur massenweisen Verhaftung von Angehörigen der kommunistischen Partei und ihrer Gliederungen, gegen die sich die Verhaftungswelle in erster Linie richtete, aber auch zur Festnahme anderer politischer Gegner der NS-Bewegung führte, mit. Darüber hinaus gingen bewaffnete Verbände der SA und SS, die den durch die Verordnung vom 28.2.1933 geschaffenen Ausnahmezustand ausnützten, auch eigenmächtig gegen politische Gegner vor. Sie verhafteten und misshandelten willkürlich und ohne Einschaltung der Polizei sogenannte Staatsfeinde.

In der allerersten Zeit waren die auf Grund eines Schutzhaftbefehls festgenommenen Personen noch in Untersuchungshaftanstalten und Gefängnissen der Justiz untergebracht worden. Heinrich Himmler, der am 9.März 1933 in München als kommissarischer Polizeipräsident eingesetzt worden war und am 1.4.1934 zum politischen Polizeikommandeur Bayerns ernannt wurde, liess bereits am 20.3.1933 in der Nähe von Dachau bei München für die Schutzhaftgefangenen das erste Konzentrationslager errichten. Die Leitung des Lagers übertrug er der SS. Der äussere Grund für die Errichtung dieses Lagers waren die infolge der Massenverhaftungen eingetretene Überfüllung der justizeigenen Anstalten und die dadurch hervorgerufenen Vorstellungen der Justiz, die die Durchführung einer geordneten Rechtspflege gefährdet sah und darauf drängte, die Schutzhaftgefangenen loszuwerden. Der wahre innere Grund dürfte aber schon damals in dem Bestreben Himmlers und anderer NS-Führer gelegen haben - das im späteren Verlauf der Entwicklung der Konzentrationslager immer deutlicher wurde -, für die Schutzhaftgefangenen einen von der Öffentlichkeit abgeschirmten Bezirk zu schaffen, einen Staat im Staate, der jeglicher Kontrolle durch Einflussnahme durch die Öffentlichkeit und insbesondere die Justiz entzogen war.

Ausser in Dachau wurden im Verlaufe des Jahres 1933 weitere Lager für die in Schutzhaft genommenen Personen eingerichtet, die von den SA- oder SS-Angehörigen bewacht wurden. Im Sommer und Herbst 1933 wurden in verstärktem Masse Sozialdemokraten, Zentrumsangehörige, Deutschnationale, jüdische Journalisten und Schriftsteller und andere missliebige Gruppen von Personen verhaftet und in diese Lager eingewiesen. Örtliche SA- und SS-Dienststellen richteten darüber hinaus für die eigenmächtig festgenommenen politischen Gegner besondere Lager ein. Die in diesen sogenannten "wilden" Lagern herrschenden Missstände und die darin vorkommenden Exzesse beunruhigten schliesslich sogar die Führer der NS-Bewegung, zumal Hitler Rücksicht auf die Reichswehr und den Reichspräsidenten von Hindenburg nehmen musste.

Göring ordnete daher als preussischer Innenminister in einem Runderlass vom 14.10.1933 an, dass aus politischen Gründen inhaftierte Personen grundsätzlich in staatlichen Konzentrationslagern oder in staatlichen oder kommunalen Polizeigefängnissen in Gewahrsam zu halten seien. Nur wenige Konzentrationslager wurden staatlich anerkannt. Die "wilden" SA-Lager wurden allmählich aufgelöst.

Aber auch in den staatlich anerkannten Konzentrationslagern herrschten Willkür und Gewalt. Die Gefangenen waren dem Terror der Wachmannschaft ausgesetzt. Der erste Kommandant von Dachau, Wäckerle, erliess auf Befehl Himmlers scharfe "Sonderbestimmungen" für die Gefangenen, die aus einem System von Strafen und Klassifizierungen der Gefangenen bestand. Unter anderem sahen sie das "Standrecht", d.h. die Erschiessung von Gefangenen bei Fluchtversuchen und ein sogenanntes "Lagergericht" - bestehend aus dem Kommandanten, einem oder zwei vom Kommandeur zu bestimmenden Führern und einem der Wachtruppe angehörenden SS-Mann - , das sogar zur Verhängung der Todesstrafe bei geringfügigen Lagervergehen befugt sein sollte, vor. Für die Bewachungsmannschaften gab es keine genauen Dienstvorschriften. Sie behandelten die Gefangenen nach Willkür und eigenem Gutdünken. Bestrebungen der staatlichen Verwaltungsorgane (Reichsinnenministerium), die ausserordentliche Einrichtung der Schutzhaft und der Konzentrationslager nach den Massenverhaftungen im Jahre 1933 einzuschränken, wenn nicht gar zu beseitigen, scheiterten. Durch den Schutzhafterlass des Reichsinnenministers vom 12./26.4.1934, der Ausdruck dieser Bestrebungen war, sollte ein einheitliches Vorgehen der politischen Polizei in den einzelnen Ländern des Reiches sichergestellt und die Verhängung von Schutzhaft reduziert und "normalisiert" werden. Der Erlass verfügte, dass zur Anordnung der Schutzhaft in Preussen nur noch das Geheime Staatspolizeiamt, die Ober- und Regierungspräsidenten, der Polizeipräsident in Berlin, die Stapoleitstellen in den Regierungsbezirken (also nicht mehr die Kreispolizeibehörden) und in den anderen Ländern die entsprechenden Behörden zuständig sein sollten. Der Erlass enthielt ferner genaue Richtlinien über die Prozedur bei der Ausstellung von Schutzhaftbefehlen.

Der Einfluss des Reichsinnenministerium auf die Praxis der Schutzhaftverhängung blieb jedoch gering, obwohl durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30.1.1934 die Souveränität der Landesregierungen erloschen und auf das Reich übergegangen war und das Reichsinnenministerium über die Reichsstatthalter unmittelbares Weisungsrecht gegenüber den Landesregierungen erhalten hatte. Himmlers Macht war stärker. Es gelang ihm, im Verlaufe weniger Monate die Führung der politischen Polizei in allen Ländern des Reiches - ausser in Preussen - in seiner Hand zu vereinigen. Er erreichte, dass er im Laufe des Winters 1933/1934 von den einzelnen Landesregierungen bzw. den Reichsstatthaltern der deutschen Länder (ausser in Preussen) zum politischen Polizeikommandeur jeweils ihrer Länder ernannt wurde. Aber auch in Preussen erlangte er praktisch die Führung der politischen Polizei. Hier wurde durch das Gesetz vom 26.4.1933 (Gesetzessammlung S.122) "Zur Wahrnehmung der Aufgaben der politischen Polizei neben oder an Stelle der ordentlichen Polizeibehörden" das "Geheime Staatspolizeiamt" (Gestapa, mit Sitz in der Prinz-Albrecht-Strasse in Berlin) errichtet, das dem preussischen Minister des Innern (Göring) unmittelbar unterstand. Durch Gesetz vom 30.11.1933 (GS S.413) wurde die Geheime Staatspolizei selbständiger Zweig der inneren Verwaltung. Das Gestapa wurde direkt dem Ministerpräsidenten (Göring) unterstellt. Dieser setzte als seinen Vertreter den Reichsführer SS Himmler mit der Dienstbezeichnung "Inspekteur der Geheimen Staatspolizei" ein. Himmler hatte damit die Führung und Aufsicht über die gesamte politische Polizei im Reich inne. Zudem wurde am 22.4.1934 der ihm als Reichsführer SS unterstehende SS-Führer Heydrich Chef der Gestapo. So hatte Himmler die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass er im Bereich der Schutzhaftverhängung und der KZ-Angelegenheiten die Dinge nach seinem Willen lenken konnte. Die ihm unterstellte politische Polizei beachtete in der Praxis den genannten Schutzhafterlass, der bis Januar 1938 formell in Kraft blieb, wenig. Himmler lehnte eine Einschränkung oder gar Beseitigung der Schutzhaft scharf ab. Die Verhängung der Schutzhaft durch Polizeiorgane ohne irgendeine Kontrolle sah er als ein geeignetes Instrument zur Ausschaltung politischer Gegner oder anderweitig unerwünschter oder gefährlich erscheinender Personen an. Dieses Mittel wollte er nicht mehr aus der Hand geben. Die Konzentrationslager sollten nach seinem Willen zu einer festen und dauerhaften Einrichtung des NS-Staates werden. Hierbei fand er die ausdrückliche Billigung Hitlers, der der Justiz misstraute und die zur Ausschaltung politischer Gegner geschaffenen Sondergerichte nicht für ausreichend ansah. Nach Himmlers Vorstellungen sollten die Konzentrationslager Bezirke "eigenen Rechtes" bleiben. Sie sollten nicht den staatlichen Strafgesetzen unterstehen und dem Einfluss der ordentlichen Strafjustiz entzogen werden. In ihnen wollte er mit der ihm unterstellten SS nach eigenem Ermessen, das jeder Kontrolle entzogen war, und nach eigenen "Rechtsvorstellungen" schalten und walten.

Die Ereignisse um den sogenannten Röhm-Putsch am 30.6.1934 kamen diesen Bestrebungen entgegen. Nachdem die von Röhm geführte SA nach dem sogenannten Putsch und Tode Röhms unter massgeblicher Mitwirkung der SS entmachtet war, wurde die Leitung und Bewachung der Konzentrationslager allein der SS übertragen. Das bisherige Unterstellungsverhältnis der SS unter die SA erlosch. Die KL wurden in den folgenden Jahren zur alleinigen Domäne der SS und ihres Chefs, des Reichsführers SS Heinrich Himmler.

Das Bestreben Himmlers, die Konzentrationslager zu einer festen und ständigen Einrichtung des NS-Staates und einem dauernden Machtinstrument der NS-Führung und der SS zur Unterdrückung jeglicher Opposition im Staate zu machen, führte dazu, dass er nach Auflösung der sogenannten wilden Lager und der Entmachtung der SA die noch wenigen verbliebenen staatlich anerkannten Konzentrationslager nach einheitlichen Richtlinien ausrichtete. Dachau diente als Modell für alle anderen Konzentrationslager. Als Kommandanten für Dachau hatte Himmler schon Ende Juni 1933 den SS-Oberführer Eicke nach Ablösung des ersten Kommandanten Wäckerle eingesetzt. Eicke hatte das Leben der Häftlinge im Lager streng reglementiert und feste Dienstvorschriften für die SS-Wachtruppen erlassen. Für die Gefangenen hatte er am 1.10.1933 eine "Disziplinar- und Strafordnung" erlassen, die ein System von Strafen, z.B. die Prügelstrafe, ja sogar die Todesstrafe, für eine Reihe von "Vergehen" der Gefangenen, z.B. für tätlichen Angriff auf die Wachtposten, Gehorsamsverweigerung, Verbreitung von "Greuelpropaganda", vorsah. Die Exekutive hatte er sich selbst als Lagerkommandanten übertragen. Für die Wachtposten hatte er Dienstvorschriften erlassen, deren Grundsatz war, die Gefangenen "ohne Toleranz mit äusserster, unpersönlicher, disziplinierter Härte" zu behandeln. Für den Waffengebrauch hatte er rigorose Vorschriften erlassen. Weitere Vorschriften regelten bis ins Einzelne das Verfahren der Häftlingsappelle, das militärisch geordnete Abmarschieren der Gefangenen zur Arbeit, die Pflichten der Torwache und der Begleitposten, die Kontrolle, Kommandos usw.

Im Mai 1934 hatte Himmler Eicke mit der Neuorganisation und Vereinheitlichung der gesamten Konzentrationslager beauftragt. Am 7.7.1934 ernannte er ihn nun zum Inspekteur der Konzentrationslager und der SS-Wachverbände, die später nach ihrem auf den Kragenspiegeln befindlichen Totenkopf als SS-Totenkopfverbände bezeichnet wurden. Eicke fasste die in mehreren Konzentrationslagern zerstreuten Gefangenen in einige wenige grössere Lager zusammen und setzte ihre einheitliche Leitung und Bewachung durch SS-Führer durch. In den Lagern wurden die von ihm bereits für Dachau erlassenen Dienstvorschriften über den internen Dienstbetrieb, die Gefangenenbehandlung, den Gebrauch der Schusswaffe sowie die "Disziplinar- und Strafordnung für die Gefangenen" eingeführt. Allerdings wurde von der angedrohten Todesstrafe zwischen 1933 und 1935 nur vereinzelt Gebrauch gemacht, da Ermittlungen durch die zuständigen Staatsanwaltschaften und Anklageerhebung zu befürchten waren. Ab 1935 nahm man davon überhaupt Abstand, liess die Strafandrohung aus Einschüchterungs- und Abschreckungszwecken jedoch bestehen.

Als Strafen wurden in der Regel verhängt: Arrest-, Prügelstrafe, Strafarbeit, Postentzug, Schreibverbot und das sogenannte Baumbinden. Ab 1935 wurde den Lagerkommandanten die Befugnis entzogen, schwerere Strafen selbst zu verhängen. Auch die Prügelstrafe bedurfte der Genehmigung durch den Inspekteur der Konzentrationslager.

Misshandlungen und Tötungen der Gefangenen durch die SS-Wachmannschaften kamen jedoch - wenn auch nicht als offiziell verhängte Strafe - weiter vor. Eicke züchtete bewusst den Hass der für das Lager verantwortlichen SS-Funktionäre und der Wachmannschaften gegen die sogenannten Staatsfeinde.

Auch die innere Organisation der Lager, ihre Einteilung in verschiedene Abteilungen (Kommandantur, Schutzhaftlagerführung usw., auf die noch im Zusammenhang mit dem KL Auschwitz zurückzukommen sein wird) erfolgte in allen Lagern nach dem gleichen Schema. Eine Lagerordnung regelte bis ins einzelne die Aufgaben der verschiedenen Abteilungen. Die von Eicke eingeführte Organisation der Konzentrationslager und die für die Lager erlassenen Vorschriften blieben auch für die späteren Konzentrationslager massgebend. Bei den einzelnen Konzentrationslagern wurden kasernierte SS-Wachverbände stationiert. Seit Ende 1934 gehörten diese nicht mehr zum Gesamtverband der allgemeinen SS. Sie bildeten als SS-Totenkopfverbände neben den SS-Verfügungstruppen einen besonderen Zweig der bewaffneten SS. Eicke wurde auch Führer dieser Wachverbände.

Im Jahre 1935 unterstanden Eicke sieben Konzentrationslager.

Im Verlaufe der Jahre zwischen 1934 und 1937 bahnte sich allmählich ein Wandel in der Motivation für die Einweisung in die Konzentrationslager an. Man erliess Schutzhaftbefehle nicht nur gegen politische Gegner, sondern benutzte sie auch als Mittel, um andere Kategorien sogenannter "volksschädlicher Elemente", wie Asoziale, Homosexuelle, Gewohnheitsverbrecher, Bettler, Landstreicher, Zigeuner und Arbeitsscheue auszuschalten. Diese sogenannten "vorbeugende Verbrechensbekämpfung" öffnete der Willkür Tür und Tor. Auf diese Weise "korrigierte" man die ordentliche Gerichtsbarkeit. Besondere Bedeutung erhielt dieses Verfahren auf dem Gebiet der politischen Strafverfolgung. Personen, die wegen Landes- oder Hochverrats von ordentlichen Gerichten verurteilt worden waren und ihre Strafe verbüsst hatten, wurden nach Verbüssung der Strafe in Konzentrationslager eingewiesen. Auch nach Freisprüchen in solchen Verfahren erfolgten häufig Einweisungen ins KL. Auch auf die "Zeugen Jehovas" (Kreis der ernsten Bibelforscher) wurde die Schutzhaftverhängung ausgedehnt. So entstanden verschiedene Kategorien von Gefangenen, die jeweils besonders gekennzeichnet wurden. Stoffdreiecke, die die Gefangenen auf ihrer Kleidung zu tragen hatten, wurden für die verschiedenen Kategorien in verschiedenen Farben angefertigt.

1938 trat ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der Konzentrationslager ein. Man kam auf die Idee, die Konzentrationslager als Arbeitskräftepotential für bestimmte, von der NS-Führung geplante Projekte und für SS-eigene Produktionsstätten auszunutzen. Die SS errichtete bei den Konzentrationslagern SS-eigene Baustoffproduktionsstätten. So wurde im Frühjahr 1938 die SS-Firma der "Deutschen Erd- und Steinwerke" (Dest) gegründet. Ihr Zweck bestand in der Anlage von Ziegelwerken und der Ausbeutung von Steinbrüchen. Die Firma errichtete ein Grossziegelwerk in Sachsenhausen und bei Buchenwald. Bei dem Konzentrationslager Flossenbürg (Oberpfalz) und bei Mauthausen erwarb sie Granitsteinbrüche. Für die Verhängung von Schutzhaft und die Einweisung in Konzentrationslager kam nun ein neuer Gesichtspunkt hinzu: Der Bedarf an Arbeitskräften für die errichteten Produktionsstätten, ein Gesichtspunkt, der später im Verlauf des Krieges eine immer grössere Bedeutung, insbesondere auch in den besetzten Gebieten, gewann. Diese neue Motivation kommt in einem Erlass Heydrichs, dem Chef des inzwischen errichteten Hauptamtes Sicherheitspolizei, vom 1.6.1938 zum Ausdruck, in dessen einleitender Begründung als Zweck der in dem Erlass angeordneten Aktion gegen "Asoziale" im Reichsgebiet zwar die "Ausschaltung von Personen, die der Gemeinschaft zur Last fallen", genannt, aber auch darauf hingewiesen wird, dass die straffe Durchführung des Vierjahresplanes den Einsatz aller arbeitsfähigen Kräfte erfordere und es nicht zulasse, dass asoziale Menschen sich der Arbeit entzögen. Auffällig wurde auch im Jahre 1938 die Aktion gegen sogenannte Kriminelle und Asoziale forciert, wobei in den die Verhaftungsaktionen auslösenden Erlassen ausdrücklich angeordnet wurde, dass nur arbeitsfähige männliche und weibliche Personen festzunehmen seien.

Das Jahr 1938 war ferner durch ein starkes Ansteigen der Häftlingszahlen gekennzeichnet. Neue Lager wurden infolge der Expansion des Dritten Reiches errichtet. In den neu eingegliederten Gebieten (Österreich, Sudetengebiet) fahndeten Spezialkommandos der Sicherheitspolizei nach sogenannten Staatsfeinden und nahmen eine grosse Anzahl von Personen in Schutzhaft.

Nach der sogenannten Reichskristallnacht (9.11.1938) wurden ca. 30000 Juden zusammengetrieben und auf Befehl Hitlers in die Konzentrationslager eingewiesen. Hierdurch wollte man auf die jüdisch-deutschen Bürger einen Druck ausüben, das Reichsgebiet zu verlassen. Die meisten Juden blieben allerdings nur einige Wochen in den Lagern und wurden entlassen, wenn sie sich verpflichtet hatten, aus Deutschland auszuwandern.

Das Jahr 1939 brachte einen gewissen Rückgang der Häftlingszahlen.

Der Ausbruch des Krieges am 1.9.1939 brachte eine Wende in der Entwicklung der Konzentrationslager. Die Zahl der Lager und der Konzentrationslagergefangenen schwoll nun ins Riesenhafte an. Vom Beginn des Krieges bis zum März 1942 stieg die Zahl der Schutzhaftgefangenen von 25000 auf rund 100000 Personen an. Der Personenkreis der Lagerinsassen änderte sich. Von den Gefangenen waren nur noch 5 bis 10% Reichsdeutsche. Die anderen waren Angehörige anderer Nationen. Sie waren in den besetzten Ländern, vor allem in Polen, der Tschechoslowakei, Frankreich, Belgien und anderen Ländern verhaftet worden. Auch in der Leitung der Konzentrationslager trat ein Wechsel ein. Eicke wurde bald nach Kriegsausbruch von dem SS-Brigadeführer Glücks abgelöst. Dieser führte die Dienstbezeichnung: "Der Reichsführer SS - Inspekteur der Konzentrationslager". In dieser Funktion unterstand er weiterhin dem SS-Hauptamt, einem der ursprünglich drei SS-Ämter der SS-Führungsorganisation (SS-Amt, Rasse- und Siedlungsamt (RuS), SD-Amt), die am 30.1.1935 von Himmler zu SS-Hauptämtern erhoben worden waren. Nachdem im August 1940 aus einigen Ressorts des SS-Hauptamtes ein eigenes SS-Führungshauptamt gebildet worden war, wurde diesem die Inspektion der KL eingegliedert. In allen wichtigen Fragen wurde jedoch wie früher zwischen dem Inspekteur der Konzentrationslager und Himmler direkt verhandelt. Erst nachdem am 1.2.1942 das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) aus zwei Hauptämtern der SS-Führung, nämlich dem Hauptamt "Verwaltung und Wirtschaft" (gegründet am 20.4.1939 aus der Dienststelle "Verwaltungschef der SS im persönlichen Stab Himmlers") und dem Hauptamt "Haushalt und Bauten" (ebenfalls am 20.4.1939 gegründet) sowie einem Zweig des bereits genannten SS-Hauptamtes, nämlich dem Verwaltungsamt IV (Leiter SS-Obergruppenführer Pohl) gebildet worden war, wurde der Inspekteur der Konzentrationslager (Glücks) dem WVHA unterstellt bzw. als Amtsgruppe D eingegliedert. Chef des WVHA wurde Obergruppenführer Pohl. Glücks blieb Amtsgruppenchef der Amtsgruppe D. Ihm unterstanden weiterhin sämtliche Konzentrationslager. Mit der Verhängung von Schutzhaft hatten er und seine Amtsgruppe direkt nichts zu tun.

Während des Krieges wurde das Verfahren bei der Schutzhaftverhängung vereinfacht. Die Bestimmungen über die Schutzhaftverhängung wurden erheblich verschärft. Himmler erhielt von Hitler die Anweisung, mit polizeilichen Mitteln gegen alle Feinde des Staates und der Volksgemeinschaft vorzugehen und dabei nicht nur von der Schutzhaft Gebrauch zu machen, sondern auch in schweren Fällen die betreffenden Personen ohne Hinzuziehung der Justiz zu "liquidieren". Auf Grund der von Hitler und Himmler erteilten Weisungen gab der Chef der Sicherheitspolizei (Heydrich) in einem Runderlass an die höheren SS- und Polizeiführer, die Inspekteure der Sicherheitspolizei und die Dienststellen der Gestapo scharfe Richtlinien über "Grundsätze der inneren Staatssicherheit während des Krieges" heraus. Danach sollte gegen Personen sofort durch Festnahme eingeschritten werden, die in ihren Äusserungen am Sieg des deutschen Volkes zweifelten oder das Recht des Krieges in Frage stellten oder andere Personen in volks- oder reichsfeindlichem Sinne zu beeinflussen suchten. Nach der Festnahme sollte unverzüglich dem Chef der Sicherheitspolizei berichtet und um Entscheidung über die Weiterbehandlung des Falles gebeten werden, da "notfalls auf höhere Weisung brutale Liquidierung solcher Elemente erfolgen werde".

So erhielten die Konzentrationslager zu den bisherigen Funktionen eine weitere hinzu: Sie dienten als Stätte physischer Vernichtung, der "Liquidierung" von sogenannten Staatsfeinden, auch wenn kein justizielles Verfahren vorangegangen war und kein Urteil eines Straf- oder Sondergerichtes vorlag.

Nach Kriegsbeginn erfolgte eine ganze Reihe von verfahrenslosen Erschiessungen in den Konzentrationslagern, die Hitler befohlen oder genehmigt hatte.

Für die Schutzhaftverhängung und die Entlassung von Schutzhaftgefangenen aus den Konzentrationslagern blieb auch nach Kriegsbeginn das Geheime Staatspolizeiamt, das durch das preussische Gesetz vom 26.4.1933 errichtet worden war und dessen Stellung und Aufgaben durch das Gestapogesetz vom 10.2.1936 umrissen worden waren, grundsätzlich allein zuständig. Ihm war durch den Erlass des Reichsinnenministers vom 25.1.1938 (§2 Satz 1) diese ausschliessliche Zuständigkeit zuerkannt worden, nachdem vorher - wie oben bereits dargelegt - auch andere Polizeidienststellen die Befugnis zur Schutzhaftverhängung gehabt hatten.

Das Gestapa war Zweig des "Hauptamtes Sicherheitspolizei". Zum näheren Verständnis sei hier kurz auf die Entwicklung und Organisation der deutschen Polizei im Reichsgebiet seit 1936 eingegangen:

Himmler wurde durch Erlass des "Führers" und Reichskanzlers vom 17.6.1936 als Reichsführer SS zum Chef der deutschen Polizei ernannt. Damit wurde das Parteiamt des Reichsführers SS (RFSS) institutionell mit dem neu eingeführten (staatlichen) Amt eines "Chefs der deutschen Polizei" verbunden. Das bedeutete eine Zentralisierung (als Verreichlichung bezeichnet) der gesamten deutschen Polizei und des deutschen Polizeiwesens, das bisher Ländersache gewesen war und eine - von Himmler bewusst angestrebte - Integrierung der SS und Polizei bzw. Aufsaugung der Polizei durch die SS. Nach seiner Ernennung führte Himmler eine grundlegende Neuorganisation der deutschen Polizei durch. Er bildete zwei Hauptämter, das "Hauptamt Ordnungspolizei" (Chef: General der Polizei Daluege) und das "Hauptamt Sicherheitspolizei" (Chef: SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich). Zum Hauptamt Sicherheitspolizei gehörte das Amt Politische Polizei, praktisch im wesentlichen gebildet vom Gestapa, und das Amt Kriminalpolizei, gebildet vom Preussischen Landeskriminalpolizeiamt (ab 16.7.1937 Reichskriminalpolizeiamt).

Mit Wirkung vom 1.10.1939 errichtete Himmler dann durch Erlass vom 27.9.1939 das Reichssicherheitshauptamt, und zwar durch Zusammenfassung des Hauptamtes Sicherheitspolizei und des dem Bereich der nationalsozialistischen Bewegung zugehörigen SD-Hauptamtes, das aus dem Nachrichten- und Abwehrdienst der SS hervorgegangen war.

Amt IV des RSHA wurde gebildet aus dem Amt Politische Polizei des Hauptamtes Sicherheitspolizei, der Abteilung II des Gestapa und der Abteilung III des Gestapa. Amtschef des Amtes IV wurde SS-Gruppenführer Heinrich Müller. Auf die weitere Gliederung des Amtes IV soll hier nicht eingegangen werden. Dieses Amt war und blieb in Fortführung der Aufgaben des Gestapa bis Kriegsende für die Ausstellung der Schutzhaftbefehle und die Einweisungen und Entlassungen der Konzentrationslagergefangenen zuständig. Chef des Reichssicherheitshauptamtes wurde SS-Obergruppenführer Heydrich, dem später Kaltenbrunner folgte.

Nach Kriegsbeginn wurde die Praxis der Schutzhaftverhängung jedoch vereinfacht. In eiligen Fällen konnten nach einem Runderlass des Chefs der Sipo und des SD vom 16.5.1940 die Dienststellen der Sicherheitspolizei Schutzhaftanträge per Fernschreiben an das Schutzhaftreferat des RSHA (Amt IV Referat C 2) richten. Die Anordnung der Schutzhaftverhängung erfolgte dann ebenfalls fernschriftlich. Die schriftlichen Unterlagen wurden erst nachgereicht. Damit verstärkte sich der Einfluss der örtlichen Gestapostellen bei den Konzentrationslagereinweisungen. Eine Sonderregelung über die Schutzhaftverhängung gegen polnische Staatsangehörige erging durch den Runderlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 4.5.1943. Dieser übertrug den Stapoleitstellen sowie den Befehlshabern und Kommandeuren der Sicherheitspolizei, auf deren Funktionen im übrigen hier nicht eingegangen werden soll, die Anordnung der Schutzhaft und Einweisung in die Konzentrationslager für sämtliche polnische Häftlinge in eigener Zuständigkeit. Ausgenommen hiervon waren lediglich Angehörige des polnischen Hochadels, politische und geistige Führer, ehemalige höhere Offiziere und der höhere Klerus.

Während des Krieges benutzte man ferner die Konzentrationslager dazu, um - wie es in der nationalsozialistischen Terminologie hiess - "den Volkskörper von schädlichen Elementen zu reinigen". So wurden Geisteskranke, Invalide und andere unerwünschte Personengruppen (z.B. die Juden) in der Verschwiegenheit der Konzentrationslager getötet. Unter dem Geheimzeichen 14 f 13 wurden in den Konzentrationslagern Kranke und Arbeitsunfähige von Ärzten ausgesondert und anschliessend getötet. In welchem Umfange dies z.B. im Konzentrationslager Auschwitz geschah, wird noch zu erörtern sein.

Im Verlaufe des Krieges trat aber immer mehr die bereits seit 1938 erkennbare Funktion der Konzentrationslager, Potential für Arbeitskräfte zu sein, in den Vordergrund. Sie wurden riesige Zwangsarbeitslager, die ausser für die SS-eigenen Betriebe auch Arbeitskräfte für die deutsche Kriegsindustrie zu stellen hatten. Da für diesen Arbeitseinsatz das WVHA zuständig war, das an einer ständigen Vermehrung der Arbeitskräfte interessiert war, wirkte es auf die Schutzhaftverhängung und die Einweisung von Gefangenen in Konzentrationslagern indirekt ein. Durch Beeinflussung des RSHA erreichte es die Verstärkung von Einweisungen. Kennzeichnend hierfür ist z.B. das Schreiben des WVHA vom 30.4.1942 an Himmler:

"Die Mobilisierung aller Häftlingsarbeitskräfte zunächst für Kriegsaufgaben (Rüstungssteigerung) und später für Friedensbauarbeiten schiebt sich immer mehr in den Vordergrund. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich nun einige Massnahmen, welche eine allmähliche Überführung der Konzentrationslager aus ihrer früheren einseitigen politischen Form in eine den wirtschaftlichen Aufgaben entsprechende Organisation fordern."

Das WVHA war auch bestrebt, die Sterblichkeit in den Lagern, die seit Beginn des Krieges sehr hoch war, herunterzudrücken. Der Arbeitskräftebedarf führte ferner dazu, dass die arbeitsfähigen Juden, die an sich - wie noch zu erörtern sein wird - für die Vernichtung bestimmt waren, zunächst zum Teil von dieser Vernichtung ausgenommen und als Arbeitskräfte in die Lager aufgenommen wurden. Die Arbeitskräfte für die Konzentrationslager wurden in erster Linie aus den besetzten Gebieten des Ostens rekrutiert. Sie wurden als wirkliche oder vermeintliche Gegner der deutschen Besatzungsmacht oder als verdächtig, Widerstands- oder Untergrundorganisationen anzugehören, festgenommen und in die Konzentrationslager überführt. Unter ihnen befanden sich besonders viele Juden. Die Häftlingszahlen schwollen dementsprechend nach Kriegsbeginn ins Riesenhafte an. Die vorhandenen Konzentrationslager reichten nicht mehr zu ihrer Aufnahme aus. Eine starke Überbelegung der Lager mit einer hohen Sterblichkeit war die Folge. Die Führung richtete daher alsbald nach Kriegsbeginn weitere Konzentrationslager insbesondere im Osten ein. So kam es auch zur Gründung des Konzentrationslagers Auschwitz, über das im nächsten Abschnitt nähere Ausführungen zu machen sein werden.

Zu den bisher genannten Funktionen der Konzentrationslager kam für viele eine, weitere wichtige Funktion während des Krieges hinzu. Sie dienten im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" als Stätten für die massenweise Tötung jüdischer Menschen. Einige Lager - insbesondere in Polen - hatten ausschliesslich diesen Zweck. Sie waren reine Vernichtungslager. Bei anderen Lagern kam zu den bisherigen Funktionen, die beibehalten wurden, die Massenvernichtung jüdischer Menschen hinzu. Hierfür wurden sogar besondere Einrichtungen geschaffen. Das Konzentrationslager Auschwitz, das allen bisher genannten Zwecken bis Kriegsende diente, wurde eines der grössten Vernichtungslager im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage".

2. Abschnitt: Das Konzentrationslager Auschwitz

I. Allgemeines

Als sich nach Kriegsbeginn die Notwendigkeit für die NS-Führung zeigte, neue Konzentrationslager zu errichten, beauftragte Himmler im Winter 1939/1940 den Inspekteur der KL, Glücks, die Möglichkeit der Errichtung neuer Konzentrationslager in den besetzen Ostgebieten zu prüfen. Glücks berichtete am 21.2.1940, "dass Auschwitz, eine ehemalige polnische Artillerie-Kaserne (Stein- und Holzgebäude) nach Abstellung einiger sanitäter Mängel als Quarantänelager geeignet sei". Das Gelände wurde am 17. und 18.4.1940 von einer von dem späteren Lagerkommandanten Höss geleiteten Kommission im Auftrage des Inspekteurs der KL besichtigt. Es liegt in der Nähe der Stadt Auschwitz, die damals zu den dem deutschen Reich eingegliederten Ostgebieten gehörte, am Ostrand der Mährischen Pforte in einer Niederung zwischen den Flüssen Sola und Weichsel, am Schnittpunkt des damaligen Generalgouvernements, des damaligen Warthegaues und Ostoberschlesiens.

Die Kommission sah das Gelände, in dessen Nähe die Bahnlinie Kattowitz - Auschwitz - Krakau vorbeiführte, als geeignet für die Gründung eines Konzentrationslagers an und berichtete entsprechend. Himmler beauftragte daraufhin am 4.5.1940 Höss - offensichtlich im Hinblick auf die grosse Zahl polnischer Häftlinge, die in den genannten Gebieten durch die Sicherheitspolizei festgenommen worden waren und die Polizeigefängnisse überfüllten -, "in kürzester Frist aus dem bestehenden Gebäudekomplex ein Durchgangslager für 10000 Häftlinge zu schaffen". Er ernannte ihn gleichzeitig zum Kommandanten für das zu gründende Lager. Höss begann sofort mit einigen SS-Angehörigen und 200 aus der Stadt Auschwitz zwangsweise rekrutierten Juden mit der Errichtung des Lagers. Die Zivilbevölkerung in der Umgebung der ehemaligen Kaserne wurde zwangsweise evakuiert. Noch im Mai 1940 suchte der erste Rapportführer des Lagers, SS-Oberscharführer Palitzsch, 30 Berufsverbrecher in dem Konzentrationslager Sachsenhausen aus und brachte sie nach Auschwitz. Sie bildeten als erste Insassen die Stammannschaft des Lagers. Nach Eintreffen der ersten Häftlingstransporte wurden sie als Vorgesetzte der Häftlinge (sogenannte Funktionshäftlinge) eingesetzt. Am 14.6.1940 traf der erste polnische Häftlingstransport ein. Zu diesem Zeitpunkt war das Lager noch im Aufbau. Nur ein Steingebäude war mit einem Drahtzaun umzäunt. Am 20.6.1940 lief der zweite Transport ein, dem bald weitere Häftlingstransporte folgten. Der Ausbau des Lagers, für den die eingetroffenen Häftlinge eingesetzt wurden, machte nun rasch Fortschritte. Immer weitere Steingebäude (Blocks) wurden ausgebaut, die Lagerstrassen befestigt und der gesamte Bereich des Lagers, der für die Aufnahme und Unterbringung der Häftlinge diente, mit Stacheldraht umgeben.

Als Durchgangslager - dem ursprünglich vorgesehenen Zweck - diente das Konzentrationslager Auschwitz nur teilweise und nur in der ersten Zeit. Himmler sah schon bald andere Aufgaben für das Lager vor. Als "Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums" konnte er in den eingegliederten Ostgebieten - anders als im Altreich - über das ihm unterstehende Bodenamt in Kattowitz die Beschlagnahme von Grund und Boden zugunsten des Lagers anordnen. Diese Möglichkeit bestimmte ihn zu weitreichenden Plänen. SS-eigene Produktionsstätten sollten in der Nähe und Umgebung des Lagers errichtet und grosse SS-eigene landwirtschaftliche Betriebe und Versuchsanstalten angelegt werden. Die Gefangenen des Lagers sollten in ihnen als billige Arbeitskräfte verwendet werden. Dementsprechend befahl Himmler, nachdem er bereits Ende 1940 die Erweiterung des auf dem Kasernengelände errichteten Lagers angeordnet hatte, nach seiner ersten Besichtigung des Lagers am 1.3.1941 die Ausdehnung des Gesamtlagerbereiches (sogenanntes Interessengebiet KL Auschwitz) auf ein Gebiet von 40 qkm und die Errichtung eines weiteren Lagers bei dem Ort Birkenau (Brzinka) ca. 3 km vom Lager Auschwitz entfernt mit einer Kapazität für 100000 Häftlinge. Später gab er sogar Anweisung, das Lager für 200000 Häftlinge auszubauen. Massgebend für diesen geplanten riesenhaften Ausbau war nicht zuletzt der Standort der nahegelegenen ostoberschlesischen Industrie, für die die billige Arbeitskraft der Gefangenen ausgenutzt werden sollte.

Mit dem Ausbau des Lagers Birkenau wurde im Oktober 1941 begonnen. Er erfolgte in mehreren Bauabschnitten. Der Plan, 600 Baracken für insgesamt 200000 Gefangene zu errichten, wurde jedoch bis Kriegsende nicht mehr verwirklicht. An SS-eigenen Produktionsstätten wurden unter anderem die SS-Wirtschaftsbetriebe "Deutsche Ausrüstungswerke" (DAW), "Deutsche Erd- und Steinwerke" und andere errichtet. In dem polnischen Ort Reisko - wenige Kilometer vom Lager entfernt - entstand ein grosser, SS-eigener landwirtschaftlicher Betrieb mit einer SS-eigenen Versuchsanstalt unter der Leitung des SS-Sturmbannführers Dr. C. In Harmense - ebenfalls nur einige Kilometer vom Lager entfernt - wurden SS-eigene Fischteiche angelegt.

Ab Frühjahr 1941 wurden ständig Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz der IG-Farbenindustrie zur Errichtung eines Buna-Werkes ca. 7 km vom Lager entfernt zur Verfügung gestellt. Die IG-Farbenindustrie errichtete 1942 für die Häftlingsarbeiter, die zunächst täglich den Weg von und zum Werk zurücklegen mussten, in unmittelbarer Nähe des Buna-Werkes das Häftlingsarbeitslager Monowitz. Weitere kleinere Häftlingslager entstanden bei anderen Industriebetrieben im oberschlesischen Raum aber auch in weiterer Entfernung (z.B. bei Brünn), so dass schliesslich zum KL Auschwitz nicht nur das zunächst errichtete Lager (Stammlager) und das Lager Birkenau, sondern ausser Monowitz, dem grössten der Aussenlager, weitere 38 Aussenlager gehörten.

II. Beschreibung des Konzentrationslagerbereiches

1. Das Stammlager

Das auf dem ehemaligen Kasernengelände errichtete Lager wurde Stammlager genannt. Es bestand aus dem Schutzhaftlager, einem räumlich begrenzten und überschaubaren Rechteck, in dem die Häftlinge untergebracht waren, und den ausserhalb des Lagers befindlichen Gebäuden, die zum Kommandanturbereich gehörten. Das Schutzhaftlager war mit einem 4 m hohen Stacheldrahtzaun umgeben, der abends nach dem Einrücken der Häftlinge von der Arbeit bis zum Ausrücken am nächsten Morgen mit Starkstrom geladen wurde. Auf den Pfosten der Umzäunung befanden sich Scheinwerfer, die nachts das Lager beleuchteten. Am Zaun entlang waren Wachttürme aufgebaut, auf denen SS-Posten während der Nacht, teilweise auch tagsüber, wenn die Häftlinge nicht ausrückten oder bei besonderen Anlässen, Wache hielten. Später wurde noch ein zweiter Stacheldrahtzaun errichtet. Das Eingangstor zum Schutzhaftlager, über dem sich die Überschrift "Arbeit macht frei" befand, lag an der Nordseite des Lagers. Das Schutzhaftlager bestand nach seiner Erweiterung und der Bebauung des zunächst in der Mitte des Lagers freigelassenen Appellplatzes aus 28 in mehreren Reihen nebeneinander liegenden Steingebäuden (Blocks genannt), einem Gebäude für die Wäscherei und dem Küchengebäude mit Magazin. Die Steingebäude waren numeriert, die Numerierung wurde jedoch im Laufe der Jahre mehrfach gewechselt. Nach der Bebauung des Appellplatzes im Jahre 1941 hatten sie die Nummern 1-28. Die Blöcke 1-8, 12-18, 22 und 23 dienten als Unterkünfte für die Häftlinge. Die Blöcke 9, 19, 20, 21 und 28 bildeten ab 1941 den Häftlingskrankenbau (HKB). Ursprünglich war nur der Block 21 als Krankenblock benutzt worden. Dann hatte die starke Zunahme der Krankheitsfälle die Einbeziehung des Blocks 28, kurz danach auch die Einbeziehung der Blöcke 20 und 19 und schliesslich des Blocks 9 in den HKB notwendig gemacht. Im Block 10 waren Frauen untergebracht, an denen Dr. Clauberg und andere Ärzte medizinische Versuche machten.

Block 11 war der Arrestblock. Vor der Erweiterung des Lagers hatte er die Nr.13. Er erlangte im Schutzhaftlager besondere Bedeutung. Er war besonders abgeschirmt und gesichert. Kein Häftling aus dem Schutzhaftlager durfte ihn betreten, wenn er nicht in diesem Block eine besondere Funktion zu verrichten hatte. Er stand - wie alle Blöcke - mit der Giebelseite zur Lagerstrasse. Von der Stirnseite (von der Lagerstrasse aus gesehen) und der Rückseite des Blocks 11 waren zu Stirn- und Rückseite des parallel daneben liegenden Blocks 10 zwei hohe Steinmauern gezogen worden, so dass zwischen diesen beiden Blöcken ein Hof entstanden war, der von aussen nicht ohne weiteres - jedenfalls nicht von der Lagerstrasse aus - einzusehen war. Unmittelbar vor der hinteren Verbindungsmauer zwischen Block 10 und 11 - von der Lagerstrasse aus gesehen - hatte man aus schwarzen Isolierplatten eine Wand als Kugelfang errichtet. An dieser Wand, die in der Lagersprache den Namen "schwarze Wand" erhielt, wurden unzählige Menschen erschossen. Durch die vordere Verbindungsmauer führten ein Holztor und eine kleine Holztür. Der Block 11 hatte zwei Eingänge. Der eine führte von der Lagerstrasse aus in den Block auf einen breiten Mittelgang (Flur), der den Block in zwei Hälften teilte. In der rechten Hälfte des Blockes im Erdgeschoss - vom Eingang aus gesehen - lagen mehrere Zimmer, die vom Flur aus zu betreten waren, unter anderem die Blockführerstube (erstes Zimmer vom Eingang aus gesehen), die Schreibstube für den Blockschreiber (zweites Zimmer) und das Zimmer des Blockältesten. In der Mitte des Hauptflurs ging nach links ein Seitenflur in Richtung auf den Hof zwischen Block 10 und 11 ab, der durch einen zweiten Ausgang auf den Hof führte. Auf dem Seitenflur befand sich ein grosser Waschraum, der nur von dem Seitenflur aus zu betreten war. Am Hauptflur lag ein weiterer kleiner Waschraum, und zwar links - von der Lagerstrasse aus gesehen - unmittelbar gegenüber der Blockältestenstube.

Ein weiterer Raum im Erdgeschoss diente zur Unterbringung von sogenannten Polizeihäftlingen, die durch die Gestapoleitstelle Kattowitz in das Lager gebracht und durch ein sogenanntes Standgerichtsverfahren dieser Gestapoleitstelle abgeurteilt wurden. Nähere Einzelheiten hierüber werden noch zu schildern sein.

Der erste Stock diente zeitweilig als Quarantänestation für die Häftlinge, die gerade in das Lager gekommen waren und für solche, die auf ihre Entlassung aus dem Lager warteten. In ihm waren zeitweilig auch Arrestanten der SS untergebracht. In der ersten Zeit (1940/1941) befand sich in Block 11 auch die Strafkompanie (SK).

Im Keller des Blocks 11 befanden sich 28 Arrestzellen für Lagerhäftlinge. In der Lagersprache wurde dieser Zellenbau "Bunker" genannt. Der Keller wurde - wie das Erdgeschoss und der erste Stock - durch einen breiten Mittelgang in zwei Hälften geteilt. Der Gang war durch starke Eisengitter mit zwei Gittertüren unterteilt.

Von ihm zweigten kurze parallele Seitengänge ab, an denen die einzelnen Zellen (2-5) lagen. Sie waren mit dicken Türen mit Stahlverschlägen und Gucklöchern versehen. Eine der Zellen (Nr.22) war in vier Stehzellen umgewandelt worden. Die Grösse einer Stehzelle betrug noch nicht einen Quadratmeter. In ihr konnte sich ein Mensch weder setzen noch hinlegen. Der Einstieg zu einer Stehzelle bestand nur aus einem kleinen Loch in Kniehöhe, durch das der Häftling hindurchkriechen musste. In die Stehzellen wurden Häftlinge zur Strafe für irgendwelche geringfügigen Lagervergehen eingesperrt. Die Strafe bestand meist darin, dass sie mehrere Nächte hintereinander - ohne Essen und Trinken - in der Stehzelle verbringen mussten. Am nächsten Morgen mussten sie dann wieder mit zur Arbeit ausrücken.

Die Lagerführung sperrte mehrfach auch Häftlinge, die ihr aus irgendeinem Grunde missliebig waren, in die Stehzellen für längere Zeit, also Tag und Nacht, ein, ohne ihnen etwas zu essen und zu trinken geben zu lassen, bis die Häftlinge verhungert waren. Auf diese Weise sind mehrere Häftlinge umgekommen.

In die Arrestzellen wurden Schutzhäftlinge aus dem Lager entweder durch die Lagerführung oder die Politische Abteilung eingewiesen. Der Grund für die Einweisung durch die Lagerführung waren Lagervergehen im Sinne der SS. Von der Politischen Abteilung wurden vornehmlich Häftlinge in den Arrest gebracht, die verdächtig waren, Mitglieder einer Untergrundorganisation zu sein, unzulässige Verbindungen zu Zivilpersonen ausserhalb des Lagers zu unterhalten oder einen Fluchtversuch geplant oder versucht zu haben. Ferner kamen alle Häftlinge hinein, denen eine Flucht gelungen war, die aber wieder ergriffen worden waren. Auch der Verdacht, sonstige Lagervergehen begangen zu haben (z.B. Diebstähle) konnte Grund für die Einweisung in den Arrest sein. Der Blockschreiber, ein Funktionshäftling, trug die in den Arrest eingewiesenen Häftlinge in das sogenannte Bunkerbuch ein. Ausserdem wurden sie auf einer Karteikarte erfasst. Häftlinge, die nur eine Lagerstrafe zu verbüssen hatten, wurden nicht in das Bunkerbuch eingetragen.

Im Block 24 befand sich die Häftlingsschreibstube für das Schutzhaftlager, später auch ein Bordell. In Block 25 war eine Häftlingskantine, Block 26 diente als Effekten- und Block 27 als Bekleidungskammer.

Neben dem Lagereingang, jedoch ausserhalb der Drahtumzäunung, befand sich in einer Baracke die Blockführerstube, wo sich die ein- und ausrückenden Häftlinge an- und abmelden mussten. Gegenüber dem Lagereingang lagen die zur Fahrbereitschaft gehörenden Gebäude und Werkstätten.

An der Schmalseite des Lagers im Westen - ausserhalb des Stacheldrahtzaunes - befanden sich drei Gebäude, in denen die verschiedenen Dienststellen ihre Büroräume hatten. In dem an der südwestlichen Ecke des Lagers neben Block 1 - jedoch durch den Stacheldrahtzaun getrennt - liegenden Gebäude hatte der Kommandanturstab seine Büros mit je einem Dienstzimmer für den Kommandanten und den Adjutanten. In dem zweiten, nördlich daran anschliessenden, Gebäude war die Verwaltungsabteilung, und in dem dritten, an der Nordwestecke des Lagers neben Block 22 - jedoch ebenfalls durch den Stacheldrahtzaun von diesem getrennt - liegenden Gebäude waren die Apotheke, die Dienststelle des Standortarztes und das SS-Revier untergebracht. Gegenüber diesem zuletzt genannten Gebäude (SS-Reviergebäude genannt) lag das Krematorium, das später, nach dem Ausbau neuer Krematorien in Birkenau, das "alte Krematorium" genannt wurde. In ihm wurden die Leichen der verstorbenen Häftlinge verbrannt. Es diente aber auch, was später noch näher zu erörtern sein wird, als Exekutionsstätte und als Vergasungsraum zur Tötung von Menschen mit Zyklon B. Neben dem alten Krematorium waren einige Baracken, in denen die Politische Abteilung des Lagers ab 1942 ihre Diensträume hatte und Vernehmungen durchführte.

2. Das Lager Birkenau

Das Lager Birkenau - ebenfalls ein Rechteck -, mit dessen Bau im Oktober 1941 begonnen wurde, umfasste eine Fläche von 170 Hektar. Es wurde in drei Bauabschnitten errichtet. Der Bauabschnitt I, der später die Bezeichnung B I beibehielt, wurde in die Felder a und b unterteilt. Auf ihnen wurden unverputzte Steinbaracken mit gemauerten Boxen als Schlafstätten für Häftlinge erbaut. Im Feld B I a wurden ab Sommer 1942 Frauen, im Feld B I b Männer untergebracht. Im Jahre 1943 wurden die Männer in den Abschnitt B II verlegt. Das Feld B I b wurde ebenfalls mit Frauen belegt. Der ganze Abschnitt B I bildete nun das Frauenkonzentrationslager (FKL). Auf dem Bauabschnitt B II wurden Baracken nach dem Muster der Wehrmachtspferdestallbaracken errichtet. Sie hatten keine Fenster, sondern nur Öffnungen an ihren Schmalseiten. Das Haupttor des Gesamtlagers befand sich an der Ostseite zwischen den Abschnitten B I und B II. Durch dieses Tor wurde im Jahre 1943 ein Anschlussgleis vom Bahnhof der Stadt Auschwitz in das Lager geführt und zwischen den Abschnitten B I und B II eine Rampe mit 3 Schienensträngen errichtet. Sie wurde Anfang oder Frühjahr 1944 fertig. Sie erlangte besondere Bedeutung bei der Massenvernichtung von jüdischen Menschen in den Gaskammern von Birkenau, auf die noch zurückzukommen sein wird.

Der Abschnitt B II wurde in die Lagerabschnitte a-f unterteilt. Diese Lagerabschnitte bildeten eigene, durch besondere Drahtumzäunung gesicherte Lager. Sie hatten nur je einen, an ihrer nördlichen Schmalseite befindlichen Eingang. Sie konnten daher nur von der zwischen den Bauabschnitten B II und B III von Ost nach West verlaufenden Lagerstrasse betreten werden. Vor dem Eingang jedes Lagerabschnitts befand sich eine Baracke mit der Blockführerstube.

Der Lagerabschnitt B II a war das Quarantänelager. Hierher kamen zunächst die Neuankömmlinge, bis sie auf die anderen Lagerabschnitte verteilt wurden.

In dem Lagerabschnitt B II b befand sich das sogenannte tschechische Familienlager, auch Theresienstädter Lager genannt. Es entstand im September 1943, als tschechische Juden familienweise aus Theresienstadt nach Auschwitz verbracht und auch familienweise in diesem Lagerabschnitt untergebracht wurden. Im Dezember 1943 wurde er mit weiteren tschechischen Juden aus Theresienstadt belegt. Der grösste Teil der Juden wurde - wie noch zu erörtern sein wird - im März und Juli des Jahres 1944 in den Gaskammern von Birkenau getötet, während ein Teil der arbeitsfähigen Juden in andere Lager verschickt wurde.

Der Lagerabschnitt B II c wurde im Jahre 1944 mit ungarischen Frauen belegt.

Im Lagerabschnitt B II d befanden sich arbeitsfähige Männer. Im Block 11 dieses Lagers war die Strafkompanie (SK) untergebracht. Block 11 war von den anderen Baracken isoliert und besonders gesichert.

B II e war das Zigeunerlager. In ihm waren Zigeuner familienweise bis zu ihrer Vernichtung im Jahre 1944, auf die ebenfalls noch zurückzukommen sein wird, untergebracht.

B II f war das Männerkrankenlager.

An der Westseite des Bauabschnittes B II befand sich noch ein weiteres Barackenlager, das "Effektenlager", in der Lagersprache "Lager Kanada" genannt, in dem die den Juden abgenommenen Gepäckstücke, Kleidung, Schmuck, Uhren usw. gelagert und sortiert wurden.

Das gesamte Lagerrechteck B I und B II war, ähnlich wie das Stammlager, mit hohem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben, der nachts ebenfalls elektrisch geladen wurde, Auch die zwischen den einzelnen Lagerabschnitten gezogenen Stacheldrahtzäune wurden nachts unter Strom gesetzt.

In dem gesamten Lager Birkenau waren zur Zeit der Höchstbelegstärke (1943) rund 100000 Häftlinge untergebracht, während das Stammlager nach seiner Erweiterung und der Aufstockung der Steingebäude nur eine durchschnittliche Belegstärke von 18000 Personen hatte.

Der Bauabschnitt B III wurde bis zur Evakuierung des Lagers am 18.1.1945 nicht mehr vollendet. Auf ihm waren zwar schon einige Baracken errichtet, es fehlte aber an Wasser und sanitären Einrichtungen. Auch war es noch nicht durch einen Drahtzaun gesichert. In den Baracken dieses Abschnitts, der in der Lagersprache "Lager Mexico" genannt wurde, waren zur Zeit der grossen Ungarn-Transporte im Jahre 1944, als Hunderttausende von ungarischen Juden nach Auschwitz zur Vernichtung transportiert wurden, vorübergehend ungarische jüdische Frauen untergebracht, die unter den primitivsten Verhältnissen leben mussten, zum Teil nicht einmal bekleidet waren.

Zum Bereich des Lagers Birkenau gehörten auch zwei nordwestlich vom Lager im Gelände liegende Bauernhäuser, die im Jahre 1942 zu Vergasungsanstalten umgebaut worden sind. In ihnen wurden - was noch zu erörtern sein wird - Tausende von Menschen durch Gas getötet. Ferner gehörten zum Lager Birkenau vier westlich vom Lager im Jahre 1943 errichtete Krematorien mit Gaskammern (die Krematorien I bis IV), die ebenfalls der Tötung unzähliger Menschen dienten.

Das Stammlager und das Lager Birkenau waren tagsüber von einer gemeinsamen grossen Postenkette, bestehend aus bewaffneten SS-Angehörigen, umgeben, die die Lager in einer grösseren Entfernung in einem geschlossenen Ring umgaben und die Flucht von Häftlingen während der Arbeit verhindern sollten. Die grosse Postenkette wurde morgens vor dem Ausrücken der Häftlinge aus dem Lager gebildet, und erst am Abend nach dem Abendappell, wenn festgestellt worden war, dass kein Häftling fehlte, eingezogen. Stellte sich beim Abendappell heraus, dass einer oder mehrere Häftlinge fehlten, blieben die Aussenposten stehen, bis die fehlenden Häftlinge gefunden waren. Das Gebiet innerhalb der grossen Postenkette war Sperrgebiet und durfte nur mit einem besonderen Passierschein betreten werden.

3. Das Lager Monowitz mit seinen Nebenlagern

Das bereits erwähnte, für die IG-Farbenindustrie errichtete Arbeitslager gehörte ebenfalls zu dem Konzentrationslager Auschwitz. Es wurde zuerst "Lager Buna", später Lager Monowitz genannt. Eine nähere Beschreibung dieses Lagers erübrigt sich, da die Straftaten, die zur Verurteilung der Angeklagten geführt haben, im Bereich des Stammlagers oder des Lagers Birkenau begangen worden sind.

Aus den gleichen Gründen bedarf es nicht der Beschreibung der weiteren 38 zum Teil kleineren Aussenlager.

Im November 1943 wurden die Lager Birkenau und Monowitz organisatorisch verselbständigt. Das gesamte Konzentrationslager Auschwitz wurde in die Lager Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Lager Birkenau) und Auschwitz III (Lager Monowitz mit sämtlichen Nebenlagern) geteilt. Die Lager Birkenau und Monowitz mit Nebenlagern erhielten eigene Lagerkommandanten und Adjutanten. Es fehlten ihnen jedoch eine eigene Fernschreibstelle, eine eigene Politische Abteilung, eine eigene Fahrbereitschaft und ein eigener ärztlicher Dienst. Die zum Kommandanturbereich des Lagers A I gehörende Politische Abteilung, die Fahrbereitschaft, der Standortarzt, die Fernschreibstelle blieben weiterhin für alle Lager zuständig. Ferner hatte der Lagerkommandant des Lagers A I in seiner Eigenschaft als Standortältester des Standortes Auschwitz Weisungs- und Befehlsbefugnisse gegenüber den Lagerkommandanten der Lager A II und A III.

III. Die innere Organisation des Konzentrationslagers Auschwitz

1. Die Lagerkommandantur (Abteilung I)

An der Spitze des Konzentrationslagers stand der Lagerkommandant. Er war für das Lager in jeder Hinsicht verantwortlich. Ihm zur Seite stand als erster Gehilfe der Lageradjutant. Seine Aufgabe war es, den Kommandanten über alle wichtigen Vorgänge im Lager zu unterrichten, die gesamte eingehende Post auf die einzelnen Abteilungen zu verteilen und den Schriftverkehr der Kommandantur mit aussenstehenden Dienststellen und den Abteilungen des Lagers zu bearbeiten. Verschlusssachen hatte er ebenfalls zu bearbeiten und sicher aufzubewahren. Er führte auch das Geheimtagebuch. Der Adjutant war ferner Personalsachbearbeiter des Kommandanturstabes. Er hatte dem Kommandanten Beförderungen und Ernennungen der im Lagerbereich tätigen SS-Angehörigen vorzuschlagen. Dem Adjutanten unterstand ferner das gesamte Nachrichtenwesen des Lagers sowie die Fahrbereitschaft. Die Angehörigen des Kommandanturstabes (SS-Unterführer und SS-Männer) waren zu der sogenannten Stabskompanie zusammengefasst. Der Adjutant war Chef dieser Kompanie. Er war damit Disziplinarvorgesetzter aller zum Kommandanturstab gehörenden SS-Unterführer und -Männer. Der Adjutant war auch verantwortlich für die Waffen, die Munition und das Gerät des Kommandanturstabes.

Als Hilfskräfte standen dem Adjutanten der Stabsscharführer (Spiess) und mehrere Unterführer (Schreiber) zur Seite.

2. Die Politische Abteilung (Abteilung II)

Die Politische Abteilung (PA) war eine - in sachlicher Hinsicht - selbständige, vom Lagerkommandanten unabhängige Abteilung. An ihrer Spitze stand als Leiter ein SS-Führer im Range eines Untersturmführers, der Beamter der Gestapo war. Er war verantwortlich für die Erfassung der Neuzugänge, die ordnungsmässige Führung der Häftlingskartei und der Häftlingsakten, sowie für die termingerechte Überstellung von Häftlingen zu Polizeidienststellen und Gerichtsterminen. Seine Aufgabe war es ferner, Häftlinge zu vernehmen oder durch ihm unterstellte SS-Unterführer und SS-Männer vernehmen zu lassen. Bei Fluchten sollte er die Fahndung der zuständigen Polizeidienststellen veranlassen. Schliesslich oblag dem Leiter der Politischen Abteilung die Erstellung von angeforderten Führungszeugnissen für Schutzhaftgefangene und die Verständigung der zuständigen Staatsanwaltschaften bei unnatürlichen Todesfällen.

Der Leiter der PA hatte einen Stellvertreter, der ebenfalls ein Gestapobeamter im Range eines SS-Untersturmführers war. Ihm standen ferner weitere SS-Unterführer und SS-Männer zur Erledigung seiner Aufgaben zur Verfügung. Diese waren Angehörige der Waffen-SS und gehörten zur Stabskompanie. Die Politische Abteilung hatte mehrere Unterabteilungen:

a. Die Aufnahmeabteilung

Ihre Aufgabe war es, eingelieferte Schutzhaftgefangene aktenmässig zu erfassen. Für jeden Häftling wurde eine Karteikarte angelegt und ein Personalbogen ausgefüllt. Die Häftlingsakten, die entweder von der einweisenden Dienststelle übersandt oder bei der Aufnahme des Häftlings neu angelegt wurden, wurden in der zur Politischen Abteilung gehörenden Registratur aufbewahrt. Dort befand sich auch die Kartothek, in der sämtliche im Lager lebenden Häftlinge karteimässig erfasst waren. Starb ein Häftling, so wurde seine Karteikarte aus dieser - wie man im Sprachgebrauch des Lagers sagte - "Lebendenkartei" herausgenommen und in die sogenannte "Totenkartei" abgelegt. Die Aufnahmeabteilung gab an jeden neu in das Lager aufgenommenen Häftling eine Nummer aus. An Hand der für die Neuzugänge angelegten Personalbogen wurden dann Zugangslisten in elf- oder zwölffacher Ausfertigung geschrieben, die den einzelnen Abteilungen des Lagers, der Bekleidungskammer, Effektenkammer usw. zugestellt wurden. Personen, die sofort nach ihrer Einlieferung durch Erschiessen oder durch Gas getötet werden sollten und auch getötet wurden, wurden nicht durch die Aufnahmeabteilung in die Lagerstärke aufgenommen.

b. Die Vernehmungsabteilung

Sie war gegliedert in die ermittlungs- und die nachrichtendienstliche Abteilung. Die Ermittlungsabteilung hatte Rechtshilfeersuchen von Gerichten und Polizeidienststellen durch Vernehmungen der betreffenden Häftlinge zu erledigen. Ihre Hauptaufgabe war es aber, Vergehen von Häftlingen (z.B. Diebstähle), Untergrund- und Widerstandstätigkeit im Lager, Fluchtvorbereitungen, Verbindungen von Häftlingen zu ausserhalb des Lagers lebenden Zivilpersonen aufzuklären und die hierfür erforderlichen Vernehmungen durchzuführen. Die nachrichtendienstliche Abteilung überwachte und beobachtete die Häftlinge insbesondere im Hinblick auf konspirative Tätigkeit. Sie bediente sich vieler im Lager befindlicher Spitzel, die ihre Kameraden aus eigensüchtigen Motiven - oft zu Unrecht - an die SS verrieten. Die nachrichtendienstliche Abteilung überwachte und beobachtete auch SS-Angehörige und schritt ein, wenn Angehörige der SS in den Verdacht unzulässiger Verbindung zu Häftlingen, der Begünstigung von Häftlingen oder sonstiger strafbarer Handlungen gerieten. Bei besonderen Aufträgen durch die Gestapoleitstelle in Kattowitz oder den Lagerkommandanten beobachtete sie auch die im Lager tätigen SS-Führer.

c. Das Standesamt

Das Lager in Auschwitz hatte ein eigenes Standesamt, das zur PA gehörte. Im Standesamt wurden Geburten, Heiraten und Todesfälle registriert. Geburten kamen selten vor. Eine Heirat wurde im Jahre 1944 registriert, als ein österreichischer Häftling namens Rudi Friemel eine spanische Frau heiraten durfte. Friemel wurde - was noch in anderem Zusammenhang zu erörtern sein wird - am 30.12.1944 mit anderen Personen öffentlich erhängt.

Die Hauptarbeit des Standesamtes bestand in der Registrierung von Todesfällen. Mehrere Häftlingsschreiberinnen mussten täglich stundenlang, da meist Hunderte von Häftlingen an einem Tag starben oder zu Tode gebracht wurden, auf Grund der von einem SS-Arzt unterzeichneten Todesbescheinigungen und an Hand der Häftlingsakten der verstorbenen Gefangenen die Sterbeurkunden ausfüllen, die sie dann einem Standesbeamten (SS-Unterführer) zur Unterschrift vorlegten. Die unterschriebenen Sterbeurkunden wurden später zu Totenbüchern zusammengebunden.

Menschen aus Transporten, die nicht in die Lagerstärke aufgenommen, sondern sofort durch Gas oder auf andere Weise getötet wurden, wurden beim Standesamt nicht erfasst. Für sie wurden keine Todesurkunden ausgestellt. Zu dem Standesamt gehörte auch die Krematoriumsabteilung. Dort wurden Krematoriumsbücher geführt. In diese wurden von Häftlingsschreiberinnen die Einäscherung der vom HKB gemeldeten Toten eingetragen, wobei als Einäscherungstag der 4. Tag nach dem gemeldeten Todestag eingetragen werden musste.

d. Der Erkennungsdienst

Aufgabe des Erkennungsdienstes war es, die Neuzugänge erkennungsdienstlich zu behandeln. Von jedem Häftling wurden drei fotografische Aufnahmen gemacht und Fingerabdrücke genommen. Hiervon ausgenommen waren allerdings jüdische Häftlinge, die mit sogenannten RSHA-Transporten, auf die noch zurückzukommen sein wird, nach Auschwitz zum Zwecke der Tötung deportiert worden waren, dann aber als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager verbracht worden waren. Bei ihnen entfiel die erkennungsdienstliche Behandlung.

e. Die Fürsorgeabteilung

Zur Politischen Abteilung gehörte auch die Fürsorgeabteilung. Ihre Aufgabe war es, dienstliche oder private schriftliche Anfragen in bezug auf Häftlinge zu beantworten. Sie sollte auch Häftlinge in privaten Angelegenheiten (z.B. Erbschaftsangelegenheiten) beraten.

3. Die Schutzhaftlagerführung (Abteilung III)

a. Der Schutzhaftlagerführer

An der Spitze des Schutzhaftlagers stand der Schutzhaftlagerführer im Range eines SS-Führers (SS-Hauptsturm- oder SS-Obersturmführers). Er war verantwortlich für den gesamten Bereich des Häftlingslagers. In Auschwitz gab es im Stammlager drei Schutzhaftlagerführer. Der zweite und dritte Schutzhaftlagerführer unterstanden dem ersten Schutzhaftlagerführer. Sie unterstützten ihn in seinen Aufgaben. Teilweise wechselten sich die drei Schutzhaftlagerführer im Dienst ab. Ihr Dienstzimmer befand sich zunächst in der neben dem Lagereingang befindlichen Baracke, in der die Blockführerstube war, später wurde eine besondere Baracke für die Schutzhaftlagerführer in der Nähe des Lagereingangs aufgestellt. Aufgabe des Schutzhaftlagerführers war es, sich durch ein geeignetes Überwachungssystem über alle Vorgänge im Lager zu unterrichten. Er sollte ferner darauf achten, dass alle Häftlinge "streng aber gerecht" behandelt würden. Misshandlungen von Häftlingen, die ausdrücklich verboten waren, sollte er dem Lagerkommandanten melden. Missstände im Lager sollte er sofort abstellen. Der Schutzhaftlagerführer nahm morgens und abends die Zählappelle ab. Der Appell selbst wurde von dem Rapport- und den Blockführern durchgeführt. Die Blockführer meldeten die Stärke der einzelnen Blocks an den Rapportführer, der wiederum die Gesamtstärke des Lagers dem ersten Schutzhaftlagerführer meldete. Aufgabe des Schutzhaftlagerführers war es ferner, die täglich, wöchentlich und vierzehntägig von dem Rapportführer an die Kommandantur einzureichenden schriftlichen Stärkemeldungen zu unterzeichnen. Beim Ausrücken der Häftlinge zur Arbeit nach dem Morgenappell machte der Schutzhaftlagerführer am Lagertor Stichproben, ob die ausrückenden Arbeitskommandos auch die gemeldete Stärke hätten. Tagsüber kontrollierte er stichprobenweise die Arbeitskommandos. Der Schutzhaftlagerführer sollte sich auch durch Stichproben davon überzeugen, ob jeder Häftling das zustehende Essen bekäme. Durch Kostproben sollte er das zubereitete Essen überwachen. Das ihm unterstehende SS-Personal sollte er immer wieder über den Umgang mit Häftlingen belehren, insbesondere über das Verbot der Häftlingsmisshandlung. Zu Strafmeldungen, die durch Häftlingsfunktionäre oder das SS-Lagerpersonal gegen Häftlinge wegen irgendwelcher Lagervergehen gemacht wurden, sollte er den betreffenden Häftling hören und seine Stellungnahme mit dem Vorschlag einer Lagerstrafe gegenüber dem Lagerkommandanten abgeben. Schliesslich gehörte es noch zu den Aufgaben des Schutzhaftlagerführers, die Häftlinge für bestimmte Funktionen im Lager auszuwählen und in diese Funktionen einzusetzen.

b. Der Rapportführer

Der Rapportführer war stets ein SS-Unterführer (SS-Oberscharführer oder SS-Unterscharführer). Er war der unmittelbare Vorgesetzte der Blockführer und teilte diese zum Dienst ein. Wie schon unter a. ausgeführt, führte er mit deren Hilfe die Zählappelle durch und war für die genaue Erstellung der Stärkemeldung verantwortlich. Waren Vorführungen von Häftlingen zum Schutzhaftlagerführer, zur Politischen Abteilung oder zu sonstigen Dienststellen angeordnet, hatte er für deren rechtzeitige Vorführung zu sorgen. Beim Ausrücken der Häftlinge zur Arbeit überprüfte er am Lagertor stichprobenweise die Stärke der Kommandos. Beim Einrücken der Häftlinge in das Lager nach der Arbeit durchsuchte er einzelne Häftlinge, ob sie Lebens- oder Genussmittel bei sich führten, was streng verboten war. Im Lager hatte er auf Ordnung und Sauberkeit zu achten. Im übrigen kontrollierte er tagsüber auch die Arbeitskommandos. Die vom Lagerkommandanten angeordneten Strafmassnahmen hatte er durchzuführen und die Durchführung schriftlich festzuhalten.

c. Die Blockführer

Die Blockführer (SS-Unterführer oder SS-Mannschaftsdienstgrade) waren für einen oder mehrere ihnen zugeteilte Häftlingsblocks verantwortlich. Sie hatten für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit in den Blocks zu sorgen. Dabei bedienten sie sich der Häftlingsfunktionäre, an die sie sich bei Verstössen hielten. Sie konnten zu ausserhalb des Lagers eingesetzten Arbeitskommandos eingeteilt werden und hatten dann laufend Arbeiten der Häftlinge zu überwachen und ihre Arbeitsleistungen zu überprüfen.

Täglich waren ein oder mehrere Blockführer als "Blockführer vom Dienst" eingeteilt. In dieser Eigenschaft hatten sie sich in der Blockführerstube vor dem Lagertor aufzuhalten und den Lagereingang zu überwachen. Der Blockführer vom Dienst war für das genaue Zählen der ein- und ausrückenden Häftlingsarbeitskommandos verantwortlich. Die Häftlinge, die tagsüber mit besonderem Ausweis ohne Begleitposten das Lager verliessen, musste er genau erfassen. SS-Angehörigen und Zivilangestellten, die ohne den erforderlichen besonderen Passierschein das Lager betreten wollten, musste er den Zugang verwehren.

4. Die Abteilung Verwaltung (Abteilung IV)

An der Spitze der Abteilung Verwaltung stand der erste Verwaltungsführer im Range eines SS-Führers. Dieser war verantwortlich für Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Besoldung des Kommandanturstabes sowie für die Unterkünfte, Verpflegung und Bekleidung der Häftlinge. Er war der Berater des Lagerkommandanten in allen wirtschaftlichen Angelegenheiten.

Dem ersten Verwaltungsführer unterstand auch die Gefangeneneigentumsverwaltung, die die gesamten, von den Häftlingen mitgebrachten und in der Effektenkammer aufbewahrten Effekten (Geld, Wertsachen, Bekleidung usw.) zu verwalten hatte. Ihm standen zur Durchführung seiner Aufgaben SS-Unterführer und SS-Männer des Verwaltungsdienstes zur Verfügung.

5. Der ärztliche Dienst (Abteilung V)

An der Spitze des ärztlichen Dienstes stand der SS-Standortarzt. Er hatte sein Dienstzimmer - wie schon oben erwähnt- in dem sogenannten SS-Reviergebäude. Ihm unterstanden die SS-Truppenärzte, die für die Behandlung des SS-Personals zuständig waren, die SS-Lagerärzte, die die Häftlinge im Schutzhaftlager ärztlich betreuen sollten, die SS-Zahnärzte, die für die zahnärztliche Behandlung des SS-Personals und die zahnärztliche Betreuung der Häftlinge zuständig waren, und der SS-Lagerapotheker, der die zum Konzentrationslager Auschwitz gehörende Lagerapotheke (im SS-Reviergebäude untergebracht) zu leiten hatte.

Den SS-Lagerärzten waren Sanitätsdienstgrade (SDG) im Range von SS-Unterführern oder SS-Männern als Gehilfen zugeteilt, die ihnen unmittelbar unterstanden. Das Stammlager hatte in der Regel einen SS-Lagerarzt, während im Lager Birkenau meist mehrere Lagerärzte in den verschiedenen Lagerabschnitten die Häftlinge betreuen sollten.

Der SS-Lagerarzt war ausser für die ärztliche Betreuung des Schutzhaftlagers auch für die hygienischen und sanitären Einrichtungen des Lagers verantwortlich. Er sollte die Hygiene des Lagers überwachen und vorbeugend Epidemien und Seuchen verhindern. Neuzugänge sollte er untersuchen, ebenso die Häftlinge, die sich täglich krank meldeten. Ferner sollte sich der Lagerarzt von der Zubereitung und der Qualität der Verpflegung in der Küche überzeugen und die in der SS-Küche sowie die in den
Häftlingsküchen beschäftigten Häftlinge ständig auf ansteckende Krankheiten hin beobachten. Missstände im Lager sollte er sofort dem Lagerkommandanten melden. Schliesslich musste der Lagerarzt in bestimmten Abständen ärztliche Berichte an die vorgesetzte Dienststelle erstatten, die davon dem Lagerkommandanten Abschriften zur Kenntnisnahme vorlegen sollte.

Im Stammlager und auch in den Lagerabschnitten in Birkenau kümmerten sich die Lagerärzte - von geringen Ausnahmen abgesehen - kaum um ihre Aufgaben. Sie überliessen die ärztliche Versorgung und Betreuung den Häftlingsärzten und Häftlingspflegern.

In grösserem Umfange liessen sie kranke Häftlinge von den SDGs oder Funktionshäftlingen durch Phenolinjektionen töten oder in den Gaskammern durch Gas töten, was noch in anderem Zusammenhang später näher zu erörtern sein wird.

6. Der Arbeitseinsatz

An der Spitze des Arbeitseinsatzes im KL Auschwitz stand der Arbeitseinsatzführer im Range eines SS-Führers. Er war für den Arbeitseinsatz der Häftlinge nach berufsmässigem Können und Leistungsfähigkeit verantwortlich. Alle Häftlinge des Lagers waren in einer sogenannten Berufskartei vom Arbeitseinsatzführer erfasst.

Dem Arbeitseinsatzführer standen zur Durchführung seiner Aufgaben sogenannte Arbeitsdienstführer (SS-Unterführer) zur Verfügung. Die Arbeitsdienstführer hatten die Arbeitskommandos zusammenzustellen, die bestehenden Arbeitskommandos zu ergänzen oder umzustellen. Sie bedienten sich zur Durchführung ihrer Aufgaben weitgehend der Häftlingsfunktionäre.

7. Die Häftlingsfunktionäre

Der inneren Organisation der SS im KL Auschwitz entsprach auf der Häftlingsseite eine Organisation im Lager, die nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung aufgebaut war. Allerdings war diese völlig abhängig von der SS-Führung und hatte deren Willen auszuführen. An der Spitze des Schutzhaftlagers stand auf der Häftlingsseite der Lagerälteste, der von dem Schutzhaftlagerführer nach Fühlungnahme mit dem Rapportführer aus den Häftlingen ausgewählt und in diese Funktion eingesetzt wurde. Neben dem Lagerältesten für das gesamte Schutzhaftlager gab es auch noch Lagerälteste für bestimmte Teilbereiche, z.B. den HKB, der mehrere Blocks umfasste. Der Lagerälteste war verantwortlicher Vertreter des Lagers gegenüber der SS, an den sie sich jederzeit halten konnte, wenn irgendetwas zu beanstanden war, oder wenn sie irgend etwas zu verfügen hatte. Der Lagerälteste war verantwortlich für Ordnung, Ruhe und Sauberkeit im Lager. Ihm unterstanden die Blockältesten, die er aus den Häftlingen auswählte und der SS-Lagerführung zur Ernennung vorschlug.

Der erste Lagerälteste des gesamten Lagers war ein Berufsverbrecher, der aus den 30 ersten, von dem Rapportführer Palitzsch von Sachsenhausen nach Auschwitz verbrachten Häftlingen ausgewählt worden war.

Jeder Wohnblock hatte einen Blockältesten. Dieser war Vorgesetzter aller Häftlinge seines Blocks und für alles, was im Block geschah, verantwortlich. Vor allem hatte er für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit im Block zu sorgen. Ihm oblag ferner die Verteilung der Essensportionen, wobei er sich der sogenannten Stubendienste bediente.

Die Häftlinge hatten den Lagerältesten, den Blockältesten und den Stubendiensten unbedingt zu gehorchen. Die Macht, die der Lagerälteste, die Blockältesten und die Stubendienste über die Häftlinge hatten, wurde oft auf das schwerste missbraucht. Allerdings wurden die Häftlingsfunktionäre auch für alles, was der SS-Führung im Lager oder in den Blocks irgendwie auffiel, zur Verantwortung gezogen und nicht selten bestraft. Dem Rapportführer auf seiten der SS entsprach im Lager der Rapportschreiber, der die Häftlingsschreibstube im Lager leitete. Hier wurde der gesamte, die innere Verwaltung des Lagers betreffende Verkehr erledigt (z.B. Appellvorbereitungen, Stärkemeldungen, Karteiführung usw.). Auch jeder Block hatte einen Häftlingsschreiber (Blockschreiber). Im HKB war ebenfalls eine Schreibstube, in der mehrere Schreiber tätig waren. Dort wurden alle in den HKB aufgenommenen Häftlinge karteimässig erfasst. Für verstorbene Häftlinge wurden hier die Todespapiere ausgestellt. Je eine Todesmeldung ging an die verschiedenen Dienststellen. Ferner wurden hier die vom Lagerarzt unterzeichneten Todesbescheinigungen für das Standesamt ausgeschrieben. Die Toten wurden in ein Totenbuch eingetragen. Im übrigen wurde eine Vielzahl von Häftlingsschreiberinnen bei der Politischen Abteilung sowie Häftlingsschreiber bei der Dienststelle des Standortarztes beschäftigt. Auch sonstige Arbeiten liess die SS-Führung in grossem Umfang von Häftlingen erledigen (z.B. Arbeiten des Arbeitsdienstes). Die einzelnen Arbeitskommandos wurden von Häftlingsvorgesetzten, die "Kapos" genannt wurden, befehligt und beaufsichtigt. Die Kapos brauchten selbst nicht zu arbeiten. Ihnen standen Vorarbeiter zur Unterstützung zur Seite. An sich sollte jedes Arbeitskommando durch einen SS-Kommandoführer beaufsichtigt werden, dem der Kapo verantwortlich war. Bei der Vielzahl der Arbeitskommandos war es jedoch nicht möglich, dass ständig ein SS-Kommandoführer von Beginn bis zur Beendigung der Arbeitszeit bei dem Kommando anwesend war. Die Kommandos wurden daher häufig ganz den Kapos und Vorarbeitern unter der Bewachung von SS-Posten überlassen.

Grossen Kommandos wurden mehrere Kapos unter einem Oberkapo zugeteilt.

Die Lagerältesten, Blockältesten, Kapos und Vorarbeiter waren durch Armbinden gekennzeichnet. Bei der SS hatten sie eine gewisse Vorzugsstellung. Ihr Bestreben war es daher, ihre Posten zu behalten.

8. Der Wachsturmbann

Die Wachtruppe und die Wachtposten wurden von dem Wachsturmbann, der etwa einem Bataillon der Wehrmacht entsprach, gestellt. Der Wachsturmbann war eine selbständige Einheit. An seiner Spitze stand ein SS-Führer im Range eines SS-Hauptsturm- oder Sturmbannführers. Er war in mehrere Kompanien gegliedert, die von SS-Führern als Kompaniechefs geführt wurden. Der Führer des Wachsturmbannes hatte täglich aus seiner Einheit dem Lagerkommandanten die für die Bewachung des Lagers (kleine und grosse Postenkette) und die für die Arbeitskommandos erforderlichen Wachtposten zur Verfügung zu stellen. Ferner hatte er täglich für das Lager einen "Führer vom Dienst" abzuordnen, der laufend die Wachen und Posten zu kontrollieren hatte. Eine täglich vom Wachsturmbann zu stellende Wache hatte sich ständig im Lagerbereich in Bereitschaft aufzuhalten, um im Alarmfall sofort einsatzbereit zu sein. Der Führer vom Dienst, die Wache und sämtliche zum Wachdienst eingeteilten SS-Unterführer und Mannschaften unterstanden während ihres Dienstes der Befehls- und Disziplinargewalt des Lagerkommandanten. Im Alarmfall hatte der Lagerkommandant die Befehlsgewalt über den gesamten Wachsturmbann.

Die Angehörigen des Wachsturmbannes waren nicht berechtigt, das Schutzhaftlager zu betreten. Die Begleitposten für die Arbeitskommandos nahmen die Kommandos morgens nach dem Ausrücken aus dem Lager vor dem Lagertor in Empfang. Der Führer des Wachsturmbannes sollte alle Führer, Unterführer und Mannschaften seiner Einheit eingehend über ihre Pflichten auf Wache, bei der Gefangenenbegleitung, über den Gebrauch der Schusswaffe, den Umgang mit Häftlingen, insbesondere aber über das Verbot der Häftlingsmisshandlung belehren bzw. durch die Kompanieführer belehren lassen. Belehrungen waren ständig durch die Kompanieführer zu wiederholen. Verstösse gegen das Verbot der Häftlingsmisshandlung sollten streng bestraft werden.

IV. Unterstellungsverhältnisse, Befehlsweg

Das KL Auschwitz unterstand ebenso wie alle anderen Konzentrationslager unmittelbar dem Inspekteur der KL bzw. dem WVHA, nachdem dieses am 1.2.1942 gebildet und ihm der Inspekteur der KL als Amtsgruppe D eingegliedert worden war. Das WVHA war in 5 Amtsgruppen (Amtsgruppen A, B, C, D, W) gegliedert. Die Amtsgruppe D hatte 4 Ämter, die folgende Zuständigkeitsbereiche umfassten:

1. Amt D I: Zentralamt mit den Referaten
D I/1: Häftlingsangelegenheiten
D I/2: Nachrichtenwesen, Lagerschutz und Wachhunde
D I/3: Kraftfahrwesen
D I/4: Waffen und Geräte
D I/5: Schulung der Truppe

2. Amt D II: Arbeitseinsatz der Häftlinge

3. Amt D III: Sanitätswesen und Lagerhygiene

4. Amt D IV: KL-Verwaltung

Den Zuständigkeitsbereichen der Ämter I bis IV der Amtsgruppe D entsprachen die oben unter III angeführten Zuständigkeitsbereiche der verschiedenen Abteilungen im Konzentrationslager Auschwitz, d.h. dem Zentralamt (D I) entsprach die Lagerkommandantur, dem Amt D II der Arbeitseinsatzführer, dem Amt D III der Standortarzt, dem Amt D IV die Abteilung Verwaltung.

Allgemeine Weisungen und Befehle über grundsätzliche Fragen der Häftlingsbehandlung und bezüglich allgemeiner Fragen des Konzentrationslagers erhielt der Lagerkommandant unmittelbar vom Amtsgruppenchef der Amtsgruppe D. Der Amtschef des Amtes D I konnte dem Lagerkommandanten insoweit nicht von sich aus, sondern nur über den Amtsgruppenchef Befehle erteilen. Die übrigen Amtschefs hatten jedoch auf ihren Sachgebieten unmittelbar Weisungsbefugnis gegenüber den entsprechenden Dienststellen im Lager. Das bedeutete, dass der Chef des Amtes D II seine Weisungen bezüglich des Arbeitseinsatzes nicht an den Lagerkommandanten, sondern unmittelbar an den Arbeitseinsatzführer im Lager erteilte, mit dem er in ständigem Kontakt stand, und dass der Standortarzt vom Chef des Amtes D III (dem leitenden Arzt der KL) unmittelbar seine Befehle erhielt, und dass schliesslich der Verwaltungsführer seine Weisungen vom Amtschef D IV unmittelbar bezog. Meldungen, Berichte, Anforderungen und Anfragen usw. gingen ebenfalls unmittelbar von den genannten Abteilungen im Konzentrationslager Auschwitz zu den Ämtern der Amtsgruppe D, denen sie unmittelbar unterstanden. Allerdings sollte der Lagerkommandant in allen wichtigen Fragen auf dem laufenden gehalten werden. Inwieweit ihm Abschriften des Schriftverkehrs, der erteilten Anweisungen und Befehle zur Kenntnisnahme zugeleitet worden sind, ist im einzelnen nicht aufgeklärt worden.

Die Belieferung des Lagers mit Nahrungsmitteln erfolgte durch das örtlich zuständige Zivilernährungsamt unter Mitwirkung des Amtes D IV.

Die grösste Bedeutung erhielt im Verlaufe des Krieges das Amt D II (Arbeitseinsatz). Dieses Amt hatte unter anderem auch die Zuweisung von Häftlingen an kriegswirtschaftlich wichtige Betriebe (z.B. die IG-Farben AG, die Siemenswerke usw.) zu genehmigen und die Bedingungen hierfür auszuhandeln. Die Verantwortung für die Versorgung und bauliche Ausstattung des KL Auschwitz lag ausserhalb des Zuständigkeitsbereiches der Amtsgruppe D. Für die Bauangelegenheiten war die Amtsgruppe C des WVHA zuständig, während die Amtsgruppe B Amt II die Wachmannschaft und die Häftlinge mit Bekleidung zu versorgen hatte.

Wie oben bereits ausgeführt, hatte das WVHA mit der Einweisung und Entlassung von Schutzhaftgefangenen unmittelbar nichts zu tun. Dies war Sache des RSHA bzw. des Amtes IV im RSHA. Im KL Auschwitz bildete die politische Abteilung das ausführende Organ des RSHA bzw. des Amtes IV. Unmittelbar unterstand sie zwar der Gestapoleitstelle in Kattowitz, sie erhielt aber häufig auch unmittelbar Anweisungen und Befehle durch das RSHA. Z.B. gingen Exekutionsbefehle vom RSHA unmittelbar an die Politische Abteilung. Auch die Führungsberichte über Schutzhaftgefangene waren an das RSHA zu richten. Von ihm wurden Einweisungen und Entlassungen von Schutzhaftgefangenen verfügt.

Der Chef der Politischen Abteilung war als Gestapobeamter nur dem RSHA bzw. der Gestapoleitstelle in Kattowitz verantwortlich. Er unterstand dieser sowohl sachlich als auch disziplinär. Das gleiche galt für seinen Vertreter. Die Politische Abteilung war daher auch im Kreise der SS im Lagerbereich gefürchtet. Die anderen Angehörigen der Politischen Abteilung unterstanden als Angehörige der Waffen-SS zwar sachlich ebenfalls der Gestapo bzw. dem RSHA, gehörten aber zur Stabskompanie und unterlagen der Disziplinargewalt des Adjutanten.

Für den Lagerkommandanten in Auschwitz gab es in bezug auf die Unterstellungs- und Befehlsverhältnisse eine Ausnahme: Höss, der erste Lagerkommandant in Auschwitz, wurde - wie noch später näher auszuführen sein wird - nach dem Entschluss Hitlers, die in seinem Macht- und Herrschaftsbereich lebenden jüdischen Menschen zu "liquidieren", von Himmler damit beauftragt, in Auschwitz die Voraussetzungen für eine solche massenweise Tötung zu schaffen. Insoweit wurde er unmittelbar dem RSHA unterstellt und empfing von dieser Dienststelle unmittelbar seine Befehle für die Tötung der zur Vernichtung nach Auschwitz deportierten jüdischen Menschen. Auch seine späteren Nachfolger trugen als Lagerkommandanten die unmittelbare Verantwortung für die Durchführung dieser Aktionen gegenüber dem RSHA unmittelbar.

V. Die Lebensverhältnisse der Schutzhaftgefangenen

1. Unterbringung

Im Stammlager waren die Gefangenen - wie schon ausgeführt - in Steingebäuden untergebracht. Nach der Aufstockung der Gebäude wohnten im Parterre und im I. Stock eines jeden Wohngebäudes je eine unter einem Blockältesten zusammengefasste Gemeinschaft von Häftlingen, Block genannt, von denen der eine die Nummer des Steingebäudes ohne Zusatz, der andere die gleiche Nummer mit dem Zusatz des Buchstaben A trugen (z.B. Block 8 und 8 A, das waren zwei Häftlingsblocks, die in dem Steingebäude Nr.8 wohnten).

Die Unterkünfte der Gefangenen waren fast immer überbelegt. Im Stammlager waren die Blocks für etwa 400 Personen berechnet. Tatsächlich mussten aber häufig 700 bis 1000 und mehr Häftlinge darin unterkommen. Die vorhandenen 3stöckigen Betten reichten für diese Belegstärke nicht aus. Daher mussten meist zwei oder drei Häftlinge in einem Bett schlafen. In Birkenau waren die Unterbringungsverhältnisse noch wesentlich schlechter. Im Lager B I, das zuletzt - wie oben bereits ausgeführt - nur noch Frauenkonzentrationslager war, mussten die Gefangenen in den unverputzten Steinbaracken in düsteren, aus Stein gemauerten Boxen an Stelle von Betten und Holzpritschen schlafen. Auch hier waren die Baracken meist überbelegt. Die Frauen schliefen zu zweit, zu dritt oder manchmal auch zu viert in einer Schlafbox. Als Schlafunterlagen dienten Papiersäcke, die mit Holzwolle gestopft waren. Die Holzwolle knüllte sich im Laufe der Zeit zusammen. Sie war völlig verstaubt und verschmutzt, meist auch mit Kot, weil viele Frauen an ständigem Durchfall litten. Bettlaken fehlten fast ganz. Soweit sich Frauen welche organisiert hatten, waren sie grau vor Schmutz. Für jede Schlafbox wurde nur eine Decke ausgegeben, so dass sich mehrere Häftlingsfrauen mit einer einzigen Decke zudecken mussten.

Die fensterlosen Wehrmachtspferdestallbaracken im Lager B II bestanden nur aus dünnen Holzwänden, durch deren Ritzen in der kalten Jahreszeit Kälte und Wind ungehinderten Zugang zum Innern der Baracken hatten. Die Dächer der Baracken waren nicht wasserdicht. An vielen Stellen regnete es bei schlechtem Wetter durch. Die 3stöckigen Holzpritschen waren nur mit Stroh belegt, das verschmutzt und verstaubt oder durchnässt war. Manchmal fehlte das Stroh auch ganz. Dann schliefen die Gefangenen auf den blanken Brettern. Die Baracken in Birkenau hatten nur gestampfte Lehmfussböden. Bei trockenem Wetter wirbelte der Staub in Wolken von den Böden hoch. Bei Regenwetter bildeten sich auf ihm infolge der undichten Dächer Wasserlachen und Schlamm. In der Holzwolle und dem Stroh der Lagerstätten wimmelte es von Flöhen, Läusen und anderem Ungeziefer, das zu einer unerträglichen Plage der Gefangenen wurde. Ratten nagten an den Leichen, die täglich an den Baracken und in den Leichenkammern bis zur Verbrennung in den Krematorien hingelegt wurden. Nicht selten griffen sie auch kranke Häftlinge an.

Bei Regenwetter verwandelte sich das Lager Birkenau - vor allem das Zigeunerlager (B II e) - in einen Morast. Der zähe Schlamm klebte am Schuhwerk bzw. an den Holzpantinen der Gefangenen.

2. Sanitäre und hygienische Verhältnisse im Lager

Die sanitären und hygienischen Verhältnisse in Birkenau waren völlig unzureichend. In Birkenau und Umgebung gab es überhaupt kein Trinkwasser. Alle Brunnen waren von Kolibazillen verseucht. Vorhandene Wassertümpel waren voller Stechmücken. Das ganze Gebiet war für ein Lager mit einer grossen Anzahl von Menschen völlig ungeeignet. Durch den Bau eines Entwässerungsgrabens, des sogenannten Königsgrabens, bei dessen Bau viele Häftlinge starben, sollte eine gewisse Verbesserung erreicht werden. In den Baracken waren keine Waschräume und Toiletten - ausser in Block 11 des Lagerabschnittes B II d -. Im Frauenlager (B I) bestanden die Latrinen aus einem Graben mit einer Mauer. Am Ende des Grabens war ein Wasserrohr, aus dem nichttrinkbares Wasser floss. Es war die einzige Wasserquelle. Ein weiblicher Kapo musste sie bewachen.

In den einzelnen Abschnitten des Lagers B II waren die Latrinen in Holzbaracken. Sie bestanden aus 6 Reihen von Betonsockeln, die mit Löchern versehen waren. Die Latrinen reichten bei weitem nicht für die grosse Anzahl der in den einzelnen Lagerabschnitten untergebrachten Menschen aus, zumal viele infolge der schlechten und mangelhaften Ernährung an Durchfall litten. Nachts durften die Häftlinge die Baracken nicht verlassen. Sie konnten daher auch nicht die Latrinen aufsuchen. Ihre Notdurft mussten sie in einem in der Baracke bereitstehenden Kübel verrichten, der morgens geleert wurde. Zum Waschen hatte jeder Lagerabschnitt in Birkenau zwei Waschbaracken. Durch sie liefen drei Eisenrohre mit kleinen Löchern hindurch, aus denen das Wasser in Holztröge floss. In den Trögen mussten sich die Häftlinge waschen. Oft floss das Wasser nur spärlich. Seife hatten nur die bevorzugten Häftlinge oder diejenigen, die sich auf irgendeine Weise Seife besorgen konnten. Auch fehlte es weitgehend an Handtüchern. Viele Häftlinge wuschen sich daher nur selten oder überhaupt nicht.

3. Bekleidung

Jedem, der in das KL Auschwitz aufgenommen wurde, wurde seine persönliche Kleidung abgenommen. Er bekam dafür Häftlingskleidung (gestreifte Anzüge, Unterwäsche, Mütze und Holzschuhe). Oft passte die Kleidung nicht und war völlig, insbesondere im Winter, unzureichend. So hatten z.B. im FKL die meisten Frauen keine Strümpfe. Die Holzschuhe, in denen zu gehen für viele Häftlinge ungewohnt war, verursachten Blasen und eitrige Geschwüre an den Füssen und riefen Infektionen hervor. Viele Häftlinge mussten daher barfuss zur Arbeit gehen. Krankheiten und Tod waren die häufige Folge.

4. Ernährung

Die Verpflegung im Konzentrationslager Auschwitz war schlecht und unzureichend. Die Häftlinge erhielten nicht die ihnen offiziell zustehenden Nahrungsmengen, die bei völliger Ruhe oder geringer Arbeit evtl. zum Überleben ausgereicht hätten. Denn die mit der Verteilung der Verpflegung befassten SS-Angehörigen und Häftlinge zweigten von den geringen Häftlingsportionen noch gewisse Mengen für ihren eigenen Bedarf ab. Die Qualität der Lebensmittel, insbesondere des Fleisches, der Wurst und der von den Lagerküchen zubereiteten Suppen, war sehr schlecht. Das Vieh, das für das Lager angeliefert wurde, war alt und abgemagert. Die mindere Qualität der Suppen und die in ihr massenweise enthaltenen Bakterien verursachten bei vielen Häftlingen Durchfall. Die Gefangenen litten infolge der unzureichenden Ernährung unter ständigem quälenden Hunger. Sie waren in kurzer Zeit nach der Aufnahme in das Lager völlig abgemagert. Diese körperlich heruntergekommenen Häftlinge, bei denen der Körper den Fettvorrat verbraucht und auch grosse Teile der Muskeln aufgezehrt hatte, so dass sich die Haut nur noch über das Knochenskelett spannte, wurden in der Lagersprache "Muselmänner" genannt. Sie bewegten sich nur noch langsam wie Eidechsen bei Kälte. Sie verloren jedes Interesse an ihrer Umgebung und wurden ihrem eigenen Schicksal gegenüber gleichgültig und apathisch. Sie starben alsbald an Entkräftung.

Allerdings gab es auch Arbeitskommandos, bei denen die Häftlinge verbesserte Verpflegung bekamen (z.B. die in den landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten) oder mehr essen konnten (z.B. die in den Häftlingsküchen Beschäftigten).

Wer nicht in der Lage war, sich durch Beziehungen im Lager oder durch Verbindung zu Zivilpersonen ausserhalb des Lagers oder durch Lebensmittelpakete, die alle nichtjüdischen Häftlinge erhalten durften, zusätzlich Lebensmittel zu verschaffen, war in der Regel bereits nach 4 bis 6 Monaten zum "Muselmann" abgemagert und starb. Die unzureichende Ernährung im KL Auschwitz - vor allem in den Jahren 1942 und 1943 - führte dazu, dass die Häftlinge massenweise an Entkräftung oder an Erkrankungen, die die Folge der Unterernährung waren, starben, wenn sie nicht schon vorher auf andere Weise zu Tode gebracht worden waren. So lebten z.B. von 2000 Frauen (1000 jüdischen Slowakinnen und 1000 reichsdeutschen Frauen), die im Frühjahr 1942 in das KL Auschwitz aufgenommen worden waren, im März 1943 nur noch 260. Von 34 Frauen, die am 20.3.1943 mit der Zeugin Dr. Li. in das Lager B I in Birkenau eingeliefert worden waren, lebten nach einem Jahr nur noch 2, nämlich die Zeugin Dr. Li., die als Ärztin im Lager eingesetzt worden war und eine andere Frau, die die Funktion eines Kapos erhalten hatte. Die Zeugin Dr. Li. konnte nur deswegen überleben, weil sie laufend Lebensmittelpakete erhielt. Die andere Frau konnte sich als Kapo zusätzliche Nahrungsmittel beschaffen. Im Winter 1943/1944 gab es im FKL durchschnittlich täglich 350 Tote.

Im Stammlager schrieben im Jahre 1942 7 Häftlinge Tag und Nacht nur Todesmeldungen aus. Die hohe Sterblichkeit beunruhigte schliesslich die höheren Dienststellen. Immer wieder wurde vom WVHA darauf hingewiesen, dass zur Erhaltung von Arbeitskräften alles getan werden müsse. Da jedoch die allgemeinen Lagerverhältnisse und insbesondere die Verpflegung nicht verbessert wurden, die in Auschwitz tätigen SS-Angehörigen offenbar an einer Änderung der allgemeinen Situation auch nicht interessiert waren, trat keine Änderung ein. Erst nach der Dreiteilung des Lagerbereiches und der Ablösung des ersten Lagerkommandanten Höss durch den SS-Sturmbannführer Liebehenschel besserten sich die allgemeinen Verhältnisse allmählich. Die Sterblichkeit ging etwas zurück.

5. Die Arbeitsfron der Gefangenen

Trotz dieser unzureichenden Ernährung mussten die Häftlinge während des ganzen Tages neun bis zehn Stunden, ab 20.4.1942 sogar 11 Stunden hart arbeiten. Von dem genannten Datum an war die Arbeitszeit während des Sommers von 6 Uhr bis 11 Uhr am Vormittag und von 13 Uhr bis 19 Uhr am Nachmittag festgesetzt. Sonntags wurde in der Regel nicht gearbeitet. Allerdings bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Arbeitskommandos. Am schwersten waren die Arbeiten beim Bau der Lagerstrassen im Stammlager und in Birkenau, die mit einer Walze, die von Häftlingen gezogen wurde, befestigt wurden, ferner die Arbeiten in der Kiesgrube, beim Bau des bereits erwähnten Königsgrabens u.a. Bevorzugt waren Arbeiten bei den landwirtschaftlichen Kommandos, den Fischteichen, vor allem aber Arbeiten in der Küche (z.B. beim Kartoffelschälkommando), in der Nähstube (im FKL) und in den Werkstätten. Bei den Arbeitskommandos wurden die Häftlinge von Kapos und Vorarbeitern ständig angetrieben. Viele starben bei der Arbeit. Die Leichen wurden abends zum Appell mit in das Lager gebracht und beim Zählappell vor die angetretenen Blocks gelegt. Nicht selten kam es auch vor, dass Häftlinge bei der Arbeit von Kapos, Vorarbeitern oder SS-Angehörigen totgeschlagen wurden.

6. Krankheiten und Seuchen

Die mangelhafte Ernährung, die schlechten hygienischen und sanitären Verhältnisse, der Schmutz und das Ungeziefer, sowie die Überbelegung der Wohnblocks führte dazu, dass ständig eine grosse Anzahl von Häftlingen krank und der Häftlingskrankenbau überfüllt war. Alle denkbaren Infektionskrankheiten und Seuchen breiteten sich aus. Besonders verbreitet und gefürchtet waren Typhus, Ruhr und Cholera. Auch sie trugen zu dem Massensterben bei. Als im Jahre 1942 sogar SS-Angehörige von Typhus infiziert wurden und man der Typhusepidemie nicht mehr Herr werden konnte, wurden - worauf später noch näher eingegangen werden muss - mindestens 700 Typhuskranke, unter denen sich auch schon Genesende befanden, durch Gas getötet. Im übrigen entledigte man sich der kranken Häftlinge, indem man sie massenweise durch Phenol oder Gas töten liess. Auch hierauf wird bei der Erörterung der Straftaten der Angeklagten noch zurückzukommen sein.

7. Richtlinien für die Behandlung der Häftlinge

Im KL Auschwitz war es - wie in allen übrigen Konzentrationslagern - allen SS-Angehörigen untersagt, die Häftlinge zu misshandeln oder gar zu töten. Über dieses Verbot wurden sie immer wieder belehrt. Jeder im KL Auschwitz eingesetzte SS-Angehörige musste eine schriftliche ehrenwörtliche Verpflichtung unterschreiben, die zu seinen Personalakten genommen wurde und die folgenden Wortlaut hatte: "Über Leben und Tod eines Staatsfeindes entscheidet der Führer. Kein Nationalsozialist ist daher berechtigt, Hand an einen Staatsfeind zu legen oder ihn körperlich zu misshandeln. Bestraft wird jeder Häftling nur durch den Kommandanten." Die Häftlinge sollten streng und hart und unter Wahrung der erforderlichen Distanz - wie man sie gegenüber "Staatsfeinden" für selbstverständlich hielt - behandelt, jedoch nicht misshandelt werden. Bei Verstössen gegen die Lagerdisziplin oder bei sonstigen Vergehen sollten die betreffenden Häftlinge dem Lagerkommandanten auf dem Dienstweg (über den Schutzhaftlagerführer, der seine Stellungnahme abzugeben hatte) gemeldet werden, der dann über die zu verhängende Strafe zu entscheiden hatte. Als Strafen kamen unter anderem in Betracht: Einweisung in die Strafkompanie, Arrest und die Prügelstrafe. Für die Prügelstrafe war die Genehmigung des Amtsgruppenchefs der Amtsgruppe D (Glücks) erforderlich. Sie sollte im Beisein eines Arztes vollstreckt werden, der vor dem Vollzug der Strafe den Delinquenten auf seinen Gesundheitszustand untersuchen sollte. In der Regel wurden 25 Stockhiebe verhängt, wenn offiziell Genehmigung für die Prügelstrafe eingeholt worden war.

Bei der höheren Führung im WVHA (Amtsgruppenchef Glücks) galt es als selbstverständlich, dass ein SS-Unterführer, Kommandoführer oder Wachtposten einen Häftling weder schlagen noch stossen, ja nicht einmal berühren dürfe.

8. Die tatsächliche Behandlung der Gefangenen im KL Auschwitz durch die SS-Angehörigen und die Häftlingsfunktionäre

Die SS-Führer, SS-Unterführer und SS-Mannschaften im KL Auschwitz missachteten ständig - von Ausnahmen abgesehen - die Richtlinien für die Häftlingsbehandlung. Die Häftlinge wurden erniedrigt, schikaniert und misshandelt. Bei den geringsten "Vergehen" schlugen die SS-Männer auf die Häftlinge mit der Hand oder mit der Faust oder mit einem Stock ein oder traten sie ins Gesäss, in den Leib oder andere Körperteile. Das Menschenleben galt in Auschwitz nichts. Nicht selten wurden Häftlinge so lange misshandelt, bis sie starben. Viele Blockälteste und Kapos - jedoch nicht alle - standen den SS-Angehörigen in dieser Beziehung nicht nach. Sie übertrafen sie häufig noch an Grausamkeit und Brutalität. Von der SS aufgestachelt und angetrieben, waren sie bestrebt, sich auf diese Weise bei der SS in ein gutes Licht zu setzen, um ihre bevorzugten Posten zu behalten. Besonders gefährdet waren jüdische Häftlinge. Sie bildeten die unterste Stufe der Konzentrationslagergefangenen. Man sah sie nicht als Menschen, sondern als Schädlinge, Ungeziefer oder Bazillenträger an, die es zu vernichten galt. In noch stärkerem Masse als andere Häftlinge waren sie ständig den Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt. Ihr Leben war ständig bedroht. In der ersten Zeit wurden jüdische Häftlinge nach ihrer Aufnahme in das KL automatisch in die Strafkompanie eingewiesen, die sich bis zum Jahre 1942 im Block 11 im Stammlager befand und dann nach Birkenau in das Lager B I und schliesslich in den Lagerabschnitt B II d (Block 11) verlegt wurde. In der SK waren die Häftlinge, insbesondere die Juden, schwersten Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Nur wenige überlebten.

Es kam auch vor, dass der Schutzhaftlagerführer SS-Hauptsturmführer Aumeier beim Ausrücken eines Arbeitskommandos den Kommandoführer oder Kapo zu sich rief und ihm befahl: "Am Samstag ist Dein Kommando judenrein!" Während der Arbeit stürzten sich dann die Kapos auf ein Zeichen des Kommandoführers auf die jüdischen Häftlinge, trieben sie mit Stöcken zum Laufschritt beim Arbeiten an, wobei sie ständig auf sie einschlugen, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Wer dann noch lebte, wurde totgeschlagen oder erwürgt. Hierfür hatte man eine besondere Methode entwickelt, die in der Lagersprache "Krawatte legen" genannt wurde. Dem auf dem Boden liegenden Häftling wurde ein Schaufelstiel oder ein Stock auf den Hals gelegt. Dann stellte sich der Kapo oder ein hierzu befohlener Häftling auf die beiden Enden des Stieles oder Stockes und wippte so lange hin und her, bis der Häftling tot war.

Eine andere Methode, die Häftlinge zu töten, bestand darin, dass SS-Wachtposten einem Häftling die Mütze abnehmen und über die Postenkette, eine Linie, die an sich kein Häftling überschreiten durfte, warf. Lief dann der Häftling auf den Befehl des SS-Mannes oder des Kommandoführers hin, um seine Mütze zu holen, wurde er wegen Überschreitens der Postenkette "Auf der Flucht" erschossen. Diese Methode des sogenannten Mützenwerfens wendeten die SS-Posten besonders gern bei Neulingen an, die die Lagerverhältnisse und die Gebräuche und Methoden der SS noch nicht kannten. Ältere Häftlinge, die die Folgen dieses Mützenwerfens kannten, kamen dem Befehl, die Mütze wiederzuholen, nicht mehr nach. Zwar durfte kein Häftling in Auschwitz ohne Mütze sein. Da im Lager aber täglich viele Menschen starben, war es nicht schwer für einen Häftling, sich von einem Toten eine Mütze zu besorgen.

Eine beliebte Methode, Häftlinge zu quälen und zu schikanieren, war das sogenannte "Sportmachen". Die "Sportübungen" wurden von SS-Angehörigen oder Blockältesten (häufig auf Befehl der SS, aber auch eigenmächtig) den Häftlingen befohlen. Sie dienten dazu, ganze Gruppen von Häftlingen und einzelne Häftlinge für irgendwelche kleinen "Vergehen" zu bestrafen. Bei den "Sportübungen" mussten die Häftlinge nicht nur jedes vernünftige Mass überschreitende gymnastische Übungen machen, sondern sie mussten sich auf Befehl des Leiters des "Sports" in schnellem Tempo hinwerfen, wieder aufstehen, im Kreise herumrennen, auf dem Bauche kriechen, hüpfen usw., bis sie vor Erschöpfung die befohlenen Übungen nicht mehr mitmachen konnten. Praktisch waren die "Sportübungen" ein Strafexerzieren.

Häufig brachen erschöpfte und ausgehungerte Häftlinge infolge der übermässigen körperlichen Anstrengungen bewusstlos zusammen. Dann wurden sie noch von den SS-Männern und Blockältesten getreten. Schliesslich wurden sie von ihren Kameraden weggetragen.

VI. Die Disziplin der SS-Angehörigen in Auschwitz

So wenig sich die SS-Angehörigen im KL Auschwitz - von Ausnahmen abgesehen - um die Richtlinien über die Häftlingsbehandlung kümmerten, so wenig beachteten sie andere Vorschriften und Befehle. Allen war unter schwersten Strafen verboten, sich an Häftlingsgut zu vergreifen. Es gab aber kaum SS-Angehörige, die sich nicht am Geld, den Devisen, Wertgegenständen, an der Wäsche und Kleidung und anderen Dingen, die man den zur Vernichtung nach Auschwitz verbrachten Juden abgenommen hatte, bereicherten. Jede Gelegenheit, solche Dinge an sich zu bringen, wurde ausgenützt. Wer keine Gelegenheit hatte, sich selbst unmittelbar solche Sachen anzueignen, liess sich von Untergebenen, Kapos oder anderen Häftlingen die Dinge besorgen. SS-Angehörige und Gefangene, die in dem bereits erwähnten Effektenlager "Kanada" arbeiteten, brachten das Häftlingsgut an sich und trieben damit im Lager einen schwunghaften Handel. Von den SS-Führern, Unterführern und Männern erkauften sich die Häftlinge damit Vorteile, nicht selten das Leben von Kameraden. Kapos, die mit ihren Arbeitskommandos in den SS-Wirtschaftsbetrieben arbeiteten, mussten SS-Angehörige mit Möbeln und sonstigen Gebrauchsgegenständen versorgen. Auch hiermit erkauften sie sich Vergünstigungen. Im KL Auschwitz war alles käuflich. Alles hatte seinen Preis.

Die Korruption untergrub die Manneszucht und Disziplin. Die Autorität der SS-Führer und Unterführer ihren Untergebenen gegenüber war meist gering. Die Vorgesetzten konnten sich ihren Untergebenen gegenüber nicht durchsetzen, weil diese von ihren Verfehlungen und ihrer Bestechlichkeit wussten. Fast jeder hatte den anderen in der Hand.

Alkoholexzesse waren häufig. Nicht selten verrichteten SS-Angehörige aller Dienstgrade in betrunkenem Zustand ihren Dienst, ohne dass Vorgesetzte einschritten. Mit Kapos, Blockältesten oder anderen
bevorzugten Häftlingen hielten sie Trinkgelage ab, ohne sich um die Vorschriften zu kümmern, die solche Kontakte untersagten. Manche liessen sich auch mit Häftlingsfrauen, auch Jüdinnen und Zigeunerinnen, in intimen Verkehr ein, was ebenfalls unter schwerster Strafe verboten war.

Auch sonst hielten SS-Männer nicht die befohlene Distanz zu den Häftlingsfrauen. Disziplinlosigkeiten, Ungehorsam, schlechtes Benehmen in der Öffentlichkeit, insbesondere Frauen gegenüber, mussten immer wieder in Standort- und Kommandanturbefehlen und sonstigen Befehlen gerügt werden, ohne dass eine Besserung eintrat. Auch gerichtliche Verfahren, die von der SS-Gerichtsbarkeit gegen eine grosse Anzahl von SS-Angehörigen, auch Führer, wegen Bereicherung an Häftlingsgut, Veruntreuung, Diebstählen usw. durchgeführt wurden und in der Mehrzahl mit schweren Strafen für die Betroffenen endeten, änderten an der allgemeinen Korruption und Disziplinlosigkeit in Auschwitz nichts.

VII. Das KL Auschwitz als Vernichtungslager

1. Das KL Auschwitz als Hinrichtungsstätte für Polen

Das KL Auschwitz diente nicht nur der Ausschaltung und Verwahrung von sogenannten Staatsfeinden und von massenweise in Polen verhafteter vermeintlicher oder wirklicher Widerstandskämpfer und Angehöriger von Untergrundorganisationen, sondern auch als Exekutionsstätte für Polen, die zum Zwecke der "Liquidierung" in das Lager eingeliefert wurden. Hierzu kam es im Zuge der allgemeinen nationalsozialistischen Polenpolitik, über die in diesem Zusammenhang ein kurzer Überblick gegeben werden soll:

Zu einem untrennbaren Bestandteil nationalsozialistischer Programmatik gehörte die Gewinnung deutschen Lebensraumes im Osten. Hitler hatte bereits vor der Machtergreifung in seinem Buch "Mein Kampf" zum Ausdruck gebracht, dass er die Eroberung neuen Lebensraumes im Osten als lebensnotwendig für das deutsche Volk ansah. Allerdings richtete sich sein Blick damals in erster Linie auf die fruchtbaren Gebiete in der Ukraine. Auch nach der Machtergreifung zielten seine diesbezüglichen - zunächst noch verschwommenen - Pläne nicht unbedingt gegen das polnische Volk und den polnischen Staat. Im Jahre 1934 schloss er sogar noch mit Polen einen Nichtangriffspakt ab, vor dessen Staatschef Marschall Pilsudski er eine gewisse Hochachtung hatte. Sowjetrussland war für ihn der ideologische Feind Nr.1, mit dem eine kriegerische Auseinandersetzung in absehbarer Zeit unvermeidlich erschien. Er glaubte daher, im Kampf mit Russland, eventuell mit polnischer Unterstützung, den Lebensraum für das deutsche Volk gewinnen zu müssen. Mit Polen bestand noch bis zum Frühjahr 1939 weitgehend aussenpolitisches Einvernehmen. Erst als sich die polnische Regierung im Jahre 1939 Hitlers dynamisch-erpresserischer Diplomatie und Politik in der Korridor- und Danziger Frage im Bunde mit England widersetzte, änderte sich Hitlers Einstellung zu Polen grundlegend. Nun richtete sich sein Blick, wenn er an die Ausdehnung des deutschen Lebensraumes dachte, auf die Gebiete in West- und Mittelpolen. Er entschloss sich, durch einen überraschenden militärischen Überfall diese Gebiete zu erobern. Um sich hierfür freie Hand im Osten zu verschaffen, trat er in Verhandlungen zu der Sowjetunion ein, die ihren Abschluss in dem Pakt mit Stalin am 23.8.1939 fanden. Dieser deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag bedeutete die Aufteilung Polens in eine deutsche und eine sowjetische Interessenzone. West- und Mittelpolen boten sich Hitler nun seinen Plänen einer deutschen Raumerweiterung und völkischen Expansion nach Osten dar. Ihm ging es bei seinen Plänen aber nicht nur um die Ausschaltung der polnischen Staats- und Militärmacht und die Annexion von Territorium, sondern um einen völkisch biologischen Kampf zwischen der germanischen "Herrenrasse" und einer "minderwertigen" slawischen Nation, deren lebendige Kraft es auszuschalten galt. Daher war seine Politik gegenüber Polen, deren Grundsätze und Ziele er unter anderem in seinen Instruktionen an die Oberbefehlshaber der Wehrmacht am 14. und 22.8.1939, in seiner Rede vom 20.9.1939 in Danzig, in der Rede am 6.10.1939 vor dem Reichstag, in einer Besprechung Ende September 1939 mit Gauleiter Forster, Himmler, Heydrich u.a., sowie in einer Besprechung am 17.10.1939 mit Himmler, Keitel, Rudolf Hess, Martin Bormann u.a. zum Ausdruck brachte und in einer Besprechung mit dem Generalgouverneur des Generalgouvernements und anderen SS-Führern am 2.10.1940 bestätigte, gekennzeichnet durch einen unter Missachtung aller sittlichen, moralischen und rechtlichen Grundsätze geführten harten und rücksichtslosen Kampf gegen das polnische Volkstum, die Ausschaltung und Vernichtung der polnischen Führungsschicht und die Unterdrückung und Ausbeutung der übrigen polnischen Bevölkerung. Nur beispielhaft seien einige Äusserungen Hitlers bei der Besprechung am 17.10.1939, die die Grundzüge seiner radikalen Politik gegenüber dem polnischen Volk erkennen lassen, angeführt:

Hitler erklärte unter anderem, man müsse verhindern, dass die polnische Intelligenz sich als Führerschicht aufmache, es gelte einen harten Volkstumskampf zu führen, der keine gesetzlichen Bindungen gestatte. Die in Polen anzuwendenden Methoden würden mit den geläufigen Massstäben der Reichsverwaltung unvereinbar sein. Das ausserhalb der Reichsgrenzen zu bildende Generalgouvernement solle es ermöglichen, das alte und neue Reichsgebiet zu säubern von Juden, Polaken und Gesindel. In dem Abschiebungsgebiet solle nur ein niederer Lebensstandard bleiben. Dort sollten nur Arbeitskräfte geschöpft werden.

Hauptträger des von Hitler bewusst gewollten Kampfes gegen das polnische Volk war nach dem Einmarsch der deutschen Truppen und der Ausschaltung der polnischen Streitkräfte der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei und die ihm unterstellten SS- und Polizeikräfte (Sicherheitspolizei, SD und Ordnungspolizei) sowie die NS-Gauleiter und sonstige Parteifunktionäre.

Aus SD-Führern, Abordnungen der Gestapo, der Kriminal- und Ordnungspolizei wurden schon vor Beginn des Polenfeldzuges fünf Einsatzgruppen unter der Tarnbezeichnung "Unternehmen Tannenberg" gebildet. Sie rückten mit den deutschen Armeen, denen sie unterstellt wurden, nach Polen ein. Später kam eine sechste Gruppe hinzu. Der 14. Armee, die über das ostoberschlesische Industriegebiet nach Galizien vordrang, wurde ausserdem eine besondere "Einsatzgruppe z.b.V." zugeteilt. In einem internen Runderlass an die verschiedenen Dienststellen der SS und Polizei vom 13.9.1939 umschrieb Heydrich den Auftrag der Einsatzgruppen nur allgemein: Sie hätten im besetzten Gebiet die Aufgaben der Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente rückwärts der fechtenden Truppe. Tatsächlich erhielten aber die Führer der mit den Truppen nach Polen einmarschierenden Einsatzgruppen in geheimen Befehlen den Auftrag, bestimmte Gruppen der polnischen Führungsschicht festzunehmen und zu "liquidieren". Allerdings lassen sich solche Befehle dokumentarisch nicht belegen, weil bei diesen Aufträgen besonderer Wert auf Vertraulichkeit und Geheimhaltung gelegt wurde und die Befehle oft nur mündlich überliefert wurden. Sie lassen sich aber aus Aufzeichnungen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, des SS-Gruppenführers Heydrich, vom 2.7.1940 erschliessen. In diesen Aufzeichnungen, die für Himmler bestimmt waren und durch Spannungen zwischen Wehrmacht und Sipo im besetzten Frankreich veranlasst waren, kam Heydrich auf die früheren Einsätze der Sipo bei der Besetzung Österreichs, des Sudetenlandes, Böhmens und Mährens und auch Polens zurück. Im Bezug auf den polnischen Einsatz führte er unter anderem aus, dass hier eine genaue Information der Wehrmacht nicht bestanden habe, weil die Weisungen für den polizeilichen Einsatz "ausserordentlich radikal" gewesen seien und zum Beispiel "Liquidierungsbefehle" für zahlreiche polnische Führungskreise, der in die Tausende gegangen sei, einbegriffen habe.

Aus einem Aktenvermerk des Chefs der militärischen Abwehr Admiral Canaris "über die Besprechung im Führerzug", die Canaris nach einer Unterredung mit dem Chef des OKW Generaloberst Keitel niederschreiben liess, ergibt sich ein Hinweis auf einen Befehl zur systematischen Erfassung und Tötung polnischer Führungskreise. In dem Aktenvermerk heisst es unter anderem:

"Ich machte Generaloberst Keitel darauf aufmerksam, dass ich davon Kenntnis habe, dass umfangreiche Füsilierungen in Polen geplant seien und dass insbesondere der Adel und die Geistlichkeit ausgerottet werden sollten. Für diese Methoden wird die Welt schliesslich doch auch die Wehrmacht verantwortlich machen .... Generaloberst Keitel erwiderte darauf, dass diese Sache bereits vom Führer entschieden sei, der dem Oberbefehlshaber des Heeres klar gemacht habe, dass, wenn die Wehrmacht hiermit nichts zu tun haben wolle, sie es auch hinnehmen müsse, dass SS und Gestapo neben ihr in Erscheinung träte ...."

Vor allem aber sprechen die tatsächlichen Aktionen der Einsatzgruppen im September/Oktober 1939 und spätere Aktionen für solche Befehle.

Der Einsatz der genannten Gruppen erstreckte sich nicht nur auf die üblichen staatspolizeilichen Fahndungen nach ganz bestimmten Personen. Sie gingen vielmehr pauschal und willkürlich gegen ganze Gruppen des Polen- und Judentums vor. Nur einige Fälle seien beispielhaft angeführt:

Im Armeebereich des AOK 14 verursachten Massenerschiessungen von Juden durch die Einsatzgruppen des SS-Oberführers Woyrsch Unruhe bei der Wehrmacht, worüber der 1c des AOK 14 einem Vertreter des Amtes Abwehr/OKW berichtete. Ferner liquidierte der aus Danziger SS-Leuten gebildete "Wachsturmbann Eimann" der mit Billigung Himmlers in den Kreisen Preussisch Stargard, Berent, u.a. eingesetzt wurde, zahlreiche Angehörige der polnischen Intelligenz an Ort und Stelle. Andere wurden verhaftet und in Lager verschleppt. In Westpreussen und im westlichen Teil Posens (ab 1.1.1940 Reichsgau Wartheland) war der Hauptschauplatz der Fahndung nach der polnischen Oberschicht. Von dem Klerus der Diözese Kulm Pelplin zum Beispiel wurde 2/3 verhaftet, der Rest floh. 214 der verhafteten Priester, vor allem das gesamte Domkapitel, wurden in den Monaten Oktober/November 1939 exekutiert. Polen, die dem polnischen Westmarkverein und anderen nationalen Verbänden angehörten, wurden automatisch als deutschfeindlich angesehen und "liquidiert".

Auch nach der Einverleibung der westlichen Gebiete Polens am 26.10.1939 in das deutsche Reich und der Gründung des Generalgouvernements am 1.1.1940, wodurch die Militärverwaltung beendet wurde und auf zivile Behörden überging, hörten die Verfolgungen der polnischen Führungsschicht und der sog. politisch unzuverlässigen Elemente nicht auf. Die Verhaftungen und Erschiessungen sowie Deportationen von Polen gingen weiter. Himmler setzte in den neuen Reichsgauen "Höhere SS- und Polizeiführer" ein, die ihm unmittelbar unterstanden und die allen in ihren Gebieten befindlichen SS- und Polizeieinheiten und Dienststellen Weisungen und Befehle erteilen konnten. Ihnen unterstanden die Inspekteure der Sicherheitspolizei unmittelbar. Aus den nach den Kampfhandlungen stationär gewordenen Einsatzgruppen bzw. Einsatzkommandos gingen die Leiter der Staatspolizeistellen und Staatspolizeistellen hervor, die nach dem Runderlass Himmlers vom 7.11.1939 bezgl. der Organisation der Gestapo in den Ostgebieten "politische Referenten der Reichsstatthalter und der Regierungspräsidenten" wurden.

Nach Aufhebung der Militärverwaltung hatten diese Dienststellen für die weiteren Verfolgungsmassnahmen freie Hand.

In welchem Umfang weiter Erschiessungsaktionen durchgeführt wurden, ist z.B. aus einem Bericht des Befehlshabers des Wehrkreiskommandos Posen, General Petzel, vom 31.11.1939 an den Chef des Ersatzheeres ersichtlich. Petzel berichtet u.a., dass SS-Formationen mit volkspolitischen Sonderaufträgen in alle möglichen Gebiete der Verwaltung eingriffen und damit den Aufbau im Gau Posen störten. Fast in allen grösseren Orten fänden öffentliche Erschiessungen statt, die Auswahl der zu erschiessenden Polen sei dabei oft unverständlich und die Art und Weise der Exekutionen vielfach unwürdig. In den Städten würden wahllos grosse Blocks geräumt und die Bewohner nachts auf LKWs verladen und evakuiert.

Das gleiche Thema behandelte der OB Ost General Blaskowitz in einer Denkschrift an Hitler, die er ihm durch das OKH zuleiten liess. Er brachte darin seine Besorgnis wegen illegaler Erschiessungen und Festnahmen von Polen zum Ausdruck und verwies auf die damit verbundenen Auswirkungen und Gefahren für die Disziplin der Truppe. Örtliche Absprache mit SD und Gestapo seien ohne Erfolg, weil diese sich auf Weisungen Himmlers beriefen. Er bat um Wiederherstellung gesetzmässiger Zustände, vor allem, dass Exekutionen nach rechtmässig gefällten Urteilen durchgeführt würden. Blaskowitz hatte jedoch bei Hitler keinen Erfolg. Er wurde im Mai 1940 abgelöst.

Kommandeure der Wehrmacht beschwerten sich ebenfalls über die verfahrenslosen Erschiessungen. Ihre Beschwerden wurden in Form einer Vortragsnotiz von den Stabsoffizieren des Oberost für Besprechungen bei dem Oberbefehlshaber des Heeres zusammengefasst. Es heisst darin u.a.:

"Es ist abwegig, einige Zehntausende Juden und Polen, so wie es augenblicklich geschieht, abzuschlachten. Damit wird angesichts der Masse der Bevölkerung weder die polnische Staatsidee totgeschlagen noch die Juden beseitigt. Im Gegenteil, die Art und Weise des Abschlachtens bringt grossen Schaden mit sich. ..... Was die ausländischen Sender bisher gebracht haben, ist nur ein winziger Bruchteil von dem, was in Wirklichkeit geschehen ist. ..... Wenn Amtspersonen der SS und Polizei Gewalttaten und Brutalität verlangen und sie in der Öffentlichkeit belobigen, dann regiert in kürzester Zeit nur noch der Gewalttätige ...."

Diese Vorstellungen und Beschwerden der Wehrmachtsstellen, zu denen auch private Briefe aus volksdeutschen Kreisen mit ähnlichen Beschwerden, auf die im einzelnen nicht eingegangen werden soll, kamen, änderten zwar an der grundsätzlichen Einstellung der SS-Führung nichts, sie führten aber dazu, dass ab Frühjahr und Sommer 1940 willkürliche Erschiessungen durch Spezialkommandos und Exekutionen aufgrund sog. pauschaler Standgerichtsurteile der SS- und Polizeistandgerichte in der Öffentlichkeit eingestellt wurden.

Sie wurden nun von der SS und Polizei in die neu im Osten eingerichteten Konzentrationslager verlegt, wo sie abgeschirmt von der Öffentlichkeit im geheimen stattfinden konnten. Auch Auschwitz diente zur "Liquidierung" von Polen. Es wurde Exekutionsstätte für Polen, die von Polizeiorganen festgenommen und ohne Verfahren nur aufgrund eines Exekutionsbefehls des RSHA oder aufgrund eines sog. Polizeistandgerichtsverfahrens und -standgerichtsurteils zur Tötung nach Auschwitz eingeliefert worden waren.

In der ersten Zeit fanden solche Erschiessungen in der sog. Kiesgrube in der Nähe des Stammlagers Auschwitz ausserhalb des Stacheldrahtes statt. Sie wurden noch mit einer gewissen Feierlichkeit durchgeführt. Ein Peloton, meist aus Freiwilligen des Wachsturmbannes gebildet, marschierte auf. Die Delinquenten wurden in Gruppen zum Erschiessen in der Kiesgrube vor einem Kugelfang aufgestellt. Vor der Erschiessung wurden ihnen Exekutionsbefehle oder Standgerichtsurteile vorgelesen. Dann gab der Führer des Erschiessungskommandos, in der Regel ein SS-Führer, den Feuerbefehl. Später wurden diese Exekutionen in den Hof zwischen Block 10 und 11 verlegt. Auch hier wurden zunächst die Exekutionen noch durch ein Peloton unter Führung eines SS-Führers durchgeführt. Den Delinquenten wurden die Exekutionsbefehle oder Standgerichtsurteile vor der Erschiessung vorgelesen. Sie wurden vor der bereits erwähnten "Schwarzen Wand" mit dem Gesicht zu dem Erschiessungskommando aufgestellt und dann auf Befehl des SS-Führers erschossen. Schon bald aber erschien dieses Verfahren zu umständlich. Von einem bestimmten Zeitpunkt ab, der sich nicht mehr genau feststellen liess, wurden die Erschiessungen nur noch durch Genickschüsse an der schwarzen Wand ohne Verlesung der Exekutionsbefehle oder Standgerichtsurteile durch den Rapportführer oder andere SS-Angehörige durchgeführt. In welchem Umfang polnische Staatsangehörige von ausserhalb zur "Liquidierung" in das Lager verbracht und dort erschossen worden sind, konnte nicht festgestellt werden. Auch konnte im einzelnen nicht geklärt werden, welche Polizeidienststellen Polen eingeliefert haben.

Von besonderer Bedeutung für das KL Auschwitz wurden die Standgerichtsverhandlungen der Gestapoleitstelle in Kattowitz. Das "Polizeistandgericht" in Kattowitz tagte in regelmässigen Abständen im KL Auschwitz, meist in einem Zimmer des Blockes 11. Vorsitzender des Gerichtes war der Leiter der Stapoleitstelle in Kattowitz, SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Dr. Mildner, später - ab Herbst 1943 - der Kommandeur der Sipo und des SD in Kattowitz, der Zeuge Dr. T. Als Beisitzer dieses Gerichtes fungierten ein Beamter der Kriminalpolizei und ein Beamter der Sicherheitspolizei. Verhandelt wurde gegen Zivilpersonen, die von der Gestapo in Kattowitz wegen angeblicher Widerstands-, Untergrund- und Partisanentätigkeit oder Abhörens feindlicher Sender, wegen Unterhaltungen über diese Nachrichten, wegen Kurierdiensten, wegen Schleichhandels oder anderer Vergehen festgenommen worden waren.

Meist wurde gegen grössere Gruppen verhandelt. Die Zivilisten wurden entweder zur Verhandlung aus den Polizeigefängnissen in Kattowitz oder dem Gerichtsgefängnis Myslowitz nach Auschwitz in das Lager gebracht, oder sie waren schon vorher, wenn die Polizeigefängnisse überfüllt waren, in das Lager gebracht und im ersten Stock des Blockes 11 als sogenannte "Polizeihäftlinge" untergebracht worden. In der Lagerstärke erschienen sie nicht. Zur Verhandlung, die in der Schreibstube des Blockes 11 stattfand, wurden die Polizeihäftlinge von einer Liste, die die Gruppe der Gestapo und des SD aus Kattowitz mitgebracht hatte, aufgerufen und vor dem Vernehmungszimmer aufgestellt. Dann wurden sie einzeln in den Verhandlungsraum hineingeführt. Die "Verhandlung" unter dem SS-Obersturmbannführer Dr. Mildner dauerte gegen die einzelnen Personen jeweils nur eine Minute oder weniger. Innerhalb von ein bis zwei Stunden wurden 100 bis 150, manchmal auch 200 Personen abgeurteilt. Von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, lauteten die Urteile stets auf Todesstrafe. Die "Urteile" mussten von dem Gauleiter Bracht, der gleichzeitig Oberpräsident der Provinz Oberschlesien war, formell bestätigt werden. Häufig hatte er die Bestätigungen schon vor Verkündung der Urteile blanko erteilt.

Unmittelbar nach den Verhandlungen des Polizeigerichts wurden die zum Tode verurteilten Personen durch Genickschüsse an der schwarzen Wand anfänglich auch in einem Raum des kleinen (alten) Krematoriums durch Angehörige der SS aus dem Lager getötet. Bei den Erschiessungen waren die Mitglieder des Polizeistandgerichts aus Kattowitz in der Regel nicht mehr anwesend. Sie fuhren meist unmittelbar nach der Verhandlung weg.

Das Polizeistandgericht verhandelte bei seinen Sitzungen im KL Auschwitz auch gegen Schutzhäftlinge, die schon einige Zeit im Lager einsassen und glaubten, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ein Angehöriger der Stapoleitstelle in Kattowitz brachte zu den Standgerichtsverhandlungen in Auschwitz häufig Listen von im Lager einsitzenden Schutzhäftlingen mit. Sie standen im Verdacht, mit den abzuurteilenden Zivilpersonen in Verbindung gestanden zu haben. Zu den Verhandlungen wurden sie dann von ihren Arbeitskommandos weggeholt und - mit den übrigen zivilen Angeklagten - zum Tode verurteilt und erschossen.

Die Anzahl der auf diese Weise von dem Polizeistandgericht zum Tode verurteilten und danach hingerichteten Personen konnte nicht festgestellt werden.

Ob im KL Auschwitz, insbesondere an der schwarzen Wand zwischen Block 10 und 11, auch Todesurteile von Sondergerichten der deutschen Justiz, die alsbald nach Ablösung der Militärverwaltung in den dem deutschen Reich eingegliederten polnischen Gebieten aufgebaut wurde, vollstreckt worden sind, konnte nicht geklärt werden. Es ist zwar unwahrscheinlich, konnte aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

2. Das KL Auschwitz als Exekutionsstätte für polnische Geiseln

Als es nach Abschluss der militärischen Kämpfe im September 1939 zur Bildung vereinzelter polnischer Widerstands- und Partisanengruppen kam, ordneten die Militärbefehlshaber Ende September 1939 an, dass in jedem Ort, in dem deutsche Soldaten stationiert waren, eine bestimmte Anzahl von Geiseln aus der polnischen Bevölkerung festzusetzen und täglich auszuwechseln sei. Bei Angriffen auf deutsche Soldaten und auf Volksdeutsche sollten diese Geiseln in einem bestimmten Verhältnis erschossen werden. Die Erschiessungsbefehle durften allerdings nur von den höheren Truppenkommandeuren (vom Divisionskommandeur aufwärts) erteilt werden.

Die Kommandos der Sicherheitspolizei und der SD beanspruchten von Anfang an eine eigene Befugnis zur Geiselfestsetzung. Sie machten davon unter Hinweis auf die notwendige Abschreckung einen weit extensiveren und viel weniger geregelten Gebrauch als die Wehrmacht. Dieses System der Geiselfestsetzung behielten die Polizeikommandos für die späteren Zeiten bei. Allerdings wurden Geiselerschiessungen ab Frühjahr und Frühsommer 1940 ebenso wie die Exekutionen von Angehörigen der Führungsschicht und sogenannten Staatsfeinden auf öffentlichen Plätzen und in den lokalen Gefängnissen allmählich eingestellt. Die Geiseln wurden in Konzentrationslager eingeliefert und dort bei Angriffen oder Aktionen von polnischen Widerstands- und Partisanengruppen erschossen.

Auch in das KL Auschwitz wurden solche Geiseln eingeliefert. Sie sassen oft längere Zeit im Lager und gingen, wie die anderen Häftlinge, auf Arbeitskommandos. Oft wussten sie selbst nicht, dass sie Geiseln waren. Auch der Lagerführung war dies nicht immer bekannt. Eines Tages kam plötzlich der Befehl des RSHA oder des Befehlshabers der Sipo, dass bestimmte Häftlinge als Geiseln zu erschiessen seien. Die Betreffenden wurden dann von ihren Arbeitskommandos geholt und in den Arrest eingeliefert. Von dort wurden sie dann zur Exekution geführt. In der ersten Zeit erfolgten diese - ebenso wie die oben bereits geschilderten Exekutionen - an der Kiesgrube durch ein Exekutionskommando. Später wurden die Geiseln an der schwarzen Wand durch Genickschüsse getötet. Konkrete Fälle von Geiselerschiessungen konnten nicht festgestellt werden, d.h. Namen von auf diese Weise Hingerichteten und Namen von SS-Angehörigen, die solche Geiselerschiessungen durchgeführt haben.

Ausser den Geiseln wurden auch andere polnische Staatsangehörige, die bereits als Schutzhaftgefangene im Lager einsassen, "liquidiert". Wiederholt kamen plötzlich Exekutionsbefehle vom RSHA - offenbar weil man inzwischen irgendwelche weiteren Feststellungen getroffen hatte - für bestimmte Schutzhäftlinge. Diese wurden dann ebenfalls von ihren Arbeitskommandos weggeholt und an der schwarzen Wand durch Genickschuss getötet.

Die politische Abteilung konnte ferner Anträge auf Exekution bestimmter Schutzhaftgefangener beim RSHA stellen. Dies geschah z.B. in Fällen missglückter Fluchtversuche nichtdeutscher Schutzhaftgefangener, bei dem Verdacht von Widerstands- oder Untergrundtätigkeit und anderer Vergehen im Sinne der SS. Das RSHA genehmigte dann meist fernschriftlich die Exekution der betreffenden Schutzhaftgefangenen. Auch sie wurden durch Genickschuss an der schwarzen Wand getötet. Darüber hinaus wurden viele Schutzhaftgefangene auch ohne Exekutionsbefehle des RSHA und ohne Standgerichtsurteile eigenmächtig von der politischen Abteilung und der Schutzhaftlagerführung getötet. Dies geschah vor allem dann, wenn der Arrestbunker im Block 11 überfüllt war. Die Einzelheiten über solche eigenmächtigen Tötungen nach sogenannten Bunkerentleerungen werden noch im Zusammenhang mit den Straftaten des Angeklagten Boger im einzelnen zu schildern sein.

3. Das KL Auschwitz als Exekutionsstätte für russische Kriegsgefangene

Als Hitler im Sommer 1940 einsah, dass er England nicht zur Anerkennung seiner politischen und militärischen Eroberungen in Europa zwingen könne und ein militärischer Sieg über England wegen seiner Insellage nicht möglich erschien, fasste er den Entschluss, die Sowjetunion zu überfallen, um sich für die Weiterführung des Kampfes gegen England die nötigen Rohstoffquellen zu erschliessen und sich durch die Vernichtung des Bolschewismus, den er als den ideologischen Feind Nr.1 ansah, den Rücken für die Auseinandersetzung mit England freizukämpfen. Mit dieser "Konsolidierung Europas", d.h., der Neuordnung des Kontinents im Geiste nationalsozialistischer Ideologie, wollte Hitler England zunächst indirekt treffen.

Für Hitler bedeutete der geplante Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur einen Kampf mit Waffen, sondern es war für ihn eine Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, die nach seiner Meinung nur mit äusserster Härte, Brutalität und Gewalt geführt werden könne. So wie er vor dem polnischen Feldzug und nach der Zerschlagung des polnischen Staates zu einem harten und brutalen Volkstumskampf gegen das polnische Volk, der nicht nach Recht und Unrecht frage, aufgerufen hatte, so forderte er vor Beginn des Russlandfeldzuges einen rücksichtslosen Kampf gegen den Bolschewismus und die "jüdisch-bolschewistische Intelligenz" ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht.

In einer fast zweieinhalbstündigen Ansprache vor den Generälen aller Wehrmachtteile am 30.3.1941 bezeichnete Hitler unter anderem den Bolschewismus als soziales Verbrechertum, der eine ungeheuere Gefahr für die Zukunft darstelle. Der Kampf gegen ihn sei ein Vernichtungskampf. Man müsse von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken, da der Kommunist weder vorher noch nachher Kamerad sei. Vor allem müssten die bolschewistischen Kommissare und die kommunistische Intelligenz als Träger der bolschewistischen Idee vernichtet werden. Das aber sei nicht eine Frage der Kriegsgerichte. Die Führer der Truppen müssten vielmehr wissen, worum es gehe. Sie hätten sich mit den Mitteln zu verteidigen, mit denen sie angegriffen würden. Kommissare und GPU-Leute seien Verbrecher und als solche zu behandeln.

Diese Einstellung Hitlers fand ihren Niederschlag in dem berüchtigten sogenannten Kommissarbefehl des OKW vom 6.6.1941, der "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare" enthielt. In ihnen heisst es u.a., die Truppe müsse sich bewusst sein, dass in diesem Kampfe (gegen den Bolschewismus) Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme gegenüber diesen Elementen (politischen Kommissaren aller Art) falsch sei. Sie seien eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete. Die Urheber barbarischer asiatischer Kampfmethoden seien die politischen Kommissare. Gegen sie müsse daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie seien deshalb, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich mit der Waffe zu erledigen.

Im übrigen unterschieden die Richtlinien zwischen Truppenkommissaren und anderen politischen Kommissaren. Während die Truppenkommissare (politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppen) im Operationsgebiet sofort, d.h. noch auf dem Gefechtsfeld abgesondert und nach durchgeführter Absonderung "erledigt" werden sollten (Ziff.I/2 der Richtlinien) unterschied das OKW bei allen anderen politischen Kommissaren zwischen solchen, die sich gegen die Truppe wenden würden - diese sollten ohne Einschaltung der Kriegsgerichte, deren Zuständigkeit für Straftaten feindlicher Zivilpersonen durch Erlass des Führers vom 13.5.1941 aufgehoben worden war, beseitigt werden - und denen, die sich keiner feindlichen Handlung schuldig gemacht hätten oder einer solchen verdächtig seien. Diese sollten zunächst unbehelligt bleiben.

Im rückwärtigen Heeresgebiet sollten die Kommissare, die wegen zweifelhaften Verhaltens ergriffen würden, an die Einsatzgruppen bzw. Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei abgegeben werden.

Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, erläuterte den OKW-Erlass am 8.6.1941 hinsichtlich der politischen Kommissare noch dahingehend, dass ein Vorgehen gegen diese zur Voraussetzung habe, dass der Betreffende eine besondere erkennbare Handlung oder Haltung gegen die deutsche Wehrmacht gezeigt habe. Bezüglich der Tötung der Truppenkommissare ordnete der OB des Heeres an: "Die Erledigung der politischen Kommissare bei der Truppe hat nach ihrer Absonderung ausserhalb der eigentlichen Kampfzone und unauffällig auf Befehl eines Offiziers zu erfolgen." Der General z.b.V. beim Oberbefehlshaber des Heeres, General Müller, interpretierte die Richtlinien des OKW am 11.6.1941 in Warschau vor einer Reihe von Generalstabsoffizieren u.a. wie folgt:

"In dem kommenden Einsatz müssten Rechtsempfinden unter allen Umständen hinter Kriegsnotwendigkeit zurücktreten. Es sei daher erforderlich, "zum alten Kriegsbrauch zurückzukehren!" Einer von beiden Feinden müsse auf der Strecke bleiben. Die Träger der feindlichen Einstellung dürften nicht konserviert, sondern müssten erledigt werden ...."

Inwieweit der Kommissarbefehl des OKW bei der Truppe befolgt und wie er in der Praxis gehandhabt worden ist, ist hier nicht zu untersuchen. Jedenfalls gelang es einer grossen Zahl von politischen Kommissaren - auch Truppenkommissaren - mit anderen russischen Kriegsgefangenen in die Kriegsgefangenenlager zu kommen. Um diese und auch andere "verdächtige Kriegsgefangene und Zivilpersonen" herauszufinden, wurden durch den Chef der Sipo und des SD im Einvernehmen mit dem OKW, Kommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die der Reichsführer SS zur Verfügung stellte, in Stärke von einem SS-Führer und vier bis sechs SS-Männern in die Kriegsgefangenenlager abgestellt. Ihre Aufgaben wurden von Heydrich, dem Chef der Sipo und des SD, in einem Einsatzbefehl Nr.8 und den in diesem Befehl beigefügten "Richtlinien für die Aussonderung von Zivilpersonen und Kriegsgefangenen des Ostfeldzugs in den Kriegsgefangenenlagern im besetzten Gebiet, im Operationsgebiet, im Generalgouvernement und im Reichsgebiet" umrissen. Als Absicht stellte Heydrich heraus: Die Wehrmacht müsse sich umgehend von allen denjenigen Elementen unter den Kriegsgefangenen befreien, die als bolschewistische Triebkräfte anzusehen seien. Die besondere Lage des Ostfeldzuges verlange besondere Massnahmen, die frei von bürokratischen und verwaltungsmässigen Einflüssen verantwortungsfreudig durchgeführt werden müssten.

Politisch handele es sich darum, das deutsche Volk vor den bolschewistischen Hetzern zu beschützen und das besetzte Gebiet alsbald in die Hand zu nehmen.

Um das gesteckte Ziel zu erreichen, befahl Heydrich ein ganz bestimmtes Aussonderungsverfahren. Als erstes sollten die Lagerorgane die Kriegsgefangenen grob einteilen in Zivilpersonen, Soldaten, sowie nach Volkstumsgruppen innerhalb der Zivilpersonen und Soldaten. Danach sollten die Einsatzkommandos der Sipo und des SD aus den Zivilisten und Soldaten

1. politisch untragbare Elemente

2. Personen, die besonders vertrauenswürdig erschienen und für den Einsatz und Wiederaufbau der besetzten Gebiete verwendungsfähig seien,

aussondern.

Über die Weiterbehandlung der als "verdächtig" angesehenen Kriegsgefangenen hatte nach den Weisungen des Chefs der Sicherheitspolizei das Einsatzkommando selbständig zu entscheiden. Jede Woche hatte der Leiter des Einsatzkommandos durch Fernschreiben oder Schnellbrief an das RSHA einen Kurzbericht zu senden, der unter anderem die Zahl der endgültig als verdächtig anzusehenden Personen und die namentliche Benennung von Funktionären der Komintern, massgebende Funktionäre der Partei, Volkskommissare, politische Kommissare und leitende Persönlichkeiten zu enthalten hatte. Aufgrund dieser Tätigkeitsberichte wurden sodann vom RSHA die zu treffenden weiteren Massnahmen mitgeteilt.

In den Richtlinien hiess es weiter, dass Exekutionen nicht im Lager oder in der unmittelbaren Umgebung durchgeführt werden dürften. Über die durchgeführten Sonderbehandlungen (Exekutionen) hatten die Kommandos Listen zu führen. Hinsichtlich der durchzuführenden Exekutionen hatten sich die Leiter der Exekutionskommandos mit den Leitern der örtlich nächstgelegenen Stapoleitstelle bzw. den Kommandeuren der Sicherheitspolizei und des SD in Verbindung zu setzen. In einem Einsatzbefehl Nr.9 vom 21.7.1941 ordnete SS-Obergruppenführer Müller in Vertretung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD u.a. an, dass die Exekutionen (der als endgültig verdächtig ausgesonderten Personen) nicht öffentlich sein dürften und unauffällig im nächstgelegenen Konzentrationslager durchgeführt werden müssten.

Auch im Konzentrationslager Auschwitz wurden aufgrund dieses Befehls die durch die Einsatzkommandos der Sipo und des SD aus Kriegsgefangenenlagern ausgesonderten politischen Kommissare und andere als verdächtig angesehene Kriegsgefangene "liquidiert". Die Gefangenen wurden, wenn sie in das Lager eingeliefert worden waren, nicht von der Aufnahmeabteilung der politischen Abteilung erfasst und auch nicht in die Lagerstärke aufgenommen. Sie brachten ihre Erkennungsmarken und Karteikarten mit. Nach den Exekutionen wurden die Erkennungsmarken in der Mitte durchgebrochen. Auf den Karteikarten wurde lediglich vermerkt: "liquidiert gemäss OKW-Befehl". Die Erschiessungen der Kriegsgefangenen erfolgten entweder im Vorraum des kleinen alten Krematoriums oder an der schwarzen Wand zwischen Block 10 und 11 durch Genickschüsse. Ein Teil der Kriegsgefangenen wurde auch im Block 11 und im kleinen Krematorium durch Gas getötet. Vereinzelt wurden politische Kommissare auch durch Phenolinjektionen umgebracht. Auf die Vergasung im Block 11, die Erschiessungen der Kriegsgefangenen und eine Tötung durch Phenol eines politischen Kommissars wird noch später zurückzukommen sein.

Ausser zur "Liquidierung" von diesen aus Kriegsgefangenenlagern ausgesonderten sogenannten politisch "untragbaren Elementen" und verdächtigen Personen diente das Konzentrationslager Auschwitz auch selbst als Kriegsgefangenenlager für russische Kriegsgefangene. Im Herbst 1941 wurden ca. 10-12000 Kriegsgefangene in das Lager eingeliefert. Sie waren in einem sehr schlechten körperlichen Zustande, sollten aber für Arbeiten eingesetzt werden. Auch diese Kriegsgefangenen wurden im Lager auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft. Politisch Verdächtige wurden von den übrigen Gefangenen abgesondert und in einem besonderen isolierten Block untergebracht. Tagsüber durften sie den Block nicht verlassen. Ihre Häftlingsnummer bekam den Zusatz "Au". Durch wen ihre Überprüfung erfolgt ist, wurde im einzelnen nicht aufgeklärt. Wahrscheinlich erfolgte sie ebenfalls durch ein besonderes Einsatzkommando der Stapoleitstelle Kattowitz. Die als endgültig verdächtig und politisch untragbar angesehenen Kriegsgefangenen wurden meist nachts exekutiert. SS-Angehörige kamen nachts überraschend in den isolierten Block und riefen die Nummern verschiedener Kriegsgefangener auf. Sie nahmen sie mit und erschossen sie später an der schwarzen Wand. Wieviel russische Kriegsgefangene aufgrund des OKW-Befehls und der auf ihm beruhenden Weisungen und Richtlinien des Chefs der Sipo und des SD im Konzentrationslager Auschwitz erschossen worden sind, bzw. durch Gas oder anderweitig getötet wurden, konnte nicht geklärt werden.

4. Das Konzentrationslager Auschwitz als Vernichtungsstätte kranker und entkräfteter Lagerinsassen

Im KL Auschwitz wurden in grossem Umfang auch im Lager befindliche kranke Häftlinge, insbesondere Juden, die man als arbeitsunfähig ansah, getötet.

a. Im HKB wurden fast täglich von den Häftlingen, die sich krank gemeldet hatten und dem Lagerarzt nach einer Untersuchung durch einen Häftlingsarzt vorgestellt wurden (sogenannter Arztvorsteller) diejenigen ausgesondert, die der Lagerarzt als arbeitsunfähig ansah. Anschliessend wurden sie durch Phenolinjektionen getötet. Die Anzahl der auf diese Weise getöteten Häftlinge konnte nicht festgestellt werden. Es waren auf jeden Fall mehrere Tausend. Nähere Einzelheiten über das Aussonderungsverfahren und die Art der Tötung werden noch im Zusammenhang mit den Straftaten der SDGs Klehr, Scherpe, Hantl) zu erörtern sein.

b. Der Lagerarzt ging ferner von Zeit zu Zeit in Begleitung eines SDG durch die Krankensäle des HKB, um neben der Überprüfung der Ordnung und Sauberkeit festzustellen, ob der HKB überfüllt sei. War dies der Fall, dann sonderte er eine Reihe von Häftlingen aus, die anschliessend ebenfalls durch Phenolinjektionen getötet wurden. Besonders gefährdet waren die Häftlinge, die schon längere Zeit krank im HKB lagen. Die Anzahl der durch diese sogenannten kleinen Selektionen ausgesuchten und anschliessend durch Phenol getöteten Häftlinge konnte ebenfalls nicht festgestellt werden. Auch auf diese kleinen Selektionen wird noch zurückzukommen sein.

c. Ausser diesen kleinen Selektionen fanden in gewissen Zeitabständen sogenannte grosse Selektionen im HKB statt. Bei diesen grossen Selektionen mussten alle kranken Häftlinge, die im HKB lagen, dem Lagerarzt nackt vorgeführt werden. Durch einen Blick entschied dann der Lagerarzt, ob ein Kranker weiter im HKB bleiben könne oder ob er zu töten sei. Häufig wurden bei solchen grossen Selektionen 200 bis 300 Häftlinge zur Tötung bestimmt. Ihre Fieberkurven wurden auf die Schreibstube gebracht, wo eine Liste mit den Nummern der für den Tod bestimmten Häftlinge erstellt wurde. Ein oder zwei Tage später wurden die ausgesuchten Häftlinge dann aufgerufen, auf LKWs verladen und in die Gaskammern gebracht, wo sie durch Zyklon B getötet wurden. Die Anzahl der auf diese Weise getöteten Häftlinge konnte ebenfalls nicht mehr festgestellt werden.

d. Schliesslich fanden von Zeit zu Zeit sogenannte Lagerselektionen statt. Hierbei wurden die Lagerinsassen - mit Ausnahme der Funktionshäftlinge und anderer Häftlinge, die für besondere Tätigkeiten gebraucht wurden - auf ihre Arbeitstauglichkeit gemustert. Solche sogenannte Lagerselektionen fanden sowohl im Stammlager als auch in den verschiedenen Lagerabschnitten des Lagers in Birkenau statt. Die Häftlinge mussten bei diesen Selektionen nackt antreten. Ihre Arbeitstauglichkeit wurde von den SS-Lagerärzten mit einem Blick geprüft. Wer nicht mehr arbeitsfähig erschien - dazu gehörten vor allem die sogenannten Muselmänner -, wurde von den anderen Häftlingen abgesondert und in einen bestimmten Block von anderen Häftlingen isoliert untergebracht. Nach wenigen Tagen wurden dann die ausgesonderten Menschen mit LKWs zu den Gaskammern gebracht und dort durch Gas getötet. Als Todesursache wurde auf den Todesurkunden aller auf diese Weise getöteten Häftlinge natürliche Todesursachen angegeben (z.B. Herzschwäche).

Ob und inwieweit diese Ausmusterungen aufgrund von Befehlen des RSHA oder des WVHA erfolgt sind, konnte nicht geklärt werden. Wahrscheinlich beruhen sie auf der bereits erwähnten Aktion, die unter dem Geheimzeichen 14 f 13 in den Konzentrationslagern lief. Das Schwurgericht ist zugunsten der Angeklagten davon ausgegangen, dass die SS-Ärzte von höheren Dienststellen (wahrscheinlich dem Amt D III im WVHA) die allgemeine Anweisung erhalten haben, kranke und völlig entkräftete Häftlinge, mit deren Arbeitseinsatz nicht mehr zu rechnen sei, auszumustern und auf unauffällige Weise töten zu lassen. Ausser durch die Ärzte wurden solche Ausmusterungen aber auch durch SS-Führer, Unterführer und die SDGs zum Teil ohne Befehl eigenmächtig durchgeführt. Auf konkrete Einzelfälle wird noch im Zusammenhang mit den Erörterungen der Straftaten der Angeklagten zurückzukommen sein.

5. Das KL Auschwitz als Massenvernichtungsanstalt für die Tötung jüdischer Menschen

Das KL Auschwitz diente schliesslich im Rahmen der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" als Instrument zur Vernichtung von unzähligen jüdischen Menschen, die nur zum Zweck der Tötung nach Auschwitz verbracht wurden.

Den Hintergrund für diese Massentötungen bildete die radikale antisemitische Politik des NS-Staates, die ebenfalls ein untrennbarer Bestandteil nationalsozialistischer Programmatik war und schliesslich, sich von Stufe zu Stufe steigernd, in der physischen Vernichtung der Juden endete.

Ausgangspunkt für die gesamte Judenpolitik des NS-Staates war das Parteiprogramm der NSDAP vom 24.2.1920, in dessen Punkt 4 es hiess:

"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist ohne Rücksicht auf die Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein."

Punkt 5 des Parteiprogrammes lautete: "Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen."

Schon vor der sogenannten Machtergreifung am 30.1.1933 rief Hitler in vielen Parteireden zum leidenschaftlichen Kampf gegen das "Weltjudentum" auf. Seine Partei (die NSDAP) und ihre Gliederungen (SA, SS usw.) hetzten systematisch gegen jüdische Bürger. Gelegentlich kam es auch schon vor der Machtergreifung zu Ausschreitungen gegen Juden.

Nach der Übernahme der Macht wurde der Kampf der nationalsozialistischen Partei gegen die Juden Teil der offiziellen Regierungspolitik in Deutschland. Zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Einzelmassnahmen dienten der Entrechtung, Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bürger. Eine systematische Hetze sollte Hass und Abscheu gegen die Juden in jedem nichtjüdischen Deutschen hervorrufen. Hier sollen die zahlreichen Gesetze, Verordnungen und Einzelmassnahmen, durch die die deutschen Juden aus dem staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschaltet, von sämtlichen Ehrenämtern ausgeschlossen und aus freien Berufen verdrängt und insgesamt in beschämender Weise entwürdigt, entrechtet und diskriminiert werden sollten und wurden, im einzelnen nicht aufgezählt werden. Sie sind historisch und im grossen und ganzen allgemein bekannt. Erwähnt seien nur die sogenannten Nürnberger Gesetze aus dem Jahre 1935 (das sog. Blutschutzgesetz und das Reichsbürgergesetz), die einen gewissen Höhepunkt der gesetzlichen Massnahmen zur Entrechtung und Diffamierung der jüdischen deutschen Mitbürger bildeten. Das Blutschutzgesetz (RGBl. 1935 I, 1146) verbot die Eheschliessung zwischen Juden und "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes", sowie den ausserehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und diesen Personengruppen. Juden durften keine weiblichen Angestellten "deutschen oder artverwandten Blutes" unter 45 Jahren in ihrem Haushalt beschäftigen.

Das Reichsbürgergesetz führte neben der Staatsangehörigkeit die sogenannte Reichsbürgerschaft ein, die durch Verleihung des Reichsbürgerbriefes erworben werden sollte (wozu es allerdings niemals gekommen ist). Reichsbürger konnten nur Staatsangehörige "deutschen oder artverwandten Blutes" werden. Nur Reichsbürger sollten in den Genuss der vollen politischen Rechte nach Massgabe des Gesetzes kommen.

Eine weitere Diffamierung bedeutete u.a. die Einführung des Kennkartenzwanges für jüdische Bürger durch die Bekanntmachung vom 23.7.1938 und die durch die VO vom 17.8.1938 erlassenen Vorschriften, dass männliche Juden ab 1.1.1939 ihrem nichtjüdischen Vornamen den Vornamen "Israel" und weibliche Juden den Vornamen "Sara" beizufügen hatten.

Verschärft wurde die Judenverfolgung in Deutschland, nachdem der Juden Herschel Grünspan den deutschen Legationssekretär vom Rath in Paris erschossen hatte. In der Nacht vom 8. zum 9.11.1938 kam es zu der bekannten sogenannten "Reichskristallnacht", in der im deutschen Reichsgebiet Synagogen in Brand gesteckt, über 7000 jüdische Geschäfte zerstört und viele jüdische Menschen verletzt, getötet oder verhaftet wurden. Gegen diesen von Dienststellen der Partei und ihrer Gliederungen organisierten Terror schritten die zuständigen Polizeibehörden auf höhere Weisung nicht ein. Den Juden in Deutschland wurde zusätzlich noch die Zahlung einer "Busse" von zunächst 1 Milliarde später 1 1/4 Milliarde Reichsmark auferlegt. Ca. 30000 wohlhabende jüdische Bürger wurden in Konzentrationslager eingewiesen, später allerdings zum grössten Teil wieder entlassen, wenn sie sich zur Auswanderung bereit erklärten.

Nach Beginn des zweiten Weltkrieges wurden die Juden dadurch diskriminiert, dass sie ihre Rundfunkgeräte abliefern mussten, dass man sie zur Kündigung ihrer Fernsprechanschlüsse zwang und dass sie keine Kleiderkarten erhielten und schliesslich, dass man Ausgehverbote gegen sie erliess.

Der erwähnten Gesetze, Verordnungen und administrativen Massnahmen gegen die Juden sowie die Gewalttaten gegen sie zielten zunächst daraufhin, die deutschen Juden möglichst rasch zur Auswanderung zu bringen und damit den "deutschen Volkskörper" von dieser - nach Auffassung der NS-Machthaber - "minderwertigen Rasse" zu reinigen. Nach Ausbruch des Krieges am 1.9.1939 fielen weitgehend die Voraussetzungen für eine Auswanderung bzw. Austreibung der deutschen Juden weg, wenn auch der Weg über neutrale Staaten zunächst noch offenblieb. Man strebte daher bald eine radikalere Lösung des Judenproblems an. Erste Anzeichen einer solchen radikalen Lösung für den Fall eines bewaffneten Konfliktes hatte es schon vor dem Kriege gegeben. So hatte Göring schon in einer Konferenz vom 12.11.1938, bei der Heydrich noch ein grosses Auswanderungsprogramm für die Juden entworfen hatte, erklärt: "Wenn das deutsche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in aussenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, dass auch wir in Deutschland in allererster Linie daran denken werden, eine grosse Abrechnung an den Juden zu vollziehen."

Hitler hatte am 30.1.1939 anlässlich der Feier des Tages der sogenannten Machtübernahme vor dem Reichstag unter anderem erklärt:

"Und eines möchte ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tag nun aussprechen: Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wurde meistens ausgelacht. In der Zeit meines Kampfes um die Macht war es in erster Linie das jüdische Volk, das nur mit Gelächter meine Prophezeiungen hinnahm, ich würde einmal in Deutschland die Führung des Staates und damit des ganzen Volkes übernehmen und dann unter vielen anderen auch das jüdische Problem zur Lösung bringen. Ich glaube, dass dieses damalige schallende Gelächter dem Judentum in Deutschland unterdes wohl schon in der Kehle erstickt ist. Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum innerhalb und ausserhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Spätestens im Jahre 1941 entschloss sich Hitler zu der in der erwähnten Rede angedeuteten Lösung, nämlich, die in seinem Machtbereich lebenden europäischen Juden auszurotten. Mit der Verwirklichung dieses Planes, den er "die Endlösung der Judenfrage" nannte, beauftragte er Himmler, seinen getreuen Gefolgsmann, der mit der ihm unterstellten Polizei und SS die Gewähr einer genauen Durchführung des Planes bot. Allerdings ist ein schriftlicher Befehl Hitlers über die "Endlösung der Judenfrage" nicht bekannt. Der genaue Zeitpunkt, wann Hitler die physische Vernichtung der Juden befohlen hat, lässt sich nicht mehr genau bestimmen. Hitler muss sie schon vor Ausbruch des Krieges mit Russland mündlich angeordnet haben. Denn die vor Beginn des Russlandfeldzuges entsprechend der Einteilung der Heeresgruppen gebildeten Einsatzgruppen aus Sipo und SD hatten den Auftrag die sogenannten potentiellen Gegner zu vernichten, also zu töten, wobei man sich darüber im klaren war, dass dazu in erster Linie - ausser den politischen Kommissaren - die im rückwärtigen Heeresgebiet anzutreffenden Juden gehörten. Den Führern der Einsatzgruppen, die in Einsatzkommandos und Sonderkommandos gegliedert waren, wurde im Mai 1941 unter strengster Geheimhaltung mündlich befohlen, die Juden zu erschiessen. Nach Einmarsch der deutschen Truppen in das Gebiet der Sowjetunion begannen auch bald im rückwärtigen Heeresgebiet in grossem Umfang Massenerschiessungen von Juden durch die Einsatzkommandos. Schliesslich stellte man diesen Kommandos auch Gaswagen zur Verfügung, in denen die Juden durch Gas getötet wurden. Alle Juden konnten jedoch in dieser ersten Phase der Massentötung nicht beseitigt werden. Die Überlebenden wurden in grosse Ghettos konzentriert und durch einen gelben Judenstern auf Brust und Rücken gekennzeichnet. Bald folgte eine zweite Phase von Massentötungen und eine allmähliche Räumung der Ghettos.

Inzwischen hatten im Reichsgebiet seit Herbst 1941 grosse als "Umsiedlungsaktion" getarnte Deportationen von Juden zu den Ghettos in Lodz, Warschau, Kowno, Minsk, Riga usw. begonnen. Ziel dieser Deportationen war die schliessliche Vernichtung der deportierten Menschen durch Arbeit oder in dafür einzurichtenden Vernichtungslagern oder Vernichtungsanstalten. Hier soll nicht im einzelnen die organisatorische Durchführung der gesamten Aktion im Rahmen der sogenannten "Endlösung der Judenfrage", die verschiedenen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten aufgezeigt werden. Es war nicht Aufgabe des Schwurgerichts, dies im einzelnen aufzuklären und aufzuzeigen. Erwähnt sei nur, dass Göring durch Erlass vom 31.7.1941 Heydrich aufforderte, ihm alsbald die sachlichen und materiellen Voraussetzungen zur angestrebten "Endlösung der Judenfrage" vorzulegen. Auch das spricht dafür, dass Hitler schon vor diesem Zeitpunkt den Befehl für die physische Vernichtung der Juden gegeben hat.

In diesem Erlass heisst es u.a.:

"In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlass vom 24.1.1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa.

Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen.

Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmassnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen."

Heydrich berief unter Bezugnahme auf diesen Erlass eine Konferenz am 20.1.1942 im Gebäude der Interpol am grossen Wannsee ein, zu der die zuständigen Behörden zu einer "Staatssekretärbesprechung" geladen wurden.

Die Konferenz (Wannsee-Konferenz genannt) wird allgemein als die organisatorische Grundlage für die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" bezeichnet. An ihr nahmen hohe Vertreter der Parteikanzlei, der Reichskanzlei, des Amtes Frank, die Staatssekretäre der einzelnen Ministerien, insbesondere aber Angehörige des RSHA teil. Heydrich, der den Vorsitz führte, betonte zunächst, dass die Federführung bei der Bearbeitung "der Endlösung der Judenfrage" ohne Rücksicht auf geographische Grenzen zentral beim Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei liege. Dann erklärte er u.a., dass die Juden nach ihrer Evakuierung nach dem Osten einem harten Arbeitseinsatz zugeführt werden müssten, wobei zweifellos ein grosser Teil durch natürliche Auslese ausfallen werde. Schliesslich erklärte er: "Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist (siehe die Erfahrung der Geschichte)."

Was mit den Arbeitsunfähigen geschehen solle, wurde in dem Protokoll über diese Konferenz nicht festgehalten. Hier ist auf die Worte "wird entsprechend behandelt werden müssen" hinzuweisen, weil bei den späteren schriftlichen Befehlen, sonstigen Berichten und Schriftstücken, die in Zusammenhang mit der massenweisen Vernichtung der Juden standen, niemals ausdrücklich von einer Tötung die Rede ist. Die Tötungen wurden vielmehr stets mit Worten umschrieben wie "Sonderbehandlung", "Evakuierung", "Judenumsiedlung" und ähnlichen Ausdrücken. Alle Aktionen wurden unter Einhaltung strengster Geheimhaltungsvorschriften durchgeführt. Niemand, der nicht unmittelbar damit befasst war, durfte etwas davon erfahren.

Auf den weiteren Inhalt der Beratungen während der Wannsee-Konferenz soll hier nicht näher eingegangen werden. Das Ergebnis der Konferenz zeigte sich bald: Die bereits begonnenen Deportationen wurden in verstärktem Umfang fortgesetzt. In allen vom deutschen Reich besetzten Ländern Europas wurden Juden zusammengetrieben, in Eisenbahnzüge gepfercht, zum grossen Teil in Güterwaggons, und in Lager nach dem Osten deportiert, wo sie zum grössten Teil getötet wurden. Die in den Ghettos im Osten konzentrierten Juden wurden nach und nach ebenfalls in Vernichtungslager abtransportiert und zum grössten Teil getötet.

Die Zentrale für die Aktion war das RSHA unter Heydrich, später Kaltenbrunner. Im RSHA war das Amt IV unter SS-Obergruppenführer Müller für die Judendeportationen zuständig. Es bediente sich bei der Durchführung der Aktionen er ihm unterstellten Polizei- und SS-Dienststellen. Im Amt IV war Leiter des Referates IV B 4 (Judenangelegenheiten), das später in IV A 4 umbenannt wurde, SS-Obersturmbannführer Eichmann.

Auch das Konzentrationslager Auschwitz wurde als Vernichtungslager für die "Endlösung der Judenfrage" ausersehen. Höss, der erste Lagerkommandant von Auschwitz, erhielt - wie oben schon erwähnt - im Sommer 1941 vom RFSS den Befehl, im KL Auschwitz, die Voraussetzungen für die Massentötungen von Juden zu schaffen. Dabei wurde ihm strengstes Stillschweigen auch Vorgesetzten gegenüber befohlen. Von Eichmann wurde Höss näher in die beabsichtigten Vernichtungsaktionen eingeweiht. Mit ihm besprach er, wie die Tötung der Juden im Lager Auschwitz durchzuführen sei. Beide kamen überein, dass als Tötungsmittel nur Gas in Frage käme, da die Tötung der zu erwartenden Menschenmassen auf andere Weise nicht ausführbar erschien. Bei einer Besichtigung des Geländes stiessen sie auf ein Bauerngehöft in der Nordwestecke des späteren Bauabschnittes B III. Da es durch Wald und Hecken gegen Einsicht geschützt war, hielten sie er für geeignet, um darin - nach entsprechenden Umbauten und der Installierung der erforderlichen technischen Einrichtungen - gleichzeitig mehrere hundert Menschen durch Gas zu töten. Der Umbau des Gehöftes für den vorgesehenen Zweck wurde alsbald in Angriff genommen.

Wann genau die ersten Judentransporte im Rahmen der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" in Auschwitz angekommen sind, liess sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Im damaligen Sprachgebrauch wurden diese Transporte RSHA-Transporte genannt. Die deportierten Juden, die mit diesen Transporten ankamen, nannte man RSHA-Juden. Anfangs - ab Oktober 1941 - wurden vereinzelt kleinere Gruppen von Juden, die im Rahmen des Vernichtungsprogramms Hitlers in Auschwitz getötet werden sollten, in LKWs gebracht. Sie wurden im kleinen (alten) Krematorium teils durch Genickschüsse getötet, teils durch Gas umgebracht. Hierauf wird noch bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten St. zurückzukommen sein. Ab Anfang 1942 kamen grössere RSHA-Transporte aus Ostoberschlesien an, denen dann fast ununterbrochen bis Herbst 1944 eine nicht mehr festzustellende Zahl von Transporten aus allen besetzten Ländern Europas folgte.

Grössere Transporte, die mit Ausnahme der Anfangszeit die Regel wurden, kamen in Eisenbahnzügen an. Die Züge wurden auf einem Anschlussgleis, das man vor der Hauptstrecke Kattowitz - Auschwitz - Krakau auf das freie Feld in die Nähe des Stammlagers geführt hatte, geleitet. Dort liess man die Menschen auf eine eigens für diesen Zweck gebaute 500 m lange Holzrampe, die im Jahre 1943 durch eine Betonrampe ersetzt wurde, aussteigen.

Ursprünglich sollten nach dem Befehl Himmlers alle mit sogenannten RSHA-Transporten angekommenen Menschen getötet werden. Dies geschah auch bei den ersten Transporten aus Ostoberschlesien. Bald aber erging ein weiterer Befehl, dass alle arbeitsfähigen Juden, Männer und Frauen, aus den Transporten auszusuchen und im Lager für Rüstungszwecke einzusetzen seien. In der Folgezeit wurden dann jeweils aus den RSHA-Transporten zwischen 10 und 15%, in seltenen Ausnahmefällen auch mehr, jedoch nie über 25% arbeitsfähiger Männer und Frauen aus den Transporten ausgesucht, die dann in das Lager aufgenommen wurden. Alle anderen jüdischen Menschen wurden durch Gas getötet. Bevor der Umbau des Bauernhauses vollendet war, erfolgten die Tötungen durch Gas im kleinen Krematorium. Ab Sommer 1942 diente das inzwischen in eine Gaskammer umgebaute Bauernhaus als Vernichtungsstätte. Da seine Kapazität zur Tötung der immer dichter werdenden Transporte nicht ausreichte, wurde noch ein weiteres Bauernhaus in der Nähe des ersten zu einer Gaskammer umgebaut und zusätzlich als Vernichtungsstätte benutzt. Beide Gaskammern wurden auch Bunker I und II genannt. Die Leichen der getöteten Menschen wurden zunächst in grossen Gruben begraben, später in langen Gräbern verbrannt.

Da bald vorauszusehen war, dass die Kapazität der beiden Gaskammern für die Tötung der noch zu erwartenden Judentransporte nicht ausreichen werde, wurde der Bau von zwei grossen und zwei etwas kleineren Krematorien mit dazugehörigen Gaskammern in Angriff genommen. Wie oben schon ausgeführt, wurden die grösseren Krematorien (Krematorium I und Krematorium II), die westlich vom Lagerabschnitt B I und B II lagen, im Frühjahr 1943 in Betrieb genommen. Die beiden kleineren Krematorien (Krematorium III und Krematorium IV) wurden ebenfalls im Jahre 1943 vollendet und in Betrieb genommen.

Der Bunker I wurde später bei Beginn des Aufbaues des Lagerabschnitts B III abgerissen, der Bunker II, der nach der Inbetriebnahme der vier neu erbauten Krematorien auch später noch zur Tötung von Menschen benutzt wurde, wenn die Kapazität der vier Krematorien nicht ausreichte oder eine der vier neu gebauten Gaskammern aus irgendeinem Grund ausfiel, wurde nun als Bunker V bezeichnet.

Ab Frühjahr 1944 wurden die Transporte auf die - oben bereits erwähnte - Rampe in Birkenau geleitet, von wo die Menschen unmittelbar nach der Ausmusterung der Arbeitsfähigen in die neu erbauten Gaskammern geführt wurden.

Eine genaue Darstellung über die Empfangnahme, Einteilung und Vernichtung eines RSHA-Transportes, die Ausmusterung der Arbeitsfähigen, die auch als "Selektion" bezeichnet wird, wobei nicht sicher feststeht, ob dieser Ausdruck bereits damals gebraucht worden ist oder man ihn erst später eingeführt hat, wird im Zusammenhang mit der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka gegeben werden.

Die Anzahl der getöteten jüdischen Menschen, die mit sogenannten RSHA-Transporten nach Auschwitz deportiert worden sind, konnte auch nicht annähernd festgestellt werden, da sichere Beweisunterlagen fehlen.

Allein im Jahre 1944, als in grossem Umfang ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und mit Ausnahme der als arbeitsfähig Ausgemusterten getötet worden sind, wurden in den Monaten zwischen Mai und Oktober mehr als eine halbe Million jüdischer Menschen getötet.

Zwischenstück:

Beweismittel und Beweisgrundlagen für die im ersten und zweiten Abschnitt getroffenen Feststellungen

1. Die Feststellungen über die Einrichtung und Entwicklung von Konzentrationslagern im NS-Staat beruhen auf den ausführlichen und sachkundigen Gutachten der Sachverständigen Dr. Broszat über "die Entwicklung der nationalsozialistischen Konzentrationslager", Dr. Buchheim über "SS und Polizei im NS-Staat" und den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen aus der damaligen Zeit, die in Gesetz- und Verordnungsblättern veröffentlicht worden sind. Das Gericht hat sich den beiden überzeugenden und fundierten Sachverständigengutachten angeschlossen.

2. Die Feststellungen im zweiten Abschnitt hat das Gericht getroffen auf Grund der Einlassungen der Angeklagten, soweit ihnen gefolgt werden konnte, den glaubhaften Aussagen der Zeugen bzw. der Zeuginnen Dr. F., Fr., Bö., Erich K., Dow K., H., Hu., Kr., Ko., Ka., Kl., Kag., La., Lei., Dr. Li., Dr. M., de Ma., Dr. Mo., Mi., O., P., Pi., R., Po., Scha., So., Dr. T., W., Wa., Wö., Dr. C., Dr. D., Helmut Ba., Dr. Wo. und weiterer Zeugen, die noch bei der Beweiswürdigung im Rahmen der Erörterung der Straftaten der einzelnen Angeklagten anzuführen sein werden, den Skizzen vom Stammlager und vom Lager Birkenau, die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen wurden und deren Übereinstimmung mit den tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten in der hier fraglichen Zeit von den Angeklagten bestätigt worden ist, den Gutachten der Sachverständigen Dr. Broszat über "die Entwicklung der nationalsozialistischen Konzentrationslager", Dr. Buchheim über "SS und Polizei im NS-Staat", Dr. Krausnick über "Judenpolitik und Judenverfolgung 1933 bis 1945", Dr. Broszat über "Nationalsozialistische Polenpolitik", Dr. Jakobsen über den "Kommissarbefehl", deren überzeugenden und fundierten Darlegungen sich das Gericht in vollem Umfang angeschlossen hat, und auf Aufzeichnungen, die der erste Lagerkommandant des KL Auschwitz, der frühere und inzwischen hingerichtete SS-Obersturmbannführer Höss während seiner Krakauer Untersuchungshaft im Jahre 1946 handschriftlich niedergeschrieben hat, als er auf seine Aburteilung durch den polnischen Obersten Gerichtshof wartete. Dem Schwurgericht lag allerdings das Original der handschriftlichen Aufzeichnungen nicht vor. Fotokopien der handschriftlichen Aufzeichnungen besitzt das Institut für Zeitgeschichte in München. Der Sachverständige Dr. Broszat hat glaubhaft versichert, dass er sich persönlich in Polen davon überzeugt habe, dass die Fotokopien mit den handschriftlichen Originalen übereinstimmen. An der Urheberschaft des Lagerkommandanten Höss könne nach dem klaren handschriftlichen Befund kein Zweifel bestehen, zumal ein handschriftlicher Vergleich mit von Höss handschriftlich geschriebenen Zeugnissen aus früheren Zeiten möglich gewesen sei. Broszat hat die autobiographischen Aufzeichnungen und die handschriftliche Niederschrift über "Die Endlösung der Judenfrage" in dem Taschenbuch "Kommandant in Auschwitz, autobiographische Aufzeichnung" ungekürzt getreu nach den ihm vorliegenden Fotokopien veröffentlicht. In der Hauptverhandlung sind die in dem Buch abgedruckten autobiographischen Aufzeichnungen zum Teil und die Aufzeichnung über "Die Endlösung der Judenfrage" verlesen worden. Das Schwurgericht ist der Überzeugung, dass die aus dem Buch verlesenen Teile mit dem Original der handschriftlichen Aufzeichnungen des früheren Lagerkommandanten Höss wörtlich übereinstimmen. Das Gericht hat diese Überzeugung nicht nur aus der glaubhaften Versicherung des Sachverständigen Broszat gewonnen, sondern auch aus dem Inhalt der verlesenen Schriften selbst. Daraus ergibt sich nämlich, dass Urheber der Aufzeichnungen eine mit den Verhältnissen in Auschwitz wohl vertraute Person sein muss, die nicht nur einen Teilbereich des Lagers überschauen konnte, sondern einen Gesamtüberblick gehabt haben muss. Die Schilderung der allgemeinen Verhältnisse und die Darstellung über die Abwicklung eines RSHA-Transportes ist auch in vielen Punkten durch die Angeklagten und die oben genannten Zeugen bestätigt worden.

Von den Angeklagten und ihren Verteidigern ist die Übereinstimmung der verlesenen Schriften mit den handschriftlichen Originalen des früheren Lagerkommandanten Höss auch ernstlich nicht bestritten worden.

Das Gericht ist auch überzeugt, dass Höss in den Niederschriften die allgemeinen Dinge über die Gründung des Konzentrationslagers Auschwitz, die dortigen Verhältnisse, die Errichtung und Einrichtung der Krematorien und die Tatsachen über die Vernichtung der RSHA-Transporte richtig dargestellt hat. Seine Angaben sind insoweit glaubhaft. Denn aus dem verlesenen Inhalt der Aufzeichnungen ergibt sich, dass Höss sich mit grossem Eifer um Exaktheit und Sachlichkeit bemüht hat. Mit buchhalterischer Genauigkeit hat er die Einzelheiten geschildert. Da darüber hinaus seine Angaben in den Punkten, über die Zeugen gehört werden konnten, von diesen bestätigt worden sind, erschienen auch die anderen in den verlesenen Niederschriften geschilderten Tatsachen glaubhaft und zutreffend mit Ausnahme verschiedener Zeit- und Datumsangaben, bei denen sich eine gewisse Unsicherheit des Autors ergibt.

Die im zweiten Abschnitt getroffenen Feststellungen beruhen ferner auf der von Höss im Krakauer Untersuchungsgefängnis handschriftlich aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen Lagerordnung für das KL Auschwitz und andere Konzentrationslager. Eine Abschrift dieser Niederschrift wurde in der Hauptverhandlung verlesen. Auch hier hat sich der Sachverständige Dr. Broszat von der Übereinstimmung der Abschrift mit dem Original überzeugen können, so dass das Gericht keinen Zweifel hatte, dass die verlesene Abschrift mit der Urschriftsurkunde übereinstimmt. Das Gericht ist überzeugt, dass die von Höss niedergeschriebene Lagerordnung der damals tatsächlich im KL Auschwitz geltenden Lagerordnung entspricht. Diese Überzeugung stützt sich auf folgendes: Die von Höss in der Lagerordnung aufgezeigte innere Organisation der SS im KL Auschwitz ist von den Angeklagten als richtig bestätigt worden. Die Angeklagten haben auch, soweit sie sich über die Aufgabenbereiche ihrer Abteilungen geäussert haben - mit Ausnahme des Angeklagten Mulka - bestätigt, dass von Höss die Aufgaben dieser Abteilungen in der Lagerordnung zutreffend angegeben worden sind. Nur der Angeklagte Mulka bestreitet, dass ihm als Adjutanten - entgegen den Angaben von Höss - die Fahrbereitschaft unterstanden habe. Er behauptet ferner, dass er entgegen der von Höss niedergeschriebenen Lagerordnung weder die Geheimsachen zu bearbeiten noch das Geheimtagebuch zu führen gehabt habe.

Das Gericht ist jedoch überzeugt, dass Höss auch die dem Adjutanten des Lagerkommandanten zufallenden Aufgaben richtig aus dem Gedächtnis wiedergegeben hat. Denn mit dem Adjutanten, als seinem ersten Gehilfen, hatte er am meisten und engsten zusammenzuarbeiten. Es ist daher nur natürlich, dass er dessen Aufgaben am besten kannte. Zieht man weiter in Betracht, dass Höss - wie schon ausgeführt - um Genauigkeit bemüht war und die Aufgaben der übrigen Abteilungen zutreffend geschildert hat, so bestehen keine Zweifel, dass er auch in diesem Punkt nicht geirrt hat. Hinzu kommt aber noch, dass - wie noch bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka im Rahmen der dortigen Beweiswürdigung auszuführen sein wird - eine Reihe von Zeugen bestätigt haben, dass dem Adjutanten die Fahrbereitschaft unterstanden hat. Auch aus Urkunden, die noch zu erörtern sein werden, ergibt sich das gleiche.

Schliesslich beruhen die im zweiten Abschnitt getroffenen Feststellungen auch auf einem Bericht, den der Angeklagte Broad im Jahre 1945 für eine kleine englische Einheit, deren Aufgabe die Vernehmung von deutschen Kriegsgefangenen war, aus freien Stücken allein handschriftlich niedergeschrieben hat (sog. Broad-Bericht).

Dem Gericht lag zwar die Urschrift des Berichtes nicht vor. Es konnte daher nur eine Abschrift gemäss §249 StPO verlesen werden. Das Gericht hat sich jedoch von der genauen Übereinstimmung der Abschrift mit der Urschrift überzeugt. Der Zeuge Wi., der einen ausgezeichneten und glaubwürdigen Eindruck gemacht hat und klar, knapp und präzise aussagte, war damals in der genannten englischen Einheit. Er hat - nach seiner glaubhaften Schilderung - dem Angeklagten Broad, der sich freiwillig bei dem Vorgesetzten des Zeugen Wi., dem Zeugen van het Kaa., gemeldet und mündlich über das KL Auschwitz berichtet hatte und daraufhin aus dem Kriegsgefangenenlager herausgenommen und in dem Quartier der englischen Einheit untergebracht worden war, Bleistift und Papier zur Abfassung eines ausführlichen schriftlichen Berichtes gegeben. Broad hat dann, wie der Zeuge weiter glaubhaft ausgesagt hat, in einem Einzelzimmer allein mehrere Tage geschrieben und dann einen längeren handschriftlichen Bericht abgegeben. Der Zeuge, der die deutsche Sprache beherrscht, hat den Bericht Wort für Wort mit der Schreibmaschine abgeschrieben, eine dritte Person hat dabei nicht mitgeholfen. Auch hat niemand irgendwelche Zusätze oder Abstriche gemacht. Die von dem Zeugen Wi. gefertigte Abschrift lag dem Gericht vor und wurde verlesen. Dem Zeugen wurde die Abschrift zur Einsichtnahme vorgelegt. Er bestätigte, nachdem er sich den Bericht angesehen hatte, dass es die von ihm gefertigte Abschrift, die getreu dem Original entspräche, sei.

Die Angaben des Zeugen Wi. wurden in den wesentlichsten Punkten von dem Zeugen van het Kaa., der ebenfalls einen ausgezeichneten und glaubwürdigen Eindruck hinterlassen hat, bestätigt. Es besteht daher kein Zweifel, dass die verlesene Abschrift der handschriftlichen Urschrift entspricht.

Aus dem gesamten Inhalt des Berichtes ergibt sich, dass er von einem intelligenten Autor, der mitten in dem geschilderten Geschehen gestanden hat und, soweit es nicht seine eigene Person betraf, nichts verschweigen und beschönigen wollte, niedergeschrieben worden ist. Dem Bericht ist anzumerken, dass er aus einem eigenen persönlichen unmittelbaren Erleben heraus abgefasst worden ist. Er ist klar, verständlich und übersichtlich. Die geschilderten Verhältnisse im Lager sind, soweit eine Überprüfung möglich war, auch von anderen Angeklagten und Zeugen bestätigt worden. Das Gericht hat daher keine Bedenken, die im zweiten Abschnitt getroffenen Feststellungen auch auf diesen Bericht, zu dem der Angeklagte Broad nicht mehr in allen Punkten stehen wollte, zu stützen und - wie noch später bei der Erörterung der Straftaten der einzelnen Angeklagten auszuführen sein wird - zur Unterstützung anderer Beweismittel mit heranzuziehen.

3. Abschnitt:

Die Straftaten der Angeklagten

A. Die Straftaten des Angeklagten Mulka

I. Lebenslauf des Angeklagten Mulka

Der Angeklagte Mulka ist am 12.4.1895 als Sohn eines Postassistenten in Hamburg geboren. Er besuchte in Hamburg 3 Jahre die Volksschule und anschliessend die Realschule, die er 1911 mit der Obersekundareife verliess. Danach begann er eine kaufmännische Lehre bei der Export-Agentur-Firma Arndt und Cohn. Im August 1914 wurde er als Kriegsfreiwilliger zur Truppe eingezogen. Er war während des ersten Weltkrieges bei verschiedenen Pioniereinheiten in Frankreich, Russland und der Türkei eingesetzt. Sein letzter Dienstgrad war Leutnant der Reserve.

Nach dem ersten Weltkrieg meldete er sich auf Grund eines Aufrufes des damaligen Generalfeldmarschalls von Hindenburg zu der baltischen Landeswehr. Er nahm als Kompanieführer einer Pionierkompanie an den Kämpfen im Baltikum teil. 1920 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er eine Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter in einer Export-Agentur-Firma aufnahm.

Durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 20.4.1920 wurde der Angeklagte wegen Hehlerei zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten verurteilt. Ihm wurden ferner die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 2 Jahren aberkannt. Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Einheit des Angeklagten fuhr nach den Einsätzen im Baltikum mit der Eisenbahn nach Deutschland zurück. Im gleichen Zug befand sich ein gewisser Traugott. Dieser wurde unterwegs bei einer Kontrolle in Posheruny wegen des Verdachtes bolschewistischer Umtriebe festgenommen. Er übergab zuvor aber noch dem der Kompanie des Angeklagten angehörenden Unteroffizier Triebel 71000 Rubel mit der Bitte, diese einem Oberleutnant Bauermeister in Berlin zu überbringen. Triebel erklärte jedoch dem Angeklagten Mulka, seinem Kompanieführer, in Berlin, er wolle das Geld lieber mit nach Hause nehmen. Mulka machte daraufhin Triebel den Vorschlag, das Geld zu teilen. Beide teilten dann das Geld mit einem Feldwebel der gleichen Einheit.

Dem Angeklagten Mulka wurde später die Verbüssung der Strafe gegen Zahlung einer Geldbusse zur Bewährung ausgesetzt und schliesslich erlassen. Am 12.12.1936 wurde die Strafe auf Anordnung des Reichsministers der Justiz im Strafregister getilgt.

In der Export-Agentur-Firma arbeitete der Angeklagte bis zum Jahre 1931. Dann gründete er unter der Firma "Robert Mulka" eine selbständige Import-Export-Agentur, die auch im Handelsregister eingetragen wurde.

Der Angeklagte gehörte von 1928-1934 dem "Stahlhelm" an. Er sei im Jahre 1934 - so gibt er an - deswegen aus dem Stahlhelm ausgetreten, weil die Mitglieder des Stahlhelms zwangsläufig in die SA Reserve überführt worden seien. Auf Anregung des "Nationalverbandes deutscher Offiziere", dem der Angeklagte ebenfalls angehörte, stellte er sich der neuen deutschen Wehrmacht zur Verfügung. Er wurde als Oberleutnant der Reserve übernommen. In dem von ihm auszufüllenden Fragebogen verschwieg er die oben erwähnte Vorstrafe, weil sie - so gibt er an - damals bereits im Strafregister gelöscht gewesen sei. Als seine Vorstrafe dennoch bekannt wurde, wurde er aus dem Offizierskorps ausgeschlossen.

Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde der Angeklagte von der Wehrmacht nicht als Offizier übernommen. Man bot ihm an, als einfacher Soldat in die Wehrmacht einzutreten und sich hochzudienen. Das lehnte der Angeklagte jedoch ab. Durch Vermittlung eines Freundes, des Zeugen He., der persönliche Beziehung zur Waffen-SS hatte, wurde der Angeklagte im Jahre 1941 aufgrund freiwilliger Meldung von der Waffen-SS als Führer (Obersturmführer) übernommen. Er tat zunächst Dienst als Kompanieführer beim SS-Pionierbataillon I in Dresden. Da er unter Magenbeschwerden litt, kam er Ende 1941 nach Dresden in das Lazarett. Danach wurde er nur noch garnisonsverwendungsfähig Heimat (g.v.H.). Er wurde nun zum KZ Auschwitz als Kompanieführer einer Wacheinheit abkommandiert. Angeblich wusste er damals nicht, dass in Auschwitz ein Konzentrationslager war.

Dies will er erst bei seiner Meldung bei dem damaligen Lagerkommandanten Höss erfahren haben.

Zunächst war der Angeklagte in Auschwitz Kompanieführer der 1. Kompanie des Wachsturmbannes. Die 1. Kompanie erhielt ihre militärische Grundausbildung und wurde ausserdem zum Wachdienst für das KZ eingesetzt.

Im April 1942 nahm der Angeklagte während der Erkrankung des Adjutanten Obersturmführer Bräuning dessen Dienstgeschäfte wahr.

Durch Kommandanturbefehl Nr.8/42 vom 29.4.1942 (Ziff.20) wurde er vertretungsweise mit den Dienstgeschäften des Adjutanten beauftragt. Durch Kommandantursonderbefehl vom 8.5.1942 wurde der Lagerkommandant Betriebsdirektor sämtlicher in seinem Organisationsbereich befindlichen Betriebe, während der Angeklagte Mulka als Adjutant zum "Sachbearbeiter für betriebliche und wirtschaftliche Angelegenheiten" bestellt wurde. Durch Kommandantursonderbefehl vom 6.6.1942 wurde der Angeklagte mit sofortiger Wirkung von der Wachtruppe zum Kommandanturstab versetzt. Er nahm weiterhin die Geschäfte des Adjutanten wahr. Am 6.7.1942 wurde der Angeklagte aufgrund eines Sonderbefehles vom gleichen Tage zum "Stabsführer" im KL Auschwitz eingesetzt, nachdem durch Verfügung der Amtsgruppe D vom 1.7.1942 der SS-Obersturmführer Lanzius als Adjutant zum KL Auschwitz versetzt worden war.

In seiner Eigenschaft als Stabsführer hatte der Angeklagte Mulka folgende Aufgaben: Er hatte die gesamten Dienstgeschäfte des Kommandanturstabes zu führen und zu leiten. Ihm waren unterstellt:

1. Adjutantur

2. Führerpersonalien und sonstige Personalfragen

3. Gerichtsabteilung als Gerichtsoffizier

4. Abteilung VI - Truppenbetreuung

5. Schulung und Ausbildung der Aufseherinnen des FKL

Der Angeklagte Mulka war weiterhin als Stabsführer Sachbearbeiter für Wirtschaftsfragen in Vertretung des Betriebsdirektors der SS-Wirtschaftsbetriebe. Er hatte die Führung und Kontrolle der eigenen Wirtschaftsbetriebe des KL Auschwitz nach diesem Sonderbefehl zu übernehmen. Durch Kommandanturbefehl vom 7.8.1942 wurde der Befehl vom 6.7.1942 wieder aufgehoben.

Der Angeklagte Mulka, der inzwischen zum Hauptsturmführer befördert worden war, wurde nun endgültig als Adjutant des Lagerkommandanten eingesetzt. Daneben blieb die im Befehl vom 6.7.1942 getroffene Anordnung bezüglich des Angeklagten bestehen. Er blieb weiterhin Stabsführer und Sachbearbeiter für Wirtschaftsfragen. Er war mit Unterbrechungen durch Krankheit Adjutant bis zum 9.3.1943. Dann wurde er wegen einer abfälligen Äusserung nach einer Rede von Dr. Goebbels, die er der Ehefrau des SS-Sturmbannführers Bischoff gegenüber gemacht hatte, abgelöst, vorläufig festgenommen und nach Berlin gebracht. Auf der Fahrt nach Berlin erlitt er zwei schwere Magenkoliken. Deswegen wurde er am 10.3.1943 in das Lazarett Berlin-Lichterfelde eingeliefert. Anfang April kam er - wie er angibt - in das Untersuchungsgefängnis in Berlin-Schöneberg, in dem er - nach seiner Einlassung - ca. 3 Monate bis Juli 1943 blieb. Dann wurde er nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom Dienst suspendiert und nach Hamburg beurlaubt. Dort stellte er sich nach dem Beginn der Bombenangriffe auf Hamburg dem Höheren SS- und Polizeiführer "Nordsee", Graf von Bassewitz-Behr, zur Verfügung. Anfang 1944 wurde das gegen ihn schwebende Verfahren eingestellt. Zu gleicher Zeit kam er noch zur SS-Pionierschule in Hradiscko bei Prag, nachdem er sich wieder zur Truppe gemeldet hatte. Anfang 1945 wurde er wegen Krankheit nach Hamburg beurlaubt. Dort erlebte er das Kriegsende.

Am 8.6.1945 wurde er interniert. Er war dann bis zum 28.3.1948 in verschiedenen Internierungslagern in Haft. Von der Spruchkammer in Hamburg-Bergedorf wurde er wegen Kenntnis krimineller Tatbestände zunächst zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, später jedoch als Entlasteter in die Kategorie V eingestuft.

Der Angeklagte behauptet, er habe auf sämtlichen Fragebogen alle Angaben wahrheitsgemäss gemacht. Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen will er nie gewesen sein. Er habe zwar - so gibt er an - einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt, über seine Aufnahme sei jedoch niemals entschieden worden. Er sei nur Parteianwärter gewesen.

Er hat, wie sich aus seinem Schreiben vom 28.September 1939 an die NSDAP, Kreis II, Ortsgruppe Klosterstern in Hamburg ergibt, an diesem Tag einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt. In diesem Schreiben heisst es unter anderem wörtlich wie folgt: "Eine vollständige und geschlossene Akte über meine (Mulkas) Unternehmungen mit Bezug auf die gemeldete Strafe des Systemgerichtes von 1919 befindet sich im Besitz meines Anwaltes." In dem Schreiben des Mitgliedschaftsamtes München vom 16.Dezember 1940 an den Gauschatzmeister des Gaues Hamburg der NSDAP in Hamburg heisst es in bezug auf die "Aufnahme des Volksgenossen Robert Mulka, geboren am 12.4.1895" unter anderem wie folgt wörtlich: "Dem Antrag auf Aufnahme (in die NSDAP) wird nunmehr mit Wirkung vom 1.Februar 1940 stattgegeben. Robert Mulka wird nunmehr in die Reichskartei mit Aufnahmedatum 1.Februar 1940 unter der im Betreff genannten Mitgliedsnummer (7848085) und Zuteilung zur Ortsgruppe Hamburg mit obiger Anschrift eingetragen. Bei Aushändigung der beiliegenden Mitgliedskarte ...."

Der Angeklagte hat im Jahre 1920 geheiratet. Aus seiner Ehe sind eine Tochter und zwei Söhne hervorgegangen. Ein Sohn ist am 14.4.1945 gefallen. Seit dem Jahre 1948 betätigt sich der Angeklagte wieder als selbständiger Kaufmann. Der Angeklagte Mulka befand sich vom 8.11.1960 bis zum 6.3.1961 und vom 29.5.1961 bis zum 13.12.1961, vom 22.2.1964 bis zum 22.10.1964 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Seit dem 3.12.1964 ist er erneut inhaftiert.

II. Die Mitwirkung des Angeklagten Mulka an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)

Der Angeklagte Mulka hat als Adjutant des Lagerkommandanten Höss bei der massenweisen Tötung der sog. RSHA-Juden (vgl. oben 2. Abschnitt VII, 5) mitgewirkt.

In der Zeit, während er Adjutant war, kamen die Eisenbahntransporte mit sog. RSHA-Juden nur auf der alten Rampe in Auschwitz an. Sie wurden jeweils vom RSHA oder der einweisenden Gestapodienststelle, die davon dem RSHA Mitteilung machte, der Kommandantur des Lagers, nicht etwa der Politischen Abteilung, durch Fernschreiben, Funksprüche oder durch gewöhnliche Geheimschreiben angekündigt. Beim Eintreffen der angekündigten Transporte verständigte der Adjutant oder ein anderes Mitglied des Kommandanturstabes telefonisch die verschiedenen Abteilungen des Lagers sowie den Wachsturmbann von der Ankunft des betreffenden RSHA-Transportes und befahl, dass die für den Rampendienst eingeteilten Führer, Unterführer und Männer sich auf die Rampe zu begeben hätten. Die "Abwicklung" eines für die Vernichtung bestimmten RSHA-Transportes war bis ins einzelne organisiert. Bei den verschiedenen Abteilungen des Lagers und beim Wachsturmbann war hierfür ständig ein sog. "Rampendienst" eingeteilt. Die Schutzhaftlagerführung stellte den "Diensthabenden Führer", dessen Aufgabe es war, die Empfangnahme, Einteilung und Vernichtung der in einem Transport angekommenen Menschen zu leiten und zu beaufsichtigen. Vom Wachsturmbann wurde eine bewaffnete Kompanie zum Rampendienst geführt. Sie hatte vor dem Einlaufen des Zuges oder, falls dieser bereits an der Rampe stand, vor dem Aussteigen der in den geschlossenen Wagen wartenden Menschen, in einer gewissen Entfernung von der Rampe um diese einen dichten geschlossenen Ring bewaffneter Wachtposten zu bilden, um Fluchtversuche der angekommenen Menschen nach dem Aussteigen zu verhindern und um Unbefugten den Zutritt zur Rampe zu verwehren. Wenn die Postenkette stand, gab der diensthabende SS-Führer das Zeichen zum Öffnen der Waggons.

Daraufhin öffneten die eingeteilten Blockführer die Waggons und liessen die eingepferchten Menschen aus den Wagen auf die Rampe aussteigen. Das Gepäck blieb auf Befehl der SS-Männer in den Wagen zurück. Es wurde von einem Häftlingskommando unter Führung eines SS-Unterführers oder SS-Mannes ausgeladen, auf die LKWs gebracht und dann in das bereits oben erwähnte Lager "Kanada" gefahren. Das Häftlingskommando holte auch die Leichen der unterwegs verstorbenen Menschen aus den Waggons heraus und trug sie zu anderen LKWs, die sie zu den den Krematorien fuhren.

Die ausgestiegenen Menschen mussten auf Befehl des Rapportführers und der Blockführer in Fünferreihen antreten. Dabei trennten die SS-Unterführer und SS-Männer Frauen mit Kindern, alte Menschen, Krüppel, Kranke und Kinder unter 16 Jahren als arbeitsunfähig von den anderen und liessen sie gesondert Aufstellung nehmen. Die übrigen Männer und Frauen traten in getrennten Kolonnen in Fünferreihen an. Der Transportführer des Zuges übergab die Transportpapiere mit der Anzahl der deportierten Menschen einem Vertreter der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung. Dieser liess die angetretenen Menschen zählen und verglich die festgestellte Anzahl mit der in den Transportpapieren angegebenen Zahl. Hiernach rückten die Männer und Frauen, die nicht von vornherein als arbeitsunfähig ausgesondert worden waren, auf Befehl der SS-Männer vor und defilierten an den an der Spitzeder beiden Kolonnen stehenden SS-Ärzten und SS-Führern vorbei. Aufgabe der Ärzte war es, die Arbeitsfähigen aus den vorbeimarschierenden Menschen auszuwählen. Dies geschah nach oberflächlicher Betrachtung (gelegentlich unter Befragung nach Alter und Beruf) in der Weise, dass der Arzt mit einer kurzen Handbewegung die Menschen entweder nach rechts oder nach links schickte. Die einen, die der Arzt als arbeitsfähig beurteilt hatte, mussten auf der einen Seite - etwas abgesondert von der Masse der übrigen Menschen - Aufstellung nehmen, während die als arbeitsunfähig beurteilten Menschen nach der anderen Seite in der grösseren Kolonne weitergingen, die dann schliesslich in die Gaskammern geführt wurde. Als arbeitsfähig wurden jeweils zwischen 10 und 15%, selten mehr, jedoch nicht über 25% des betreffenden Transportes ausgesondert.

Ab und zu kam es auch vor, dass ein Transport aus besonderen Gründen geschlossen in das Gas geführt wurde.

Die Arbeitsfähigen wurden später unter Bewachung eines SS-Kommandos in das Schutzhaftlager geführt, dort gebadet, geschoren, eingekleidet und dann in der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung karteimässig erfasst und in die Lagerstärke aufgenommen. Sie wurden aber nicht wie Schutzhaftgefangene erkennungsdienstlich behandelt. Auf der Karteikarte dieser sog. RSHA-Juden wurde als Einweisungsgrund vermerkt: "Gemäss Erlass des RSHA ..... vom ..... Nr. ....."

Häufig wurden Ärzte, Apotheker und sonstiges Sanitätspersonal schon vor der eigentlichen Auswahl durch den Arzt herausgerufen und auf die Seite der Arbeitsfähigen gestellt. Sie wurden dann ebenfalls in das Lager geführt. War gerade Bedarf an bestimmten Berufen (z.B. Schuster, Schneider, Elektriker usw.) so wurde dies häufig durch den Arbeitseinsatzführer bekanntgegeben. Personen, die sich als Angehörige dieser gesuchten Berufe meldeten, wurden nach kurzer Prüfung zu den Arbeitsfähigen gestellt. Während dieser Aktion, die sich längere Zeit hinzog, achteten SS-Unterführer und Blockführer darauf, dass die Angehörigen des Häftlingskommandos, die das Gepäck auszuladen hatten, nicht mit den angekommenen Menschen sprachen. Dies war streng verboten. Das Sprechverbot sollte verhindern, dass die Deportierten vorzeitig von ihrem bevorstehenden Schicksal erführen. Von ihrem bevorstehenden Tod ahnten sie nichts. Die angekommenen Menschen durften sich auch nicht untereinander unterhalten. Dies wurde ihnen nach dem Aussteigen sofort bekanntgegeben. Die SS-Angehörigen hatten auf die Einhaltung des Verbotes zu achten. Die Häftlinge des Häftlingskommandos wurden besonders von Angehörigen der Politischen Abteilung beobachtet. Diese hatten aber auch ihr Augenmerk auf die beim Rampendienst tätigen SS-Angehörigen zu richten. Nach der getroffenen Auswahl hatten die SS-Männer ferner zu verhindern, dass sich die für den Gastod bestimmten Menschen wieder zu den arbeitsfähigen stellten - etwa, um mit einem Verwandten oder Bekannten zusammenbleiben zu können. Blockführer und Angehörige der Politischen Abteilung durchsuchten auch die Waggons nach zurückgebliebenen Menschen.

Den als arbeitsunfähig beurteilten Menschen erklärte man, dass sie gebadet würden und dann zu arbeiten hätten.

Häufig kam es vor, dass Familien zusammenbleiben wollten. Man beruhigte sich bei der Trennung auf der Rampe, dass sie nach dem Baden bald wieder im Lager zusammenkommen würden. Kranke und nicht gehfähige Personen wurden ab Herbst 1942 mit Lastkraftwagen der Fahrbereitschaft, die im September 1942 eigens zu diesem Zweck angeschafft worden waren, zu den Gaskammern transportiert.

Als die ersten RSHA-Transporte noch im kleinen Krematorium vergast wurden, mussten sich die Menschen im Vorhof dieses Krematoriums entkleiden. Sie wurden dann nackt und ahnungslos in den Vergasungsraum hineingetrieben. Wenn alle, die sich in dem Vorhof entkleidet hatten, im Vergasungsraum waren, wurde dieser von aussen verriegelt. Zwei SS-Männer, die dem sog. Vergasungskommando angehörten und im Umgang mit Zyklon B ausgebildet worden waren, schütteten dann Zyklon B durch zwei Öffnungen von oben in den Vergasungsraum hinein. Das Zyklon B befand sich in körnigem Zustand in verschlossenen Blechdosen. Die SS-Männer öffneten die Dosen unter dem Schutz von Gasmasken erst unmittelbar vor dem Einschütten. Sobald die Körner des Zyklon B durch die Öffnungen in Vergasungsraum hineinrieselten und mit Luft in Berührung kamen, entwickelten sich Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen in einigen Minuten qualvoll erstickten. Dabei spielten sich fürchterliche Szenen ab. Die Menschen, die nun merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten, schrien und tobten und schlugen mit den Fäusten gegen die verschlossenen Türen und gegen die Wände. Da sich das Gas vom Boden des Vergasungsraumes aus nach oben ausbreitete, starben die kleinen und schwächlichen Menschen zuerst. Die anderen stiegen dann in ihrer Todesangst auf die am Boden liegenden Leichen, um noch etwas Luft zu erhalten, bis sie schliesslich selbst qualvoll erstickt waren. Um die Todesschreie der im Vergasungsraum befindlichen Menschen zu übertönen, liess man beim kleinen Krematorium häufig Lastkraftwagenmotoren laufen oder SS-Männer mit Motorrädern um das kleine Krematorium herumfahren. Gleichwohl war das Geschrei meist noch in den benachbarten Gebäuden zu hören.

Bei den umgebauten Bauernhäusern, in denen die RSHA-Transporte ab Sommer 1942 in gleicher Weise mit Zyklon B getötet wurden, befanden sich mehrere Baracken, in denen sich die zum Tode bestimmten Menschen auszukleiden hatten. Schilder mit der Aufschrift "Zum Baderaum" und zur "Desinfektion" wiesen zu den Gaskammern in den umgebauten Häusern hin. Die Schilder sollten den Menschen vorspiegeln, dass sie gebadet und desinfiziert würden. Auch hier gingen die Menschen ahnungslos in die Gaskammern hinein. Nach der Verriegelung der Gaskammern wurde das Zyklon B ebenfalls von Angehörigen des Vergasungskommandos durch Öffnungen von oben in die Vergasungsräume hineingeschüttet. Danach spielten sich die gleichen - bereits geschilderten - Szenen ab, bis alle eingeschlossenen Menschen tot waren.

Für die Krematorien I-IV, bei denen sich die Entkleidungs- und Vergasungsräume unter der Erde und die Verbrennungsöfen über der Erde, jedoch im gleichen Gebäude befanden, wurde ein SS-Sonderkommando unter Führung eines SS-Unterführers gebildet.

Die Krematorien selbst wurden durch eine Postenkette aus SS-Männern gesichert. Das Betreten des durch die Posten gesicherten Gebietes war allen Häftlingen und SS-Angehörigen, die nicht unmittelbar mit den Vergasungen zu tun hatten, streng untersagt. Angehörige des SS-Sonderkommandos nahmen die zum Tode bestimmten Menschen, wenn sie von den begleitenden SS-Männern herangeführt worden waren, in Empfang. Sie führten sie dann in die Entkleidungsräume, die unmittelbar vor den Gaskammern lagen. Unruhige und misstrauische Personen wurden - wie es auch schon bei den umgebauten Bauernhäusern geschehen war - unauffällig beiseite genommen und abseits unbemerkt von den anderen durch Genickschüsse getötet. In den Entkleidungsräumen waren Haken zum Aufhängen der Kleider angebracht.

Die SS-Männer schärften den Menschen, die sich völlig entkleiden mussten, ein, sie sollten ihre Kleider und Schuhe sorgfältig aufbewahren und sich die Haken merken, an denen sie ihre Sachen aufgehängt hätten, damit sie ihre Sachen nach dem Duschen wiederfänden. Um die dem Tode Geweihten bis zuletzt über ihr bevorstehendes Schicksal zu täuschen, gingen SS-Männer mit ihnen in die Gaskammern hinein. Erst, wenn alle in den Gaskammern waren, sprangen die SS-Männer heraus und verriegelten die Türen überraschend von aussen. Darüber hinaus hatte man, um auch das letzte Misstrauen zu zerstreuen, in den Gaskammern der Krematorien I und II Attrappen von Brausen angebracht, die einen Duschraum vortäuschen sollten. Zur Tarnung der in der Decke befindlichen Öffnungen, durch die das Zyklon B von aussen hineingeschüttet wurde, hatte man aus durchlöchertem Blech bestehende hohle Säulen installiert, die vom Boden bis zur Decke reichten und die Öffnungen verdeckten. In den Säulen befanden sich Spiralen, die das gekörnte Zyklon B nach dem Einschütten verteilten.

In den Krematorien III und IV waren keine imitierten Brausen und keine Säulen. Hier wurde das Zyklon B durch ein kleines Seitenfenster von den Angehörigen des Vergasungskommandos hineingeschüttet.

Auch in den Gaskammern der Krematorien I bis IV starben die Menschen nach dem Einschütten des Zyklon B durch das sich entwickelnde Gas in der gleichen Weise wie in den Gaskammern des kleinen Krematoriums und der umgebauten Bauernhäuser. Bei den Vergasungen hatte ein Arzt dabei zu sein. Er gab den SS-Männern des Vergasungskommandos das Zeichen zum Einschütten des Zyklon B. Während des Einschüttens des Zyklon B überwachte er die damit beschäftigten Desinfektoren, um im Falle einer Vergiftung sofort eingreifen und ärztliche Hilfe geben zu können. Danach beobachtete er durch ein Guckloch den Todeskampf der eingeschlossenen Menschen. Waren nach seiner Meinung alle tot, gab er dem SS-Kommandoführer den Befehl zum Öffnen der Gaskammer. Dann stellte er den Tod der Opfer fest und gab die Leichen zur Verbrennung frei. Die Leichen wurden nun von einem jüdischen Sonderkommando, das in Block 13 des Lagerabschnittes B II d - isoliert von den anderen Häftlingen des Lagers - und später in den Krematorien selbst untergebracht war, herausgezerrt. In den Krematorien I bis IV wurden sie anschliessend, nachdem ihnen durch Häftlinge die Goldzähne entfernt und den weiblichen Leichen die Haare abgeschnitten worden waren, in den Verbrennungsöfen verbrannt. Von den Vergasungsräumen waren Aufzüge zu den Öfen gebaut worden, damit die Leichen schneller zu den Verbrennungsöfen transportiert werden konnten.

Als die Krematorien I bis IV noch nicht in Betrieb waren, musste das jüdische Sonderkommando - wie oben schon erwähnt - die Leichen zunächst in langen Gruben begraben und später in langen ausgehobenen Gräben verbrennen. Letzteres geschah auch noch später, wenn Vergasungen im Bunker V stattfanden. Die Büchsen mit dem Zyklon B wurden mit einem Rot-Kreuz-Wagen, mit dem meist auch der Arzt und die Angehörigen des Vergasungskommandos fuhren, zu den Gaskammern nach Birkenau gebracht.

Die Oberaufsicht bei dem gesamten Vergasungsvorgang hatte - jedenfalls 1942 bei den umgebauten Bauernhäusern - der Schutzhaftlagerführer oder der Rapportführer. Häufig war auch der Lagerkommandant selbst bei der Empfangnahme, Einteilung und Tötung eines RSHA-Transportes, sowohl auf der Rampe als auch anschliessend bei den Gaskammern dabei. Er übte dann die Oberaufsicht aus. Er hielt seine häufige Anwesenheit für erforderlich, um die genaue Ausführung der gegebenen Befehle zu überwachen und die SS-Führer, Unterführer und SS-Männer in ihrem Dienst psychisch zu stärken. Alle SS-Angehörigen, die bei den Vergasungsaktionen mitwirkten, erhielten Sonderzuteilungen aus Schnaps, Zigaretten und Lebensmitteln. Die Gutscheine für diese Dinge teilte der diensthabende SS-Führer (Schutzhaftlagerführer) aus.

Nach Beendigung einer jeden Aktion meldete die Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung über den Leiter der Politischen Abteilung, der die Meldung unterschrieb, an das RSHA - meist per Fernschreiben - wieviel Menschen getötet und wieviel Menschen in das Lager aufgenommen worden waren. Getötet wurde getarnt mit Ausdrücken wie "gesondert untergebracht" oder es wurden Buchstaben verwendet: a. bedeutete in das Lager aufgenommen, b. bedeutete "vergast". Die Fernschreiben mussten vor ihrem Abgang vom Adjutanten abgezeichnet werden. Ohne das Namenszeichen des Adjutanten durfte die Fernschreibstelle kein Fernschreiben durchgeben.

Der Angeklagte Mulka hat als Adjutant des Lagerkommandanten Höss an mindestens drei verschiedenen Tagen nach Ankündigung je eines RSHA-Transportes persönlich die verschiedenen Abteilungen des Lagers von der Ankunft der Transporte telefonisch benachrichtigt und die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben. Er war auch selbst in einer unbestimmten Anzahl von Fällen bei der Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe. In mindestens einem Fall war er bei einer solchen Aktion der ranghöchste Offizier auf der Rampe. In diesem Fall hat er die Oberaufsicht geführt. Dabei ereignete sich folgendes: 2 SS-Unterführer brachten einen Häftling des Häftlingskommandos zu dem Angeklagten Mulka. Sie meldeten ihm, der Häftling - die SS-Männer sagten "das Schwein" - habe mit den Zugängen gesprochen. Mulka gab daraufhin den Befehl, wobei er auf seine Uhr schaute: "Macht ihn fertig, es ist spät!" Die beiden SS-Unterführer schlugen daraufhin auf den Häftling mit Knüppeln ein, bis er tot war. Die Leiche wurde dann weggebracht.

Ob der Angeklagte Mulka bei der Anwesenheit auf der Rampe als ranghöchster SS-Führer oder bei anderen Gelegenheiten auch selbst arbeitsfähige Juden ausgesondert hat, konnte nicht festgestellt werden. Er hat jeweils durch seine Anwesenheit die anderen SS-Führer, Unterführer und SS-Männer darin bestärkt, den Rampendienst gemäss den ihnen gegebenen Befehlen strikt durchzuführen.

Der Angeklagte Mulka, dem als Adjutant auch die Fahrbereitschaft unterstand, war auch für den Einsatz der LKWs, die die Kranken und nicht gehfähigen jüdischen Menschen zu den Gaskammern brachten, verantwortlich. Der Fahrbereitschaft war eine generelle Anweisung erteilt worden, dass für den Transport dieser Menschen LKWs, die eigens zu diesem Zweck angeschafft worden waren, in Bereitschaft zu halten seien. War ein RSHA-Transport angekündigt, so wurde die Fahrbereitschaft daraufhin benachrichtigt und angewiesen, die für den Rampendienst eingeteilten LKW-Fahrer mit ihren Fahrzeugen zur Rampe zu schicken. In mindestens den drei genannten Fällen hat Mulka auch die Fahrbereitschaft benachrichtigt und den Einsatzbefehl für die LKW-Fahrer an die Fahrbereitschaft durchgegeben. Ob er persönlich auch die genannte generelle Anweisung für den Einsatz der LKWs gegeben hat oder ob das durch den Lagerkommandanten selbst geschehen ist, konnte nicht festgestellt werden.

Der Angeklagte Mulka hat auch bei der Beschaffung von Zyklon B, mit dem die jüdischen Menschen in den Gaskammern getötet wurden, mitgewirkt.

Für Fahrten mit Kraftfahrzeugen über 200 km Strecke (Hin- und Rückfahrt) war sowohl im Heimatkriegsgebiet als auch im besetzten Gebiet die vorherige schriftliche Genehmigung eines Befehlshabers mit der Stellung eines kommandierenden Generals oder Admirals erforderlich. Der Angeklagte Mulka hat in mindestens einem Fall, nämlich am 2.10.1942, eine Fahrzeuggenehmigung für einen 5 t LKW mit Anhänger zur Abholung von Zyklon B für die Tötung von sog. RSHA-Juden in den Gaskammern von Auschwitz beim WVHA beantragt. Auf seinen Antrag hin wurde die Genehmigung durch Funkspruch vom gleichen Tage erteilt. Der Funkspruch hat folgenden Wortlaut:

Funkspruch Nr.16
WVHA angekommen: 2.10.1942 1632
                           an KL - Au
Betr.: Fahrgen.
Bezug: Dort. Antrag vom 2.10.1942

Fahrgenehmigung für einen 5 t LKW mit Anhänger nach Dessau und zurück, zwecks Abholung von Materialien für die Judenumsiedlung, wird hiermit erteilt.

Dem Kraftfahrer ist diese Fahrgenehmigung mitzugeben.

gez. Liebehenschel
SS-Obersturmbannführer
ständiger Vertreter des Leiters der Dienststelle im Range eines Generalleutnants der Waffen-SS.
F.d.R. gez. Selle
Funkstellenleiter
f.d.R.d.A.
A.B. gez. Mulka
Hauptsturmführer und Adjutant.

Der Angeklagte gab die von ihm beglaubigte Abschrift des Funkspruchs an die Fahrbereitschaft weiter, wo sie dem Fahrer des LKWs für die Fahrt nach Dessau ausgehändigt wurde. Der Fahrer, dessen Namen nicht festgestellt werden konnte, holte dann das Zyklon B in Dessau ab und brachte es zu dem Konzentrationslager Auschwitz, wo es für die Vergasung von Menschen, insbesondere von RSHA-Juden, in den Gaskammern verwendet wurde.

Der Angeklagte wusste, dass der Ausdruck "Materialien für Judenumsiedlung" nur eine Tarnbezeichnung war und dass in Wirklichkeit Zyklon B für die Vergasung von jüdischen Menschen abgeholt werden sollte.

Schliesslich hat sich der Angeklagte Mulka, nachdem der Bau der vier neuen Krematorien mit den dazugehörigen Gaskammern begonnen war, um die rasche Herstellung der für die Gaskammern der Krematorien II und III erforderlichen gasdichten Türen und Fenstern bemüht.

Er war - wie oben schon ausgeführt - Sachbearbeiter für die DAW. Der Leiter der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei in Auschwitz, SS-Sturmbannführer Bischoff, hatte unter anderem bei den DAW drei gasdichte Türen und eine Tür mit Guckloch für die Gaskammern der Krematorien bestellt. Der Angeklagte Mulka kam als Sachbearbeiter wiederholt in das Betriebsbüro der DAW und erkundigte sich nach der Fertigstellung der Türen und drängte auf die schnelle Ausführung des Auftrages. Die Türen wurden nach ihrer Fertigstellung in die Krematorien II und III eingebaut.

Durch die geschilderten Handlungen hat der Angeklagte Mulka bei der Tötung von mindestens je 750 Menschen aus vier verschiedenen RSHA-Transporten, die zu verschiedenen Zeiten in Auschwitz angekommen sind, mitgewirkt.

Dem Angeklagten Mulka war bekannt, dass die jüdischen Menschen, die mit den sog. RSHA-Transporten ankamen, in den Gaskammern getötet wurden, soweit sie nicht als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen wurden. Er wusste auch, dass sie nur deshalb getötet wurden, weil sie Juden waren. Er war auch darüber informiert, dass die Deportationen der Juden nach Auschwitz unter strengster Geheimhaltung und unter Verwendung von Tarnbezeichnungen erfolgten und dass die Juden in der oben geschilderten Weise über ihr bevorstehendes Schicksal bis zuletzt getäuscht wurden und daher ahnungslos in die Gaskammern hineingingen. Er kannte auch die Ängste, den Schrecken und die Todesqual, die die Opfer jeweils ergriffen, wenn das Gas eingeschüttet worden war und die Opfer merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten. Dem Angeklagten Mulka war auch klar, dass er durch die Benachrichtigung der verschiedenen Abteilungen im Lager nach der Ankündigung der RSHA-Transporte jeweils den gesamten organisierten Vernichtungsapparat in Gang setzte und durch seine Anwesenheit auf der Rampe, durch die Bemühungen um die Beschaffung des Zyklon B und die schnelle Fertigstellung der gasdichten Türen, durch den Einsatz der Fahrbereitschaft, die ihm unterstand und für die er verantwortlich war, selbst auch einen Beitrag zu den Massentötungen leistete.

III. Die Einlassung des Angeklagten Mulka

Der Angeklagte Mulka hat die ihm zur Last gelegte Tat bestritten. Er hat sich dahin eingelassen, dass er erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 erfahren habe, dass in Auschwitz Menschen erschossen und vergast würden. Er habe auch davon gehört, dass Gaskammern in Auschwitz seien, in denen Menschen durch Gas getötet würden. Er selbst habe aber die Gaskammern nicht gesehen, auch habe er nichts mit den Vergasungen zu tun gehabt. Nur den Gesprächen mit anderen SS-Angehörigen habe er entnommen, dass Vergasungsanlagen tief im Gelände in umgebauten Bauernhäusern sein müssten.

Auf der Rampe sei er nie gewesen, wenn RSHA-Transporte angekommen seien. Die Rampe habe er nur ein einziges Mal besichtigt, als sie leer gewesen sei. Mit der Abwicklung der RSHA-Transporte habe er nichts zu tun gehabt. Hierfür sei die Politische Abteilung verantwortlich gewesen. Die Politische Abteilung habe auch die verschiedenen Stellen im Lager von der Ankunft der RSHA-Transporte benachrichtigen müssen. Die Fernschreibstelle habe ihm als Adjutanten zwar unterstanden, er habe sie aber nie besucht, er habe sich auch nie um die Bücher gekümmert, in denen die ankommenden und abgehenden Fernschreiben hätten eingetragen werden müssen. Allerdings habe er verschiedene Fernschreiben selbst gesehen. Drei- bis viermal seien Fernschreiben vom RSHA gekommen, mit denen Transporte von Juden avisiert worden seien. Die Fernschreibstelle habe diese Fernschreiben zu ihm gebracht, damit er sie dem Kommandanten vorlege. Das habe er auch getan und die Fernschreiben anschliessend durch eine Ordonnanz zur Politischen Abteilung geschickt, da diese für die Abwicklung der Transporte verantwortlich gewesen sei.

Die Fahrbereitschaft habe ihm als Adjutant sachlich nicht unterstanden. Er habe nur die Disziplinargewalt über die Angehörigen der Fahrbereitschaft gehabt.

Fahrgenehmigungen für Fahrten über 30 km habe er nie eingeholt, auch nie eine Genehmigung für eine Fahrt zum Abholen von Zyklon B.

Ursprünglich hat der Angeklagte Mulka auch in Abrede gestellt, davon gewusst zu haben, dass Fahrbefehle für die Abholung von Zyklon B ausgestellt und unterzeichnet worden seien. Auf die Frage, wie das Zyklon B beschafft worden sei, hat er zuerst erklärt, dass die Anforderung von Zyklon B "Geheime Reichssache" gewesen sei. Auf die weitere Frage, woher er das denn gewusst habe, gab der Angeklagte die ausweichende Antwort, er könne die Frage nicht beantworten.

Erst als ihm in der Sitzung vom 11.9.1964 der oben zitierte Funkspruch vom 2.10.1942 vorgehalten worden ist, musste er einräumen, dass er diesen Funkspruch gesehen und die Richtigkeit der Abschrift dieses Funkspruchs als Adjutant bescheinigt habe. Er räumte auch ein, gewusst zu haben, dass "Judenumsiedlung" Vergasung bedeutet habe und dass das Wort "Materialien" eine Tarnbezeichnung für Zyklon B gewesen sei.

Der Angeklagte Mulka hat ferner behauptet, er habe niemals das Schutzhaftlager betreten. Auch hat er in Abrede gestellt, dass er etwas von Standgerichtsverhandlungen im Block 11 gewusst habe und dass er als Adjutant die Verschluss- und Geheimsachen verwaltet und das Geheimtagebuch geführt habe. Schliesslich hat er geleugnet, Meldungen der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung über die durchgeführten Vergasungen von Juden an das RSHA gesehen zu haben.

IV. Beweiswürdigung

1. Allgemeine Vorbemerkung zur Beweiswürdigung

Bei der Feststellung der individuellen Beteiligung der Angeklagten an den in dem Konzentrationslager Auschwitz begangenen Mordtaten, sei es an Massenmorden, sei es an Einzeltötungen, sah sich das Schwurgericht vor ausserordentlich schwierige Aufgaben gestellt. Die Angeklagten selbst trugen zur Aufklärung nur sehr wenig bei. Soweit sie eine Beteiligung zugaben, schwächten sie diese ab, stellten sie verzerrt dar oder hatten stets eine Reihe von Ausreden zur Hand.

Die wenigen zur Verfügung stehenden Urkunden dienten im wesentlichen nur der Aufklärung allgemeiner Dinge, konnten jedoch über die individuelle Schuld der Angeklagten kaum Aufschluss geben.

Das Gericht war somit bei der Aufklärung der von den Angeklagten begangenen Verbrechen fast ausschliesslich auf Zeugenaussagen angewiesen. Ist ein Zeuge schon nach allgemeiner Erfahrung nicht immer ein sicheres Beweismittel, so galt dies in diesem Prozess um so mehr, weil die Zeugen über Dinge aussagen mussten, die bereits 20 Jahre zurückliegen. Hinzu kommt, dass kaum Zeugen vorhanden waren, die als neutrale Beobachter die Vorfälle im KZ Auschwitz miterlebt haben. Die Zeugen, die als ehemalige Angehörige der Waffen-SS im KL Auschwitz tätig waren, waren fast ausnahmslos in das damalige Geschehen irgendwie verstrickt. Das führte dazu, dass sie in ihren Aussagen eine auffällige Zurückhaltung zeigten, Erinnerungslücken vorschützten und sich scheuten, die Angeklagten zu belasten, offensichtlich aus der Erwägung heraus, dass sie nach belastenden Aussagen selbst von den Angeklagten belastet werden könnten. Die Aussagen dieser Zeugen waren daher - von geringen Ausnahmen abgesehen - meist wenig ergiebig.

Bei einer Reihe dieser Zeugen war es sogar offensichtlich, dass sie die Unwahrheit sagten.

Das Gericht war daher bei der Erforschung der Wahrheit im wesentlichen auf die Aussagen der ehemaligen Häftlinge angewiesen. Wenn auch ein grosser Teil dieser Zeugen ernstlich bemüht war, ihr Gedächtnis zu erforschen und die reine Wahrheit zu sagen, so musste das Gericht jedoch berücksichtigen, dass viele mögliche Fehlerquellen den Wert und den Wahrheitsgehalt dieser Zeugenaussagen in Frage stellen konnten. Fast alle Zeugen haben ihre Beobachtungen in unsäglichem Leid, von Hunger gepeinigt und unter ständiger Angst um ihr eigenes Leben gemacht. Die Namen der SS-Angehörigen waren ihnen vielfach nicht bekannt. Im Lager wurde damals über die allgemeinen Geschehnisse und über die an Einzelvorfällen beteiligten SS-Angehörigen viel gesprochen. Gerüchte breiteten sich in Windeseile unter den Häftlingen aus. Sie vergröberten und verfälschten nicht selten manche Geschehnisse. Namen von beteiligten SS-Leuten wurden verwechselt.

Für die Zeugen war es nun ausserordentlich schwer, zu unterscheiden zwischen dem, was sie selbst persönlich erlebt hatten und dem, was ihnen von anderen berichtet worden war, sei es im Lager, sei es erst später nach der Befreiung. Es bedarf keiner Frage, dass die Gefahr bestand, dass Zeugen guten Glaubens Dinge als eigene Erlebnisse darstellten, die ihnen in Wirklichkeit von anderen berichtet worden waren oder die sie nach der Befreiung in Büchern und Zeitschriften, die sich mit den Geschehnissen in Auschwitz beschäftigten und in grosser Zahl vorhanden sind, gelesen hatten. Weiter musste berücksichtigt werden, dass nach 20 Jahren Erinnerungslücken auftreten konnten, die die Zeugen unbewusst ausfüllten. Vor allem bestand hierbei die Gefahr, dass Zeugen Vorfälle, die sie im KL Auschwitz selbst erlebt hatten, guten Glaubens auf andere Personen, insbesondere die in diesem Verfahren angeklagten früheren SS-Angehörigen projizierten. Das Schwurgericht hat diese Gefahr stets im Auge behalten und bei allen Zeugenaussagen, die konkrete Belastungen eines bestimmten Angeklagten enthielten, sorgfältig geprüft, ob nicht die Möglichkeit einer Verwechslung bestünde.

Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass die Zeugen - verständlicherweise - nur selten genaue Angaben über Ort und Zeitpunkt bestimmter Vorfälle machen konnten. Wenn es auch oft als eine Zumutung und Überforderung der Zeugen erschien, sie nach konkreten Einzelheiten ihrer Erlebnisse, nach dem Aussehen der an bestimmten Vorfällen beteiligten SS-Männer, nach dem Ort und der Zeit der Geschehnisse zu fragen und von ihnen eine genaue Beschreibung der Örtlichkeiten zu verlangen, so hielt dies das Schwurgericht zur Aufklärung der schweren Vorwürfe, die den Angeklagten gemacht werden, trotzdem für erforderlich, um die Gefahr von Verwechslungen und wahrheitswidrigen Angaben auszuschalten. Denn dem Gericht fehlten fast alle in einem normalen Mordprozess zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten, um sich ein getreues Bild des tatsächlichen Geschehens im Zeitpunkt des Mordes zu verschaffen. Es fehlten die Leichen der Opfer, Obduktionsprotokolle, Gutachten von Sachverständigen über die Ursache des Todes und die Todesstunde, es fehlten Spuren der Täter, Mordwaffen usw. Eine Überprüfung der Zeugenaussagen war nur in seltenen Fällen möglich.

Die Glaubwürdigkeit der Zeugen musste daher besonders sorgfältig geprüft werden. Wo geringste Zweifel bestanden oder die Möglichkeit von Verwechslungen nicht mit Sicherheit auszuschliessen war, hat das Gericht Aussagen von Zeugen nicht verwertet.

Von den Verteidigern wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zeugen gegen bestimmte Angeklagte ein Komplott geschmiedet und sich verabredet hätten, sie - wenn auch zu Unrecht - zu belasten. Auch sei - so wurde weiter behauptet - in unzulässiger Weise auf die Zeugen eingewirkt worden, gegen bestimmte Angeklagte belastende Aussagen zu machen. Auch das musste das Schwurgericht im Auge behalten. Allerdings haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass solche Verabredungen oder Beeinflussungen erfolgt sind. Soweit bei einzelnen Zeugen der Eindruck bestand, dass sie aus einer gewissen Geltungssucht oder sonstiger Veranlagung heraus zum Erzählen phantasievoller Geschichten neigten oder - aus nicht näher zu erforschenden Gründen - bestimmte Angeklagte zu Unrecht mit konkreten Vorfällen zu belasten schienen, hat das Gericht die Aussagen insgesamt nicht verwertet.

2. Beweisgrundlagen und Beweiswürdigung zu den allgemeinen Feststellungen über die Abwicklung der sog. RSHA-Transporte

Die allgemeinen Feststellungen über die Ankunft und Abwicklung von RSHA-Transporten auf der alten Rampe und später auf der neuen Rampe im Lager Birkenau, die Aufgaben und Tätigkeiten der verschiedenen zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen, die Täuschung der zum Tode bestimmten Menschen über ihr bevorstehendes Schicksal, die Einzelheiten über ihre Tötung in den verschiedenen Gaskammern, den Bau und die innere Einrichtung der Gaskammern und Krematorien, die Beseitigung der Leichen, die Aufgaben und Tätigkeiten des SS-Sonderkommandos bei den vier Krematorien und schliesslich die Arbeit des jüdischen Sonderkommandos beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten Boger, St., Dylewski, Broad, Hofmann, Kaduk, Baretzki, Dr. L., Dr. Frank, Dr. Sc., Dr. Capesius und Klehr, soweit ihnen gefolgt werden konnte und den glaubhaften Aussagen der Zeugen O., Wal., Wil., N., Schl., Hu., Dr. M., To., Lei., H., Dr. Kremer, Ch. (die alle frühere SS-Angehörige im KL Auschwitz waren) sowie den glaubhaften Aussagen der Zeugen bzw. Zeuginnen Ka., Cou., Ja., van V., Vr., K. Erich, Pa., Sw., Bac., Buk., Bö., ferner auf den handschriftlichen Aufzeichnungen des ersten Lagerkommandanten Höss über die "Endlösung der Judenfrage", und dem sog. Broad-Bericht.

Die Angeklagten bestreiten nicht, dass unzählige jüdische Menschen mit RSHA-Transporten in den Jahren 1941-1944 nach Auschwitz zur Vernichtung gebracht, dort auf der Rampe dem geschilderten Ausmusterungsverfahren unterworfen und anschliessend, soweit sie nicht als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen worden sind, in den Gaskammern auf die geschilderte Art und Weise getötet worden sind. Sie bestreiten auch nicht, dass hierbei SS-Angehörige der verschiedenen Abteilungen mitgewirkt haben. Die Angeklagten, denen eine Mitwirkung an der Vernichtung dieser RSHA-Transporte zur Last gelegt wird, stellen nur in Abrede - was noch bei der Erörterung ihrer Straftaten im einzelnen darzustellen sein wird - entweder überhaupt etwas mit der Tötung dieser jüdischen Menschen zu tun gehabt zu haben (wie z.B. der Angeklagte Mulka) oder speziell an der Ausmusterung der Arbeitsfähigen auf der Rampe beteiligt gewesen zu sein. Soweit Angeklagte eine Mitwirkung einräumen, wird das bei der Erörterung ihrer Straftaten anzuführen sein.

3. Beweiswürdigung im Falle Mulka

Soweit der Angeklagte Mulka eine Mitwirkung bei der Tötung der sog. RSHA-Juden bestreitet und eine Kenntnis der genannten Dinge und Geschehnisse leugnet, ist seine Einlassung schon im Hinblick auf seine Stellung als Adjutant, die örtlichen Gegebenheiten und die allgemeinen Lagerverhältnisse in sich unglaubhaft. Sie ist aber auch durch die Beweisaufnahme in vielen Punkten widerlegt worden.

Zunächst hat die Beweisaufnahme ergeben, dass die Lagerkommandantur und nicht - wie der Angeklagte Mulka behauptet, die Politische Abteilung - für die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig gewesen ist. Der Angeklagte Boger hat erklärt, dass die Lagerkommandantur, die an sich in allen das Lager betreffenden Angelegenheiten dem Inspekteur der KL bzw. dem WVHA, nach dessen Errichtung, unterstand, bzgl. der RSHA-Transporte unmittelbar vom RSHA Befehle und Weisungen erhalten und ihm insoweit direkt unterstanden habe. Diese Einlassung des Angeklagten Boger, der sonst wenig zur Aufklärung des Geschehens im KL Auschwitz beigetragen hat, ist glaubhaft. Denn sie bestätigt die Angabe des ersten und inzwischen hingerichteten Lagerkommandanten Höss in seinen Aufzeichnungen. Danach ist Höss unmittelbar vom RFSS mit der Vernichtung der Juden beauftragt worden. Höss hat deswegen mit dem Leiter des Judenreferates im Amt IV des RSHA, Sturmbannführer Eichmann, unmittelbar verhandelt. Er hat Ende November 1941 in Berlin bei der Dienststelle Eichmann an einer Dienstbesprechung wegen der geplanten Judenaktionen teilgenommen.

Schon daraus ist der Schluss gerechtfertigt, dass für die Abwicklung der RSHA-Transporte nicht die Politische Abteilung, sondern der Lagerkommandant mit seinem Stab verantwortlich war und die Politische Abteilung dabei nur wie andere Abteilungen zu helfen hatte.

Es wäre auch unverständlich und würde jeder Erfahrung widersprechen, dass für eine so gross angelegte Aktion, wie es die Massenvernichtung von Hunderttausenden von Menschen in den Gaskammern von Auschwitz war, an der fast alle im Lager Auschwitz beschäftigten SS-Angehörigen mitwirken mussten, die Leitung des Lagers nicht eingeschaltet gewesen sein sollte - man vielmehr die organisatorische Durchführung der Aktionen einer kleinen Dienststelle, an deren Spitze nur ein SS-Untersturmführer stand, überlassen hätte. Für die Politische Abteilung wäre eine organisatorische Durchführung auch kaum möglich gewesen, weil sie nicht die Befehlsgewalt über die anderen Abteilungen (z.B. die Schutzhaftlagerführung) hatte, somit ihnen keine Einsatzbefehle für die Mitwirkung an der Massenvernichtung hätte erteilen können.

Darüber hinaus ist noch durch einige Zeugen bestätigt worden, dass die Lagerkommandantur und nicht die Politische Abteilung die einzelnen Abteilungen des Lagers von der Ankunft von RSHA-Transporten benachrichtigt hat. So hat der Zeuge O., der in Auschwitz SS-Stabsscharführer und Spiess beim Standortarzt gewesen ist, eindeutig erklärt, dass die Dienststelle des Standortarztes von der Kommandantur über die Ankunft eines RSHA-Transportes benachrichtigt worden sei. Allerdings wollte der Zeuge nicht mehr wissen, wer jeweils der Anrufer gewesen sei. Offensichtlich hat sich der Zeuge gescheut, einen der Angeklagten zu belasten.

Der Zeuge Wil., der in Auschwitz SS-Rechnungsführer bei der Dienststelle des Standortarztes gewesen ist, konnte sich zwar nicht mehr mit Sicherheit erinnern, von wem die Mitteilungen über die Ankunft von RSHA-Transporten gekommen sind, meinte aber, dass sie von der Lagerkommandantur gekommen sein müssten. Der Zeuge N., ebenfalls ein SS-Unterführer im KL Auschwitz, wurde im Jahre 1943 Spiess beim Kommandanturstab. Er hat ebenfalls eindeutig erklärt, dass die Kommandantur die anderen Abteilungen (Schutzhaftlagerführung, Politische Abteilung, Standortarzt usw.) von der Ankunft der RSHA-Transporte verständigt habe. Allerdings wollte er sich ebenfalls nicht mehr erinnern können, ob auch der Angeklagte Mulka, der noch kurze Zeit sein Vorgesetzter gewesen ist, persönlich die Abteilungen benachrichtigt hat. Offenbar hat auch er sich gescheut, den Angeklagten Mulka direkt zu belasten. Er meinte aber, Mulka müsse als Adjutant die Einsatzbefehle an die einzelnen Abteilungen bei der Ankunft von RSHA-Transporten gegeben haben.

Schliesslich hat noch der Zeuge Wal., der im Jahre 1944 Spiess beim Kommandanturstab gewesen ist, geschildert, dass er selbst dabeigestanden habe, als der Adjutant Höcker die einzelnen Abteilungen von der Ankunft von RSHA-Transporten telefonisch benachrichtigt habe. Die Aussage des Zeugen bezieht sich zwar auf eine spätere Zeit, als der Angeklagte Mulka nicht mehr in Auschwitz gewesen ist, sie bestätigt aber mittelbar die getroffenen Feststellungen. Denn wenn im Jahre 1944 die Lagerkommandantur für die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig gewesen ist, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass es in dem Jahre 1942 und 1943 ebenso gewesen ist.

Das Gericht hat den Zeugen N., O., Wil. und Wal. die hier wiedergegebenen Angaben geglaubt. Die Zeugen waren in ihren Aussagen sehr zurückhaltend. Sie waren offensichtlich bestrebt, die Angeklagten zu schonen. Das Gericht hatte den Eindruck, dass sie nicht alles, was sie über die damalige Zeit in Auschwitz, insbesondere den Angeklagten Mulka wussten, ausgesagt haben. Dabei mag die Erwägung eine Rolle gespielt haben, dass sie, wenn sie die Angeklagten belasteten, von diesen umgekehrt wegen ihrer Tätigkeit in Auschwitz belastet werden könnten. Es ist daher kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum sie über die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit für die Abwicklung der RSHA-Transporte für die Angeklagten ungünstige Angaben gemacht haben sollten. Für die Zeugen N. und Wal. gilt dies um so mehr, weil sie sich als Angehörige des Kommandanturstabes mit ihren Angaben indirekt selbst belastet haben. Wenn tatsächlich die Politische Abteilung nach Ankunft von RSHA-Transporten für die Benachrichtigung der anderen Abteilungen und die gesamte Abwicklung des Transportes zuständig gewesen wäre, hätten gerade diese Zeugen das grösste Interesse daran haben müssen, das hervorzuheben.

Auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen Wal., die besonders von den Verteidigern des Angeklagten Höcker in Zweifel gezogen worden ist, wird noch bei der Beweiswürdigung im Rahmen der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Höcker zurückzukommen sein.

Die Behauptung des Angeklagten Mulka, er habe in den drei bis vier Fällen die Fernschreiben des RSHA mit der Ankündigung von Judentransporten nur an die Politische Abteilung zur weiteren Veranlassung weitergeleitet, ist daher nicht glaubhaft. Das Schwurgericht ist vielmehr nach der gesamten Sachlage, wie sie sich aus den Aufzeichnungen des früheren Lagerkommandanten Höss, der oben wiedergegebenen Einlassung des Angeklagten Boger und den Aussagen der genannten Zeugen ergibt, überzeugt, dass der Angeklagte Mulka mindestens in diesen drei Fällen die verschiedenen Abteilungen des Lagers über die Ankunft der RSHA-Transporte benachrichtigt und die entsprechenden Einsatzbefehle gegeben hat.

Erwiesen ist ferner, dass Mulka - entgegen seiner Einlassung - bei der Abwicklung von RSHA-Transporten wiederholt auf der Rampe gewesen ist. Mindestens in einem Fall war er der ranghöchste SS-Führer auf der Rampe.

Der Lagerkommandant Höss schildert in seinen autobiographischen Aufzeichnungen glaubhaft, dass er selbst häufig bei der Ankunft von RSHA-Transporten zur Rampe gefahren ist und dort die gesamte Vernichtungsaktion überwacht hat. Er hielt dies für erforderlich, um - wie er sich ausdrückt - "die beteiligten SS-Angehörigen zum psychischen Durchhalten zu zwingen". Aus dem gleichen Grunde zeigte er sich auch bei den Gaskammern, sah durch das Guckloch in den Gasraum, wenn die eingeschlossenen Menschen mit dem Tode rangen, und war auch beim Verbrennen der Leichen dabei, als sie noch in den Gräben verbrannt wurden.

Es erscheint daher schon nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich, dass der Angeklagte Mulka als Adjutant den Lagerkommandanten, dessen engster Vertrauter er sein sollte, zu den Aktionen, zumindest ab und zu, begleitet hat. Ferner erscheint es wahrscheinlich, dass Höss, der ersichtlich grossen Wert auf die psychische Stärkung der mit den furchtbaren Vernichtungsaktionen befassten SS-Angehörigen legte und sie zum eisernen Durchhalten zwingen wollte, seinen Adjutanten dann zur Erfüllung dieser Aufgaben auf die Rampe beorderte, wenn er selbst aus irgendwelchen Gründen daran verhindert war. Dabei muss weiter in Betracht gezogen werden, dass Höss mit aller Wahrscheinlichkeit auch von seinem Adjutanten als seinem engsten Mitarbeiter und nächsten Vertrauten noch eher als von seinen anderen Untergebenen "Härte" und "eisernes Durchhalten" bei den Vernichtungsaktionen und "gutes Beispiel" für die Untergebenen hierbei verlangte.

Abgesehen von diesen allgemeinen Erwägungen ist durch eindeutige und klare Angaben des Angeklagten Kaduk bei seiner Vernehmung in der gerichtlichen Voruntersuchung und durch Zeugenaussagen erwiesen, dass der Angeklagte Mulka - entgegen seiner Behauptung - bei der Abwicklung der RSHA-Transporte auf der Rampe gewesen ist. Die vorangestellten allgemeinen Erwägungen unterstützen diese Angaben.

Wie der Zeuge Rei. glaubhaft geschildert hat, wurde ihm der Angeklagte Kaduk bei seiner - des Zeugen - Vernehmung durch den Untersuchungsrichter während der gerichtlichen Voruntersuchung gegenübergestellt. Im Anschluss an die Gegenüberstellung erklärte der Angeklagte Kaduk gegenüber dem Untersuchungsrichter im Beisein des Zeugen, dass er auch den Angeklagten Mulka auf der Rampe gesehen habe. Er erinnere sich mit Sicherheit daran, dass Mulka nach Ankunft von Transporten auf der Rampe gewesen sei. In grosser Erregung äusserte dann Kaduk laut: "Die Herren sollen doch heute nicht leugnen, sie sollen als Männer zu dem stehen, was tatsächlich geschehen ist."

Die Herren, nämlich Höss, Baer, der letzte Lagerkommandant, und Mulka, seien mit Kübelwagen rausgefahren. Sie seien an den Selektionsvorgängen vorbeigegangen und hätten die Abwicklung beobachtet. Praktisch hätten sie die Oberaufsicht geführt.

Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Rei. bestehen keine Zweifel, dass der Angeklagte Kaduk dem Untersuchungsrichter gegenüber diese Äusserung gemacht hat. Kaduk hat dies in der Hauptverhandlung auch nicht in Abrede gestellt. Allerdings hat der Angeklagte Kaduk seine gegenüber dem Untersuchungsrichter gemachten Angaben in der Hauptverhandlung nicht wiederholt. Zunächst hat er in der Hauptverhandlung jede Einlassung zur Sache überhaupt verweigert. Später hat er verschiedentlich Ansätze gemacht, sich über das Geschehen in Auschwitz und die Mitwirkung der Angeklagten auszulassen, konnte sich aber nie über allgemeines Gerede hinaus zu einer klaren und eindeutigen Aussage durchringen. Auf gestellte Fragen nach der Tätigkeit von einzelnen Mitangeklagten, insbesondere auf Fragen, wer auf der Rampe gewesen sei, hat er entweder die Antwort strikt verweigert oder mangelnde Erinnerung vorgeschützt. Das Schwurgericht ist überzeugt, dass die Angaben des Angeklagten Kaduk gegenüber dem Untersuchungsrichter, soweit er den Angeklagten Mulka belastet hat, der Wahrheit entsprechen.

Die Möglichkeit, dass Kaduk den Angeklagten Mulka gegenüber dem Untersuchungsrichter bewusst der Wahrheit zuwider belastet haben könnte, hat das Schwurgericht zwar erwogen, ist jedoch der Überzeugung, dass Kaduk den Angeklagten Mulka nicht zu Unrecht belastet hat.

Das Verhalten der Angeklagten in der Hauptverhandlung hat gezeigt, dass sie von einem falsch verstandenen Gefühl der Kameradschaft und Solidarität durchdrungen sind. Jeder hat es ängstlich vermieden, andere Mitangeklagten in irgendeiner Weise zu belasten. Auch der Angeklagte Kaduk, der als Block- und Rapportführer im Stammlager genaue Kenntnis von den Vorgängen im Lager und den Handlungen der Mitangeklagten gehabt haben muss, hat sich an diese stillschweigende Übereinkunft der Angeklagten gehalten. Er hat zur Aufklärung des Geschehens im KL Auschwitz kaum etwas beigetragen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum er in der Voruntersuchung, entgegen dieser in der Hauptverhandlung gezeigten falsch verstandenen Kameradschaft und Solidarität Mulka wahrheitswidrig belastet haben sollte. Hass oder Rache scheiden aus. Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass im KL Auschwitz oder später zwischen Mulka und Kaduk irgendwelche Differenzen bestanden haben. Zudem hätte es nahegelegen, dass Kaduk, wenn ihn Rache- oder Hassgefühle gegen Mulka beherrscht hätten, seine früheren gegenüber dem Untersuchungsrichter gemachten Angaben in der Hauptverhandlung wiederholt hätte. Seine spontanen Äusserungen vor dem Untersuchungsrichter, die gegen die später gezeigte Kameradschaft und Solidarität zu verstossen scheinen, sind zwanglos daraus zu erklären, dass Kaduk ehrlich darüber empört war, dass Mulka als früherer SS-Führer und Adjutant feige jegliche Beteiligung am Geschehen in Auschwitz leugnete und irgendeine Verantwortlichkeit völlig verneinte. Diese vorübergehende und verständliche Empörung veranlasste ihn, die Dinge wenigstens in einigen Punkten richtigzustellen.

Die Angaben Kaduks werden ausser durch die vorangestellten allgemeinen Erwägungen durch weitere Zeugenaussagen gestützt: Der Zeuge Wilh., der im KL Auschwitz als SS-Angehöriger Schreiber in der Dienststelle des Standortarztes gewesen ist, hat Mulka zwar nicht selbst auf der Rampe bei der Abwicklung von RSHA-Transporten gesehen. Ihm ist aber - wie er glaubhaft ausgesagt hat - damals im KL Auschwitz von dem Leiter der Politischen Abteilung, dem inzwischen hingerichteten SS-Untersturmführer Grabner erzählt worden, dass Mulka bei Vergasungsaktionen dabei gewesen sei. Warum Grabner bereits damals dem Zeugen etwas Falsches berichtet haben sollte, ist nicht ersichtlich. Seine damaligen gegenüber dem Zeugen Wilh. gemachten Angaben unterstützen daher die Aussage des Angeklagten Kaduk vor dem Untersuchungsrichter.

Schliesslich hat ein früherer Häftling, der Zeuge Vr. aus London, bekundet, dass er den Angeklagten Mulka öfters auf der Rampe gesehen habe, wenn RSHA-Transporte angekommen seien. Der Zeuge gehörte damals - wie er glaubhaft bekundet hat - zu dem Häftlingskommando, das die Gepäckstücke der angekommenen Juden aus den Eisenbahnwagen zu holen und auf die LKWs zu laden hatte. Auch musste er mit anderen Häftlingen des Sonderkommandos die Leichen der auf der Fahrt verstorbenen Menschen aus den Wagen schaffen. Aus diesem Grunde war er sehr oft während der Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe. Der Zeuge kannte den Angeklagten Mulka damals nicht mit Namen. Er hat ihn aber in der Hauptverhandlung wiedererkannt. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er ihn als SS-Führer in Offiziersuniform und in Offiziersmantel mit weissem Pelzkragen öfters auf der Rampe bemerkt hat, wenn Transporte ausgeladen worden sind.

Das Gericht war sich darüber im klaren, wie problematisch ein Wiedererkennen nach über zwanzig Jahren ist. Die Möglichkeit einer Verwechslung mit einem anderen SS-Führer war ernstlich in Betracht zu ziehen. Hier scheidet aber nach der Überzeugung des Gerichts eine Verwechslung aus. Der Angeklagte Mulka hat ein markantes Gesicht mit einer charakteristisch gebogenen Nase. Er war damals bereits 47 oder 48 Jahre alt. In der Zwischenzeit sind seine Gesichtszüge zwar gealtert, haben sich aber gegenüber damals kaum verändert. Hiervon konnte sich das Gericht durch Vergleich seines heutigen Aussehens mit Fotografien des Angeklagten Mulka aus der damaligen Zeit, die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen worden sind, überzeugen. Die hohe Gestalt des Angeklagten Mulka in SS-Führeruniform war damals für die Häftlinge in Auschwitz - auch für den Zeugen Vr. - eine auffällige Erscheinung. Es waren zwar stets mehrere SS-Führer auf der Rampe, ihre Anzahl war aber im Vergleich zu den SS-Angehörigen in Unterführer- und Mannschaftsuniform relativ gering.

Der Zeuge Vr., der in der Hauptverhandlung einen ausgezeichneten und intelligenten Eindruck gemacht hat, hat mit wachen und scharfen Augen die Vorgänge auf der Rampe und im Lager damals beobachtet. Er hatte hierfür einen besonderen Grund: Er hat Fluchtmöglichkeiten erkundet, weil er fliehen wollte und er hat alles Geschehen und alle Vorfälle besonders sorgfältig und genau beobachtet, weil er nach gelungener Flucht der Aussenwelt über die Dinge in Auschwitz berichten wollte. Ihm ist später auch die Flucht gelungen und er hat in der Freiheit einen Bericht über das KL Auschwitz geschrieben, den er durch mehrfache Vermittlung dem Vatikan hat zukommen lassen.

Der Zeuge Vr. hat den Angeklagten Mulka somit nicht nur auf Grund eines einmaligen früheren Sehens wiedererkannt, sondern auf Grund scharfer Beobachtungen während eines längeren Zeitraumes. Er musste bei der Abwicklung vieler RSHA-Transporte Gepäckstücke zu den LKWs schleppen. Dabei kam er immer wieder an der Gruppe der SS-Führer vorbei. Er konnte sich daher immer wieder deren Aussehen einprägen und ihr Verhalten beobachten. Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass der Zeuge Vr. den Angeklagten Mulka wiedererkannt hat.

Es kommt aber noch ein weiteres wichtiges Ereignis hinzu: Dem Zeugen Vr. hat sich damals das Bild eines SS-Führers besonders tief eingeprägt und zwar aus einem besonderen Grund: Er beobachtete einmal, wie zwei SS-Unterführer zu einem SS-Führer auf der Rampe einen Häftling brachten mit der Meldung,
dass dieser (die Unterführer nannten den Häftling "Schwein") mit Zugängen gesprochen habe. Der Führer sagte daraufhin - was der Zeuge Vr. hören konnte -: "Macht ihn fertig, es ist schon spät!" Danach schlugen die beiden SS-Unterführer den Häftling mit Knüppeln, bis er tot war. Ein solches schreckliches Erlebnis und die daran beteiligten Personen prägen sich erfahrungsgemäss tief in das Gedächtnis ein. Der Zeuge Vr. hat in der Hauptverhandlung mit aller Bestimmtheit den Angeklagten als den SS-Führer bezeichnet, der damals das Totschlagen des Häftlings angeordnet hat. Schliesslich hat der Zeuge Vr., nachdem ihm ein Ganzfoto des Angeklagten Mulka in Uniform aus der damaligen Zeit vorgelegt worden war, mit Bestimmtheit erklärt, dass der abgebildete SS-Führer identisch sei mit dem Führer, der damals das "Fertigmachen" des Häftlings befohlen und den er öfters auf der Rampe gesehen habe.

Dagegen hat er nach Betrachten einer Fotografie des SS-Führers Müller in Uniform aus der damaligen Zeit, die dem Zeugen gleichzeitig mit dem Foto des Angeklagten Mulka vorgelegt worden ist, erklärt, dass der abgebildete SS-Führer nicht derjenige sei, den er damals auf der Rampe gesehen habe.

Aus alledem hat das Schwurgericht die Überzeugung gewonnen, dass Vr. zutreffend den Angeklagten Mulka wiedererkannt hat und dass eine Verwechslung mit anderen Personen ausscheidet. Es besteht auch kein Anlass, an der Richtigkeit der Darstellung des Zeugen Vr. zu zweifeln. Der Zeuge hat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Er hat seine Aussage leidenschaftslos, ruhig und frei von Hass- und Rachegefühlen gemacht. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass er Mulka wider besseres Wissen belasten wollte, liegen nicht vor. Seiner Aussage, die er mit dem Eid bekräftigt hat, hat das Gericht daher vollen Glauben geschenkt. Das Gericht sieht daher auch als erwiesen an, dass der Angeklagte Mulka in der von dem Zeugen geschilderten Weise die Tötung des Häftlings angeordnet hat. Die Tatsache, dass die beiden SS-Unterführer den Häftling, der sich - im Sinne der SS - eines schweren Vergehens schuldig gemacht hatte, zu dem Angeklagten Mulka und nicht etwa zu einem anderen SS-Führer (etwa dem diensthabenden Führer) gebracht haben, spricht ferner eindeutig dafür, dass Mulka in dieser Nacht der ranghöchste SS-Führer auf der Rampe gewesen ist. Wäre ausser Mulka noch der Lagerkommandant anwesend gewesen, hätten die SS-Unterführer in einer so wichtigen Angelegenheit ohne Zweifel dessen Entscheidung eingeholt, zumindest hätte Mulka die SS-Unterführer an den Lagerkommandanten zur Entscheidung des Falles verwiesen. Aus dem Umstand, dass er selbständig die Entscheidung getroffen hat, hat das Schwurgericht die Überzeugung gewonnen, dass er in dieser Nacht als ranghöchster SS-Führer die Oberaufsicht über die gesamte Abwicklung des RSHA-Transportes übernommen hat.

Die Beweisaufnahme hat ferner ergeben, dass dem Angeklagten Mulka als Adjutanten die Fahrbereitschaft unterstanden hat und er für den Einsatz der Fahrzeuge verantwortlich war. Zunächst bestimmte die für das KL Auschwitz gültige - oben bereits erwähnte - Lagerordnung ausdrücklich, dass die Fahrbereitschaft dem Adjutanten unterstehe und dass der Adjutant für die ordnungsgemässe Handhabung und Ausstellung der Fahrbefehle verantwortlich sei.

Die praktische Regelung im KL Auschwitz entsprach dieser Bestimmung der Lagerordnung auch in der Zeit, während der der Angeklagte Mulka Adjutant war.

So hat der Zeuge Heg., der im KL Auschwitz im Rang eines SS-Unterführers als Fahrer des Lagerkommandanten Höss und dann als Stellvertreter des Leiters der Fahrbereitschaft eingesetzt war, glaubhaft bekundet, dass die Fahrbefehle von dem Kommandanten oder dem Adjutanten unterzeichnet worden seien. Auch Mulka habe Fahrbefehle unterzeichnet. Für den Einsatz der LKWs im Rampendienst habe es allerdings keiner schriftlichen Fahrbefehle bedurft. Ihr Einsatz sei aber mündlich angeordnet worden. Diese mündlichen Befehle seien von der "Kommandantur" erteilt worden, entweder vom Lagerkommandanten selbst oder dem Adjutanten. Für die Transporte von der Rampe zu den Gaskammern seien stets besondere Fahrzeuge, etwa sieben oder acht Wagen, bereitgehalten worden. Wenn sie gebraucht worden seien, seien sie von der Kommandantur angefordert worden.

Die Frage, ob der Angeklagte Mulka auch solche mündlichen Einsatzbefehle gegeben habe, hat der Zeuge nicht klar beantwortet. Er konnte sich angeblich nicht mehr an einen bestimmten Fall erinnern. Offensichtlich scheute sich der Zeuge, wie andere Zeugen auch, den Angeklagten Mulka zu belasten. Er selbst will von Mulka keine mündlichen Fahrbefehle bekommen haben. Er meinte aber, dass Mulka als Adjutant solche Fahrbefehle erteilt haben müsse, da kein Fahrzeug ohne Befehl die Halle hätte verlassen dürfen.

Zieht man in Betracht, dass der Zeuge Heg., der nur sehr zögernd und mit aller Zurückhaltung seine Aussage gemacht hat, den Angeklagten Mulka offensichtlich schonen wollte, so sprechen seine Angaben dafür, dass der Angeklagte Mulka als Adjutant - entsprechend der in der Lagerordnung vorgesehenen Regelung - tatsächlich für die Fahrbereitschaft verantwortlich war.

Auch der Zeuge Si., der ebenso wie der Zeuge Heg. bei seiner Vernehmung sehr zögernd und zurückhaltend war, hat angegeben, dass der Adjutant grundsätzlich die Fahrbefehle für Fahrten nach ausserhalb des Lagerbereiches zu unterschreiben hatte. Der Zeuge war im KL Auschwitz zunächst als SS-Kraftfahrer und dann später als stellvertretender und schliesslich ab 1943 als erster Werkstattleiter in der Pragahalle eingesetzt. Schliesslich ergibt sich aus Urkunden, dass Kraftfahrzeuganforderungen von SS-Dienststellen im Kommandanturbereich an den Adjutanten zu richten waren und dass dieser die Fahrten nach ausserhalb zu genehmigen hatte. So enthält z.B. eine Urkunde vom 29.7.1942, die verlesen worden ist, eine Kraftfahrzeuganforderung. Die Urkunde enthält den Genehmigungsvermerk des Angeklagten Mulka. Mulka hat anerkannt, dass das Namenszeichen von ihm stamme und dass er die Fahrt eines 4 bis 5 t LKWs für die Beförderung von Fleisch erteilt habe.

Aus der Tatsache, dass der Adjutant Mulka Kraftfahrzeuganforderungen aller Abteilungen und Dienststellen, nicht nur solche des engeren Kommandanturstabes, zu genehmigen hatte, folgt ebenfalls, dass er für die Fahrbereitschaft und den Einsatz der Kraftfahrzeuge zuständig und verantwortlich war.

Der Angeklagte Mulka hat auch in mindestens einem Fall bei der Beschaffung von Zyklon B mitgewirkt. Aus dem oben zitierten Funkspruch vom 2.10.1942 ergibt sich zwar nicht, wer die Genehmigung für die Fahrt zur Abholung des Zyklon B beim WVHA beantragt hat. Aus dem Funkspruch ergibt sich nur, dass ein solcher Antrag gestellt worden ist, da der Funkspruch auf einen solchen Antrag Bezug nimmt. Das Gericht hat aber keinen Zweifel, dass Mulka als Adjutant den Antrag gestellt hat. Denn nach der bereits mehrfach erwähnten Lagerordnung hatte der Adjutant den gesamten Schriftverkehr mit aussenstehenden Dienststellen zu bearbeiten. Ferner war er - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - für die Fahrbereitschaft und den Einsatz der LKWs verantwortlich. Aus dieser Funktion ergibt sich dann weiter zwangsläufig, dass er für Fahrten, die über eine bestimmte Entfernung hinausgingen, und für die er nicht befugt war, Fahrbefehle auszustellen, die Genehmigung der übergeordneten Dienststelle einzuholen hatte. Es ergibt sich weiter daraus, dass er nach Erteilung der Genehmigung den Einsatz des LKWs für die Fahrt zu befehlen hatte. Das Schwurgericht ist daher überzeugt, dass er, nachdem er die Richtigkeit der Abschrift des Funkspruchs bescheinigt hatte, die beglaubigte Abschrift der Genehmigung an die Fahrbereitschaft zur Abholung des Zyklon B weitergegeben hat. Dass das Zyklon B auch tatsächlich von Dresden abgeholt worden ist, hat Mulka nicht in Abrede gestellt. Er hat auch - wie schon ausgeführt - eingeräumt, dass er gewusst hat, dass mit dem Ausdruck "Materialien" Zyklon B gemeint war und dass es für die Tötung von RSHA-Juden Verwendung finden sollte.

Schliesslich ist auf Grund der Aussage des Zeugen Se. erwiesen, dass der Angeklagte Mulka bei den DAW nach der Fertigstellung von gasdichten Türen gefragt und auf deren Fertigstellung gedrängt hat. Der Zeuge war als Häftling im Betriebsbüro der DAW tätig. Dabei erfuhr er - wie er glaubhaft bekundet hat -, dass die DAW gasdichte Türen und Fenster für die Krematorien III und II herzustellen hatte. Der Zeuge hat auch Schriftwechsel darüber gelesen.

Seine Aussage wird bestätigt durch ein Schreiben der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei in Auschwitz vom 31.3.1943, dass die DAW für die Zentralbauleitung auf Grund eines Auftrages vom 18.1.1943 drei gasdichte Türen und nach einem Auftrag vom 6.3.1943 eine Gastür mit Guckloch aus doppeltem Glas mit Gummidichtung für die Gaskammern herzustellen hatten. Der Zeuge Se. hat den Angeklagten Mulka gekannt. Er hat ihn wiederholt gesehen, wenn er in das Büro der DAW gekommen ist. Dabei hat er gehört, dass Mulka nach der Erledigung der Aufträge gefragt und auf deren Erledigung gedrängt hat.

Die Aussage des Zeugen, gegen dessen Zuverlässigkeit in anderer Hinsicht gewisse Bedenken bestehen, ist insoweit glaubhaft. Denn Mulka hat eingeräumt, dass er Sachbearbeiter beim DAW gewesen sei. Es liegt daher nahe, dass er sich auch im die Erledigung von wichtigen Aufträgen persönlich gekümmert hat. Die Errichtung der Krematorien und die Lieferung der für die Krematorien erforderlichen Teile war für die SS eine äusserst wichtige Angelegenheit, weil immer häufiger RSHA-Transporte ankamen und die Kapazität der vorhandenen Gaskammern in den umgebauten Bauernhäusern nicht mehr ausreichte.

Dass Mulka als Adjutant über die Einzelheiten der massenweisen Vernichtung der RSHA-Juden in den Gaskammern genau Bescheid gewusst haben muss, kann nach der ganzen Sachlage nicht zweifelhaft sein. Dies ergibt sich schon aus seiner Funktion als Adjutant. Als nächster Mitarbeiter und Vertrauter des Lagerkommandanten, dem der Auftrag für diese Aktion erteilt worden war, muss er davon zwangsläufig erfahren haben. Darüber hinaus hat er - wie im einzelnen dargelegt worden ist - bei der Abwicklung der RSHA-Transporte auch selbst mitgewirkt. Auf der Rampe musste er das ganze Geschehen aus eigener Anschauung mit erleben.

Es war nicht möglich, die Anzahl der Transporte, an deren Abwicklung der Angeklagte Mulka mitgewirkt hat, und die Zahl der Opfer an deren Tötung der Angeklagte Mulka beteiligt gewesen ist, exakt zu ermitteln. Das Schwurgericht hat sich daher, da es unsichere Schätzungen dem Urteil nicht zugrunde legen durfte, auf die Feststellung von Mindestzahlen, die mit jeden Zweifel ausschliessender Sicherheit getroffen werden konnten, beschränkt. Mit Sicherheit hat der Angeklagte - wie im einzelnen dargelegt - bei drei verschiedenen RSHA-Transporten die einzelnen Abteilungen des Lagers benachrichtigt und die Einsatzbefehle für die zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen gegeben. Er war ferner mit Sicherheit mindestens zweimal bei der Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe anwesend. Denn sowohl der Zeuge Vr. als auch der Angeklagte Kaduk haben ihn öfters, also mehr als einmal auf der Rampe bei solchen Gelegenheiten gesehen. Indiesen beiden Fällen kann Mulka jedoch schon vorher die einzelnen Abteilungen benachrichtigt und die Einsatzbefehle gegeben haben, so dass mit Sicherheit nur eine Mitwirkung bei insgesamt drei verschiedenen RSHA-Transporten festgestellt werden konnte.

Hinzu kommen seine Bemühungen um die Beschaffung von Zyklon B und die Fertigstellung gasdichter Türen für die neuen Krematorien. Insoweit konnte mit Sicherheit nur festgestellt werden, dass diese Tätigkeiten zur Vernichtung von mindestens einem weiteren RSHA-Transport beigetragen haben. Die grosse Menge des Zyklon B, die mit einem 5 t LKW mit Anhänger von Dresden abgeholt worden ist, hat mit Sicherheit ausgereicht, um mehr als drei Transporte, also mindestens noch einen weiteren Transport zu vernichten. Ebenso ermöglichten die gasdichten Türen nach ihrem Einbau in die Gaskammern und deren Inbetriebnahme zusammen mit den anderen technischen Einrichtungen der Gaskammern die Tötung einer Vielzahl von RSHA-Transporten, also mindestens von einem. Da jedoch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass gerade das Zyklon B, das unter Mitwirkung des Angeklagten Mulka herbeigeschafft worden ist, in den Gaskammern verwendet worden ist, in die die gasdichten Türen eingebaut worden sind, konnte mit Sicherheit nur festgestellt werden, dass Mulka zur Vernichtung mindestens eines weiteren RSHA-Transportes beigetragen hat.

Somit konnte mit Sicherheit nur festgestellt werden, dass der Angeklagte Mulka durch die geschilderten Handlungen an der Vernichtung von mindestens vier RSHA-Transporten beteiligt war.

Im Jahre 1942 und in der ersten Zeit des Jahres 1943 schwankte die Stärke der RSHA-Transporte zwischen 1000 und 2000 Personen. Dies ergibt sich aus den Einlassungen der Angeklagten, soweit ihnen gefolgt werden konnte und den Aussagen der Zeugen Philipp Mü., Kag., Wa., Lak. und Vr. Mit den kleinsten Transporten wurden somit mindestens 1000 Menschen nach Auschwitz deportiert. Diese Mindeststärke hat das Schwurgericht der Feststellung der unter der Mitwirkung des Angeklagten Mulka getöteten Opfer zugrunde gelegt. Von ihr war die Zahl derjenigen jüdischen Menschen abzuziehen, die als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen worden sind. Es waren zwischen 10 und 15%, in seltenen Fällen mehr, jedoch nie über 25%. Das ergibt sich ebenfalls aus den Einlassungen der Angeklagten, dem Broad-Bericht, der von 10 bis 15% spricht und den Aussagen einer Vielzahl von Zeugen. Das Schwurgericht ist, um ganz sicher zu gehen, zu Gunsten des Angeklagten Mulka davon ausgegangen, dass bei den vier RSHA-Transporten, an deren Vernichtung er beteiligt war, je 25% also 250 Menschen als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen worden sind. Somit ergibt sich die Feststellung, dass er an der Tötung von je 750 Menschen je Transport, somit an der Tötung von insgesamt 3000 Menschen beteiligt war.

V. Rechtliche Würdigung

1. Taten und Strafbarkeit der Haupttäter

Haupttäter der unter II. geschilderten Vernichtungsaktionen waren Hitler als Urheber des Befehls über "die Endlösung der Judenfrage" und Himmler, der diesen Befehl zu seinem eigenen Anliegen gemacht und mit fanatischem Eifer seine Ausführung betrieben hat, sowie weitere Personen des engsten Führungskreises wie Göring, Heydrich und andere, deren Feststellung im einzelnen nicht Aufgabe des Schwurgerichts war. Die Haupttäter haben die Tötungen der jüdischen Menschen im Rahmen der sog. "Endlösung der Judenfrage" geplant, die organisatorischen Voraussetzungen hierfür geschaffen und ihre Durchführung angeordnet.

Die Verwirklichung ihres Vernichtungsprogramms haben sie durch das Reichssicherheitshauptamt, insbesondere durch dessen Amt IV und die dem RSHA nachgeordneten Gestapostellen unter Mitwirkung sonstiger Dienststellen der Polizei und SS und einiger Dienststellen des Reiches und der Reichsbahn, deren Hilfe notwendig war, sowie vieler SS-Angehöriger, die in den Vernichtungslagern an den Tötungsaktionen teilzunehmen hatten, ausführen lassen.

Ihre, d.h. der Haupttäter Handlungsweise erfüllt den Tatbestand des Mordes nach §211 alter Fassung, soweit Juden im Rahmen der Endlösung der Judenfrage vor dem 11.9.1941 (dem Tag, an dem die Neufassung des §211 auf Grund des Gesetzes vom 4.9.1941 in Kraft trat - eine Woche nach Verkündigung dieses Gesetzes -) getötet worden sind, weil die Haupttäter mit Überlegung gehandelt haben, was bei der planmässigen Durchführung der Aktionen keiner weiteren Begründung bedarf. Die nach dem 11.9.1941 durchgeführten Vernichtungsaktionen erfüllen den Tatbestand des Mordes nach §211 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 4.9.1941. Denn sie erfolgten aus niedrigen Beweggründen. Niedrig sind Beweggründe dann, wenn das Handeln des Täters von Vorstellungen bestimmt war, die nach gesundem Empfinden sittlich verachtenswert sind (vergleiche Schönke-Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch 11.Auflage Anm.11 zu §211). Die Tötungen der unschuldigen jüdischen Menschen haben die Haupttäter aus Rassenhass angeordnet und durchführen lassen. In ihrer Verblendung und ihrem Rassenwahn haben sie den jüdischen Menschen, nur weil sie ihnen wegen ihrer Abstammung als Angehörige einer sog. "minderwertigen Rasse" missliebig waren, jeden Menschenwert abgesprochen und ihnen kein Lebensrecht zuerkannt. Sie haben ihnen deswegen erbarmungslos ohne die geringsten rechtlichen Sicherungen, die nach der übereinstimmenden Rechtsüberzeugung aller Kulturvölker auch dem gebühren, der eine schwere strafbare Handlung begangen hat, das Leben genommen. Das Handeln aus einer solchen Gesinnung heraus steht auf tiefster sittlicher Stufe und ist als gemein und verächtlich zu bezeichnen (vgl. BGHSt. 2, 63; 3, 133).

Die Tötungen erfolgten auch heimtückisch. Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat ausnutzt (vgl. Schwarz Komm. zum StGB 25.Aufl. Anm.1 Bb d) zu §211; Schönke-Schröder Anm.13 zu §211; BGHSt. 6, 120). Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt der Tat keines Angriffs versieht (vgl. Schönke-Schröder a.a.O.; BGHSt. 7, 218).

Die im KL Auschwitz getöteten Opfer aus den sog. RSHA-Transporten waren arglos, weil sie über ihr bevorstehendes Schicksal - wie unter II. im einzelnen geschildert worden ist - getäuscht worden sind und ohne etwas von dem bevorstehenden Angriff auf ihr Leben zu ahnen, in die Gaskammern hineingingen.

Sie waren, da sie unbewaffnet im geschlossenen Wagen unter strenger Bewachung nach Auschwitz deportiert wurden und unter ebenso strenger Bewachung aussteigen mussten, gegenüber dem Aufgebot an bewaffneten SS-Posten in Auschwitz auch wehrlos, was keiner näheren Begründung bedarf.

Diese Arg- und Wehrlosigkeit hat man bei den Tötungsaktionen bewusst ausgenutzt, um die Aktionen schnell und planmässig durchführen zu können. Die Aktionen verliefen daher auch fast ausnahmslos ohne Zwischenfälle.

Schliesslich waren die Tötungen in den Gaskammern auch grausam.

Grausam ist eine Tötung dann, wenn sie besonders schwere Leiden körperlicher oder seelischer Art durch die Stärke oder durch die Dauer oder durch die Wiederholung der Schmerzverursachung hervorruft und wenn sie ausserdem aus einer gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung hervorgeht (vgl. Schönke-Schröder Anm.17 zu §211; BGHSt. 3, 181). Die Opfer, die in den Gaskammern zusammengepfercht waren, überfiel nach dem für sie überraschenden Einschütten des Zyklon B eine verzweifelte Todesangst. Dies zeigte sich an dem fürchterlichen Geschrei, das jedesmal entstand, wenn das Zyklon B eingeschüttet worden war und an dem verzweifelten Klopfen und Pochen der Opfer an den Türen und Wänden der Gaskammern. In dieser Angst schwebten sie während mehrerer Minuten in einer ausweglosen Situation. Dabei mussten sie noch den Todeskampf ihrer nächsten Angehörigen und Bekannten miterleben. Hinzukommt, dass sie erkennen mussten, dass sie in einer jeglicher Menschenwürde hohnsprechenden Weise umgebracht wurden. All dies hat ihnen schwerste seelische Qualen während mehrerer Minuten bereitet. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob die Opfer auch schwere körperliche Schmerzen während der Einwirkungen des Zyklon B erlitten haben, was anzunehmen ist, da die Leichen nach dem Öffnen der Gaskammern häufig ineinander verkrampft und mit verzerrten Gesichtszügen da lagen.

Eine solche Tötungsart kann nur anordnen, wer gefühllos, roh und unbarmherzig ist. Aus dieser Gesinnung heraus hat man die Tötung der Opfer in den Gaskammern angeordnet.

Die Haupttäter kannten die tatsächlichen Umstände, die die Beweggründe für die Tötungen als niedrig und die Art ihrer Ausführung als heimtückisch und grausam kennzeichnen. Sie wussten, dass sie die jüdischen Menschen nur deswegen töten liessen, weil sie Juden waren.

Sie hatten befohlen, dass die Tötungen unter strenger Geheimhaltung und unter Täuschung der Opfer zu erfolgen hatten und sie wussten, dass dies auch so geschah. Ihnen waren auch die Umstände bekannt, unter denen die Tötungen erfolgten. Himmler selbst hatte sich den Todeskampf der Opfer in den Gaskammern bei seinem Besuch in Auschwitz angesehen, wie aus den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten Höss hervorgeht. Nicht erforderlich ist, dass die Haupttäter ihre Beweggründe selbst als niedrig und die Art der Ausführung der Tötungen als heimtückisch und grausam werteten. Es genügt, dass sie die tatsächlichen Umstände, aus denen sich diese Wertung nach richtiger Rechtsauffassung und dem für alle Menschen verbindlichen allgemeinen Sittengesetz ergeben, kannten.

Die Haupttäter handelten rechtswidrig.

Dass die Massentötungen schuldloser jüdischer Menschen, insbesondere auch von Kindern, unter Versagen der geringsten rechtlichen Sicherungen offenbares Unrecht darstellen, liegt auf der Hand.

Die Rechtswidrigkeit dieser Tötungen ist nicht dadurch ausgeschlossen worden, dass sie auf einen Befehl Hitlers, dem alleinigen und höchsten Machthaber und Inhaber des höchsten Staats- und Regierungsamtes des damaligen deutschen Reiches, beruhten. Als Gesetz kann dieser Befehl schon deswegen nicht angesehen werden, weil er nur streng geheim erteilt und nie veröffentlicht worden ist. Aber auch wenn dieser Befehl in Gesetzesform oder in Form einer Verordnung veröffentlicht worden wäre, hätte er aus Unrecht niemals Recht schaffen können. Denn die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich darüber zu bestimmen, was Recht und was Unrecht ist, ist nicht unbeschränkt. Im Bewusstsein der zivilisierten Völker besteht bei allen Unterschieden, die die einzelnen nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner obrigkeitlichen Massnahme verletzt werden darf. Er umfasst bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtsverbindlich gelten, gleichgültig ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu missachten (vgl. BGHSt. 2, 234). Der unter Missbrauch staatlicher Machtfülle gegebene Geheimbefehl Hitlers konnte daher die Rechtswidrigkeit der Massentötungen unschuldiger Menschen nicht aufheben. Hitler stand als Inhaber des höchsten staatlichen Amtes und als Gesetzgeber nicht über dem Recht. Er war wie jeder andere Mensch an die allen Kulturnationen gemeinsamen überstaatlichen Normen gebunden und auch dem staatlichen Strafgesetz, das auch im NS-Staat die Tötung unschuldiger Menschen ohne jede rechtliche Sicherung verbot, unterworfen.

Abwegig ist die von einem Verteidiger vertretene Ansicht, Hitler habe die Geltung des §211 des StGB teilweise suspendiert. Abgesehen davon, dass die Rechtsordnung eine Teilsuspendierung einer Verbotsnorm nicht kennt, dass ein Gesetz nur durch ein anderes Gesetz aufgehoben werden kann, dass die Aufhebung des Tötungsverbotes nur in bezug auf eine bestimmte Menschengruppe, wodurch diese für vogelfrei erklärt würde, in eklatanter Weise gegen den Gleichheitsgrundsatz und damit gegen die Gerechtigkeit verstossen würde, ist das Verbot der Tötung anderer Menschen - auch der jüdischen Menschen - im NS-Staat nie, auch nicht durch den Geheimbefehl Hitlers, aufgehoben worden. Dies ist leicht daraus zu ersehen, dass die Tötung eines Juden durch andere (gleichgültig ob durch Zivilisten oder Militärpersonen) auch im NS-Staat nach §211 verfolgt und bestraft wurde. Selbst Angehörige der Polizei und SS wurden, wenn sie Juden eigenmächtig töteten, zur Verantwortung gezogen. Dabei ist es unerheblich, dass in solchen Fällen häufig nur geringe Strafen ausgesprochen wurden.

Hitler hat sich nur unter Missbrauch seiner Machtfülle über das auch für ihn geltende in §211 StGB enthaltene Tötungsverbot hinweggesetzt und seine strafrechtliche Verantwortung kraft seiner unumschränkten Macht verhindert und auch die Bestrafung seiner die Tötungsbefehle ausführenden Komplizen kraft seiner faktischen Macht unmöglich gemacht. Dass die Haupttäter das Unrecht ihrer Handlungsweise selbst klar erkannten, ergibt sich daraus, dass sie alles taten, um die Vernichtungsaktionen zu tarnen und geheim zu halten. Hitler und seine genannten Hauptkomplizen haben die Tötungen allerdings nicht eigenhändig durchgeführt. Sie haben sich bei der Durchführung der Vernichtungsaktionen willfähriger Personen, die auf Grund eines militärähnlichen Gehorsamsverhältnisses tätig wurden, bedient und die Tötungen durch sie durchführen lassen. Somit haben sie als mittelbare Täter in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt. Dass sie auch vorsätzlich gehandelt haben, bedarf kaum einer näheren Begründung. Sie wollten den Tod der jüdischen Menschen und haben deren Tötung in klarer Kenntnis der gesamten Tatumstände befohlen und ausführen lassen. Dass sie dabei auch das Bewusstsein, Unrecht zu tun, gehabt haben, ist bereits oben ausgeführt worden.

Wenn auch die massenweise Tötungen der jüdischen Menschen während eines Zeitraumes von mehreren Jahren auf einem Willensentschluss und einer Willensäusserung Hitlers beruhten, können die gesamten Vernichtungsaktionen nicht als eine einzige Handlung angesehen werden. Das deutsche Strafrecht kennt nicht den Begriff des Massenmordes. Das Schwurgericht vermag sich auch nicht der teilweise vertretenen Ansicht anzuschliessen, dass die gesamten auf den Befehl Hitlers beruhenden Tötungen jüdischer Menschen ebenso wie die auf den Euthanasiebefehl Hitlers beruhenden Tötungen geisteskranker Personen als eine einzige Handlung im Rechtssinne anzusehen seien.

Zwar können mehrere natürliche Handlungen, die auf einem Willensentschluss des Täters beruhen und von denen jede an sich den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllen würde, bei natürlicher Betrachtungsweise als Teilstücke eines einheitlichen Ganzen erscheinen und rechtlich zu einer Einheit zusammengefasst werden (Gegenstück zur fortgesetzten Handlung; vgl. Schönke-Schröder Vorbemerkung 9 vor §73 StGB). Mehrere Einzelhandlungen, die - auf einem Willensentschluss beruhend - zeitlich und räumlich in einem engen und unmittelbaren Zusammenhang stehen und ohne scharfe Trennung ineinander übergehen, sind in der Regel als eine solche (einzige) Handlung im Rechtssinne anzusehen. Der gesetzliche Tatbestand einer strafbaren Handlung ist in einem solchen Falle durch ein und dieselbe Handlung (im Rechtssinne) mehrfach (nämlich durch die Einzelhandlungen) verletzt, es liegt gleichartige Idealkonkurrenz vor (vgl. BGHSt. 1, 170).

Der Annahme einer solchen gleichartigen Handlungseinheit steht die höchstpersönliche Natur des verletzten Rechtsguts nicht unbedingt entgegen, sie ist also auch bei Tötungsdelikten denkbar (vgl. Schönke-Schröder Anm.2 zu §73 StGB; BGHSt. 1, 21; 6, 82). Ist somit die Auffassung, die Massentötungen jüdischer Menschen im Rahmen der sog. "Endlösung der Judenfrage" rechtlich als eine einzige Handlung im Sinne einer gleichartigen Idealkonkurrenz (§73 StGB) anzusehen, grundsätzlich möglich, so erscheint sie dem Schwurgericht jedoch aus tatsächlichen Gründen nicht zutreffend.

Die Auslösung der einzelnen Aktionen in den verschiedenen Ländern Europas bedurfte einer Vielzahl von Willensentschlüssen der verschiedensten Personen in den oberen, mittleren und unteren zuständigen Dienststellen und jeweils eines besonderen Einsatzbefehles. Mit der Durchführung der Aktionen war eine Vielzahl von Personen befasst, die sich ebenfalls jeweils auf Grund besonderer Willensentschlüsse zur Mitwirkung bereitfanden. Die Tötungsaktionen selbst erfolgten nicht einheitlich und erforderten unzählige Willensbetätigungen einer grossen Anzahl von Personen. So wurden in Russland die Juden durch Sonderkommandos erschossen. Hierzu bedurfte es der Befehle von Vorgesetzten und einer Vielzahl von Willensbetätigungen der die Tötungen vollziehenden Angehörigen der Einsatzkommandos. In den verschiedenen Vernichtungslagern wurden die Juden auf verschiedene Weise umgebracht, teils durch Erschiessen, teils in Gaswagen, teils in festen Gaskammern wie im Konzentrationslager Auschwitz. Das Einwerfen des Zyklon B erforderte jeweils einen besonderen Entschluss und besondere Willensbetätigungen der damit beauftragten Personen. Die Orte der Vernichtung lagen weit auseinander. Die Aktionen selbst erstreckten sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang fehlt daher. Auch kann nicht von einem Ineinanderübergreifen der verschiedenen einzelnen Aktionen gesprochen werden. Zwar kamen im Konzentrationslager Auschwitz ab 1942 fast pausenlos RSHA-Transporte an. Auch war die Stätte der Vernichtung die gleiche, wenn man den Gesamtbereich des KL Auschwitz als Einheit auffasst und nicht auf die verschiedenen Gaskammern abstellt. Auch die Tötungsart war die gleiche. Die einzelnen RSHA-Transporte kamen aber aus den verschiedensten Ländern Europas. Zur Auslösung der Aktionen in den verschiedenen Ländern bedurfte es jeweils besonderer Einsatzbefehle und der Mitwirkung ganz verschiedener Personengruppen. Die einzelnen Vernichtungsaktionen erfolgten jeweils durch besondere Willensbetätigungen der zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen und insbesondere der mit dem Einwerfen des Zyklon B beauftragten SS-Männer. Die besonderen Willensbetätigungen, zu denen sich die damit befassten SS-Männer jeweils neu entschliessen mussten, stellen eine im Sinne des §74 StGB selbständige Handlung dar, die sich jeweils gegen das Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen richtete. Durch diese selbständigen Handlungen wurde letztlich die Gruppe der in den Gaskammern eingesperrten Menschen getötet, der Tatbestand des §211 StGB also durch ein und dieselbe Handlung (das Einwerfen des Zyklon B) mehrfach verletzt. Nach Auffassung des Schwurgerichts kann bei natürlicher Betrachtungsweise daher nur jede einzelne Vernichtungsaktion, durch die jeweils eine Gruppe von Menschen getötet worden ist, als eine selbständige Handlung angesehen werden, durch die §211 mehrfach verletzt worden ist (gleichartige Tateinheit).

Die einzelnen Vernichtungsaktionen bildeten mehrere selbständige Handlungen im Sinne des §74 StGB.

2. Strafrechtliche Beurteilung der Beteiligung des Angeklagten Mulka an den Vernichtungsaktionen

Der Angeklagte Mulka hat durch die unter II. geschilderten Handlungen, nämlich durch die Benachrichtigung der verschiedenen Abteilungen und das Geben der Einsatzbefehle nach der Ankündigung von RSHA-Transporten, durch die Führung der Oberaufsicht in mindestens einem Fall während der Abwicklung eines RSHA-Transportes auf der Rampe, durch seine Anwesenheit auf der Rampe in mindestens einem weiteren Fall sowie durch die Bemühungen um die Beschaffung des Zyklon B und die Fertigstellung von gasdichten Türen für die Gaskammern, mindestens vier Tötungsaktionen gefördert, somit in vier Fällen einen kausalen Tatbeitrag zu den Massentötungen geleistet. Durch seine Anwesenheit auf der Rampe hat er die mit der Durchführung der Aktionen befassten SS-Angehörigen psychisch gestärkt und unterstützt und dafür gesorgt, dass die gegebenen Befehle prompt ausgeführt wurden.

Er hat die Tatbeiträge auf Befehl seiner Vorgesetzten geleistet. Da er Angehöriger der Waffen-SS war, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach §47 Militärstrafgesetzbuch zu beurteilen. Denn nach §§1-4 der VO über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz vom 17.10.1939 (RGBl. I, 2107) fand auf Handlungen der diesen Verbänden angehörenden Personen das Militärstrafgesetzbuch entsprechende Anwendung. Nach §47 MStGB war grundsätzlich der Vorgesetzte allein verantwortlich, wenn durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt wurde. Jedoch traf den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers, wenn er entweder den erteilten Befehl überschritten hatte (Abs.1 Nr.1) oder wenn ihm bekannt gewesen ist, dass der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte (Abs.1 Nr.2).

Der Angeklagte Mulka hat gewusst, dass der Befehl, die unschuldigen jüdischen Menschen zu töten, verbrecherisch war und dass die Tötungen selbst trotz des Befehls Hitlers ein allgemeines Verbrechen darstellten. Er selbst beruft sich nicht darauf, dass er an die Rechtmässigkeit der Tötungen geglaubt habe. In seiner Einlassung hat er die Tötungen als "himmelschreiendes Unrecht" und "Verbrechen" bezeichnet.

Dass im übrigen alle SS-Angehörigen in Auschwitz die
befohlenen Tötungsaktionen als Verbrechen ansahen, ergibt sich weiter aus folgendem:

Wie der Zeuge Dr. M. glaubhaft ausgesagt hat, wurden die Selektionen auf der Rampe und die Tötungen der Juden durch Gas von allen SS-Angehörigen, mit denen der Zeuge gesprochen hat, "freimütig abgelehnt" und "verworfen". Ferner hielt es die höhere Führung für erforderlich, durch weltanschauliche Vorträge des damaligen für die Truppenbetreuung zuständigen Oberscharführers Knittel den SS-Angehörigen immer wieder einhämmern zu lassen, dass die Vernichtung der Juden im Interesse des deutschen Volkes notwendig sei. Gleichwohl konnten diese Vorträge auch einfache SS-Männer nicht davon überzeugen, dass die Vernichtungsaktionen zu rechtfertigen seien. So hat der Angeklagte Baretzki bekundet, der selbst von einfacher Denkungsart ist, dass Knittel immer wieder von ihm und anderen SS-Männern gefragt worden sei, wie man denn die Tötung unschuldiger Juden, insbesondere von Frauen und Kindern rechtfertigen könne. Knittel sei immer wieder gefragt worden, was denn die Juden, insbesondere die Frauen und Kinder, getan hätten. Knittel hat daraufhin keine befriedigende Erklärung geben können. Er hat die SS-Männer nur mit der ausweichenden Antwort abgespeist, "dass man einem Kind, wenn es in das erste Schuljahr komme, auch nicht ein Schulbuch des fünften Schuljahres, sondern ein solches des ersten Schuljahres gebe". Baretzki hat selbst freimütig eingeräumt, dass er schon damals die Auffassung gehabt habe, dass die Judentötungen "hundertprozentiges Unrecht" seien.

Wenn schon Baretzki, der von einfacher Denkungsart und weniger intelligent als alle übrigen Angeklagten ist, das Unrecht der Vernichtungsaktionen klar erkannt hat, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass auch die übrigen Angeklagten erkannt haben, dass die befohlenen Massentötungen jüdischer Menschen verbrecherisch waren.

Auch der frühere Lagerkommandant Höss hat in seinen Aufzeichnungen bestätigt, dass in allen "Zweifel" wegen der Vernichtungsaktionen "genagt" hätten, was nach der Überzeugung des Schwurgerichts bedeutet, dass alle SS-Angehörigen das Verbrecherische der Aktionen erkannten. Höss hat daher auch seine häufige Anwesenheit auf der Rampe für notwendig gehalten, um die SS-Angehörigen zum Durchhalten zu zwingen. Im übrigen ist die Tötung schuldloser Personen, insbesondere von kleinen Kindern, nur wegen ihrer Abstammung, ein so krasser Verstoss gegen die auch dem primitivsten Menschen bewussten Grundsätze über das Recht eines jeden Menschen auf sein Leben und ein so krasser Verstoss gegen die auch dem Staat nur in Ausnahmefällen zustehende Befugnis, den Tod eines Menschen zu fordern, wenn er in schwerwiegender Weise gegen die Rechtsordnung verstossen hat, dass sämtliche Angeklagten keine Zweifel an der Rechtswidrigkeit der befohlenen Judenvernichtung haben konnten und nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch nicht gehabt haben.

Hinzu kommt, dass die Tötungen unter strengster Geheimhaltung und unter bewusster Täuschung der Opfer erfolgten und die Vollziehung der Tötungen durch Tarnbezeichnungen gemeldet werden musste, was den Angeklagten, insbesondere auch dem Angeklagten Mulka, alles bekannt war.

Die geschilderten Tatbeiträge zu den Vernichtungsaktionen hat der Angeklagte Mulka als Gehilfe geleistet.

Für die Frage, ob der Angeklagte Mulka als Mittäter oder (nur) als Gehilfe anzusehen ist, kommt es entscheidend auf seine Willensrichtung, auf seine innere Einstellung und Haltung zu den Taten, die er gefördert hat, im Zeitpunkt der Taten an. Denn Mittäter ist derjenige, der die Tat als eigene, Gehilfe derjenige, der die Tat eines anderen unterstützen, sie also als fremde will (ständige Rechtsprechung des BGH; statt aller anderen: Vergleiche BGHSt. 18, 87 und die dort zitierten Entscheidungen des BGH).

Die Willensrichtung des Angeklagten Mulka zur Zeit der Taten kann, da er selbst keinen Aufschluss hierüber gegeben hat, nur anhand von äusseren Umständen, die von seiner Vorstellung erfasst waren, aus seinem Verhalten bei den Vernichtungsaktionen, seinen Äusserungen und seinem sonstigen Verhalten, aus denen Schlüsse auf seine innere Einstellung gezogen werden können, ermittelt werden.

Die Besonderheit in diesem Verfahren, die es gleichzeitig schwer macht, den tatsächlichen Willen und die wahre innere Einstellung des Angeklagten Mulka und auch der anderen Angeklagten vor 20 Jahren zu erforschen, liegt darin, dass es sich um staatlich befohlene Massenmorde handelt, bei denen die Verbrechensantriebe von dem Träger der höchsten Staatsgewalt ausgingen, auf dessen Befehl eine riesige Organisation zur Tötung von Millionen Menschen aufgebaut worden war. Der Angeklagte Mulka war in diesem Apparat hineinbefohlen worden. In Auschwitz war er ein Rad in der gesamten "Vernichtungsmaschinerie", die durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Menschen "funktionierte".

Die Abwicklung der RSHA-Transporte in Auschwitz lief, nachdem sich die Organisation eingespielt hatte, fast zwangsläufig ab. Wenn die RSHA-Transporte in Auschwitz ankamen, war das Schicksal der deportierten Menschen bereits an sich besiegelt. Für die Ausmusterung der Arbeitsfähigen blieb nur ein geringer Ermessensspielraum. Die einzelnen SS-Angehörigen, die bei den Vernichtungsaktionen mitwirkten, beherrschten das Tatgeschehen kaum noch. Nur der Lagerkommandant, dem der Auftrag für die Massenvernichtung der Juden in Auschwitz erteilt worden war und für ihre genaue Durchführung verantwortlich war, hatte in Auschwitz noch eine gewisse Tatherrschaft über das Geschehen. Die anderen hatten bei der militärisch gegliederten inneren Organisation des Lagers und der ebenso auf militärischem Gehorsam aufgebauten Organisation der Vernichtungsaktionen seine Befehle auszuführen. Das hat der erste Lagerkommandant Höss auch klar erkannt, der seine häufige Anwesenheit auf der Rampe und bei den Krematorien für notwendig hielt, um selbst die Oberaufsicht bei den Vernichtungsaktionen zu führen und die anderem zum psychischen Durchhalten zu zwingen. Auch der Adjutant, der nur sein Gehilfe war, hatte wenig Spielraum für selbständiges Handeln. Bei einer solchen Situation wird man im Zweifel davon ausgehen müssen, dass die mitwirkenden Befehlsempfänger nur die von der staatlichen Macht befohlenen Taten fördern und unterstützen wollten, wenn sie als Glied des gesamten Vernichtungsapparates nur das taten, was ihnen aufgetragen und als besondere Aufgabe zugewiesen worden war. Nur wenn sie über ihre befohlene Tätigkeit hinaus besonderen Eifer zeigten, sich bei den Vernichtungsaktionen besonders rückhaltlos einsetzten, ihre Untergebenen aneiferten oder sonst zu erkennen gaben, dass sie die Massentötungen für richtig und notwendig hielten, wird man auf Täterwillen schliessen müssen (vgl. hierzu auch BGHSt. 18, 87).

Bei dem Angeklagten Mulka könnte sich ein Anhaltspunkt dafür, ob er die verbrecherischen Ziele der Taturheber zur Grundlage seiner eigenen Überzeugung gemacht, die Massentötungen der Juden also innerlich bejaht hat, zunächst aus der Tatsache ergeben, dass er erst im Jahre 1941 im Alter von 46 Jahren freiwillig in die Waffen-SS eingetreten ist. Denn hierfür bestand keine Notwendigkeit. Niemand hat ihn hierzu aufgefordert. Irgendwelche Nachteile wären ihm nicht erwachsen, wenn er den Eintritt unterlassen hätte. Im Jahre 1941 war bereits bekannt und kann auch dem Angeklagten Mulka nicht verborgen geblieben sein, dass jüdische Menschen aufs schwerste verfolgt wurden. Die "Reichskristallnacht" am 9.11.1938 hatte gezeigt, dass die SS besonders aktiv bei den Judenverfolgungen mitgewirkt hatte. Ferner war allgemein bekannt, dass KZ-Lager existierten, die unter dem Befehl Himmlers und seiner SS standen. Zwar mögen viele Deutsche - auch der Angeklagte Mulka - die Zustände in den Lagern im einzelnen nicht gekannt haben, es war aber bis zum Jahre 1941 zumindest durchgesickert, dass dort Terror und ungesetzliche Zustände herrschten und dass dafür die SS verantwortlich war. Niemand konnte daran zweifeln, dass die SS ein Machtinstrument in der Hand der NS-Führung war, die sich rücksichtslos für deren Ziele einsetzte. Jeder, der Mitglied der SS wurde, musste damit rechnen, unter völliger Aufgabe seiner Persönlichkeit sich ebenso rückhaltlos für die Ziele der NS-Machthaber, auch solche verbrecherischer Art, einsetzen zu müssen.

Wenn Mulka gleichwohl noch im Jahre 1941 in die Waffen-SS freiwillig eintrat, so könnte das darauf hindeuten, dass er Ziele und Politik der NS-Machthaber, auch die schweren Verfolgungen jüdischer Bürger, den Terror in den Konzentrationslagern und sonstige ihm bekannten ungesetzlichen Massnahmen innerlich billigte und sich für deren Verwirklichung einzusetzen bereit war. Mit Sicherheit kann diese Schlussfolgerung jedoch nicht gezogen werden. Die Möglichkeit, dass Mulka aus anderen Motiven freiwillig in die SS eingetreten ist, und gar nicht daran gedacht hat, er könne für verbrecherische Ziele der NS-Machthaber, insbesondere für die Judenverfolgung eingesetzt werden, kann nicht ausgeschlossen werden. Hierfür spricht immerhin folgendes: Der Angeklagte Mulka hatte sich vor dem Krieg freiwillig als Offizier der Wehrmacht zur Verfügung gestellt und war zum Oberleutnant der Reserve befördert worden. Das sah er - wie ihm geglaubt werden kann - als eine besondere Ehre an. Wegen der von ihm verschwiegenen Vorstrafe wurde er aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Das Anerbieten der Wehrmacht zu Beginn des Krieges, Mulka solle als einfacher Soldat in die Wehrmacht eintreten und sich "hochdienen", empfand der Angeklagte Mulka - ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt - als Zumutung und lehnte es aus gekränktem Ehrgefühl ab. Als ehemaliger Offizier des ersten Weltkrieges sah er es unter seiner Würde an, als einfacher Soldat Dienst zu tun. In dieser Situation bot sich ihm die Möglichkeit, in der Waffen-SS sofort als SS-Führer angenommen zu werden. Den SS-Führer mag er aus seiner damaligen Sicht dem Offizier der Wehrmacht gleichgeachtet haben. Da er sofort als SS-Obersturmführer übernommen werden konnte, der rangmässig einem Oberleutnant der Wehrmacht gleichstand, mögen Ehrgeiz und der Wunsch, auf diesem Wege zu erreichen, was ihm die Wehrmacht versagt hatte, nämlich wieder "Offizier zu werden", die Triebfeder für seinen freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS gewesen sein. Es kann ihm nicht widerlegt werden, dass er innerhalb der Waffen-SS nur den gleichen Dienst wie in der Wehrmacht leisten wollte.

Die Waffen-SS wurde - wie damals allgemein bekannt war - ebenso wie die Wehrmacht an der Front eingesetzt. In der Heimat bildeten Ersatzeinheiten der Waffen-SS - ebenso wie das Ersatzheer der Wehrmacht - Rekruten für den Fronteinsatz aus. Der Wunsch des Angeklagten Mulka mag es gewesen sein, entweder als SS-Führer an der Front oder bei einem Ersatztruppenteil als Ausbildungsoffizier eingesetzt zu werden. Möglicherweise hat er dabei nicht bedacht, dass er auch für andere Zwecke verwendet werden könnte. Tatsächlich wurde er zunächst auch als Kompanieführer bei einem SS-Pionierbataillon in Dresden verwendet. Erst infolge seiner Erkrankung, die einen Lazarettaufenthalt erforderlich machte, erhielt er die Abkommandierung in das KL Auschwitz, da er nur noch garnisonsverwendungsfähig war. Diese Entwicklung konnte er nicht ohne weiteres bei seinem freiwilligen Eintritt in die SS voraussehen. Die Tatsache des freiwilligen Eintritts in die Waffen-SS im Jahre 1941 gibt daher keinen Aufschluss über Mulkas innere Einstellung zu den späteren Massentötungen, an denen er in Auschwitz mitgewirkt hat.

Ferner könnte die Tatsache, dass der Angeklagte Mulka sich als Adjutant des Lagerkommandanten Höss von April 1942 bis zu seinem Weggang im März 1943 bewährt hat, dafür sprechen, dass er zu dieser Zeit mit den Zielen der NS-Machthaber übereinstimmte und die Massentötungen der Juden aus innerster Überzeugung bejahte.

Als er im April 1942 zunächst vertretungsweise mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Adjutanten betraut wurde, war er bereits als Kompanieführer einige Monate im Wachsturmbann tätig. In dieser Zeit hat er nach der Überzeugung des Gerichts bereits genauere Einzelheiten über die Zustände und den Terror im Lager und die entwürdigende und jedem Recht widersprechende Behandlung der Häftlinge erfahren, auch wenn er selbst das Schutzhaftlager nicht betreten durfte. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Dr. M. wusste jeder SS-Angehörige, der in Auschwitz eingesetzt wurde, innerhalb kurzer Zeit über alles, was in Auschwitz geschah, Bescheid. Viele Zeugen haben bestätigt, dass man spätestens nach zweiwöchigem Aufenthalt im Konzentrationslagerbereich über den Terror und die schrecklichen Zustände im Lager informiert war. Während der Angeklagte Mulka zunächst nur vertretungsweise die Geschäfte eines Adjutanten wahrnahm, kamen bereits RSHA-Transporte an. Hiervon muss er auf Grund seiner Stellung als Adjutant erfahren haben.

Er musste nun damit rechnen, dass er, wenn er endgültig zum Adjutanten ernannt werden würde, in viel stärkerem Masse mit den Aktionen im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" befasst werden würde als in dem Wachsturmbann. Gleichwohl hat er gegen seine Ernennung nichts unternommen. Er hat auch später keine erkennbaren Anstrengungen gemacht, um als Adjutant abgelöst zu werden. Er hat sich im Gegenteil in seiner Position im Sinne der SS bewährt. Das folgt daraus, dass er alsbald nach seiner Ernennung zum Adjutanten zum SS-Hauptsturmführer befördert und zum Stabsführer ernannt worden ist. Es folgt weiter daraus, dass er seine Stellung bis zu seinem Abgang von Auschwitz gehalten hat. Diese Bewährung spricht dafür, dass der Angeklagte Mulka der Judenvernichtung nicht ablehnend gegenüberstand, da sie zu einem wichtigen Aufgabenbereich der Lagerkommandantur gehörte.

Ein sicherer Beweis, dass er aus innerster Überzeugung die befohlenen Massentötungen bejaht und sich mit den Zielen der NS-Machthaber identifiziert, die Tötungen der Juden also als eigene Tat gewollt hat, ist damit jedoch noch nicht gegeben. Möglich ist, dass er nach dem in der SS herrschenden Prinzip des blinden Gehorsams gar nicht auf die Idee gekommen ist, sich gegen die Ernennung zum Adjutanten zu wehren. Auch kann er sich aus einer falsch verstandenen Pflichtauffassung und Befehlsergebenheit entsprechend dem gegebenen SS-Eid auf seinem Adjutantenposten bewährt und an der Judenvernichtung mitgewirkt haben. Anhaltspunkte dafür, dass er mit fanatischem Eifer die Vernichtung der Juden gefördert hätte, liegen nicht vor. So konnte nicht festgestellt werden, dass er aus eigenem Antrieb - ohne Befehl oder eine allgemeine Anweisung des Lagerkommandanten - zur Rampe oder zu der Gaskammer nach der Ankunft von RSHA-Transporten gegangen wäre. Auch bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich für eine besonders kritische Aussonderung von Arbeitsfähigen eingesetzt hätte, um die Anzahl der Opfer zu erhöhen. Auch sonstige Äusserungen oder Handlungen, die auf Hass gegen die Juden oder auf seine Überzeugung von der Notwendigkeit ihrer Ausrottung schliessen liessen, konnten nicht festgestellt werden. Auch war nicht ersichtlich, dass er seine Untergebenen zu Hass gegen die Juden angefeuert und die Notwendigkeit ihrer Vernichtung plausibel zu machen versucht hätte.

Allerdings beweist die von dem Angeklagten Mulka befohlene Tötung eines Häftlings, der auf der Rampe mit den Zugängen gesprochen hatte, dass Mulka mit brutaler und rücksichtsloser Härte gegen Häftlinge vorging, die gegen die Disziplin und gegebene Befehle verstossen hatten.

Im Falle der Tötung dieses Häftlings war Mulka ohne Zweifel Täter. Hier ging der Tatantrieb allein von ihm aus. Er hat die Tötung des Häftlings aus eigenem Ermessen befohlen. Eine Bestrafung in diesem Fall konnte nur deswegen nicht erfolgen, weil der Fall nicht angeklagt und vom Eröffnungsbeschluss nicht erfasst ist.

Die Täterschaft des Angeklagten Mulka in diesem Fall zwingt jedoch nicht zu dem Schluss, dass er auch die Tötung der mit den RSHA-Transporten angekommenen Menschen als eigene Tat gewollt hat, also auch in diesen Fällen mit Täterwillen gehandelt hätte.

Das Motiv für die Tötung des einen Häftlings kann darin gelegen haben, dass sich der Häftling nach der Auffassung Mulkas einer schweren Disziplinlosigkeit schuldig gemacht hatte. Die Unterhaltung mit den Zugängen war streng verboten. Man befürchtete, die angekommenen Menschen könnten vorzeitig über ihr Schicksal aufgeklärt werden. Das hätte Unruhe und Widerstand hervorrufen können. Das Sprechverbot sollte das verhindern. Der Verstoss gegen dieses Verbot war wegen der sich daraus ergebenden möglichen Folgen ein schwerwiegendes Vergehen im Sinne der SS. Mulka hielt daher eine sofortige "Bestrafung", insbesondere wohl auch aus Abschreckungsgründen, für erforderlich. Er hat den Häftling nicht töten lassen, weil er Jude war - was übrigens nicht sicher feststeht -, sondern weil er sich - aus der Sicht Mulkas gesehen - eines todeswürdigen Vergehens schuldig gemacht hatte. Der Beweggrund für die Tötung dieses Häftlings stimmte also nicht mit den Beweggründen der NS-Machthaber, die sie zu den Massentötungen der Juden bestimmten, überein. Mulka wollte durch die abschreckende Bestrafung des Häftlings die reibungslose Durchführung der befohlenen Vernichtungsaktion, für die er verantwortlich war, sicherstellen.

Bei Abwägung all dieser Gesichtspunkte bleibt zwar ein erheblicher Verdacht, dass der Angeklagte Mulka als Adjutant die Massentötung der Juden innerlich bejaht und sie bereitwillig unterstützt, somit mit Täterwillen gehandelt hat; letzte Zweifel lassen sich jedoch nicht ausräumen, dass er mehr aus einer Befehlsergebenheit und falsch verstandenen "Pflichtauffassung" heraus für die reibungslose Durchführung der Vernichtungsaktionen besorgt war, somit nur die Taten der Haupttäter fördern und unterstützen wollte.

Rechtfertigungsgründe für das Handeln des Angeklagten Mulkas sind nicht ersichtlich. Der Angeklagte Mulka hat die vier Vernichtungsaktionen auch vorsätzlich gefördert. Er wusste - wie oben unter II. festgestellt - dass die Juden, die mit den RSHA-Transporten ankamen und an deren Tötung er in der geschilderten Weise mitwirkte, getötet wurden und dass seine gewollte Mitwirkung mitursächlich für ihren Tod gewesen ist. Er kannte auch die gesamten Tatumstände - wie sich ebenfalls aus den Feststellungen unter II. ergibt -, die die Beweggründe der Haupttäter als niedrig und die Art der Tötungen als heimtückisch und grausam kennzeichneten. Nicht erforderlich ist, dass er selbst aus den gleichen niedrigen Beweggründen gehandelt und die Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer selbst persönlich ausgenutzt hat. Es genügt die bewusste und gewollte Förderung der Haupttaten in Kenntnis der gesamten Umstände, die die Tatbestandsmerkmale des Mordes erfüllen.

Der Angeklagte Mulka wusste auch, dass die Massentötungen der Juden rechtswidrig waren. Oben ist bereits ausgeführt worden, dass ihm klar war, dass auch der Geheimbefehl Hitlers die Rechtswidrigkeit der Tötungen nicht beseitigen konnte.

Er hat auch nicht irrig angenommen, dass die Befehle, unschuldige jüdische Menschen zu töten, trotz ihres verbrecherischen Zweckes für ihn verbindlich seien, weil sie auf einen Befehl des Führers, des Inhabers der höchsten staatlichen Macht und Autorität, beruhten. Hierauf beruft er sich selbst nicht.

Im übrigen musste allen SS-Angehörigen in Auschwitz klar sein und war nach der Überzeugung des Gerichts auch klar, dass die verbrecherischen Befehle nicht verbindlich sein konnten, weil sie unter Beachtung strengster Geheimhaltungsbestimmungen gegeben wurden, weil über die Vernichtungsaktionen strengstes Stillschweigen befohlen war, sogar die Unterhaltung mit anderen SS-Angehörigen hierüber untersagt wurde, weil - was allen bekannt war - die ganzen Aktionen nur unter Tarnbezeichnungen liefen und schliesslich, weil die Tötungsbefehle den Stempel des Unrechts so klar auf der Stirn trugen, dass sie keinem, auch nicht dem primitivsten Menschen, dem die allen Angehörigen der Kulturnationen gemeinsamen Grundsätze über das Recht eines jeden Menschen auf sein Leben geläufig sind, als verbindlich erscheinen konnten.

Beim Angeklagten Mulka ist darüber hinaus noch hervorzuheben, dass ihm als reifen Menschen, aus gut bürgerlichem Milieu stammend, und als Offizier des Ersten Weltkrieges, der erst spät zur Waffen-SS gekommen war und auch sonst sich bis dahin kaum in nationalsozialistischen Gliederungen betätigt hatte, klar sein musste und nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch völlig klar war, dass auch ein Befehl Hitlers, der solche Massenmorde unschuldiger Menschen anordnete, nicht verbindlich sein konnte.

Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass ein Irrtum über die Verbindlichkeit der verbrecherischen Befehle kein Tatbestandsirrtum im Sinne des §59 StGB wäre, der zur Straffreiheit führen müsste, sondern ein "Verbotsirrtum" im Sinne der vom Grossen Senat für Strafsachen des BGH (BGHSt. 2, 194) zur Irrtumslehre entwickelten Grundsätze, der vermeidbar gewesen wäre und nur bei der Strafzumessung (Strafrahmen) hätte Berücksichtigung finden können.

Ein solcher Verbotsirrtum liegt aber - wie bereits gesagt - bei keinem der Angeklagten, die an den Massentötungen beteiligt waren, vor.

Der Angeklagte Mulka hat sich auch nicht in einem Nötigungsnotstand (§52 StGB) befunden. Voraussetzung hierfür wäre, dass ihm seine Mitwirkung bei den Vernichtungsaktionen durch unwiderstehliche Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger, auf andere Weise nicht abwendbare Gefahr für Leib oder Leben wider seinen Willen abgenötigt, sein Wille also gebeugt worden wäre.

Dies war bei dem Angeklagten Mulka jedoch nicht der Fall. Er selbst beruft sich nicht auf eine solche Notlage. Die gesamten Umstände sprechen auch dagegen, dass sein Wille gebeugt und er nur um einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben zu entgehen, die Vernichtungsaktionen gefördert hätte.

Hätte er aus Zwang handeln müssen, so wäre nicht verständlich, dass er nicht alles versucht hätte, um einer endgültigen Ernennung zum Adjutanten zu entgehen oder um auf seinem Adjutantenposten wieder abgelöst zu werden. Hierfür hätten sich viele Möglichkeiten gegeben: Er hätte seine Dienstgeschäfte als Adjutant nachlässig verrichten können, um das Missfallen des Lagerkommandanten zu erregen. Er hätte Auseinandersetzungen ungefährlicher Art mit dem Lagerkommandanten provozieren können, um dessen Vertrauen zu verlieren und abgelöst zu werden. Er hätte Krankheit vorschützen können, was ihm ohne Zweifel nicht schwergefallen wäre; denn er litt - wie er selbst angegeben hat und was ihm das Gericht glaubt - unter häufigen Magenkoliken. Er ist im Herbst 1942 auch wegen dieser Koliken im Lazarett gewesen und hat deswegen eine Kur bewilligt bekommen. All' diese Versuche hat er jedoch nicht unternommen. Er hat sich im Gegenteil - wie oben schon ausgeführt - als Adjutant bewährt und seine Dienstgeschäfte zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erledigt. All' dies spricht gegen eine erzwungene Mitwirkung. Der Angeklagte Mulka hat als williger Befehlsempfänger getreu seinem SS-Eid die befohlenen Handlungen geleistet, ohne dass ihm überhaupt der Gedanke gekommen wäre, seine Mitwirkung zu verweigern oder sich auf irgendeine andere Weise der Mitwirkung zu entziehen.

Vor allem lässt die von ihm eigenmächtig befohlene Tötung eines Häftlings auf der Rampe klar erkennen, dass seine Anwesenheit auf der Rampe nicht erzwungen war. Denn andernfalls hätte er als ranghöchster SS-Führer nicht nur versucht, von den Menschen aus den RSHA-Transporten möglichst viele vor dem Tode zu retten durch Aussonderung einer möglichst hohen Zahl von Arbeitsfähigen, was jedoch nicht der Fall war, sondern er hätte auch für den wegen des verbotenen Sprechens mit den Zugängen gemeldeten Häftling eine relativ harmlose Strafe gefunden, woraus ihm keine Nachteile hätten erwachsen können.

Der Angeklagte Mulka befand sich auch nicht im allgemeinen Notstand (§54 StGB). Hier gilt das bereits zu §52 StGB Gesagte. Der Angeklagte Mulka hat sich nicht etwa nur deswegen an den Tötungsaktionen beteiligt, um sich aus einer nicht verschuldeten gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben zu retten.

Schliesslich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte Mulka irrig die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Notstandslage nach den §§52, 54 StGB angenommen hätte. Er selbst beruft sich nicht darauf. Bei seinem bereits erörterten Gesamtverhalten ist das auch ausgeschlossen. Er hat die Befehle - wie schon ausgeführt - als williger Befehlsempfänger getreu dem geleisteten SS-Eid ausgeführt, ohne überhaupt eine Verweigerung der Mitwirkung in Erwägung zu ziehen.

Der Angeklagte Mulka hat mindestens vier Vernichtungsaktionen bewusst gefördert. Die Beihilfehandlungen zu jeder dieser vier Aktionen sind jeweils als eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit (§73 StGB) anzusehen, durch die jeweils 750 Menschen getötet worden sind, §211 StGB also jeweils durch ein und dieselbe Handlung 750mal verletzt worden ist. Das folgt zwar noch nicht daraus, dass bei den Haupttätern insoweit ebenfalls je eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Idealkonkurrenz vorliegt; denn die Tat im Sinne der §§73, 74 StGB ist für den Gehilfen nicht die Haupttat, sondern sein eigener, hinsichtlich der Konkurrenz selbständig zu beurteilender Tatbeitrag (BGH 1 StR 457/62 vom 22.1.1963). Dass die Beihilfehandlungen des Angeklagten Mulka als Mitwirkung zu vier selbständigen Handlungen anzusehen sind, ergibt sich aber daraus, dass die Beteiligung des Angeklagten Mulka an den verschiedenen Vernichtungsaktionen jeweils auf einem Entschluss beruhte und bei natürlicher Betrachtungsweise jeweils als eine Einheit anzusehen ist.

Wie sich aus dem gesamten unter II. geschilderten Sachverhalt ergibt, hat der Angeklagte Mulka seine Tatbeiträge in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit anderen Angeklagten und sonstigen mit den Vernichtungsaktionen befassten Personen geleistet (§47 StGB). Er war daher wegen gemeinschaftlicher Beihilfe (§§47, 49 StGB) zu gemeinschaftlichem Mord (§§47, 211 StGB) in vier Fällen (§74 StGB), jeweils begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB), an 750 Menschen zu bestrafen.

VI. Hilfsbeweisanträge

Der Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Mulka. die englischen Kriegsverbrecherakten gegen Mulka über die deutsche Botschaft beizuziehen zum Beweise dafür, dass die polnischen Gerichte kein Interesse an einer Auslieferung und Verurteilung des Angeklagten Mulka als Kriegsverbrecher gehabt hätten, war gemäss §244 StPO abzulehnen, da die zu beweisende Tatsache für die Entscheidung ohne Bedeutung ist. Denn auch wenn die polnischen Gerichte (früher) kein Interesse an einer Auslieferung und Verurteilung des Angeklagten Mulka gehabt haben, als dessen Auslieferung noch möglich war, ist das weder ein Beweis noch ein Indiz dafür, dass der Angeklagte die festgestellten Taten im KL Auschwitz nicht begangen hat. Es ist möglich, dass den polnischen Behörden über die Tätigkeit des Angeklagten Mulka damals noch nichts bekannt war.

Der weitere Hilfsantrag des Verteidigers des Angeklagten Mulka, den Sachverständigen Dr. Ser. zum Beweis für die Tatsache zu hören, dass der Angeklagte Mulka Veranlassung hatte, bei einer Weigerung zur Teilnahme an den Vernichtungen konkrete Nachteile für Leib und Leben zu befürchten, war ebenfalls gemäss §244 StPO abzulehnen. Denn die in das Wissen des Sachverständigen gestellte Tatsache ist im Falle Mulka für die Entscheidung ohne Bedeutung (§244 Absatz III, Satz 2). Das Gericht hat festgestellt, dass der Angeklagte Mulka gar nicht auf den Gedanken gekommen ist, eine Mitwirkung an den Massenvernichtungen zu verweigern oder sich einer solchen Mitwirkung zu entziehen. Somit steht fest, dass ihm seine Mitwirkung nicht abgezwungen, sein Wille also nicht gebeugt worden ist. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, wie es gewesen wäre, wenn Mulka sich hätte weigern wollen, an den Massenvernichtungen mitzuwirken.

VII. Strafzumessung

1. Allgemeine Erwägungen zu der Bemessung der Strafen wegen Beihilfe zum Mord

Bei Bemessung der jedem einzelnen Angeklagten, soweit er nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden ist, zuzuerkennenden Strafe konnte es dem Schwurgericht nicht darum gehen, die Gesamtheit der im KL Auschwitz begangenen Verbrechen zu sühnen. Angesichts der unzähligen Opfer eines verbrecherischen Regimes und dem unsäglichen Leid, das die in der Geschichte beispiellose, planmässig betriebene, auf teuflische Weise ersonnene Ausrottung von Hunderttausenden von Familien nicht nur über die Opfer selbst, sondern über unzählige Menschen, vor allem über das gesamte jüdische Volk gebracht und das deutsche Volk mit einem Makel belastet hat, erscheint es kaum möglich, durch irdische Strafen eine dem Umfang und der Schwere der im KL Auschwitz begangenen Verbrechen angemessene Sühne zu finden.

Zieht man das in Betracht und sieht man nur auf den grauenhaften Gesamterfolg der im KL Auschwitz begangenen Verbrechen, zu dessen Verwirklichung die Angeklagten - jeder auf seine Weise - bestimmte Tatbeiträge geleistet haben, so erscheint es zunächst, als ob Milderungsgründe für die einzelnen Angeklagten nicht mehr von Bedeutung sein könnten und als Sühne nur die im Gesetz vorgesehenen Höchststrafen in Betracht kommen könnten. Dem ist aber nicht so. Das Schwurgericht durfte sich nicht dazu verleiten lassen, den durch ein verbrecherisches Regime, dem alle organisatorischen und technischen Mittel für die planmässige Ausführung der Verbrechen zu Verfügung standen, bewirkten Gesamterfolg allen Angeklagten unterschiedslos anzulasten. Seine Aufgabe und Verpflichtung war es, jedem Angeklagten die nach dem Umfang seines persönlich geleisteten, nachgewiesenen Tatbeitrages und seiner persönlich nachgewiesenen strafrechtlich wertbaren Schuld gerecht erscheinende Strafe zuzumessen.

Für alle festgestellten Beihilfehandlungen der Angeklagten, gleichgültig, wann sie begangen wurden, gilt ein Strafrahmen von 3 Jahren Zuchthaus bis zu lebenslangem Zuchthaus. Eine Unterschreitung der untersten Grenze dieses Strafrahmens nach Versuchsgrundsätzen kam bei keinem der Angeklagten in Betracht, da keiner der Angeklagten in vermeidbarem Verbotsirrtum die festgestellten Beihilfehandlungen begangen hat. Andererseits waren alle Beihilfehandlungen bereits zur Tatzeit mit der Todesstrafe bedroht, an deren Stelle jetzt die lebenslange Zuchthausstrafe tritt. Für die nach dem Inkrafttreten der Verordnung vom 29.5.1943 (RGBl. Seite 341) begangenen Beihilfehandlungen ergibt sich das unmittelbar aus den durch diese VO geänderten Bestimmungen der §§44 und 49 StGB. Aber auch die vor Inkrafttreten dieser VO von den Angeklagten geleisteten Beihilfehandlungen zum Mord waren bereits mit der Todesstrafe bedroht.

Das ergibt sich aus §4 der VO gegen Gewaltverbrecher vom 15.12.1939 (RGBl. I, Seite 2378). Nähere Ausführungen hierzu erfolgen im 6. Abschnitt unter II. bei der Erörterung der Frage, ob die Straftaten der Angeklagten verjährt sind. Hier kann auf diese Ausführungen Bezug genommen werden. Es war somit möglich, für alle Beihilfehandlungen zum Mord die lebenslange Zuchthausstrafe zu verhängen.

Das Schwurgericht hat bei jedem Angeklagten, der sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hat, geprüft, ob für die geleisteten Beihilfehandlungen lebenslanges Zuchthaus die angemessene Sühne sei, die Frage nach Abwägung aller für die Strafzumessung massgebenden Gesichtspunkte jedoch verneint.

Allgemein ist für alle der Beihilfe zum Mord schuldigen Angeklagten zu sagen, dass nicht unberücksichtigt bleiben konnte, dass die Tatantriebe zu den Verbrechen von der höchsten Staatsführung ausgingen und in einer Zeit geschahen, in der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus eine beispiellose geistige Verwirrung herrschte. Durch jahrelange Propaganda und geschickte psychologische Beeinflussung hatten es die NS-Machthaber verstanden, die überkommenen Wertvorstellungen in Frage zu stellen und die Grenzen zwischen Recht und Unrecht zu verwischen. In der SS waren die Angeklagten dieser Propaganda und Beeinflussung besonders intensiv ausgesetzt. Die Angeklagten wurden von dem verbrecherischen Regime, dem sie unbedingten Gehorsam geschworen hatten, missbraucht. Sie hatten ihr Leben, bevor sie in das KL Auschwitz kamen, straffrei verbracht oder mussten zumindest als straffrei angesehen werden. Unter normalen Verhältnissen, wie sie in einem geordneten Staatswesen herrschen, hätten sie wohl trotz ihrer teilweise schwachen charakterlichen Eigenschaften kaum jemals Mord oder Beihilfe zum Mord begangen. Das zeigt sich auch darin, dass sie nach dem Zusammenbruch des sog. Dritten Reiches alle wieder in ein geordnetes, arbeitsames Leben zurückgefunden haben. In der Atmosphäre des KL
Auschwitz, in die sie hineinbefohlen wurden und die - wie der Zeuge Dr. M. sich ausdrückte - bewirkte, dass jeder, der nach Auschwitz kam, nach zwei Wochen nicht mehr "normal reagieren" konnte und durch das negative Beispiel ihrer Vorgesetzten, vor allem der höheren Führung, war für alle Angeklagten die Gefahr, die überkommenen Wertvorstellungen über Bord zu werfen und an den Verbrechen mitschuldig zu werden, ohne Zweifel erheblich grösser, als in einer geordneten Umgebung.

Damit kann zwar ihre Beteiligung an den Verbrechen nicht entschuldigt werden. Ihre Schuld erscheint jedoch im Hinblick auf die damaligen Zeitverhältnisse und die im KL Auschwitz herrschende Atmosphäre gegenüber der Schuld der Haupt- und Mittäter in einem milderen Licht, so dass als Sühne für ihre Tatbeiträge zeitige Zuchthausstrafen in dem gesetzlich vorgesehenen Strafrahmen zwischen 3 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Zuchthaus als ausreichend erscheinen.

Andererseits war bei keinem der Angeklagten die Schuld so gering, dass ein Absehen von Strafe nach §47 Abs.III MStGB in Frage hätte kommen können.

2. Strafzumessung bezüglich des Angeklagten Mulka

Beim Angeklagten Mulka lag es besonders nahe, die lebenslange Zuchthausstrafe für alle vier Fälle der Beihilfe zum Mord in Betracht zu ziehen. Das Schwurgericht hat jedoch auch bei ihm zeitige Zuchthausstrafen für ausreichend angesehen. Allerdings ist der Unrechtsgehalt der von ihm geleisteten Tatbeiträge sehr hoch. Als Adjutant hat er in einer wichtigen und verantwortlichen Stelle an der Verwirklichung des Vernichtungsprogrammes der NS-Machthaber mitgewirkt. Als er Adjutant wurde, waren zwar bereits jüdische Menschen im Rahmen der sog. "Endlösung der Judenfrage" umgebracht worden, das Vernichtungsprogramm lief aber zu seiner Zeit erst richtig an. Die organisatorischen

Voraussetzungen für eine Massenvernichtung im grossen Stil wurden gerade während seiner dienstlichen Tätigkeit geschaffen (Umbau der Bauernhäuser zu Gaskammern, Einrichtung der vier neuen Krematorien mit unterirdischen Gaskammern). An ihrer Verwirklichung hat er als Adjutant zumindest indirekt aber auch dadurch direkt mitgewirkt, dass er sich um die Fertigstellung der gasdichten Türen bemüht und eine Fahrgenehmigung für das Abholen von Zyklon B aus Dessau, das für die Tötung der jüdischen Menschen bestimmt war, eingeholt hat. Ihn trifft daher eine besonders hohe Verantwortung.

Wenn das Schwurgericht gleichwohl zeitige Zuchthausstrafen für ausreichend hielt, so nur deswegen, weil bei ihm wegen seines hohen Alters und seines angegriffenen Gesundheitszustandes eine besondere Strafwirkung besteht und weil auch für ihn die unter 1. gemachten Ausführungen zutreffen. Er ist zwar erst in reiferen Jahren freiwillig in die SS, und zwar zu einem Zeitpunkt eingetreten, in dem er damit hätte rechnen müssen, in Verbrechen verstrickt zu werden. Nicht sicher ist jedoch - wie schon oben ausgeführt - dass er überhaupt daran gedacht hat, für Verbrechen missbraucht zu werden. Wie alle anderen Angeklagten ist auch der Angeklagte Mulka erst im KL Auschwitz durch die Befehle der NS-Staatsführung zum Verbrecher geworden. Vorher hat er ein ordentliches, straffreies Leben geführt. Die Strafe aus dem Jahre 1920 hatte ausser Betracht zu bleiben, da sie inzwischen im Strafregister getilgt ist. Wäre er nicht magenkrank geworden, sondern kriegsverwendungsfähig geblieben, wäre er wahrscheinlich nie in das KL Auschwitz gekommen und wohl nie zum Gehilfen von Mördern geworden. Die Verkettung unglücklicher Umstände hat dazu beigetragen, dass er in den Vernichtungsapparat eingespannt wurde.

Als Sühne konnten bei ihm allerdings nur Strafen in Frage kommen, die an der oberen Grenze des für zeitige Zuchthausstrafen geltenden Strafrahmens liegen. Wie schon ausgeführt, hatte er im KL Auschwitz neben dem Lagerkommandanten, der für die Verwirklichung des Vernichtungsprogramms verantwortlich war, eine wichtige Schlüsselstellung inne. Als Adjutant und Stabsführer war er nach dem Lagerkommandanten und neben dem ersten Schutzhaftlagerführer nach Rang und Amtsstellung eine der wichtigsten Persönlichkeiten im KL Auschwitz sowohl für das Lager als auch für die durchzuführenden Massenmorde. Dass er hierbei die gegebenen Befehle zumindest bedenken- und skrupellos ausgeführt hat, ergibt sich daraus, dass er sich als Adjutant - wie oben schon ausgeführt - im Sinne der SS "bewährt" hat.

Durch die Benachrichtigung der einzelnen Abteilungen und das Geben der Einsatzbefehle nach der Ankunft der RSHA-Transporte hat er die gesamte Mordmaschinerie in Gang gesetzt, also einen entscheidenden Beitrag für die Vernichtung der mit den Transporten angekommenen Menschen geleistet. Besonders gravierend ist, dass er auch mehrfach mit auf der Rampe gewesen ist und zumindest in einem Fall die Vernichtung eines RSHA-Transportes geleitet und die Oberaufsicht geführt hat. Dadurch hat er dazu beigetragen, dass die ihm untergebenen SS-Führer, Unterführer und Mannschaften die ihnen übertragenen Aufgaben bei der Verwirklichung des Mordplanes bedenkenlos ausführten. Dass er mit eiserner Strenge und brutaler Härte darüber wachte, dass die "Abwicklung" des betreffenden RSHA-Transportes reibungslos vonstatten ging, zeigt die befohlene Tötung des Häftlings, der sich gegen das Schweigegebot vergangen hatte.

Der Angeklagte Mulka hat auch sonst nichts getan, um dem Terror im Schutzhaftlager zu steuern oder das Los der erniedrigten, ausgehungerten und jeder Menschenwürde beraubten Häftlinge zu erleichtern. Er hat zumindest vor dem Geschehen im Lager bewusst die Augen verschlossen. Als Gerichtsoffizier hätte er die Möglichkeit gehabt, ja, er wäre sogar dazu verpflichtet gewesen, Übergriffe der SS-Angehörigen, der Kapos und Blockältesten gegenüber den Häftlingen, die auch von der höheren SS-Führung missbilligt wurden, abzustellen. Er hat sich darum aber nicht gekümmert. Das wirft ein ungünstiges Licht auf seine Persönlichkeit.

Nach Abwägung all dieser Gesichtspunkte hielt das Schwurgericht für jeden Fall der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord (mindestens 4 Fälle) eine Einzelstrafe von je 10 Jahren Zuchthaus für eine angemessene Sühne.

Aus diesen Einzelstrafen war gem. §74 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden. Im Hinblick auf die wichtige Stellung, die der Angeklagte Mulka im KL Auschwitz innehatte, den hohen Unrechtsgehalt seiner Tatbeiträge und die grosse Zahl der Opfer, an deren Tötung er mitgewirkt hat und die Persönlichkeit des Angeklagten erschien eine Gesamtstrafe in Höhe von 14 Jahren als angemessene Sühne.

B. Die Straftaten des Angeklagten Höcker

I. Lebenslauf des Angeklagten Höcker

Der Angeklagte Höcker ist am 11.12.1911 als Sohn eines Maurermeisters, der im Ersten Weltkrieg im Jahre 1915 gefallen ist, geboren. Er war das jüngste von 6 Kindern. Seine Mutter betrieb eine kleine Landwirtschaft. Der Angeklagte besuchte von 1918 bis 1926 die Volksschule in Preussisch-Oldendorf. Anschliessend absolvierte er in einer Maschinenfabrik eine vierjährige kaufmännische Lehre bis zum Jahre 1933. Danach arbeitete er in einem Eisenwarengeschäft in Preussisch-Oldendorf als Buchhalter. 1931 wurde er arbeitslos. Er erhielt angeblich keine Unterstützung. Von Anfang 1933 an leistete er freiwillig ein halbes Jahr lang Notstandsarbeiten (Flussregulierungen usw.) bei einem Tageslohnsatz von 1.80 RM. Im Juni 1933 wurde er als Kassengehilfe bei der Amtskasse in Preussisch-Oldendorf eingestellt. Später wechselte er zur Zweigstelle der Kreissparkasse von Preussisch-Oldendorf nach Lübbecke über.

Im Oktober 1933 bewarb sich der Angeklagten um Aufnahme in die allgemeine SS. Damals sei - so gibt der Angeklagte an - eine Anordnung ergangen, dass alle im öffentlichen Dienst Beschäftigten um Aufnahme in die Partei oder eine ihrer Gliederungen nachsuchen sollten. Er habe der SA beitreten wollen, sei aber zurückgewiesen worden. Daher habe er sich um Aufnahme in die SS bemüht. Ihm sei der Unterschied zwischen SA und SS damals nicht klar gewesen. Bei Kriegsausbruch war der Angeklagte SS-Staffelmann.

Im Jahre 1937 wurde der Angeklagte als Anwärter in die NSDAP aufgenommen. Er gibt an, er habe sich aus beruflichen Gründen um die Aufnahme in die Partei beworben.

Am 16.11.1939 wurde der Angeklagte zum 9. SS-Infanterieregiment nach Danzig eingezogen und erhielt dort zunächst eine militärische Ausbildung. Als später 2 Bataillone dieses Regiments nach Prag verlegt werden sollten, wurde eine allgemeine Untersuchung der SS-Angehörigen dieser Einheit durchgeführt, bei der der Angeklagte nur als g.v.H. befunden wurde. Er wurde nach Berlin geschickt und von dort zum KL Neuengamme versetzt. Dort versah er kurze Zeit Wachdienst, kam anschliessend zur Kompanieschreibstube und dann zur Schreibstube der Kommandantur, wo er Sachbearbeiter für Personalangelegenheiten der zum KZ Neuengamme gehörenden SS-Truppe war. Während seiner Tätigkeit in Neuengamme wurde der Angeklagte zum SS-Unterscharführer befördert. Im Frühjahr 1942 wurde der Angeklagte als Stabsscharführer in das KZ "Nebenlager Arbeitsdorf" in die Nähe von Wolfsburg versetzt. Nach Auflösung dieses Lagers kam er im Herbst 1942 für einige Wochen auf den Truppenübungsplatz Debica bei Krakau zur militärischen Ausbildung. Anschliessend wurde er zu einer Vorbereitungslehrkompanie für die SS-Junkerschule in Braunschweig nach Dachau "Truppenlager" kommandiert. Nach Absolvierung der SS-Junkerschule wurde der Angeklagte Ende Mai 1943 zum SS-Untersturmführer befördert und über das SS-WVHA in Berlin als Adjutant zu dem KL Majdanek bei Lublin versetzt. Der Angeklagte will dieser Versetzung widersprochen haben. Er habe - so gibt er an - zur kämpfenden Truppe gewollt. Man habe ihm aber befohlen, nach Lublin zu gehen. Im Juli 1943 erkrankte der Angeklagte. Er kam für 1/4 Jahr in das Lazarett. Dann kehrte er wieder nach Lublin zurück (November 1943). Im Mai 1944 wurde er zu dem KZ Auschwitz versetzt. Dort wurde er als Adjutant des Lagerkommandanten Baer eingesetzt und am 21.Juni 1944 zum SS-Obersturmführer befördert. Nach der Auflösung des KZ Auschwitz im Januar 1945 wurde der Angeklagte Adjutant im KZ Nordhausen, wo er etwa 4-6 Wochen verblieb. Alsdann kam er zu einer Kampftruppe, die sich im Norden formierte. Er kam aber nicht mehr zum Einsatz. Gegen Kriegsende geriet der Angeklagte in britische Gefangenschaft. Er gab sich als Unteroffizier der Wehrmacht aus. Über seine Tätigkeit in Lublin, Majdanek und Auschwitz sowie seine Zugehörigkeit zur SS machte er keine Angaben. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Ende Januar 1946 meldete er sich beim Arbeitsamt. Er war dann einige Zeit in der Landwirtschaft und an verschiedenen Stellen als Buchhalter tätig. 1952 erstattete der Angeklagte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen sich selbst, um ein Spruchkammerverfahren gegen sich durchführen zu lassen. Durch Strafbescheid vom 19.1.1953 erhielt er wegen Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation (SS) eine Gefängnisstrafe von 9 Monaten, die er jedoch nicht zu verbüssen brauchte. Der Angeklagte war bei der Kreissparkasse in Lübbecke bis zum 30.6.1963 als Hauptkassierer beschäftigt. Dann wurde er entlassen. Vom 1.7.1963 bis Mitte November 1963 war er als Arbeiter tätig. Danach wurde er arbeitslos.

Der Angeklagte hat im Jahre 1937 geheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen.

Seit dem 25.3.1965 befindet sich der Angeklagte auf Grund des Haftbefehls des erkennenden Schwurgerichts vom 25.3.1965 in Untersuchungshaft.

II. Die Mitwirkung des Angeklagten Höcker an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)

Der Angeklagte Höcker hat als Adjutant des Lagerkommandanten Baer im KL Auschwitz ab Mai 1944 ebenfalls an der Vernichtung der RSHA-Transporte mitgewirkt.

Auch nach der oben erwähnten Dreiteilung des Gesamtlagerbereichs in die Lager A I, A II und A III blieb die Kommandantur des Lagers A I weiterhin für die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig. Zeitweise kam im Jahre 1944 auch der frühere Lagerkommandant Höss, der im Oktober 1943 anstelle von Liebehenschel Amtschef des Amtes D I der Amtsgruppe D im WVHA geworden war, als "Sonderbeauftragter für die Judenumsiedlung" nach Auschwitz, um hier die Vernichtung der RSHA-Transporte, die in der Zeit zwischen Mai und Spätsommer 1944 pausenlos aus Ungarn ankamen (sog. Ungarn-Transporte) persönlich zu leiten. Höss war während dieser Zeit gleichzeitig Standortältester, während sonst diese Funktion durch den Lagerkommandanten des Lagers A I ausgeübt wurde. Der Angeklagte Höcker war gleichzeitig Adjutant des Standortältesten.

Die RSHA-Transporte wurden ebenso wie zur Zeit Mulkas vom RSHA oder den Gestapoleitstellen, die davon dem RSHA Mitteilung machten, der Kommandantur des Lagers A I meist per Fernschreiben angekündigt. Der Adjutant oder ein Mitglied des Kommandanturstabes des Lagers A I benachrichtigten daraufhin die verschiedenen Abteilungen der Lager Auschwitz I und Birkenau und gaben die Einsatzbefehle für die zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen.

In mindestens drei Fällen hat der Angeklagte Höcker telefonisch nach der Ankündigung von RSHA-Transporten die verschiedenen Abteilungen der Lager von der Ankunft der Transporte verständigt und die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben. Der Angeklagte Höcker war auch mehrfach, mindestens zweimal, mit ranghöheren SS-Führern während der Vernichtung von sog. RSHA-Juden bei einem der vier Krematorien anwesend. Dass er hierbei eine bestimmte Tätigkeit entfaltet hätte, konnte nicht festgestellt werden.

Dem Angeklagten Höcker unterstand als Adjutanten auch die Fahrbereitschaft. Er war verantwortlich für den Einsatz der LKWs, die die Kranken und gehunfähigen RSHA-Juden von der Rampe in Birkenau zu den Gaskammern transportierten. Allerdings war der Einsatz dieser LKWs bereits vor der Ankunft Höckers in Auschwitz allgemein geregelt. Der Angeklagte Höcker brauchte daher für die Abwicklung von RSHA-Transporten keine besonderen Einsatzbefehle an die Fahrbereitschaft mehr zu geben. Es bedurfte lediglich der Benachrichtigung der Fahrbereitschaft, dass ein Transport angekündigt sei und sich die LKW-Fahrer an der Rampe einzufinden hätten. In den drei genannten Fällen hat der Angeklagte Höcker auch die Fahrbereitschaft in dieser Weise benachrichtigt.

Durch die geschilderten Handlungen hat der Angeklagte Höcker bei der Tötung von mindestens je 1000 Menschen aus drei verschiedenen RSHA-Transporten, die zu verschiedenen Zeiten in Auschwitz angekommen sind, mitgewirkt.

Dem Angeklagten Höcker war bekannt, dass die jüdischen Menschen, die mit diesen sog. RSHA-Transporten ankamen, in den Gaskammern getötet wurden, soweit sie nicht als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen wurden. Er wusste auch, dass sie nur deshalb getötet wurden, weil sie Juden waren. Er war auch darüber informiert, dass die Deportationen der Juden nach Auschwitz unter strengster Geheimhaltung und unter Verwendung von Tarnbezeichnungen erfolgten und dass die Juden in der oben geschilderten Weise über ihr bevorstehendes Schicksal bis zuletzt getäuscht wurden und daher ahnungslos in die Gaskammer hineingingen. Er kannte auch die Ängste, den Schrecken und die Todesqual, die die Opfer jeweils ergriffen, wenn das Gas eingeschüttet worden war und die Opfer merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten. Dem Angeklagten Höcker war auch klar, dass er jeweils durch die Benachrichtigung der verschiedenen Abteilungen im Lager nach der Ankündigung der RSHA-Transporte jeweils den gesamten Vernichtungsapparat in Auschwitz in Gang setzte und dadurch selbst einen Beitrag zu den Massentötungen leistete.

III. Die Einlassung des Angeklagten Höcker

Der Angeklagte Höcker bestreitet jede Mitwirkung bei der Vernichtung der RSHA-Transporte. Er behauptet, dass das Lager A I damit überhaupt nichts zu tun gehabt habe. Die Fernschreibstelle habe die Fernschreiben, die die RSHA-Transporte angekündigt hätten, sofort nach dem Lager Birkenau weitergegeben. Die dortige Kommandantur hätte dann den Standortarzt, die Politische Abteilung, die Fahrbereitschaft und die Abteilungen ihres Lagers von der Ankunft der Transporte benachrichtigt und die Abwicklung der RSHA-Transporte, die sofort in das Lager Birkenau auf die dortige Rampe gefahren worden seien, in eigener Zuständigkeit durchgeführt. Er selbst habe nie RSHA-Transporte gesehen. Er sei auch nie auf der Rampe in Birkenau gewesen und habe nie eine Selektion miterlebt. Die Vollzugsmeldungen und die durchgeführten Vergasungen seien durch das Lager Birkenau erfolgt. Es könne sein, dass sie durch seine Hand gegangen seien. Er habe sie jedoch nicht unterzeichnet, höchstens abgezeichnet.

Über die Behandlung der Juden und über die "Sonderbehandlung" habe er keine Fernschreiben oder sonstige Schreiben gesehen. Die Bezeichnung "SB" habe er nicht gekannt, als er nach Auschwitz gekommen sei. Er wisse nicht mehr, wann er diese Bezeichnung zum ersten Mal gehört habe. Von den Ungarn-Transporten habe er nur zufällig aus Fernschreiben erfahren.

Der Angeklagte Höcker behauptet ferner, er sei nie im Lager Birkenau gewesen. Er habe erst im Laufe der Zeit in Auschwitz erfahren, dass in Birkenau Gaskammern seien. Mit Abscheu habe er von den Vergasungen Kenntnis genommen. Der Angeklagte Höcker behauptet schliesslich, die Fahrbereitschaft habe dem Lagerkommandanten unterstanden. Die Fahrbefehle habe der Leiter der Fahrbereitschaft, Untersturmführer Wiegand, unterschrieben. Auf Grund einer generellen Anordnung des Lagerkommandanten habe die Fahrbereitschaft dem Lager A II jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Fahrzeugen zur Verfügung stellen müssen. Der Einsatz dieser Fahrzeuge sei durch den Kommandanten des Lagers Birkenau befohlen worden.

IV. Beweiswürdigung

Die Einlassung des Angeklagten Höcker ist unglaubhaft. Unwahrscheinlich ist zunächst, dass er als Adjutant die RSHA-Transporte nie gesehen und von den Gaskammern erst im Laufe der Zeit erfahren haben will. Ebenso ist schon an sich unwahrscheinlich, dass die Kommandantur des Lagers A II die Dienststelle des Standortarztes, die Politische Abteilung und die Fahrbereitschaft von der Ankunft von RSHA-Transporten benachrichtigt haben soll und diesen Dienststellen die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben haben soll. Denn diese Dienststellen unterstanden nicht - auch nicht nach der Einlassung des Angeklagten Höcker - der Kommandantur des Lagers Birkenau und waren auch nicht dort, sondern in A I untergebracht.

Seine Einlassung ist aber auch durch die Beweisaufnahme widerlegt worden. Der Angeklagte Höcker selbst hat angegeben, dass der Lagerkommandant des Lagers A I, Sturmbannführer Baer, nach dem Anlaufen der sog. Ungarn-Aktion ihm gegenüber geäussert habe: "Dieser Eichmann kann doch nicht machen, was er will, er soll die Juden in Ungarn behalten!" Höcker hat dann weiter erklärt, Baer sei dann wegen dieser Ungarn-Aktion in Berlin im WVHA bei SS-Obergruppenführer Pohl und im RSHA bei SS-Gruppenführer Müller vorstellig geworden. Das Gericht hat keine Zweifel, dass Höcker insoweit die Wahrheit gesagt hat.

Wenn sich Baer als Kommandant des Lagers A I wegen der Ungarn-Aktion mit den massgebenden Dienststellen in Verbindung gesetzt hat, so beweist das, dass er auch für deren Abwicklung in Auschwitz zuständig gewesen ist. Hätte die Kommandantur des Lagers A I nichts damit zu tun gehabt, hätte für Baer keine Veranlassung bestanden, deswegen mit den Dienststellen in Berlin zu verhandeln. Dies wäre Sache des Kommandanten von Birkenau gewesen.

War aber Baer als Kommandant des Lagers A I mit den Vernichtungsaktionen der RSHA-Juden befasst, so beweist dies, dass - entgegen der Einlassung des Angeklagten Höcker - die Kommandantur des Lagers A I und nicht die Kommandantur des Lagers A II für die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig gewesen ist. Daraus ergibt sich weiter, dass Höcker als Adjutant des Kommandanten von A I mit den RSHA-Transporten zu tun gehabt haben muss.

Dass die Kommandantur des Lagers A I auch im Jahre 1944 für die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig gewesen ist, wird ferner bestätigt durch die Zeugin Ba. Diese Zeugin kam - nach ihrer glaubhaften Aussage - am 23.11.1943 als Fernschreiberin nach Auschwitz und blieb dort bis zur Evakuierung des Lagers. Sie hat bekundet, dass sie im Jahre 1944 nachts Fernschreiben, die RSHA-Transporte angekündigt hätten, nach "oben" d.h. zur Kommandantur des Lagers A I gebracht habe. Die Zeugin hat nichts davon gewusst, dass diese Fernschreiben nach Birkenau zu der dortigen Kommandantur hätten weitergeleitet werden sollen oder weitergeleitet worden sind. Nach Ansicht der Zeugin sind auch solche Fernschreiben, die tagsüber in der Fernschreibstelle eingelaufen sind, ebenfalls zur Kommandantur des Lagers A I gebracht worden. Allerdings konnte sich die Zeugin nicht mehr konkret daran erinnern.

Auch der Angeklagte Baretzki hat die Zuständigkeit der Kommandantur des Lagers A I für die Abwicklung der RSHA-Transporte bestätigt. Baretzki, der als Blockführer im Lagerabschnitt B II d eingesetzt war, hat glaubhaft erklärt, dass ihm die RSHA-Transporte stets von der Kommandantur A I angekündigt worden seien, wenn er sich in der Blockführerstube aufgehalten habe und dass auch von dieser Kommandantur die Einsatzbefehle für den Rampendienst gekommen seien.

Schliesslich hat der bereits oben erwähnte Zeuge Wal., der 1944 Spiess bei der Kommandantur im Lager A I gewesen ist, bei seiner Vernehmung am 25.3.1965 bekundet, dass die Fernschreiben, mit denen RSHA-Transporte angekündigt worden seien, dem Adjutanten vorgelegt worden seien. Nur wenn der Adjutant gerade abwesend gewesen sei, habe er als Spiess die Fernschreiben bekommen und quittieren müssen. Später habe er dann diese Fernschreiben dem Adjutanten übergeben, sobald dieser zurückgekommen sei. Einige Male habe er Höcker auf diese Weise Fernschreiben hingebracht. Höcker habe daraufhin jedesmal sofort telefonisch die einzelnen Abteilungen von der Ankunft der Transporte benachrichtigt, unter anderem das Schutzhaftlager, die Politische Abteilung und das Lager Birkenau. Dies habe er selbst mit eigenen Ohren mit angehört. Das Schwurgericht hat dem Zeugen Wal. geglaubt. Von der Verteidigung sind gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen Bedenken geltend gemacht worden, weil der Zeuge bei seiner ersten Vernehmung am 13.8.1964 in einer Reihe von Punkten offensichtlich die Unwahrheit gesagt habe.

Es ist zwar richtig, dass der Zeuge Wal. den Angeklagten Höcker bei seiner ersten Vernehmung am 13.8.1964 nicht belastet hat. Er hat nichts davon erwähnt, dass Höcker Fernschreiben mit der Ankündigung von RSHA-Transporten erhalten und die einzelnen Abteilungen von der Ankunft der Transporte verständigt habe. Der Zeuge hielt aber bei dieser Vernehmung offensichtlich mit der Wahrheit zurück. Er machte einen unsicheren und gequälten Eindruck.

Das Schwurgericht gewann die Überzeugung, dass er aus Angst, sich selbst belasten zu müssen und aus Angst, von dem Angeklagten Höcker umgekehrt belastet zu werden, falls er die Wahrheit sage, in vielen Punkten die Unwahrheit gesagt hat. So gab der Zeuge bei dieser Vernehmung z.B. an, er habe nichts von Erschiessungen an der Schwarzen Wand und von Tötungen durch Phenol gehört und auch nichts davon gewusst, auch sei er nie auf der Rampe gewesen. Der Angeklagte Baretzki hat demgegenüber sofort spontan nach dieser Aussage erklärt, dass er den Zeugen Wal. oft auf der Rampe gesehen habe. Wal. sei mit dem Motorrad dort hingekommen.

Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft wurde der Zeuge Wal. nach seiner Vernehmung am 13.8.1964 wegen des Verdachtes, vorsätzlich falsch ausgesagt zu haben, vorläufig festgenommen. Am nächsten Tag, den 14.8.1964, berichtigte und ergänzte der Zeuge Wal. seine Aussage vom vorhergehenden Tag. Er gab an, dass er auf Grund der Vorladung verwirrt und deprimiert gewesen sei. Er gab nun zu, selbst auf der Rampe gewesen zu sein. Mit aller Bestimmtheit erklärte er, dass Höcker auf Grund von Fernschreiben, die auf seinem Tisch gelegen hätten, die verschiedenen Abteilungen des Lagers telefonisch von der Ankunft der RSHA-Transporte verständigt und befohlen habe, man möge das Entsprechende veranlassen. Unter anderem habe er das Schutzhaftlager, die Politische Abteilung und die Abtlg. Verwaltung angerufen.

Von der Verteidigung sind Bedenken gegen die Richtigkeit dieser Aussage geltend gemacht worden, weil Wal. diese Aussage nicht frei gemacht habe, sondern unter dem Druck seiner vorläufigen Festnahme gestanden und eine erneute Verhaftung befürchtet habe. Seine vorläufige Festnahme sei nicht wegen einer vorsätzlichen falschen Aussage, sondern wegen einer etwaigen Beteiligung des Zeugen an Verbrechen in Auschwitz erfolgt. Dem Zeugen sei am 13.8.1964 vor Beendigung seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft gesagt worden, dass seine vorläufige Festnahme entfalle, wenn er in der Hauptverhandlung vom 14.8.1964 seine Aussage berichtige. Dem Zeugen sei auch nicht von selbst am 14.8.1964 die geschilderte Tätigkeit des Angeklagten Höcker in Erinnerung gekommen. Ihm sei vielmehr von den vernehmenden Staatsanwälten vorgehalten worden, dass es so gewesen sein müsse, und dass Wal. als damaliger Spiess das wissen müsse. Die Aussage des Zeugen Wal. sei daher nicht verwertbar.

Das Schwurgericht hat den Zeugen Wal. am 25.3.1965 erneut vernommen. Bei dieser Vernehmung hat Wal. die am 14.8.1964 gemachte Aussage bestätigt und dahin präzisiert, dass er Höcker einige Male Fernschreiben hingebracht habe, und dass dieser daraufhin jedesmal in seiner Gegenwart die einzelnen Abteilungen von der Ankunft der Transporte verständigt habe und die Veranlassung des Erforderlichen befohlen habe.

Das Schwurgericht ist davon überzeugt, dass der Zeuge Wal. bei dieser Vernehmung die Wahrheit gesagt hat. Wenn er auch am 13.8. offensichtlich eine falsche Aussage gemacht hat, so ist das noch kein Grund, seine späteren Angaben als unglaubhaft und nicht verwertbar anzusehen. Die erste falsche Aussage war motiviert durch die Angst vor Strafe. Dem Zeugen war diese Angst in der Vernehmung anzumerken.

Bei der Vernehmung am 25.3.1965 war der Zeuge wie erleichtert. Er sprach frei und gelöst. Irgendeine Zwangslage bestand für ihn nicht. Auch eine erneute Verhaftung oder vorläufige Festnahme brauchte er nicht zu befürchten. Denn der Zeuge Staatsanwalt Wie. hat die bereits am 14.8.1964 von dem Zeugen Wal. gemachte Aussage bestätigt, dass ihm - Wal. - am 13.8.1964 durch die Staatsanwälte Wie. und Kü. keine Versprechungen gemacht worden sind, und dass er - Wal. - auch in keiner Weise unter Druck gesetzt worden sei. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Staatsanwalt Wie. ist der Zeuge Wal. nur wegen des Verdachtes einer vorsätzlichen falschen Aussage festgenommen worden.

Sollte der Zeuge Wal. bei seiner Vernehmung am 14.8.1965 wegen der Festnahme am 13.8.1965 unter einem gewissen Druck gestanden haben, so war dieser am 25.3.1965 jedenfalls nicht vorhanden. Nach der Überzeugung des Schwurgerichts hat der Zeuge Wal. den Angeklagten Höcker nicht wahrheitswidrig belastet. Irgendein Motiv hierfür bestand für den Zeugen nicht. Vor allem konnte er aus einer wahrheitswidrigen Belastung des Angeklagten Höcker keine Vorteile für sich ziehen. Er musste sich im Gegenteil zumindest indirekt selbst belasten. Wenn er - wie er ausgesagt hat - dem Angeklagten Höcker die Fernschreiben gebracht hat, hat er nämlich ebenfalls einen - wenn auch geringen - Tatbeitrag für die Abwicklung der RSHA-Transporte geleistet. Wäre - wie es der Angeklagte Höcker behauptet - allein die Kommandantur des Lagers Birkenau für die Benachrichtigung der einzelnen Abteilungen zuständig gewesen, so hätte der Zeuge das ohne Zweifel bei seiner ersten Vernehmung angegeben. Denn damit hätte er auch sich in jeder Beziehung entlasten können.

Schliesslich stimmen die Angaben des Zeugen Wal., die er in der Vernehmung vom 25.3.1965 gemacht hat, auch überein mit der aus den anderen Beweismitteln gewonnenen Erkenntnis und Überzeugung, dass die Kommandantur des Lagers A I, und nicht die Kommandantur des Lagers Birkenau, für die Benachrichtigung der einzelnen Abteilungen und die Abwicklung der RSHA-Transporte zuständig gewesen ist.

Der Angeklagte Höcker war auch während der Tötung jüdischer Menschen in Begleitung höherer SS-Führer bei den Gaskammern. Dies ist erwiesen auf Grund der Aussage des Zeugen Pa. Der Zeuge hat den Angeklagten Höcker in der Hauptverhandlung wiedererkannt. Allerdings kannte der Zeuge weder in Auschwitz noch jetzt den Namen des Angeklagten Höcker. Es war daher die Möglichkeit einer Verwechslungsgefahr in Erwägung zu ziehen. Bezüglich des Angeklagten St. hat sich der Zeuge Pa. geirrt. Er hat geglaubt, ihn auch an den Krematorien gesehen zu haben. St. war aber im Jahre 1944 bereits von Auschwitz weg. Der Zeuge hat ihn daher offensichtlich mit einem anderen SS-Mann verwechselt. Bei St. konnte der Zeuge aber keine näheren Angaben machen.

Bezüglich des Angeklagten Höcker konnte sich der Zeuge aber noch erinnern, dass er mit anderen höheren SS-Führern zusammen gewesen sei. Vor diesen habe er salutiert. Auf Grund dieser näheren Angaben hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass sich Pa. in der Person des Angeklagten Höcker nicht geirrt hat. Denn es erscheint naheliegend, dass Höcker als Adjutant den Kommandanten Baer oder den "Sonderbeauftragten für die Judenumsiedlung", Höss, zu den Krematorien begleitet hat. Da Pa. nichts über eine besondere Tätigkeit des SS-Führers, der vor höheren SS-Führern salutiert hat, berichten konnte, entspricht auch die Schilderung des Zeugen der Stellung undTätigkeit eines Lageradjutanten.

Schliesslich hat dem Angeklagten Höcker auch die Fahrbereitschaft unterstanden. Dies folgt nicht nur aus der Lagerordnung, sondern auch aus einer Reihe von Urkunden, die verlesen worden sind. So ergibt sich aus den Kraftfahrzeuganforderungen der Abteilung II vom 26.5.1944, 31.5.1944, 5.7.1944, einer weiteren Anforderung vom 26.5.1944, aus den Kraftfahrzeuganforderungen der Technischen Abteilung vom 30.5.1944 und der Kraftfahrzeuganforderung der Abteilung Verwaltung vom 31.5.1944, dass Höcker all diese Anforderungen als Adjutant genehmigt hat. Wenn er aber die Benutzung und den Einsatz von Kraftfahrzeugen zu genehmigen hatte, so folgt daraus, dass ihm die Fahrbereitschaft unterstanden hat. Schliesslich ist auch auf Grund einer Reihe von Standortbefehlen erwiesen, dass der Angeklagte Höcker Adjutant des Standortältesten gewesen ist. Aus den verlesenen Standortbefehlen vom 3.8.1944, 30.8.1944, 20.10.1944 und 11.10.1944 ergibt sich, dass der damalige Lagerkommandant des Lagers A I, Baer, zu dieser Zeit Standortältester und Höcker Adjutant desselben gewesen ist. Denn Baer hat die Befehle unterzeichnet, während der Angeklagte Höcker für die Richtigkeit die Abschriften gezeichnet hat.

Aus dem Standortbefehl vom 27.6.1944 ergibt sich, dass Höss zu dieser Zeit Standortältester gewesen ist, und dass Höcker auch in diesem Fall f.d.R. der Abschrift gezeichnet hat, also Adjutant des Standortältesten gewesen ist.

Weiter ergibt sich aus einem Aktenvermerk vom 17.6.1944, dass Höss zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Standortältester in Auschwitz gewesen ist.

Die Zahl der Transporte, an deren Vernichtung der Angeklagte Höcker mitgewirkt hat, konnte nicht festgestellt werden. Das Schwurgericht hat daher - genau wie im Falle Mulka -, da es sich nicht auf unsichere Schätzungen einlassen durfte, nur die Mindestzahl der Transporte, an deren Vernichtung der Angeklagte Höcker mit jeden Zweifel ausschliessender Sicherheit mitgewirkt hat, seinen Feststellungen und seinem Urteil zugrunde gelegt.

Der Zeuge Wal. hat glaubhaft bekundet, dass er den Angeklagten Höcker "einige Male" dabei beobachtet habe, wie er nach der Ankündigung von RSHA-Transporten die einzelnen Abteilungen benachrichtigt und die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben habe. Das bedeutet, dass Höcker mehr als zweimal, mindestens also dreimal den gesamten Vernichtungsapparat in Bewegung gesetzt, also mindestens bei drei verschiedenen Transporten an der Vernichtung beteiligt gewesen ist. Die Ungarn-Transporte, die ab Mai 1944 in Auschwitz ankamen, waren nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Hi., der in der damaligen Zeit bei der Güterabfertigung am Bahnhof Auschwitz beschäftigt gewesen ist, durchschnittlich 3000 Personen stark. Rechnet man hiervon 25% ab, die im Höchstfall als arbeitsfähig ausgesondert und in das Lager aufgenommen worden sind, so verbleiben 2250 Menschen, die getötet worden sind. Um ganz sicher zu gehen und allen möglichen Schwankungen Rechnung zu tragen, ist das Schwurgericht nur davon ausgegangen, dass von jedem der drei Transporte, an deren Vernichtung der Angeklagte Höcker mitgewirkt hat, mindestens 1000 Menschen getötet worden sind.

V. Rechtliche Würdigung

Der Angeklagte Höcker hat durch die Benachrichtigung der verschiedenen Abteilungen nach Ankündigung von RSHA-Transporten und das Geben der Einsatzbefehle in mindestens 3 Fällen die Tötungen von mindestens je 1000 Menschen gefördert, also jeweils einen kausalen Tatbeitrag zum Mord (vgl. oben unter A. (Mulka) V.) jeweils begangen in gleichartiger Tateinheit geleistet.

Auch Höcker hat auf Befehl seiner Vorgesetzten gehandelt. Seine Taten sind daher, da er ebenfalls Angehöriger der Waffen-SS gewesen ist, im Rahmen des §47 Militärstrafgesetzbuch zu beurteilen.

Der Angeklagte Höcker hat klar erkannt, dass die Befehle, die die Tötung jüdischer Menschen anordneten, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Das hat er selbst eingeräumt. Hierzu kann im übrigen auf die Ausführungen, die bei der rechtlichen Würdigung der Straftaten des Angeklagten Mulka gemacht worden sind, verwiesen werden.

Dafür, dass der Angeklagte Höcker aus innerster Überzeugung die Tötungen der jüdischen Menschen bejaht und die Ziele der damaligen Machthaber, die Juden auszurotten, zu seinem eigenen Anliegen gemacht, also die Tötungen als eigene Taten gewollt habe, haben sich keine sicheren Anhaltspunkte ergeben. Irgendwelche Umstände, aus denen auf einen besonderen Eifer des Angeklagten Höcker geschlossen werden könnte, sind nicht bekannt geworden. So konnte nicht festgestellt werden, dass er aus eigenem Antrieb auf die Rampe gegangen und die SS-Führer, Unterführer oder Mannschaften zu radikalem Vorgehen angetrieben oder sie auf sonstige Weise in ihrer Tätigkeit bestärkt hätte. Nach den getroffenen Feststellungen hat er nur das getan, was ihm befohlen worden war. Daraus konnte trotz seiner langjährigen Zugehörigkeit zur SS und seiner langjährigen Tätigkeit in Konzentrationslagern mit Sicherheit nur der Schluss gezogen werden, dass er die Vernichtungsaktionen als fremde Taten, nämlich als Taten des Führers und seiner Komplizen, fördern und unterstützen wollte. Seine Tatbeiträge können daher nur als Beihilfe im Sinne des §49 StGB bewertet werden.

Irgendwelche Rechtfertigungsgründe für die Beteiligung des Angeklagten Höcker an den Massentötungen sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Höcker hat auch vorsätzlich gehandelt. Er wusste - wie unter II. festgestellt - dass er durch seine oben geschilderte Mitwirkung jeweils einen kausalen Tatbeitrag für die Massentötungen leistete und er kannte die gesamten Tatumstände, die die Beweggründe der Haupttäter als niedrig und die Art und Weise der Tötungen als heimtückisch und grausam kennzeichnen.

Der Angeklagte Höcker wusste auch - ebenso wie der Angeklagte Mulka -, dass die Massentötungen der Juden rechtswidrig waren. Oben ist bereits ausgeführt worden, dass er erkannt hat, dass die Massentötungen der unschuldigen jüdischen Menschen trotz des Befehls Hitlers verbrecherisch waren. Er hat auch nicht irrig angenommen, dass die Tötungsbefehle für ihn trotz ihres verbrecherischen Charakters verbindlich seien. Er beruft sich selbst nicht darauf. Im übrigen kann hierzu auf die unter A.V.2. gemachten Ausführungen Bezug genommen werden.

Der Angeklagte Höcker hat auch nicht im Nötigungsnotstand (§52 StGB) gehandelt. Er selbst behauptet nicht, er sei zur Befolgung irgendwelcher Befehle gezwungen worden. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sein Wille gebeugt worden ist. Er hat vielmehr als williger Befehlsempfänger die ihm gegebenen Befehle ausgeführt. Der Gedanke, sich der Mitwirkung an den Vernichtungsaktionen zu entziehen, ist ihm gar nicht gekommen. Dagegen spricht, dass er seit 1939 in KZ-Lagern Dienst getan hat und immer wieder befördert worden ist. Vor seiner Versetzung nach Auschwitz war er zuletzt Adjutant im KL Majdanek/Lublin. Die Tatsache, dass er vor Beginn der Ungarn-Transporte als Adjutant nach Auschwitz versetzt worden ist, zeigt, dass er sich dort bewährt hat und man ihn für geeignet hielt, an den mit Beginn der RSHA-Transporte aus Ungarn noch stärker einsetzenden Massenvernichtungen der Juden in Auschwitz mitzuwirken. Daraus folgt weiter, dass er seinen KZ-Dienst stets zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erfüllt und stets die Befehle seiner Vorgesetzten willig ausgeführt haben muss.

Höcker hat auch nichts unternommen, um von Auschwitz wegzukommen oder sich irgendwie der Mitwirkung an der Massenvernichtung der Juden zu entziehen. Auch das spricht dafür, dass er ein williger Befehlsempfänger gewesen ist. Der Angeklagte Höcker hat sich auch nicht in einem allgemeinen Notstand (§54 StGB) befunden. Hier gilt das zu §52 StGB Gesagte. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte Höcker irrig die tatsächlichen Voraussetzungen eines Nötigungsnotstandes im Sinne des §52 StGB oder im Sinne des §54 StGB angenommen hätte. Er selbst beruft sich nicht darauf. Bei seinem bereits erörterten Gesamtverhalten ist das auch nicht möglich. Er hat als williger Befehlsempfänger die empfangenen Befehle getreu seinem SS-Eid ausgeführt, ohne überhaupt eine Verweigerung der Mitwirkung in Erwägung zu ziehen.

Der Angeklagte Höcker hat Beihilfe zu mindestens drei selbständigen Mordtaten, bei denen jeweils mindestens 1000 Menschen durch ein und dieselbe Handlung getötet worden sind, geleistet. Er hat die Taten der Haupttäter zusammen mit anderen SS-Angehörigen bewusst gefördert. Daher war er wegen gemeinschaftlicher Beihilfe (§§47, 49 StGB) zu gemeinschaftlichem Mord (§§47, 211 StGB) in mindestens drei Fällen (§74 StGB), wobei jeweils 1000 Menschen durch ein und dieselbe Handlung (§73 StGB) getötet worden sind, zu bestrafen.

VI. Hilfsbeweisanträge

Der Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Höcker, das staatsanwaltschaftliche Protokoll über die Vernehmung des Zeugen Wal. nach seiner Verhaftung durch die Staatsanwaltschaft vollständig zu verlesen, war gemäss §244 StPO abzulehnen, da diese Verlesung unzulässig ist. Da der Zeuge Wal. noch lebt und jederzeit vernommen werden kann, darf seine Vernehmung nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls ersetzt werden (§250 Satz 2 StPO). Die Voraussetzungen für die Verlesung des Protokolls nach §251 StPO liegen nicht vor. Im übrigen ist der Zeuge Wal. nach seiner vorläufigen Festnahme und Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft noch zweimal in der Hauptverhandlung vernommen worden. Der Verteidiger des Angeklagten Höcker und der Angeklagte Höcker selbst hätten somit ausreichend Gelegenheit gehabt, dem Zeugen Wal. Vorhalte aus diesem Protokoll zu machen.

Hiervon abgesehen, ist in dem Hilfsbeweisantrag nicht angegeben worden, zu
welchem Beweisthema die Verlesung des Protokolls erfolgen soll. Daher war der Hilfsbeweisantrag auch aus diesem Grunde abzulehnen.

VII. Strafzumessung

Wenn auch der Angeklagte Höcker in der gleichen Funktion wie der Angeklagte Mulka, nämlich als Adjutant des Lagerkommandanten und des Standortältesten, an der Massenvernichtung der jüdischen Menschen mitgewirkt hat, so kann nach Auffassung des Schwurgerichts bei der Strafzumessung das Mass seiner Schuld nicht die gleiche Beurteilung erfahren, wie beim Angeklagten Mulka. Als der Angeklagte Höcker nach Auschwitz kam, war bereits eine eingespielte Organisation vorhanden, durch die die jüdischen Menschen zu Tode gebracht wurden. Die "Todesmaschinerie" lief bereits auf vollen Touren, die Vernichtung der RSHA-Transporte erfolgte durch die damit befassten SS-Angehörigen, von denen jeder wusste, was er zu tun hatte, fast automatisch. In diese bereits bestehende Organisation wurde der Angeklagte Höcker hineingestellt. Es bedurfte keiner besonderen Tätigkeit des Angeklagten Höcker mehr, um die Vernichtung der pausenlos eintreffenden RSHA-Transporte in Gang zu halten.

Der Angeklagte Höcker war - anders als der Angeklagte Mulka - nicht mit auf der Rampe, jedenfalls konnte ihm das nicht nachgewiesen werden. Es konnte - anders als beim Angeklagten Mulka - ferner nicht festgestellt werden, dass er jemals bei der Abwicklung der RSHA-Transporte auf der Rampe die Oberaufsicht geführt oder sich in anderer Weise persönlich um die Vernichtung der jüdischen Menschen gekümmert hat. Er stand somit dem Geschehen nicht so nahe, wie der Angeklagte Mulka. Auch konnte nicht festgestellt werden, dass er sich sonst gegenüber Häftlingen des Lagers brutal verhalten oder in irgendeiner anderen Weise gegen irgendeinen Häftling persönlich tätig geworden wäre. Seine nachgewiesene Mithilfe an der Massenvernichtung jüdischer Menschen erschöpfte sich in der befohlenen Schreibtischtätigkeit. Allerdings kann das Mass seiner Schuld deswegen nicht so gering bewertet werden, dass als Sühne für die einzelnen Tatbeiträge zu den mindestens drei Mordtaten Zuchthausstrafen in Frage kommen können, die an der unteren Grenze des Strafrahmens liegen.

Es konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch der Angeklagte Höcker in seiner Funktion als Adjutant eine gewisse Schlüsselstellung innehatte und dass er durch die Benachrichtigung der einzelnen Abteilungen und das Geben der Einsatzbefehle nach der Ankündigung der RSHA-Transporte jeweils den gesamten Vernichtungsapparat erst in Gang gesetzt hat. Als Obersturmführer und Adjutant trifft ihn auch eine höhere Verantwortlichkeit als die ihm untergebenen SS-Unterführer und Mannschaften, deren Vorbild er hätte sein müssen.

Die grosse Anzahl der Opfer, die durch die mindestens 3 Mordtaten, an denen der Angeklagte Höcker mitgewirkt hat, getötet worden sind, erhöht den Unrechtsgehalt seiner Beihilfehandlungen. Nach der gesamten damaligen Sachlage kann es nicht zweifelhaft sein, dass der Angeklagte Höcker gewusst hat, wieviel Menschen jeweils mit den RSHA-Transporten ankamen und wieviele von ihnen den Tod in den Gaskammern erleiden mussten. Die Zahl der Opfer, die unter seiner Mitwirkung getötet worden sind, muss daher strafschärfend ins Gewicht fallen.

Strafmildernd hat das Schwurgericht berücksichtigt, dass sich der Angeklagte im übrigen stets straffrei geführt hat. Er hat in seinem Leben stets gearbeitet und ein unauffälliges Leben geführt. Nach dem Kriege hat er sehr schnell wieder in ein geordnetes bürgerliches Leben zurückgefunden und seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdient. 1952 hat er Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft in Bielefeld gegen sich selbst erstattet, um ein Spruchkammerverfahren gegen sich durchführen zu lassen.

Bei Abwägung all dieser Gesichtspunkte hielt das Schwurgericht für jede gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord eine Zuchthausstrafe von je 6 Jahren für eine angemessene Sühne.

Aus diesen Einzelstrafen war gemäss §74 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden, die in Höhe von 7 Jahren Zuchthaus als eine angemessene Sühne erschien.

C. Die Straftaten des Angeklagten Boger

I. Lebenslauf des Angeklagten Boger

Der Angeklagte Boger ist als ältester Sohn eines Kaufmanns am 19.12.1906 in Stuttgart-Zuffenhausen geboren. Er hat noch zwei Geschwister. Von 1913 bis 1922 besuchte er die Fangelsbach-Bürgerschule, eine Mittelschule, an der er die Mittlere Reife erlangte. Seine Lehrer waren, wie er angibt, deutschnational eingestellt. Unter ihrem Einfluss trat er bereits im Jahre 1922 der NS-Jugend bei (später Hitlerjugend).

Nach Verlassen der Schule im Jahre 1922 begann der Angeklagte eine kaufmännische Lehre bei der Firma Rheinstahl, die er nach dreijähriger Lehrzeit mit der Kaufmannsgehilfenprüfung beendigte. Im Sommer 1925 wurde der Angeklagte als Angestellter beim Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, Gaugeschäftsstelle Stuttgart, eingestellt. Er trat ferner dem Artamanen-Bund, einem freiwilligen Arbeitsdienstverband, bei. Ziel dieses Bundes war es - wie der Angeklagte Boger angibt - die Landarbeiterfrage zu lösen. Es war ein freiwilliger Arbeitsdienst auf dem Lande, der die nicht bestehende allgemeine Wehrpflicht ersetzen sollte. Im Anschluss an seine Tätigkeit bei dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband arbeitete der Angeklagte bei verschiedenen Firmen in Stuttgart, Dresden und Friedrichshafen als kaufmännischer Angestellter. Im Frühjahr 1932 wurde er arbeitslos.

Bereits im Jahre 1930 war der Angeklagte, als er beruflich in Dresden weilte, in die allgemeine SS eingetreten. Er gibt an, er sei in die SS "übernommen" worden, zuletzt hatte er bei der allgemeinen SS den Rang eines SS-Hauptsturmführers. Am 5.3.1933 wurde der Angeklagte als SS-Angehöriger zur Hilfspolizei nach Friedrichshafen einberufen. Am 1.7.1933 wurde er zur politischen Bereitschaftspolizei nach Stuttgart versetzt und dort bei einer Sonderaktion "Bewachung von beschlagnahmten Bauten" als Hilfspolizeibeamter eingesetzt. Nach einem etwa 6wöchigen Dienst bei dieser Dienststelle kam er zur württembergischen politischen Polizei, wo er alsbald in das Kriminalangestelltenverhältnis überführt wurde. Im weiteren Verlauf des Jahres 1933 wurden in Württemberg Aussenstellen der politischen Polizei errichtet, unter anderem auch in Friedrichshafen. Der Angeklagte Boger kam im Oktober 1933 zu der Aussenstelle der württembergischen politischen Polizei in Friedrichshafen, wo er als Angestellter Dienst tat. Dann machte er mehrere Lehrgänge mit und wurde im Jahre 1937 nach der Verreichlichung der Polizei zum Kriminalsekretär (in Württemberg hiess es "Kriminalkommissar") ernannt. Er verblieb weiterhin bei der Aussenstelle in Friedrichshafen. Im Jahre 1934 machte der Angeklagte nach seinen Angaben eine Übung bei der Reichswehr und zwar bei dem Infanterieregiment 14 mit. Nach 6 Wochen wurde er zum Unteroffizier und am 10.5.1937 zum Feldwebel befördert. Den Einmarsch in Österreich im Jahre 1938 will der Angeklagte als Soldat (Feldwebel der Reserve) mitgemacht haben. Anschliessend habe er sich - so behauptet er - bei der Gestapo melden müssen. Er sei aber trotz der Aufforderung, Dienst bei der Gestapo zu tun, weiter bei der Truppe geblieben.

Nach Ausbruch des Krieges wurde der Angeklagte als Kriminalsekretär zur Stapo-Leitstelle nach Zichenau abgeordnet. Etwa drei Wochen später wurde er mit dem Aufbau und der Leitung des Grenzpolizeikommissariats Ostrelenka beauftragt. In Ostrelenka habe er - so behauptet der Angeklagte - auf Anordnung seiner Vorgesetzten, den Verbindungsoffizier der Wehrmacht im Mai 1940 auf unauffällige Weise umbringen sollen. Das habe er abgelehnt. Aus diesem Grunde sei er in Haft genommen und nach Berlin geschickt worden. Danach wurde der Angeklagte zur Staatspolizeistelle Hohensalza und von dort nach Kutnow versetzt, wo er mit der Leitung des Grenzpolizeikommissariats beauftragt wurde. Nach vier Wochen kam er wieder nach Hohensalza zurück. Von da musste er sich in Berlin beim RSHA SD II melden. Er wurde - wie er angibt - für 4 Monate in "Ehrenhaft" genommen und am 18.12.1940 wieder entlassen. Ihm wurde zur Last gelegt, eine Abtreibungshandlung versucht zu haben. Vom Dienst wurde er suspendiert.

Am 11.11.1941 wurde der Angeklagte zum SS-Polizeipionierbataillon nach Dresden einberufen. Mit dieser Einheit kam er an der Wolchow-Front zum Einsatz. Er befand sich im Bewährungszug des Polizeipionierbataillons als Mannschaftsdienstgrad. Mitte März 1942 wurde er verwundet und kam ins Lazarett. Im Juli 1942 wurde er aus dem Reservelazarett entlassen und kam als Pionier zum SS- und Polizeipionierersatzbataillon I nach Dresden zurück. Von Dresden wurde der Angeklagte am 1.12.1942 zum KL Auschwitz versetzt. Im Oktober 1942 war dem Angeklagten Boger der militärische Dienstgrad (Oberfeldwebel) rückwirkend wieder verliehen worden. Er kam daher als Oberscharführer der Waffen-SS nach Auschwitz.

Dort wurde er zunächst als Zugführer der 2. Wachkompanie eingesetzt. Bei der Wachtruppe war er jedoch nur ganz kurze Zeit. Sein Kompaniechef empfahl ihm - so gibt es der Angeklagte an - sich zur Politischen Abteilung des KL zu melden. Dies tat er auch. Er wurde daraufhin zur Politischen Abteilung versetzt. Der Leiter der Politischen Abteilung war der Untersturmführer Grabner. Dieser war bei der Polizei nur Kriminalassistent gewesen. Boger dagegen war bei der Polizei im Range eines Kriminalsekretärs. Er fühlte sich daher Grabner überlegen. Die Zusammenarbeit zwischen beiden war nach den Angaben des Angeklagten Boger nicht gut. Aus diesen - rein persönlichen - Gründen will sich der Angeklagte Boger von Anfang an, allerdings ohne Erfolg, von der Politischen Abteilung weggemeldet haben. Er verblieb in Auschwitz bis zur Auflösung des Lagers im Januar 1945. In diesen letzten Tagen des Monats Januar 1945 transportierte der Angeklagte Boger mit dem damaligen Leiter der Politischen Abteilung, dem SS-Untersturmführer Schurz, seinem Stellvertreter Westphal, dem SS-Oberscharführer Kirschner und dem Angeklagten Pery Broad eine LKW-Ladung Akten nach Buchenwald.

Am nächsten Tag begab er sich mit Kirschner, Schurz und Broad zum Konzentrationslager Mittelbau Dora, Nordhausen, wo er seine Tätigkeit bei der Politischen Abteilung wieder aufnahm. Nach einer Dienstreise nach Chemnitz kam er erst wieder zum Konzentrationslager Mittelbau Dora zurück, als dieses bereits geräumt war. Bei Ellrich erreichte er den letzten Transportzug mit Häftlingen und fuhr mit diesem bis Osterode. Dann begleitete er zusammen mit einem SS-Untersturmführer und einem SS-Unterführer etwa 5000 Häftlinge auf einem Tag- und Nachtmarsch durch den Harz. In Vienenburg erreichte er mit den Häftlingen noch den letzten Güterzug nach Ravensbrück. Von dort sollte er in den letzten Apriltagen 1945 noch zum Fronteinsatz kommen. Die Kampftruppe, der der Angeklagte angehörte, löste sich jedoch auf, und der Angeklagte konnte sich nach Ludwigsburg zu seinen Eltern absetzen.

Am 19.Juni 1945 wurde er von der amerikanischen Militärpolizei verhaftet, in das Landesgefängnis Ludwigsburg eingeliefert und von dort über die Lager Osweil und Zuffenhausen nach Dachau gebracht. Am 22.November 1946 sollte er mit einem Transport an Polen ausgeliefert werden. Es gelang ihm jedoch, bei Furth im Walde zu entfliehen. Anschliessend hielt er sich etwa 3 Jahre ohne polizeiliche Anmeldung in der Gegend von Crailsheim auf, wo er bei Bauern arbeitete. Am 26.Juli 1949 wurde er auf Grund einer Ausschreibung der Staatsanwaltschaft Ravensburg verhaftet. Bis zum 31.August 1949 befand er sich im Gerichtsgefängnis Langenburg in Untersuchungshaft. Ihm wurde zur Last gelegt, im Jahre 1936 den Landwirt Franz Riedinger bei einer Vernehmung misshandelt zu haben. Das Verfahren wurde eingestellt. Nach seiner Entlassung begab sich der Angeklagte zunächst nach Schmalfelden bei Crailsheim, um sich Papiere zu beschaffen, und anschliessend zu seiner nach Niederwetz (Kreis Wetzlar) ausgesiedelten Familie. Er war zunächst arbeitslos. Am 8.September 1950 wurde er von der Firma Heinkel in Zuffenhausen als Arbeiter eingestellt und dort anfangs als Hilfsarbeiter, dann als Maschinenarbeiter und zuletzt als kaufmännischer Angestellter beschäftigt.

Der Angeklagte heiratete am 28.2.1931 in Radeberg bei Dresden die Johanna Herr. Aus dieser Ehe sind drei Kinder hervorgegangen, von denen 2 kurz nach der Geburt gestorben sind.

Diese Ehe wurde am 27.Februar 1941 durch das Landgericht Ravensburg aus dem alleinigen Verschulden des Angeklagten geschieden. Am 24.4.1941 heiratete der Angeklagte seine jetzige Ehefrau.

An Auszeichnungen besitzt der Angeklagte Boger das KVK II. Klasse und ausserdem die Sudetengau- und Ostmedaille. Der Angeklagte Boger befindet sich seit dem 8.10.1958 in dieser Sache in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Boger wurde als Angehöriger der Politischen Abteilung (Ermittlungsabteilung) zum sog. "Rampendienst" eingeteilt. Er war in einer unbestimmten Anzahl von Fällen bei der Abwicklung von sog. RSHA-Transporten auf der Rampe anwesend. Seine Aufgabe hierbei war es insbesondere - wie es oben unter A.II. bereits geschildert worden ist -, die Angehörigen des Häftlingskommandos und die SS-Angehörigen beim Rampendienst zu überwachen. Der Angeklagte Boger hat diese Aufgaben auch erfüllt. Er hat aufgepasst, dass die Häftlinge des Häftlingskommandos nicht mit den Zugängen sprachen. Er hat ferner beim Aufstellen und bei der Einteilung der angekommenen Menschen geholfen. Dabei hat er verhindert, dass die bereits als arbeitsunfähig beurteilten Menschen sich wieder zu der Gruppe der Arbeitsfähigen stellten. Schliesslich hat er auch die SS-Führer, die SS-Unterführer und SS-Männer daraufhin beobachtet, ob sie ihren Rampendienst entsprechend den gegebenen Befehlen richtig versähen, insbesondere nicht in unzulässiger Weise mit den Zugängen sprächen und sich nicht am Häftlingsgut vergriffen.

In mindestens einem Fall, bei dem der Angeklagte Boger die geschilderten Tätigkeiten ausgeübt hat, wurden von einem RSHA-Transport mindestens 1000 Menschen durch Gas getötet. Im übrigen konnte nicht festgestellt werden, wie oft der Angeklagte Boger Rampendienst verrichtet hat.

Der Angeklagte Boger wusste, dass die mit den RSHA-Transporten angekommenen Juden nur wegen ihrer Abstammung als Angehörige einer sog. "minderwertigen Rasse" unschuldig getötet wurden. Ihm war auch bekannt, dass die gesamten Vernichtungsaktionen unter strengster Geheimhaltung ausgeführt und die Opfer in der bereits geschilderten Weise über ihr bevorstehendes Schicksal getäuscht wurden. Schliesslich kannte er auch die näheren Umstände, unter denen die jüdischen Menschen in den Gaskammern getötet wurden.

Ihm war klar, dass er als notwendiges Glied in den Vernichtungsapparat eingespannt war und durch den von ihm geleisteten Rampendienst die Vernichtungsaktionen förderte.

2. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger bei einer sog. Lagerselektion (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Wie oben im 2. Abschnitt unter VII.4. bereits ausgeführt worden ist, fanden von Zeit zu Zeit im Stammlager und im Lager Birkenau sog. Lagerselektionen statt, bei denen arbeitsunfähige Häftlinge ausgemustert und anschliessend durch Gas getötet worden sind.

Der Angeklagte Boger hat sich als Angehöriger der Politischen Abteilung an mindestens einer Lagerselektion im Lager Birkenau beteiligt. Die Ausmusterung der Arbeitsunfähigen wurde in diesem Fall durch einen Arzt vorgenommen. Zuvor liessen der Angeklagte Boger und die Blockführer die Häftlinge des betreffenden Lagerabschnittes nackt antreten. Dann kam ein SS-Arzt, der bestimmte, wer von den angetretenen Häftlingen als arbeitsunfähig auszusondern sei. Der Angeklagte Boger und die Blockführer machten den Arzt bei dieser Ausmusterung auf verschiedene schwache Häftlinge, die nach ihrer Meinung nicht mehr lebenswert erschienen, aufmerksam, wobei sie mit den Fingern auf sie zeigten.

Die vom Arzt als arbeitsunfähig bezeichneten Häftlinge wurden dann von dem Angeklagten Boger und den Blockführern zur Seite geschickt und dort gesondert aufgestellt. Während der gesamten Musterung achteten sie darauf, dass keiner der als arbeitsunfähig ausgesonderten Häftlinge wieder zu der anderen Gruppe zurückschlich und so dem Tode entging. Bei dieser Selektion wurde eine unbestimmte Anzahl von Häftlingen, mindestens jedoch 10, als arbeitsunfähig ausgesondert und kurz danach durch Gas in einer der vorhandenen Gaskammern getötet. Der Angeklagte Boger wusste, dass die ausgemusterten Häftlinge unschuldig getötet werden sollten. Ihm war auch bekannt, dass ihre Tötung nur deswegen erfolgte, weil sie nicht mehr arbeitsfähig erschienen und damit - nach Auffassung der SS - nur eine unnötige Belastung für das Lager und insbesondere die damalige Verpflegungslage bedeuteten.

Dem Angeklagten Boger war auch klar, dass er durch seine geschilderte Mitwirkung zum Tode der ausgemusterten Häftlinge einen Beitrag leistete.

3. Die Mitwirkung des Angeklagten Boger bei den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2 und 3)

Die Arrestzellen im Keller des Blockes 11 waren fast ständig überbelegt. Oft befanden sich 8-10 Personen, manchmal auch noch mehr, in einer Zelle. Die Arrestanten hatten dann nicht einmal Platz zum Sitzen. Da fast ständig Häftlinge im Lager durch Angehörige der Politischen Abteilung, insbesondere durch den Angeklagten Boger, festgenommen wurden, reichten die 28 Arrestzellen trotz ihrer engen Belegung häufig nicht zur Unterbringung der Arrestanten aus. Um immer wieder Platz für Neuzugänge zu schaffen, "räumte" man daher den Bunker von Zeit zu Zeit "aus", indem man einen Teil der in den Zellen einsitzenden Häftlinge an der Schwarzen Wand erschoss. Diese sog. Bunkerentleerungen, die der Leiter der Politischen Abteilung, SS-Untersturmführer Grabner, in seinem österreichischen Dialekt "Bunker-Ausstauben" nannte, fanden in bestimmten Zeitabständen statt. An ihnen nahmen der Leiter und Angehörige der Politischen Abteilung, der erste oder einer der beiden anderen Schutzhaftlagerführer (manchmal auch mehrere), einer der Arrestaufseher des Blockes 11 und manchmal auch der Rapportführer teil.

Im einzelnen spielten sich solche Bunkerentleerungen in der Regel wie folgt ab: Der erste Schutzhaftlagerführer Aumeier und der Leiter der Politischen Abteilung, Grabner, begaben sich mit weiteren Angehörigen der Politischen Abteilung und den anderen bereits genannten Personen in den Bunker. Der diensthabende Arrestaufseher von dem Block 11 ging mit in den Keller und schloss in Gegenwart dieser Gruppe die einzelnen Zellen nacheinander auf. Der Kalfaktor des Blockes 11 - ein Funktionshäftling - ging ebenfalls mit in den Keller. Der Blockschreiber des Blockes 11 hielt sich am Eingang des Bunkers am Fuss der Treppe auf. Wenn der Arrestaufseher eine Zelle aufgeschlossen hatte, meldete der älteste Häftling die Belegstärke der Zelle. Dann wurden die einzelnen Häftlinge, die sich in den betreffenden Zellen befanden, mit ihrer Nummer aufgerufen. Dies geschah entweder durch den Lagerführer, der eine Liste dabei hatte oder den Blockschreiber. In der Regel referierte dann der Sachbearbeiter der Politischen Abteilung, der den Fall des aufgerufenen Häftlings bearbeitet hatte, kurz über den Fall. Er erklärte kurz, was gegen den Häftling vorlag und welches Ergebnis seine Ermittlungen - von seinem Standpunkt aus - gehabt hatten. Unmittelbar danach wurde dann über das Schicksal des betreffenden Häftlings entschieden. Es gab für jeden Häftling drei Möglichkeiten. Entweder wurde er in den Waschraum befohlen, das bedeutete, dass er unmittelbar danach an der Schwarzen Wand auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 erschossen werden sollte oder er wurde angewiesen, in der Zelle zu bleiben. Das bedeutete, dass noch weitere Untersuchungen gegen ihn geführt werden sollten. Eine weitere Möglichkeit war, dass die Häftlinge zur Schreibstube befohlen wurden. Von dort wurden sie dann entweder in das Lager entlassen oder in die Strafkompanie für längere Zeit eingewiesen. Möglich war auch, dass die Angehörigen der dritten Gruppe mit einer sonstigen Lagerstrafe belegt wurden.

Am stärksten war meist die Gruppe, die zum Erschiessen bestimmt wurde. Die Entscheidung über das Schicksal eines Häftlings traf in der Regel der Lagerführer Aumeier, wenn es sich um einen Häftling handelte, der von der Lagerführung in den Arrest eingewiesen worden war. Bei Häftlingen, die von der Politischen Abteilung in den Arrest gebracht worden waren, entschied der Leiter der Politischen Abteilung in Zusammenarbeit mit den Sachbearbeitern. Als Ranghöchster hatte der Leiter der Politischen Abteilung zwar die letzte Entscheidungsbefugnis, manche Sachbearbeiter hatten aber auf seine Entscheidung einen massgebenden Einfluss. Da Grabner die einzelnen Fälle nicht kannte, hatten es die Sachbearbeiter in der Hand, einen Fall und ein Ermittlungsergebnis so vorzutragen, dass nach der damaligen Übung bei Bunkerentleerungen nur eine Erschiessung zu erwarten war. Die Entscheidung erfolgte stets in ganz kurzer Zeit. Häufig wurden nur wenige Worte zwischen den SS-Männern gewechselt oder über das Schicksal eines Häftlings wurde nur durch Zeichen, oder ein Anschauen oder ein Kopfnicken entschieden. Der Sachbearbeiter teilte dann dem Häftling die Entscheidung mit, indem er nur kurz rief: "Waschraum." Das bedeutete, dass der Häftling sich gesondert aufzustellen und später mit nach oben in den Waschraum zu gehen hatte. Es bedeutete für ihn den Tod. Rief der Sachbearbeiter zu dem Häftling: "Sie gehen in die Schreibstube!", so musste sich der Häftling zu einer anderen Gruppe stellen und später mit dem Blockschreiber zur Schreibstube gehen. Sein Leben war vorerst gerettet.

Die Häftlinge, die zum Erschiessen bestimmt worden waren, wurden nach Beendigung der sog. Bunkerentleerung von den SS-Männern in den Waschraum geführt. Vorher hatten diese schon darauf geachtet, dass sie sich nicht zu der Gruppe, die in das Lager entlassen werden sollte, stellten. Die Anwesenheit mehrerer SS-Angehöriger von der Politischen Abteilung in dem Arrestbunker sollte auch einen möglichen verzweifelten Aufstand der dem Tode geweihten Häftlinge von vornherein verhindern. Im Waschraum mussten sich die Häftlinge völlig entkleiden. Dann wurden ihnen von dem Blockschreiber die Häftlingsnummern auf die nackte Brust geschrieben. Währenddessen begaben sich die meisten SS-Angehörigen in die Blockführerstube, um dort die Vorbereitungen für die Erschiessungen abzuwarten und dort das Kleinkalibergewehr mit Schalldämpfer zu holen. Sie waren stets guter Dinge, sie lachten und scherzten. Wenn die Vorbereitungen für die Erschiessungen beendet waren, kamen sie laut schwatzend aus der Blockführerstube heraus und gingen lachend an den im Flur vor dem Waschraum stehenden nackten Häftlingen vorbei zum Hof. Dann begannen die Erschiessungen an der Schwarzen Wand. Es wurden jeweils zwei nackte Männer von einem Funktionshäftling, beziehungsweise dem Kalfaktor, zum Erschiessen an die Schwarze Wand im Laufschritt geführt. Vor diese Wand stellte der Kalfaktor die beiden Delinquenten mit dem Gesicht zur Wand auf. Dann näherte sich von hinten ein SS-Mann mit dem Kleinkalibergewehr, drückte dessen Mündung in den Nacken des einen Häftlings und erschoss ihn durch einen Schuss in den Hinterkopf. Der Häftling fiel daraufhin nach hinten um. Danach erschoss der SS-Mann den zweiten Häftling auf die gleiche Weise. Leichenträger - Häftlinge -, die im Hintergrund auf dem Hof warteten, liefen nun mit einer Tragbahre zu den Erschossenen hin, legten die Leichen auf die Bahre und trugen sie dann an die Wand des Blockes 10 gegenüber dem Eingang zu Block 11, aus dem die zu erschiessenden Häftlinge herausgeführt wurden. An der Wand des Blockes 10 entlang befand sich eine Blutrinne, durch die das Blut der Erschossenen abfloss. Unmittelbar nach der Erschiessung der beiden ersten Häftlinge führte dann der Kalfaktor zwei weitere nackte Häftlinge zum Erschiessen an die Schwarze Wand, die von einem SS-Mann auf die gleiche Weise getötet wurden. So ging es weiter, bis alle zum Tod bestimmten Häftlinge getötet waren.

Während der Erschiessungen standen die anderen SS-Angehörigen, die an der Bunkerentleerung teilgenommen hatten, rechts von der Schwarzen Wand an der Wand des Blockes 11 und schauten zu. Wenn sehr viele Häftlinge zu erschiessen waren, kam es vor, dass gleichzeitig vier Häftlinge zur Schwarzen Wand geführt und dort von je zwei SS-Männern erschossen wurden. Die Schützen wechselten sich auch häufig ab. Als der SS-Oberscharführer Palitzsch Rapportführer war, führte er in den meisten Fällen die Erschiessungen durch. Aber auch Angehörige der Politischen Abteilung und andere SS-Männer beteiligten sich aktiv an solchen Erschiessungen, indem sie eigenhändig mit dem Kleinkalibergewehr die Opfer töteten. Wenn alle Häftlinge nach einer solchen Bunkerentleerung erschossen waren, wurden die Leichen mit einem Leichenrollwagen, der von Häftlingen gezogen wurde, zum Krematorium gefahren.

Ein Angehöriger der Politischen Abteilung ging dann mit einer Liste der Erschossenen zum Häftlingskrankenbau. Dort befahl er auf der Schreibstube des HKB dem Häftlingsschreiber, die auf der Liste befindlichen Häftlinge "von der Stärke des HKB abzusetzen". Das bedeutete für den Häftlingsschreiber, dass er die in der Stärke des Blockes 11 geführten Häftlinge zunächst, obwohl sie bereits tot waren, in die Stärke des HKB aufzunehmen hatte, um sie dann sofort wieder als normal verstorben von der Stärke des HKB abzusetzen. Für alle nach Bunkerentleerungen erschossenen Häftlinge wurden Todesmeldungen und Todesbescheinigungen für das Standesamt ausgeschrieben, in denen nur natürliche (fingierte) Todesursachen angegeben wurden (z.B. Herzschwäche).

Die sog. Bunkerentleerungen und die nachfolgenden Erschiessungen erfolgten ohne Urteil eines Gerichts, auch nicht auf Grund eines Standgerichtsurteils oder eines Exekutionsbefehls einer höheren Dienststelle (z.B. des RSHA). Sie wurden eigenmächtig von den an den Bunkerentleerungen teilnehmenden SS-Angehörigen durchgeführt.

Im Jahre 1943 wurde gegen Grabner ein Ermittlungsverfahren wegen dieser eigenmächtigen Erschiessungen eingeleitet, das zur Anklageerhebung gegen Grabner wegen Mordes in mindestens 2000 Fällen bei dem SS- und Polizeigericht in Weimar führte. Die Hauptverhandlung vor diesem Gericht, das unter Vorsitz des Zeugen Dr. Ha. tagte, wurde jedoch nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern zur weiteren Aufklärung vertagt, nachdem der Anklagevertreter für Grabner eine hohe Zuchthausstrafe beantragt hatte.

Bei den Bunkerentleerungen war Boger einer der eifrigsten SS-Männer. Er hasste die Polen, die das Hauptkontingent der Arrestanten stellten. Mit fanatischem Eifer suchte er im Lager nach geheimen Widerstands- und Untergrundorganisationen der Polen. Hierbei schreckte er vor keinem Mittel zurück. Er verbreitete unter den Häftlingen des Lagers Furcht und Schrecken. Er war deshalb einer der gefürchtetsten SS-Männer. Bei den Häftlingen war er unter dem Namen "Bestie von Auschwitz", "Schwarzer Tod", "Schrecken von Auschwitz", "Schreitender Tod", "Teufel von Auschwitz" bekannt. Wenn Häftlinge ihn von weitem in das Lager kommen sahen, gingen sie ihm angstvoll aus dem Wege. Boger war stolz auf die genannten Beinamen. Es erfüllte ihn auch mit tiefer Befriedigung, dass er den Häftlingen Furcht und Schrecken einflösste. Gegenüber Häftlingen bekannte er wiederholt voll Stolz: "Ich bin der "Teifi"."

Hatte Boger ihm verdächtig erscheinende Polen erwischt, so nahm er sie fest und lieferte sie in den Arrestbunker ein. Durch sogenannte verschärfte Vernehmungen, bei denen er die Häftlinge bis zur Bewusstlosigkeit schlug oder schlagen liess, suchte er Geständnisse aus den Verdächtigen zu erpressen. Nicht selten wurden Häftlingen bei diesen Vernehmungen totgeschlagen, was noch beim nächsten Anklagepunkt unter II/4 zu erörtern sein wird.

Wenn Grabner und Aumeier über das Schicksal der Häftlinge im Arrestkeller entschieden, übte er einen massgebenden Einfluss auf ihre Entscheidungen aus. In einer Reihe von Fällen schlug er die Tötung von Häftlingen vor und einigte sich in kürzester Zeit mit Grabner und Aumeier darüber, dass die Häftlinge zu erschiessen seien. Mit den Erschiessungen war er völlig einverstanden und bejahte sie.

Im einzelnen konnte das Gericht folgende konkrete Fälle feststellen, in denen Boger die Erschiessungen von Häftlingen entscheidend mitbestimmt und an den anschliessenden Erschiessungen teilgenommen hat:

Unter anderem fand am 3.3.1943 eine Bunkerentleerung unter Beteiligung des SS-Untersturmführers Grabner, des SS-Hauptsturmführers Aumeier, des Angeklagten Boger und anderer SS-Angehöriger statt. In einer der Zellen sassen unter anderen die von dem Angeklagten Boger eingelieferten Häftlinge Bor. und Maximilian Gestwinski ein. Als die Zellentür der Zelle, in der diese beiden Häftlinge einsassen, geöffnet worden war und der älteste Häftling Meldung erstattet hatte, wurden die einzelnen Häftlinge mit ihren Nummern aufgerufen. Als die Reihe an den Häftling Gestwinski kam, wurde dieser von Grabner gefragt, warum er im Bunker einsitze. Gestwinski antwortete, er wisse es nicht, er stehe zur Disposition des Oberscharführers Boger. Boger neigte sich daraufhin zu Grabner und flüsterte ihm etwas zu. Dann befahl er dem Gestwinski aus der Zelle herauszukommen. Zu Grabner sagte er noch laut: "Dieser Bandit kommt aus Bromberg." Dann schickte er den Gestwinski zu der Gruppe, die zum Erschiessen geführt werden sollte. Auch Bor. musste bei dieser Gruppe Aufstellung nehmen. Nach Beendigung der Bunkerentleerungen wurden die zum Erschiessen bestimmten Häftlinge, deren Anzahl nicht mehr genau festzustellen war - wie üblich - in den Waschraum geführt, wo sie sich völlig zu entkleiden hatten. Der Häftlingsschreiber schrieb ihnen die Häftlingsnummer auf die nackte Brust. Alle waren, da sie wussten, dass sie erschossen werden sollten, in Todesangst. Sie konnten ihre Notdurft nicht mehr halten und verschmutzten den Waschraum. Die SS-Männer waren in der Zwischenzeit in die Blockführerstube gegangen. Als allen Häftlingen die Häftlingsnummern auf die Brust geschrieben worden waren, kamen die SS-Männer gut gelaunt und schwatzend aus der Blockführerstube heraus und gingen laut scherzend an den verängstigten Häftlingen vorbei auf den Hof. Unter ihnen war auch der Angeklagte Boger. Anschliessend wurden die bei der Bunkerentleerung ausgesonderten Häftlinge nacheinander zu je zwei von dem Bunkerkalfaktor Ja. an die Schwarze Wand geführt und dort in der bereits oben geschilderten Weise erschossen. Nur dem Zeugen Bor. gelang es, mit Hilfe des Blockschreibers Pi. dem Tode zu entkommen. Er musste, nachdem er sich mit einem von Pi. zugeworfenem Kleidungsstück bekleidet hatte, auf Befehl eines SS-Mannes mit einem anderen Häftling die Leichen der Erschossenen von der Schwarzen Wand zur Seite tragen. Der Angeklagte Boger erschoss bei dieser Gelegenheit mindestens sechs Häftlinge eigenhändig. Dabei rief er, wenn ein Häftling seinen Kopf zu tief neigte: "Kopf hoch!" Unter den sechs Häftlingen befand sich der bereits genannte Häftling Gestwinski.

Der Zeuge Bor. kam nach den Exekutionen wieder in seine Zelle zurück.

Bei einer anderen Bunkerentleerung - etwa um die gleiche Zeit - spielte sich folgendes ab: Boger ging zur Zelle Nr.19, in der sich ausser anderen Häftlingen ein Junge im Alter zwischen 16 und 19 Jahren befand. Er war eingesperrt worden, weil aus der Zehner-Gruppe, in der der Junge gearbeitet hatte, ein Häftling entflohen war. Man hatte für die Flucht die anderen neun Häftlinge, darunter auch den Jungen, verantwortlich gemacht. Boger holte den Jungen aus seiner Zelle heraus und sagte zu ihm sinngemäss: "Damit Du es das nächste Mal lernst, dass keiner zu entfliehen hat, wirst Du heute erschossen." Er führte dann den Jungen von der Zelle durch den Korridor weg. Ob der Junge erschossen worden ist, konnte nicht festgestellt werden.

Am 21.9.1943 war ebenfalls eine Bunkerentleerung, an der unter anderem Grabner, Boger, die Lagerführer Schwarz und Hofmann und andere SS-Angehörige teilnahmen. In einer Zelle des Bunkers sassen unter anderen der Zeuge G., ferner ein Jude namens Solarz und ein polnischer Häftling namens Gniardoroski ein. G. war einige Tage vorher von Boger festgenommen und in den Arrest eingeliefert worden. Ebenso die beiden Häftlinge Solarz und Gniardoroski. Ihrer Verhaftung durch Boger lag folgender Sachverhalt zugrunde: G. hatte einige Zeit vorher Verbindung mit einer Häftlingsfrau namens Lilly Tofler, die in den Gärten in Reisko arbeitete, aufgenommen. Als eines Tages die Häftlinge Solarz und Gniardoroski einen Totenkranz von Reisko in das Kommandanturgebäude bringen mussten, gab ihnen die Lilly Tofler einen Brief an G. mit. Solarz und Gniardoroski versteckten den Brief in den Totenkranz. Als sie den Kranz dann in der Kommandantur abliefern wollten, fiel der Brief zu Boden und wurde von einem SS-Mann entdeckt. Dieser übergab den Brief der Politischen Abteilung. Boger, der eine Geheimverbindung vermutete, lieferte zunächst die Totenkranz-Träger Solarz und Gniardoroski in den Arrest ein. Als nach weiteren Ermittlungen festgestellt worden war, dass Lilly Tofler den Brief geschrieben hatte, führte er auch sie - möglicherweise auf Befehl Grabners - in den Arrest. Schliesslich erfuhr Boger, dass der Brief für den Zeugen G. bestimmt gewesen war. Daher sperrte er auch ihn in den Arrest ein.

Als nun am 21.9.1943, nachdem bereits andere Zellen geöffnet und eine Reihe von Häftlingen zum Erschiessen ausgesucht worden waren, die Zelle, in der der Zeuge G. einsass, geöffnet wurde und ein Häftling Meldung erstattete, kam Boger sofort auf den Zeugen G. zu und rief: "Du bist mein, komm heraus!" Der Zeuge wurde daraufhin zu den für den Tod bestimmten Häftlingen gestellt. Der Angeklagte Hofmann, der eine Liste mit den Nummern der Arrestanten bei sich führte, machte neben der Nummer des Zeugen ein rotes Kreuz. Danach wurden noch weitere Zellen geöffnet und weitere Häftlinge zum Erschiessen bestimmt, unter anderen auch die Häftlinge Solarz und Gniardoroski. Die Delinquenten wurden dann wie üblich zum Waschraum geführt. Dem Zeugen G. gelang es, sich unbemerkt zu zwei Häftlingen zu stellen, die in das Lager entlassen werden sollten. Dadurch entging er dem Tode. Während der Erschiessungen, die etwa eine Stunde dauerten, blieb der Zeuge bei diesen Häftlingen im Gang des Arrestblockes stehen. Boger nahm an den Erschiessungen ebenfalls teil. Er hat mindestens zwei Häftlinge, nämlich Solarz und Gniardoroski, eigenhändig erschossen.

Der Zeuge G. wurde, nachdem die Erschiessungen beendet waren, von dem mit Blut besudelten Bunkerkalfaktor Ja., der die Delinquenten zu der Schwarzen Wand geführt hatte, auf den Hof zu den dort liegenden Leichen geführt. G. sah unter anderen auch die Leichen der Häftlinge Solarz und Gniardoroski. Auf seine Frage, wer sie erschossen habe, antwortete Ja.: "Boger." Dem Zeugen G. gelang es dann, wieder in das Lager zurückzukommen. Sein Verschwinden wurde aber nach drei Tagen von Boger entdeckt. Boger liess den Zeugen zur Politischen Abteilung kommen. Dort beschimpfte er ihn als "polnisches Schwein" und lieferte ihn erneut in den Arrest ein. Nach einigen Tagen - am 28.9.1943 - war erneut eine Bunkerentleerung. Auch an dieser nahm der Angeklagte Boger teil. Als die Zelle des Zeugen G. geöffnet wurde, trat Boger vor und rief zu dem Zeugen zugewandt: "Endlich habe ich Dich, Du bist mein." Der Zeuge wurde daraufhin wieder zu den zum Erschiessen ausgesonderten Häftlingen gestellt. Als sie zum Waschraum geführt wurden, gelang es dem Zeugen G., sich in dem Absperrgitter zwischen Bunker und Korridor zu verstecken. Hier wurde er kurz danach von dem SS-Unterscharführer Lachmann entdeckt. Nach kurzer Unterhaltung ging Lachmann, der dem Zeugen offensichtlich wohl gesinnt war, nach oben, wo er sich für das Leben des Zeugen G. einsetzte. Nach zehn Minuten kam er zurück und führte den Zeugen G. zur Schreibstube. Boger kam nach Beendigung der Erschiessungen zur Schreibstube und schrie den Zeugen G. an: "Du verfluchter Schweinehund, Du hast nur mir zu verdanken, dass Du noch eine Weile leben kannst." Ob Boger an diesem Tag eigenhändig Häftlinge getötet hat, konnte nicht festgestellt werden. Auch die Anzahl der Erschiessungen konnte nicht festgestellt werden. Mindestens ist jedoch ein Häftling erschossen worden.

In den geschilderten Fällen wurden die Erschossenen - wie üblich - von der Stärke des Blockes 11 abgesetzt und zunächst in die Stärke des HKB aufgenommen und dann als normal verstorben mit fingierten Todesursachen von der Stärke
des HKB abgesetzt.

Bei einer anderen Bunkerentleerung, die Ende September oder Anfang Oktober 1943 stattfand, war ausser dem Lagerführer Schwarz und dem Rapportführer auch der Angeklagte Boger anwesend. In einer der Zellen sass der Zeuge Woy. mit anderen Häftlingen ein, die von dem Angeklagten Boger in dem Arrest eingeliefert worden waren. Als die Zelle geöffnet wurde, fragte der Lagerführer Schwarz den Angeklagten Boger, was das für Menschen seien. Boger antwortete, das seien Angehörige einer militärischen Untergrundorganisation. Schwarz fragte Boger weiter, ob schon Vernehmungen stattgefunden hätten. Boger antwortete darauf, dass der Fall klar liege und Vernehmungen nicht nötig seien. Schwarz bestand jedoch darauf, dass zunächst Vernehmungen durchzuführen seien. Die Häftlinge wurden daraufhin nicht erschossen. Sie wurden vielmehr in den nächsten Tagen vernommen.

Vom 24.9.1943 bis zum 11.10.1943 sass der Zeuge F., der als Häftlingsarzt im HKB tätig war, nach Festnahme durch den Angeklagten Boger im Arrest ein. Er erlebte drei Bunkerentleerungen, an denen jedesmal der Angeklagte Boger teilnahm. Am 11.10.1943 wurden zwanzig Häftlinge, darunter auch der Zeuge F., aus den Zellen herausgerufen und im Korridor aufgestellt. Sie sollten in das Lager entlassen werden. Unter den zwanzig Häftlingen befand sich auch ein österreichischer Oberst namens Wosniakowski, der im Zivilberuf Rechtsanwalt war. Obwohl Wosniakowski für die Entlassung vorgesehen war, wurde er von Boger wieder in die Zelle zurückgeschickt. Boger zeigte auf ihn und sagte: "Der Alte geht zurück!" Noch am gleichen Tage wurde Wosniakowski mit anderen Häftlingen an der Schwarzen Wand erschossen.

Vom 16.9. bis 28.9.1943 sass auch der Zeuge Be. im Arrest ein. Boger hatte ihn festgenommen und in den Arrest eingeliefert, weil der Zeuge, der als Installateur in Birkenau arbeitete, gynäkologische Geräte in einem Wägelchen mit doppeltem Boden in das Stammlager hatte zurückbringen wollen, die er zuvor für eine Häftlingsärztin in das Lager Birkenau geschmuggelt hatte. Der Zeuge wurde während einer Bunkerentleerung, die in dieser Zeit stattfand, von Boger zu der zum Erschiessen ausgesonderten Gruppe von Häftlingen geschickt. Da Be. ein guter Freund des Häftlingsschreibers war, riet dieser ihm, sich als letzter in die Reihe der Todeskandidaten zu stellen. Dann sprach der Häftlingsschreiber wegen Be. mit dem SS-Unterscharführer Lachmann. Als Be. bereits im Waschraum war, wurde er plötzlich von Lachmann herausgerufen und zu Boger geführt. Lachmann hielt Boger vor, dass er den Zeugen Be. überhaupt noch nicht verhört habe. Boger antwortete daraufhin: "Scheissegal, ab!" Lachmann liess jedoch nicht locker und sagte erneut zu Boger, er müsse ihn noch vernehmen. Nun liess Boger sich erweichen und schickte Be. wieder in den Bunker zurück. Später gelang es dem Zeugen Be., durch Vermittlung des Häftlingsschreibers und des Kapos des Installateurkommandos Boger eine emaillierte Badewanne zu besorgen. Das Installateurkommando beschaffte Boger ausserdem auch noch andere Dinge. Dafür wurde der Zeuge Be. am 28.9.1943 aus dem Arrest in das Lager entlassen.

Der Angeklagte Boger wusste, dass die "Bunkerentleerungen" ohne Befehl höherer Dienststellen deswegen durchgeführt wurden, um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen. Ihm war auch bekannt, dass die Erschiessungen ohne Gerichtsurteile und ohne Befehle höherer Dienststellen erfolgten. Ihm war auch klar, dass die an den "Bunkerentleerungen" und nachfolgenden Erschiessungen beteiligten SS-Angehörigen, insbesondere er selbst, nicht befugt waren, über Leben und Tod eines Häftlings zu entscheiden.

4. Die Tötung von Häftlingen bei verschärften Vernehmungen (Eröffnungsbeschluss Ziffer 4)

Der Angeklagte Boger führte als Angehöriger der Ermittlungsabteilung der Politischen Abteilung laufend Vernehmungen von Häftlingen durch. Er begann die Vernehmungen in der Regel in seinem Dienstzimmer in Gegenwart einer Protokollführerin. Dabei ging er äusserst brutal gegen die zu vernehmenden Personen vor. Wenn sie ihm nicht die erwarteten Antworten gaben oder - nach Bogers Meinung - nicht die Wahrheit sagten, gab er ihnen Ohrfeigen, schlug sie mit den Fäusten ins Gesicht oder trat sie mit den Stiefeln in den Leib. Häufig stellte er sich auch unmittelbar vor die Häftlinge und "durchbohrte sie mit seinen Blicken", um sie einzuschüchtern. Wenn er mit diesen Methoden sein Ziel nicht erreichen konnte, führte er die Häftlinge in die sog. Vernehmungsbaracke, wo eine sog. Sprechmaschine, die in der Lagersprache auch "Bogerschaukel" genannt wurde, aufgebaut war. Sie bestand aus zwei aufrecht stehenden Holmen, in die eine Eisenstange quer hineingelegt wurde. Boger liess die Opfer in die Kniebeuge gehen, zog die Eisenstange durch die Kniekehlen hindurch und fesselte dann die Hände der Opfer daran. Dann befestigte er die Eisenstangen in den Holmen, so dass die Opfer mit dem Kopf nach unten und mit dem Gesäss nach oben zu hängen kamen. Hierauf schlug er die Opfer mit einem Ochsenziemer oder einem Stock selbst oder liess sie durch andere SS-Männer mit diesen Schlaginstrumenten schlagen. Zwischendurch stellte er immer wieder Fragen an die Opfer. Gaben sie keine befriedigenden Antworten, so schlug er sie weiter oder liess sie weiter schlagen, bis sie blutüberströmt und unter unsäglichen Schmerzen bewusstlos wurden. Die Schläge, die nicht nur auf das Gesäss, sondern auch auf andere Körperteile, insbesondere die Geschlechtsteile, den Rücken und die Nieren, geführt wurden, versetzten die hängenden Opfer in eine schwingende Bewegung, was die Wirkung der Schläge noch erhöhte. Nach dieser Behandlung waren die Opfer oft bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet und machten häufig auf die Schreiberinnen der Politischen Abteilung, die Zeuginnen Ro. und Maj., den Eindruck, dass sie fast tot seien und nicht mehr lange leben könnten. Die misshandelten Opfer wurden dann in den HKB oder den Bunker des Blockes 11 eingeliefert. Meist mussten sie weggetragen werden. Von einer Vielzahl der Opfer gingen nach wenigen Tagen die Todesmeldungen bei den Schreiberinnen der Politischen Abteilung Scha. und Maj. ein.

Bei den Vernehmungen in der Vernehmungsbaracke waren keine Protokollführerinnen dabei. Boger zog aber wiederholt die Zeugin Wa. als Dolmetscherin zu den Vernehmungen hinzu, die die von Boger während der Misshandlungen an die Opfer gestellten Fragen übersetzen musste, wenn die Opfer kein Deutsch verstanden.

a. In Gegenwart der Zeugin hat der Angeklagte Boger mindestens einen Häftling während einer Vernehmung längere Zeit geschlagen, bis er tot war. Während der Misshandlung stellte Boger immer wieder Fragen an den Häftling. Der Zeitpunkt dieser Tötungshandlung konnte nicht mehr genau festgestellt werden; er war jedenfalls nach dem 1.12.1942.

In mindestens drei weiteren Fällen hat der Angeklagte Boger Häftlinge durch Schläge bei verschärften Vernehmungen in der Vernehmungsbaracke getötet.

b. An einem Tag im Sommer 1943, der Zeitpunkt liess sich nicht mehr genau feststellen, vernahm Boger allein einen Mann in der Vernehmungsbaracke. Er spannte ihn auf die Schaukel und schlug ihn, bis der Häftling blutüberströmt war und sein Gesäss nur noch aus Fetzen bestand. Dann unterbrach Boger die "Vernehmung", weil ein Vorarbeiter namens Marian mit dem Zeugen Bur. in die Baracke hereinkam. Marian hatte Boger einen Teppich besorgt und wollte diesen nun zusammen mit dem Zeugen Bur. in die Wohnung Bogers bringen. Boger liess den misshandelten Häftling auf der Schaukel hängen und ging mit den beiden in seine Wohnung. Nach kurzer Zeit kehrte er wieder mit ihnen zurück. Er ging als erster wieder in die Vernehmungsbaracke hinein. Dann betrat der Zeuge Bur. die Vernehmungsbaracke. Der Mann, der an der Schaukel hing, war inzwischen gestorben. Es floss kein Blut mehr. Blutspuren zeigten, dass dem Opfer Blut aus der Nase geflossen war. Auf Befehl Bogers trugen später Leichenträger die Leiche weg.

c. Einige Zeit später führte Boger allein einen Häftling in die Vernehmungsbaracke. Er spannte ihn auf die Schaukel und schlug allein zwei Stunden mit Unterbrechungen auf ihn ein, bis er tot war. Andere Personen waren während dieser Zeit nicht in der Vernehmungsbaracke. Nach etwa zwei Stunden verliess Boger die Baracke wieder. Die Leiche des Opfers lag neben der Schaukel. Der Zeuge Bur., der die Baracke betrat, nachdem Boger sie verlassen hatte, um sie zu reinigen, sah die Leiche neben der Schaukel liegen. Später holten Leichenträger den Toten ab.

d. Etwa zehn Tage nach diesem Vorfall führte Boger erneut einen Häftling in die Vernehmungsbaracke. Auch in diesem Fall spannte er ihn auf die Schaukel und schlug allein etwa zwei Stunden mit Unterbrechungen auf ihn ein, bis er tot war. Auch in diesem Falle waren keine anderen Personen in der Vernehmungsbaracke während dieser Zeit. Der Zeuge Bur. sah auch in diesem Fall die Leiche neben der Schaukel liegen, nachdem er die Baracke wie in dem vorigen Fall betreten hatte, um sie zu reinigen. Boger hatte zuvor die Baracke verlassen. Leichenträger holten einige Zeit später die Leiche ab.

e. Im Jahre 1943, der genaue Zeitpunkt liess sich nicht mehr feststellen, führte der Angeklagte Boger in der Vernehmungsbaracke einmal eine verschärfte Vernehmung bei einem polnischen Staatsangehörigen, der noch in Zivil war und dessen Haare nicht geschoren waren, durch. Er schlug auf ihn ein und warf ihn dann durch das Fenster zur Baracke hinaus. Der Pole fiel auf die Erde. Er war völlig zerschlagen und konnte nicht mehr aufstehen. Kurz zuvor war der Zeuge Lee. vom Arrestbunker zu der Vernehmungsbaracke geführt worden, wo er vernommen werden sollte. Er hatte während der Vernehmung des Polen vor der Baracke gewartet und dabei das Geschrei des Polen und die Schläge gehört. Nachdem Boger den Polen zum Fenster hinausgeworfen hatte und der Pole auf der Erde liegend nach Wasser verlangte, holte der Zeuge Lee. in seiner Mütze etwas Wasser, um es dem am Boden liegenden Menschen zum Trinken zu geben. Der Pole machte den Eindruck eines sterbenden Menschen. Als sich der Zeuge Lee. gerade bückte, um das Wasser dem zerschlagenen Menschen zu reichen, wurde er von Boger in die Vernehmungsbaracke hineingerufen. Er schüttete schnell noch dem Polen das Wasser in das Gesicht und ging dann in die Baracke hinein. Dort schlug ihn Boger sofort mit den Fäusten zusammen und trat ihn mit seinen Stiefeln. Zu einer Vernehmung des Zeugen Lee. kam es nicht mehr. Boger gab dem Zeugen den Befehl, den Häftling - Boger sagte: "Das polnische Schwein" - wieder in das Lager zu bringen. Als Lee. den zerschlagenen Menschen in das Lager zurückschleppte, starb dieser unterwegs infolge der von Boger erhaltenen Schläge. Der Zeuge legte die Leiche am Lagertor ab.

Während Boger in den geschilderten fünf Fällen auf die Häftlinge einschlug, um sie zum Reden zu bringen, rechnete er damit, dass die Häftlinge infolge der Schläge sterben könnten. Das nahm er aber bewusst in Kauf und billigte es. Dem Angeklagten Boger war bekannt, dass Misshandlungen und eigenmächtige Tötungen von Häftlingen verboten waren. Er hatte - wie alle anderen SS-Angehörigen in Auschwitz - eine Verpflichtung unterschrieben, in der es hiess: "Über Leben und Tod eines Staatsfeindes entscheidet der Führer allein. Kein Nationalsozialist ist daher berechtigt, Hand an einen Staatsfeind zu legen oder ihn körperlich zu misshandeln." Nach einer Anordnung des Chefs der Sipo und des SD von 12.2.1942, die von dem SS-Gruppenführer Müller in Vertretung unterzeichnet worden ist, waren zwar verschärfte Vernehmungen unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen, unter anderem durch Verabreichung von Stockhieben, sie durften aber nicht, was auch dem Angeklagten Boger bekannt war, zur Herbeiführung von Geständnissen über eigene Straftaten angewendet werden. Ferner sollte bei mehr als 20 Stockhieben ein Arzt hinzugezogen werden. Auf keinen Fall war durch diese Anordnung die Tötung von zu vernehmenden Personen erlaubt worden.

5. Die Tötung von mindestens 100 Häftlingen nach einem Aufstand des jüdischen Sonderkommandos

Im Jahre 1944 bereitete das bereits erwähnte jüdische Sonderkommando, das bei den Krematorien die Leichen aus den Gaskammern zu schleppen und in den Öfen zu verbrennen hatte, einen Aufstand vor. Die Angehörigen des Sonderkommandos waren zu dieser Zeit bereits in den Krematorien untergebracht. Sie hatten sich durch Häftlingsfrauen, die in dem Kommando "Union" beschäftigt waren, Pulver und Sprengstoffe besorgen lassen und sich damit primitive Handgranaten gefertigt. Ihr Plan war es, dass die in dem Krematorium III untergebrachten Häftlinge an einem bestimmten Nachmittag, wenn die Häftlinge von ihren Arbeitskommandos in die Lager einrückten, ebenfalls nach Überwältigung ihres SS-Kommandoführers und von zwei SS-Posten in das Lager einrücken sollten. Drei Häftlinge sollten die SS-Uniformen des SS-Kommandoführers und der überwältigten SS-Posten anziehen und das Kommando in das Lager führen. Dann sollten die Blockführerstuben vor den einzelnen Lagerabschnitten (B II f-a) nacheinander aufgesucht und die darin befindlichen SS-Männer überwältigt werden. Dabei sollten auch die Telefonleitungen zerschnitten werden. Die Häftlinge des Sonderkommandos, die in den Krematorien I und II untergebracht waren, sollten zu gleicher Zeit auf ein bestimmtes Zeichen nach Überwältigung ihres SS-Kommandoführers und der SS-Posten auf die gleiche Weise zu dem Frauenlager (B I) marschieren, dort die Blockführerstuben aufsuchen und ebenfalls die darin befindlichen SS-Männer überwältigen. Einige Häftlinge sollten in den Krematorien zurückbleiben und diese in Brand stecken.

Der Aufstand kam jedoch nicht so, wie er geplant war, zur Ausführung. Er wurde vielmehr durch ein besonderes Ereignis überraschend ausgelöst und lief dementsprechend nicht organisiert und planlos ab. An einem Nachmittag im Herbst 1944 führte der SS-Kommandoführer der Krematorien III und IV, Buch, im Hof des Krematoriums III unter den 300 zu seinem Kommando gehörenden Häftlingen eine Selektion durch. Er wählte 270 von den 300 Häftlingen aus. Wie er ihnen sagte, sollten sie zu einer anderen guten Arbeit kommen. Die Häftlinge glaubten es ihm jedoch nicht. Sie nahmen an, dass sie - wie schon vorher andere Mitglieder des Sonderkommandos - durch Gas getötet werden sollten. Tatsächlich waren die 270 Häftlinge auch für den Tod bestimmt. Man wollte sie vom Krematorium III mit LKWs um das gesamte Lager in Birkenau herumfahren, um den Häftlingen im Lager eine Abfahrt vorzutäuschen, und dann in einer Gaskammer eines anderen Krematoriums durch Gas töten. Die Aufgerufenen weigerten sich daher, beim Aufruf ihrer Nummern hervorzutreten. Einige liefen zum Krematorium, stiegen auf dessen Boden und legten dort Feuer. Andere gingen auf den SS-Kommandoführer und die SS-Posten los, um sie zu überwältigen. Diesen gelang es aber zu entkommen und Alarm zu schlagen. Irgendjemand betätigte die Alarmsirene. Dann kamen SS-Männer angelaufen und schossen. Viele Häftlinge, die nicht sofort durch die SS-Männer erschossen wurden, flohen. Einige versteckten sich. Auch aus den Krematorien I und II flohen viele Häftlinge. Einigen gelang es, bis zu den sog. Zerlegerbetrieben zu kommen und sich dort mit Waffen zu versorgen. Sie versteckten sich in der Umgebung des Lagers innerhalb des Bereiches der grossen Postenkette. Bewaffnete SS-Männer, die inzwischen alarmiert worden waren, durchsuchten die Gegend und fingen viele der geflüchteten Häftlinge ein. Die Gefangenen wurden in das Krematorium eingesperrt. Kurz danach wurden sie auf den Hof geführt. Dort mussten sie sich mit dem Gesicht auf den Boden legen. Der Angeklagte Boger, der auf Grund des Alarms ebenfalls zum Krematorium III gekommen war, erschoss zusammen mit dem SS-Mann Erber, der damals in Auschwitz den Namen Houstek führte, mindestens 100 der am Boden liegenden Häftlinge durch Genickschuss. Boger und Erber erschossen die wehrlos am Boden liegenden Menschen aus Rache, weil diese es gewagt hatten, sich gegen ihre beschlossene Tötung zu wehren und sich gegen die SS zu erheben.

Ein Befehl einer höheren Dienststelle für diese Erschiessungen lag nicht vor.

III. Die Einlassung des Angeklagten Boger

Der Angeklagte Boger hat zunächst jede Einlassung zur Sache verweigert. Im Verlaufe der Hauptverhandlung hat er zu den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen und zu den schweren Belastungen der Zeugen Stellung genommen.

1. Zu II.1.

Im Anschluss an die Vernehmung der Zeugin Pal. hat der Angeklagte Boger eingeräumt, dass er zum Rampendienst eingeteilt worden sei und auch Rampendienst versehen habe. Er hat zugegeben, dass er bei der Abwicklung von RSHA-Transporten die Häftlinge des Häftlingskommandos und die an der Abwicklung der RSHA-Transporte beteiligten SS-Angehörigen überwacht habe.

2. Zu II.2.

Hierzu hat der Angeklagte Boger nicht Stellung genommen.

3. Zu II.3.

Der Angeklagte Boger hat eingeräumt, dass er an den sog. Bunkerentleerungen teilgenommen habe. Er hat jedoch behauptet, dass die Erschiessungen in der Regel durch das RSHA oder das WVHA angeordnet worden seien. Er habe keine Zweifel gehabt, dass das RSHA oder WVHA berechtigt gewesen sei, die Erschiessung von Häftlingen anzuordnen. Es sei zwar vorgekommen, dass Häftlinge ohne einen solchen Befehl erschossen worden seien. Dabei habe es sich jedoch nur um einen "Vorgriff" auf einen noch zu erwartenden Erschiessungsbefehl oder ein zu erwartendes Todesurteil gehandelt. In diesen Fällen habe er selbst nie über das Leben oder den Tod eines Häftlings entschieden. Das hätten nur Grabner und Aumeier gemacht. Er habe geglaubt, dass diese nur dann die Erschiessung von Häftlingen angeordnet hätten, wenn sicher gewesen sei, dass ein Todesurteil noch nachkommen werde. Die Entscheidung Grabners und Aumeiers habe er für rechtmässig gehalten. Der Angeklagte Boger hat ferner wiederholt mit aller Bestimmtheit behauptet, er habe nie Häftlinge eigenhändig erschossen. Im KL Auschwitz habe er nie ein Gewehr getragen und nie einen Schuss aus einer Waffe auf einen Häftling abgegeben. Erst in der Sitzung vom 25.3.1965 hat er eingeräumt, dass er einmal nach einer Bunkerentleerung zwei Häftlinge eigenhändig erschossen habe. Das habe er aber nur auf Befehl Grabners getan. Am nächsten Tag sei er bei Grabner deswegen vorstellig geworden. Er habe ihm erklärt, er sei entweder nur im Ermittlungsdienst tätig oder er werde für andere Zwecke verwendet. Beides zusammen könne er nicht verkraften. Grabner habe sich daraufhin gleichsam bei ihm entschuldigt und habe ihn dann nicht mehr zum Erschiessen eingeteilt.

4. Zu II.4.

Der Angeklagte Boger hat auch zugegeben, dass er verschärfte Vernehmungen - auch gegen Beschuldigte - durchgeführt hat. Er hat jedoch entschieden in Abrede gestellt, dass er Häftlinge totgeschlagen habe. Er hat behauptet, dass er jede verschärfte Vernehmung protokollarisch festgehalten und die Protokolle hierüber der Gestapo in Kattowitz vorgelegt habe. Es sei nie vorgekommen, dass Häftlinge bzw. Beschuldigte die verschärften Vernehmungen nicht überlebt hätten. Niemand sei infolge einer verschärften Vernehmung gestorben.

5. Zu II.5.

Schliesslich hat der Angeklagte Boger auch in Abrede gestellt, nach dem Krematoriumsaufstand Häftlinge erschossen zu haben.

IV. Beweisgrundlagen für die Feststellungen unter I. und II., Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten Boger beruhen auf seiner eigenen Einlassung.

2. Zu II.1.

Die unter II.1 getroffenen Feststellungen beruhen zunächst auf dem Geständnis des Angeklagten Boger, der zugegeben hat, Rampendienst versehen und Überwachungsfunktionen bei der Abwicklung von RSHA-Transporten ausgeübt zu haben. Darüber hinaus haben die Zeugen Bor. und Erich K. sowie die Zeugin Pal. den Angeklagten Boger beim Rampendienst beobachtet. Diese Zeugen haben glaubhaft bekundet, dass Boger auch bei der Einteilung der ausgestiegenen Menschen (sog. Vorselektion) mitgewirkt habe. Das Gericht sieht daher auch als erwiesen an, dass Boger über seine eigentlichen Überwachungsfunktionen hinaus beim Aufstellen und der Einteilung der angekommenen Menschen mitgeholfen hat. Wie oft der Angeklagte Boger den Rampendienst versehen hat, konnte nicht festgestellt werden. Das Gericht hat sich daher, da es das Urteil nicht auf Schätzungen stützen konnte, darauf beschränkt, eine Mitwirkung Bogers in der geschilderten Weise bei mindestens einem RSHA-Transport festzustellen. Die Zeugin Pal. hat den Angeklagten Boger im Jahre 1944 beim Rampendienst gesehen. Zu dieser Zeit wurden mit den RSHA-Transporten durchschnittlich dreitausend Menschen nach Auschwitz deportiert. Davon wurden mindestens 75% - wie oben schon ausgeführt - getötet, da nie mehr als 25%, meist aber weniger, in das Lager aufgenommen worden sind. Mit Sicherheit konnte daher das Gericht davon ausgehen, dass von diesem Transport mindestens 1000 Menschen durch Gas getötet worden sind.

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass Boger - ebenso wie alle anderen SS-Angehörigen - wusste, dass die Juden nur wegen ihrer Abstammung als Angehörige einer "minderwertigen Rasse" getötet wurden. Das war allen in Auschwitz befindlichen SS-Angehörigen klar. Dies ergab sich allein schon aus der Tatsache, dass nur Juden in der geschilderten Weise massenweise in den Gaskammern getötet wurden. Darüber hinaus wurde es allen durch die gegebenen Befehle und durch weltanschauliche Schulung klar gemacht. Boger bestreitet es auch nicht.

Dass Boger über die befohlenen Geheimhaltungsvorschriften und die Tarnbezeichnung Bescheid wusste, kann ebenfalls nicht zweifelhaft sein, da er als Angehöriger der Politischen Abteilung zwangsläufig davon erfahren musste und selbst zur strengsten Verschwiegenheit - wie alle anderen SS-Angehörigen - verpflichtet wurde. Durch seine Anwesenheit auf der Rampe musste er auch zwangsläufig miterleben, wie die Opfer getäuscht und zu den Gaskammern geführt wurden. Es kann daher auch nicht zweifelhaft sein, dass er die näheren Umstände, wie die Opfer getötet wurden, kannte. Er bestreitet dies auch nicht.

3. Zu II.2.

Die unter II.2. getroffenen Feststellungen beruhen auf der glaubhaften Aussage des Zeugen Erich K. Der Zeuge war vom November 1942 bis zum 18.1.1945 im Lager Birkenau. Er war als Schlosser tätig und kam in dieser Funktion in sämtliche Lagerabschnitte. Daher kannte er auch die SS-Angehörigen. Auch der Angeklagte Boger war ihm gut bekannt. Der Zeuge K. hat alle Vorgänge im Lager mit aufmerksamen Augen beobachtet. In seiner Eigenschaft als Schlosser konnte er auch wiederholt sog. Lagerselektionen sehen.

Der Zeuge K. hinterliess einen glaubwürdigen Eindruck. Das Gericht ist überzeugt, dass seine Angaben über den Angeklagten Boger der Wahrheit entsprechen.

Bei der Lagerselektion, an der der Angeklagte Boger teilgenommen hat, ist eine Vielzahl von Menschen für den Tod bestimmt worden. Da es jedoch nicht möglich war, die genaue Anzahl festzustellen, hat sich das Gericht darauf beschränkt, eine Mindestzahl festzustellen. Mit Sicherheit kann davon ausgegangen werden, dass bei dieser Selektion mindestens 10 Menschen für den Tod bestimmt worden sind, weil Tötungen durch Gas nur bei einer grösseren Anzahl von Menschen durchgeführt worden sind.

4. Zu II.3.

Die Feststellungen über die sog. Bunkerentleerungen und die anschliessenden Erschiessungen beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten Boger, Dylewski, Broad, soweit ihnen gefolgt werden konnte, den glaubhaften Aussagen der Zeugen Wl. und Pi., die als Schreiber im Block 11 nacheinander tätig waren und ständig die Bunkerentleerungen beobachten konnten, und den glaubhaften Aussagen der Zeugen Se., La., Bor., Be., Woy., F., P., sowie dem bereits mehrfach erwähnten Broad-Bericht. Die Feststellungen über die Bunkerentleerung und die anschliessenden Erschiessungen am 3.3.1943 hat das Gericht auf Grund der glaubhaften Aussage des Zeugen Bor. getroffen. Dieser Zeuge war glaubwürdig. An Hand des Bunkerbuches konnte in der Hauptverhandlung festgestellt werden, dass er tatsächlich am 3.3.1943 im Arrest eingesessen hat. Der Zeuge hat seine Aussage ruhig und leidenschaftslos und mit erkennbarem ernstlichen Bemühen gemacht, nur die Wahrheit zu sagen. Seine Darstellung war in sich geschlossen und widerspruchsfrei. Das Gericht ist überzeugt, dass der Zeuge auch noch nach 20 Jahren die damaligen Geschehnisse in guter Erinnerung hat. Denn für ihn handelte es sich, da er selbst erschossen werden sollte, um ein Erlebnis, das sich erfahrungsgemäss tief im Gedächtnis einprägt.

Auf der glaubhaften Aussage des Zeugen Bor. beruht auch die Feststellung, dass Boger einem Jungen mitleidlos erklärt hat, er werde erschossen.

Die Feststellungen über die Bunkerentleerungen und die anschliessenden Erschiessungen am 21.9.1943 und 28.9.1943 beruhen auf den glaubhaften Bekundungen des Zeugen G. Auch dieser Zeuge hat einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Er hat seine Aussage sachlich, klar und präzise gemacht. Seine Darstellung ist frei von Widersprüchen. Die Eintragungen im Bunkerbuch, die in der Hauptverhandlung durch Verlesung zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden sind, bestätigten, dass der Zeuge vom 12.9.1943 bis zum 21.9.1943 tatsächlich im Arrest gewesen ist. Am 21.9.1943 ist ein Entlassungsvermerk eingetragen. Das bestätigt seine Aussage, dass er an diesem Tage wieder in das Schutzhaftlager gelangen konnte. Im Bunkerbuch ist ferner eingetragen, dass der Zeuge erneut vom 25.9. bis 28.9.1943 im Bunker eingesessen hat. Das bestätigt seine Bekundung, dass Boger ihn erneut festgenommen und in den Arrest eingeliefert hat. Weiter ergibt sich daraus, dass er am 28.9.1943 die Bunkerentleerung beobachten konnte und dass an diesem Tage eine Bunkerentleerung stattgefunden hat. Denn seine Entlassung aus dem Arrest ist an diesem Tag vermerkt.

Die Schilderung des Zeugen über die Ereignisse, die zur Verhaftung der Häftlinge Solarz und Gniardoroski und der Lilly Tofler sowie zu seiner eigenen Verhaftung geführt haben, wird zunächst indirekt bestätigt durch die Aussage der Zeugen Kag., Stei. und Paj., die zwar aus eigenem Wissen zu dem Fall Tofler keine Bekundungen machen konnten, die aber bereits damals in Auschwitz von dem Fall der Lilly Tofler gehört haben, insbesondere davon, dass ein Brief, den die Tofler einem Häftling durch einen Totenkranz hatte übermitteln wollen, durch die SS entdeckt worden sei und dass deswegen die Kranzträger, die Lilly Tofler und der Adressat des Briefes in den Arrest eingeliefert worden seien.

Wenn auch der Zeuge G. - anders als der Zeuge Bor. am 3.3.1943 - nicht selbst gesehen hat, dass Boger am 21.9.1943 eigenhändig geschossen hat, so ist das Gericht doch überzeugt, dass Boger mindestens die Häftlinge Solarz und Gniardoroski erschossen hat. Der Zeuge G. wurde unmittelbar nach der Erschiessung von dem Bunkerkalfaktor Ja. zu den im Hof liegenden Leichen geführt. Dort erklärte ihm Ja., dass Boger die beiden genannten Häftlinge erschossen habe. Es ist nicht ersichtlich, warum Ja., der die Erschiessung mit ansehen und daher die Todesschützen kennen musste, damals wahrheitswidrig den Boger hätte belasten sollen. Im übrigen hat Boger selbst schliesslich - nach anfänglichem hartnäckigem Leugnen - zumindest eingeräumt, dass er selbst auch zweimal - wenn auch in einem anderen Falle - geschossen habe. Daraus ist zumindest zu entnehmen, dass es nicht ungewöhnlich gewesen ist, dass auch die Angehörigen der Politischen Abteilung Häftlinge an der Schwarzen Wand eigenhändig erschossen haben. Die Feststellungen über eine Bunkerentleerung Ende September oder Anfang Oktober 1943, bei der Boger ohne Vernehmungen Häftlinge erschiessen lassen wollte, und dies nur infolge der Intervention des Lagerführers Schwarz unterblieb, beruhen auf der glaubhaften Bekundung des Zeugen Woy. Das Gericht hat auch bei diesem Zeugen, der einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat, keine Veranlassung, an der Richtigkeit seiner durch den Eid bekräftigten Angaben zu zweifeln. Dass der Zeuge sich im Arrest befunden hat, ist durch die zum Gegenstand der Verhandlung gemachte Eintragung im Bunkerbuch bestätigt worden, wonach der Zeuge vom 25.9.1943 bis zum 11.10.1943 im Bunker eingesessen hat.

Den Fall Wosniakowski hat der Zeuge F. geschildert. Auch ihm schenkte das Gericht vollen Glauben. Der Zeuge kannte den Angeklagten Boger gut, da er im HKB als Häftlingsarzt eine gewisse Bewegungsfreiheit gehabt und die SS-Angehörigen, die im Lager zu tun hatten, gekannt hat. Der Zeuge F. hat auf das Gericht einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Seine Aussage war klar, sachlich und leidenschaftslos.

Schliesslich beruhen die Feststellungen über eine Bunkerentleerung zwischen dem 16. und 28.9.1943, bei der zunächst der Zeuge Be. erschossen werden sollte, dann jedoch durch eine Intervention des SS-Unterführers Lachmann gerettet wurde, auf den glaubhaften Bekundungen dieses Zeugen. Auch bei diesem Zeugen hat das Gericht keine Zweifel, dass seine Darstellung der Wahrheit entspricht. Auch für diesen Zeugen, der ruhig und sachlich ausgesagt hat, waren die damaligen Erlebnisse von einschneidender Bedeutung, so dass sie sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt haben.

Die Einlassung des Angeklagten Boger, die Erschiessungen nach den sog. Bunkerentleerungen seien in der Regel vom RSHA oder WVHA angeordnet gewesen oder sie seien im Vorgriff auf zu erwartende Erschiessungsbefehle erfolgt, ist durch die gesamten Umstände widerlegt. Dagegen spricht zunächst, dass Grabner damals die geschilderten Bunkerentleerungen mit den anschliessenden Erschiessungen als "Bunker-Ausstauben" bezeichnet hat. Dieser Ausdruck deutet darauf hin, dass man jeweils im Arrestbunker, wenn er überfüllt war, Platz für weitere Arrestanten schaffen wollte.

Dass Grabner ständig diesen Ausdruck gebraucht hat, geht aus dem Broad-Bericht hervor, der insoweit vollen Glauben verdient. Denn es ist kein Grund ersichtlich, warum Broad diesen Ausdruck kurz nach dem Krieg erfunden haben sollte. Ferner spricht aber die ganze Prozedur des "Bunker-Ausstaubens" gegen das Vorliegen von Erschiessungsbefehlen. Hätten tatsächlich solche Befehle vorgelegen, hätte es genügt, die zu erschiessenden Häftlinge durch einen SS-Mann, etwa den Arrestaufseher, aus den Zellen herauszuholen und zum Erschiessen führen zu lassen. Die Tatsachen, dass sich der Leiter der Politischen Abteilung, der Lagerführer und die Mitglieder der Politischen Abteilung jeweils im Arrestkeller eingefunden haben, dass dort jeweils erst die einzelnen Fälle, wenn auch oft nur sehr kurz, erörtert worden sind, und dass schliesslich erst an Ort und Stelle darüber entschieden worden ist, ob ein Häftling zu erschiessen oder in das Lager zu entlassen sei oder ob er im Bunker zu bleiben habe, beweisen eindeutig, dass die Erschiessungen ohne höheren Befehl eigenmächtig von den im Arrestkeller versammelten SS-Führern und Unterführern angeordnet worden sind. Für Entscheidungen wie in den Fällen Gestwinski, Be. und G. wäre andernfalls auch kein Raum gewesen. Gerade diese Fälle zeigen, dass es im Belieben der im Bunker versammelten SS-Führer und Unterführer lag, einen Häftling zu töten oder ihn wieder vor dem Tode zu erretten, auch wenn er vorher schon zum Tode bestimmt worden war.

Ferner spricht die Tatsache, dass die erschossenen Häftlinge nicht als "exekutiert" an das RSHA gemeldet worden sind, sondern zunächst, obwohl sie schon tot waren, in die Stärke des HKB aufgenommen und dann als normal an irgendeiner Krankheit verstorben von der Stärke des HKB abgesetzt worden sind, eindeutig dafür, dass man auf diese Weise eigenmächtige Tötungen verschleiern wollte. All diese Umstände waren dem Angeklagten Boger bekannt. Ihm musste sich daher die Erkenntnis aufdrängen, dass kein Befehl vom RSHA oder einer anderen höheren Dienststelle vorliegen konnte. Das Gericht ist daher überzeugt, dass ihm dies auch völlig klar war. Schliesslich ist auch noch die Tatsache zu erwähnen, dass bereits im Jahre 1943 gegen Grabner wegen dieser Bunkerentleerungen und Erschiessungen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und er schliesslich vor dem SS- und Polizeigericht wegen Mordes in mindestens 2000 Fällen angeklagt worden ist. Auch das spricht dafür, dass die Erschiessungen damals eigenmächtig ohne höheren Befehl erfolgt sind, Grabner berief sich zwar - wie der Zeuge Dr. Ha. glaubhaft bekundet hat - in der damaligen Hauptverhandlung auf angeblichen Befehl des RSHA, nachdem er in die Enge getrieben worden war. Vorher, während des Ermittlungsverfahrens, hatte er sich aber nicht darauf berufen. Seine Einlassung stand auch - so hat der Zeuge Dr. Ha. weiter ausgesagt - in Widerspruch zu den Aussagen einer Reihe von Zeugen.

Das Gericht ist auch überzeugt, dass der Angeklagte Boger nicht nur widerstrebend bei den Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen mitgewirkt hat, sondern dass er
selbst einen massgebenden Einfluss auf die Entscheidung über Leben und Tod der Arrestanten ausgeübt und die Erschiessungen zu seiner eigenen Sache gemacht und innerlich bejaht hat. Dies zeigt sich zunächst im Falle Gestwinski, bei dem - wie die geschilderten Umstände zeigen - Boger letztlich den Ausschlag für seine Erschiessung gegeben hat. Es wird ferner deutlich im Fall des Zeugen Be., den er zunächst trotz der Gegenvorstellung des SS-Unterführers Lachmann ohne Vernehmung erschiessen lassen wollte und letztlich nur deswegen vor dem Tode bewahrt hat, weil ihm sein Leben durch eine Badewanne und andere Dinge abgekauft worden ist.

Auch im Falle G. hat Boger entscheidend dazu beigetragen, dass dieser Zeuge zunächst zum Erschiessen ausgesucht worden ist. Das zeigt sich darin, dass er den Zeugen mit dem Ruf "Du bist mein" aus der Zelle herausgeholt und zur Gruppe der zu Erschiessenden gestellt hat. Dass er den Tod des Zeugen wollte, beweist die Tatsache, dass er ihn, nachdem er zunächst dem Tod entronnen war, erneut unter Beschimpfungen festnahm, ihn wieder in den Arrest einlieferte und bei der nächsten Bunkerentleerung wieder dafür sorgte, dass er zu der Gruppe der zu Erschiessenden gestellt wurde. Wenn der Zeuge dann doch nicht erschossen wurde, so geschah das nur auf Intervention des SS-Unterführers Lachmann hin.

Die festgestellte innere Einstellung des Angeklagten Boger zu den Bunkerentleerungen und Erschiessungen lässt sich weiter aus dem Fall des 16-19jährigen Jungen ersehen. Mitleidlos hat der Angeklagte Boger diesem Jungen erklärt, er werde erschossen. Ferner zeigt sich diese innere Einstellung Bogers in dem von dem Zeugen Woy. geschilderten Fall, in dem Boger ohne Vernehmung eine Gruppe von angeblichen Widerstandskämpfern erschiessen lassen wollte, was sogar dem Lagerführer Schwarz bedenklich erschien. Auch die Tatsache, dass er den österreichischen Oberst Wosniakowski, der bereits bei der Gruppe der in das Lager zu entlassenen Häftlinge stand, wieder in die Zelle zurückgeschickt hat, zeigt seinen Eifer bei den Bunkerentleerungen und seine vom Gericht festgestellte innere Einstellung zu den Erschiessungen. Ferner ist auch der Umstand, dass er mit Eifer im Lager nach Geheim- und Untergrundorganisationen suchte und eine Vielzahl "verdächtiger" Häftlinge in den Arrestbunker einlieferte, obwohl er damit rechnen musste und nach Überzeugung des Gerichts auch damit gerechnet hat, dass sie bei einer Bunkerentleerung erschossen werden könnten, und dass er bewusst Terror, Angst und Schrecken im Lager verbreitet hat, wofür die oben angeführten Namen, die ihm von den Häftlingen beigelegt wurden, zeugen, ein sicheres Beweisanzeichen dafür, dass er mit Eifer an den Bunkerentleerungen und Erschiessungen teilgenommen und die Tötungen der Häftlinge innerlich gewollt und bejaht hat. Dass Boger unter den Häftlingen unter den oben angeführten Namen bekannt war, haben unter anderen die Zeugen Wey., van V., Kl., die Zeuginnen Kag., Ro., Maj. und der Zeuge Philipp Mü. glaubhaft bekundet.

Schliesslich zeugt für Bogers innere Einstellung auch noch, der Eifer und die Brutalität, mit denen er - wie sich aus den Feststellungen unter II.4. ergibt - Aussagen und Geständnisse aus Häftlingen herauspressen wollte und nicht davor zurückgeschreckt ist, Häftlinge bei diesen Vernehmungen totzuschlagen oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit zu misshandeln.

All diese angeführten Tatsachen haben zu der Überzeugung des Gerichts beigetragen, dass Boger im Zusammenwirken mit dem SS-Untersturmführer Grabner, dem SS-Hauptsturmführer Aumeier und anderen SS-Angehörigen die Erschiessungen der Häftlinge in den konkret geschilderten Einzelfällen, aber auch bei sonstigen Bunkerentleerungen und Erschiessungen, an denen er teilnahm, zu seiner eigenen Sache gemacht und sie innerlich bejaht hat.

Da nicht mehr festzustellen war, wie oft Boger an den Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen teilgenommen hat, ferner, wie oft er eigenhändig geschossen hat, hat sich das Gericht darauf beschränkt, dem Urteil nur die Fälle zugrunde zu legen, die mit jeden Zweifel ausschliessender Sicherheit festzustellen waren. Danach ergibt sich, dass Boger

a. am 3.3.1943 an einer Bunkerentleerung teilgenommen hat und anschliessend daran eigenhändig mindestens sechs Häftlinge erschossen hat (Aussage Bor.)

b. am 21.9.1943 an einer Bunkerentleerung teilgenommen hat und anschliessend eigenhändig mindestens die Häftlinge Solarz und Gniardoroski erschossen hat (Aussage G.)

c. am 28.9.1943 an einer Bunkerentleerung teilgenommen hat und bei den anschliessenden Erschiessungen anwesend war (Aussage G.).

Da nicht mehr festzustellen war, wieviel Häftlinge in diesem Falle erschossen worden sind, hat sich das Gericht darauf beschränkt, mindestens einen Fall als sicher festzustellen. In diesem Fall konnte allerdings nicht festgestellt werden, dass Boger eigenhändig geschossen hat.

Somit sind insgesamt mindestens neun Fälle von Erschiessungen festzustellen, an denen Boger mitgewirkt und die er innerlich bejaht hat.

5. Zu II.4.

Die Feststellungen über die allgemeinen Vernehmungsmethoden Bogers beruhen auf den glaubhaften Aussagen der Zeuginnen Ro., Scha., Maj., Stei. und Wa.

Die Zeuginnen Ro., Scha., Maj. und Stei. haben zwar den verschärften Vernehmungen in der sog. Vernehmungsbaracke nicht beigewohnt. Sie haben aber die Opfer gesehen, wenn sie aus der Vernehmungsbaracke bis zur Unkenntlichkeit entstellt herausgetragen oder herausgeworfen wurden. Auch haben sie die Schreie der Opfer gehört. Da die Zeuginnen in der Politischen Abteilung als Schreiberinnen, zum Teil sogar für den Angeklagten Boger, gearbeitet haben, besteht kein Zweifel, dass sie die Person des Angeklagten Boger genau kannten und ihn nicht mit einem anderen SS-Angehörigen verwechselt haben. Das Gericht hat keinen Anlass, den Aussagen dieser Zeuginnen, die sie zu verschiedenen Zeiten gemacht und die in allen wesentlichen Punkten übereingestimmt haben, zu misstrauen. Ihre Angaben, die sie mit dem Eid bekräftigt haben, sind voll glaubhaft.

Die Zeugin Wa. hat - wie sie bekundet hat - bei den verschärften Vernehmungen auf der sog. Bogerschaukel wiederholt als Dolmetscherin dabei sein müssen. Sie konnte als Augenzeugin miterleben, wenn Häftlinge bei diesen Vernehmungen gestorben sind. Allerdings konnte die Zeugin keine sicheren Angaben mehr darüber machen, wieviel Häftlinge bei solchen Vernehmungen des Boger auf der Stelle gestorben sind. Die Zeugin hat bei ihrer Vernehmung zunächst erklärt, dass es für sie schwer sei, eine Zahl zu nennen. Sie habe nicht gerechnet. Dann meinte sie, es seien mindestens zwanzig gewesen. Da das Gericht der Auffassung ist, dass diese Zahlenangabe auf einer Schätzung der Zeugin beruht, für die keine sicheren, jeden Zweifel ausschliessenden Anhaltspunkte gegeben sind, hat sich das Gericht darauf beschränkt, nur festzustellen, dass von Boger bei verschärften Vernehmungen im Beisein der Zeugin Wa. eine unbestimmte Anzahl von Häftlingen, jedoch mindestens einer, auf der Stelle getötet worden ist, und hat nur diesen einen Fall dem Urteil zugrunde gelegt.

Der Angeklagte Boger hat in Abrede gestellt, dass die Zeugin jemals als Dolmetscherin bei Vernehmungen auf der Bogerschaukel anwesend gewesen sei. Er behauptet, dass Frauen zu solchen verschärften Vernehmungen nie hinzugezogen worden seien. Wenn er Dolmetscher gebraucht habe, so habe er SS-Angehörige bestellt. Damit hat der Angeklagte Boger die Zeugin Wa. bezichtigt, bewusst die Unwahrheit gesagt zu haben. Denn es erscheint kaum möglich, dass die Zeugin irrtümlich annehmen konnte, sie sei bei solchen schrecklichen Vernehmungen dabeigewesen. Das Gericht ist aber von der Wahrheitsliebe der Zeugin überzeugt. Boger ist dagegen unglaubwürdig. Er hat auch in vielen anderen Punkten nicht die Wahrheit gesagt. So hat er - wie schon ausgeführt - längere Zeit immer wieder mit aller Bestimmtheit beteuert und hartnäckig wiederholt, er habe nie in Auschwitz geschossen, bis er schliesslich doch eingeräumt hat, zwei Häftlinge selbst erschossen zu haben.

Die Zeugin Wa., die als Privatlehrerin in Mexico tätig ist, hat nicht den Eindruck gemacht, dass sie sich - entgegen der Wirklichkeit - nur eingebildet haben könnte, an den verschärften Vernehmungen Bogers teilgenommen zu haben. Das Gericht hat die Glaubwürdigkeit und die Angaben der Zeugin besonders sorgfältig geprüft, weil sie einen Vorfall erzählt hat, der so ungeheuerlich war, dass er zunächst kaum glaubhaft erschien. Die Zeugin hat berichtet, dass im November 1944 eines Tages ein LKW mit Kindern vorgefahren sei und in der Nähe der Baracke der Politischen Abteilung gehalten habe. Ein Kind sei aus dem Wagen gesprungen. Es habe einen Apfel in der Hand gehabt. Boger, der zu dieser Zeit in der Tür der Baracke zusammen mit dem SS-Unterführer Draser gestanden habe, sei zu dem Kind hingegangen, habe es an den Füssen gepackt und mit dem Kopf an die Barackenwand geschlagen. Den Apfel habe er eingesteckt. Draser habe ihr dann befohlen, das Blut usw. von der Wand abzuwischen. Das habe sie auch getan. Eine Stunde später habe Boger sie zum Dolmetschen gerufen. Als sie hineingekommen sei, habe er den Apfel gerade gegessen. Die Zeugin blieb trotz wiederholter Vorhalte und Ermahnungen bei dieser Aussage, die sie mit sichtlicher Bewegung aber ruhig und leidenschaftslos gemacht hatte. Gleichwohl hat das Gericht die Zeugin am nächsten Tag noch einmal vernommen, um sich noch einmal ein Bild von ihrer Glaubwürdigkeit zu machen. Ihr wurde vorgehalten, dass sie bei ihrer früheren Vernehmung vor der deutschen Botschaft in Paris nichts von diesem schwerwiegenden Vorfall, den sie nicht vergessen haben könne, wenn er sich tatsächlich ereignet hätte, erwähnt habe. Die Zeugin hat hierfür jedoch eine plausible Erklärung gegeben: Sie erklärte, dass sie nach der Befreiung immer habe weinen müssen, wenn sie Kinder gesehen habe, weil sie dann an diesen Vorfall hätte denken müssen. Als sie schwanger gewesen sei, habe sie sich durch einen Arzt in Paris die Frucht beseitigen lassen, weil sie Angst gehabt habe, dass sie in Erinnerung an dieses schreckliche Erlebnis immer weinen müsse, wenn sie ihr eigenes Kind sehe. Zu der deutschen Botschaft habe sie über diesen Fall noch nicht sprechen können, weil es nach ihrer Meinung ihr Privatleben betroffen habe. Auch sonst habe sie nach der Befreiung mit Aussenstehenden nicht darüber sprechen können. Erst vor etwa drei Jahren habe sie den Fall einem Schriftsteller erzählt.

Das Gericht ist trotz anfänglicher Bedenken überzeugt, dass der von der Zeugin geschilderte Vorfall der Wahrheit entspricht. Auch bei ihrer zweiten Vernehmung am nächsten Tag, ist die Zeugin trotz ernsthafter Ermahnung und Vorhalte bei ihrer ursprünglichen Aussage geblieben. Dafür, dass sie den Vorfall bei ihrer Vernehmung vor der deutschen Botschaft nicht erwähnt hat, hat sie eine einleuchtende Erklärung gegeben. Die Zeugin hat nicht den Eindruck gemacht, dass sie zu Übertreibungen oder phantasievollen Erzählungen neigt. Sie hat ihre Aussage ohne Umschweife, ruhig, klar und sachlich gemacht. Es bestand auch nicht der Eindruck, dass sie die Geschichte aus Geltungssucht oder Wichtigtuerei erfunden haben könnte. Wenn sie jetzt den Vorfall vor Gericht in aller Öffentlichkeit erzählen konnte, so hat sie offensichtlich die inneren psychischen Hemmungen, die durch den Schock des damaligen Erlebnisses hervorgerufen worden sein mögen, nach zwanzig Jahren überwunden.

Die Zeugin hat ihre Aussage mit dem Eid bekräftigt. Schliesslich erhält die Aussage der Zeugin eine gewisse Bestätigung durch die Zeugin Cou. Diese Zeugin hat glaubhaft bekundet, dass ihr die Zeugin Wa. bereits damals im Lager erzählt habe, dass jemand ein Kind umgebracht habe. Nähere Einzelheiten habe sie jedoch nicht geschildert.

Die Zeugin Kag. schliesslich hat eidlich bekundet, dass ihr die Zeugin Wa. bereits im Jahre 1947 diesen Vorfall erzählt habe. Der scheinbare Widerspruch zwischen dieser Aussage und der Aussage der Zeugin Wa., dass sie mit Aussenstehenden über dieses furchtbare Erlebnis nicht habe sprechen können, löst sich auf, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Zeugin Cou. und bei der Zeugin Kag. um Leidensgefährten und Frauen handelt, die ähnliche schreckliche Erlebnisse wie die Zeugin Wa. gehabt haben. Es erscheint daher verständlich, dass die Zeugin Wa. zu diesen beiden Zeuginnen von dem schrecklichen Erlebnis sowohl im Lager als auch später nach der Befreiung sprechen konnte.

Sonstige Anhaltspunkte, dass die Zeugin den Angeklagten Boger zu Unrecht hat belasten wollen, liegen nicht vor. Das Gericht hat daher auch keine Zweifel, dass die Angaben der Zeugin über die Vernehmungsmethoden Bogers und ihre Anwesenheit bei solchen Vernehmungen und über die Tötung von mindestens einem Häftling durch Boger der Wahrheit entsprechen. Da der Angeklagte Boger erst im Dezember 1942 nach Auschwitz gekommen ist, muss die Tötungshandlung nach dem 1.12.1942 geschehen sein.

Die Feststellungen über die Tötung von drei weiteren Häftlingen (Ziff.II.4.b.-d.) beruhen auf der Aussage des Zeugen Bur. Dieser Zeuge hat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Er hat die Vorfälle leidenschaftslos und ruhig, klar und widerspruchsfrei geschildert. Eine Verwechslungsmöglichkeit scheidet aus. Denn der Zeuge war als Reiniger in der Politischen Abteilung beschäftigt. Er kannte daher die der Politischen Abteilung angehörenden SS-Männer genau. Tagsüber hielt er sich oft im Klosettraum auf, von dessen Fenster er die Vernehmungsbaracke genau beobachten konnte. Die von ihm geschilderten Fälle sind glaubhaft. Die von Bur. gegebene Darstellung wird durch die von den Zeuginnen Ro., Maj., Stei. und Wa. geschilderten Vernehmungsmethoden Bogers und die Tatsache, dass Boger in vielen anderen Fällen Häftlinge bis zur Unkenntlichkeit misshandelt hat oder misshandeln liess, gestützt.

Der Zeuge Bur. ist zwar bei den Vernehmungen selbst nicht dabeigewesen. Das Gericht hat jedoch keinen Zweifel, dass Boger die drei Häftlinge allein geschlagen und getötet hat. Denn der Zeuge hat - wie er glaubhaft bekundet hat - beobachtet, dass Boger jeweils allein mit diesen Häftlingen in die Vernehmungsbaracke gegangen sei. Der Zeuge hat ferner, wenn er selbst die Baracke betreten hat, festgestellt, dass sonst niemand in der Baracke bzw. dem Vernehmungszimmer gewesen ist. Er hat auch niemanden hineingehen und herauskommen sehen. Einen anderen Eingang bzw. Ausgang zu dem Vernehmungszimmer gab es nicht. Die drei Häftlinge können daher nur von Boger vernommen, geschlagen und getötet worden sein. Dass die Häftlinge tatsächlich tot waren, davon hat sich der Zeuge selbst überzeugt. Er ist zwar kein Arzt, das Gericht ist aber der Auffassung, dass auch ein Laie in der Regel den Tod eines Menschen feststellen kann.

Schliesslich spricht die Tatsache, dass Leichenträger die Körper der drei Menschen weggeschafft haben, dafür, dass sie tatsächlich - auch nach der Meinung Bogers - tot waren. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge Bur. den Angeklagten Boger bewusst wahrheitswidrig zu Unrecht hätte belasten wollen. Dagegen spricht vielmehr, dass er z.B. über den Angeklagten Broad sehr günstig ausgesagt hat. Das spricht für seine Wahrheitsliebe. Warum er ausgerechnet Boger zu Unrecht hätte belasten sollen, wenn nichts gegen ihn vorgelegen hätte oder wenn er nichts Nachteiliges von ihm gewusst hätte, ist nicht ersichtlich.

Die Feststellungen unter II.4.c. schliesslich beruhen auf der Aussage des Zeugen Lee. Auch dieser Zeuge hat einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Er hat zwar nicht selbst gesehen, dass Boger den Polen geschlagen hat. Er hat aber vor der Baracke wartend das Geschrei des Häftlings und die Schläge gehört. Danach hat er gesehen, wie Boger den völlig zerschlagenen Häftling aus dem Fenster hinausgeworfen hat. Von Boger wurde er dann in die Baracke hineingerufen. Dort wurde er selbst von Boger geschlagen und getreten. Aus all diesen Umständen hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass Boger den Häftling - wie er in vielen anderen Fällen auch getan hat - vorher auch zusammengeschlagen hat. Das Gericht hat auch keine Zweifel, dass der Tod des Häftlings infolge der Misshandlungen durch Boger eingetreten ist.

Das Gericht ist ferner überzeugt, dass Boger in den unter II.4.a.-e. geschilderten Fällen damit gerechnet hat, dass die Häftlinge infolge der Schläge und Misshandlungen sterben könnten und das billigend in Kauf genommen hat. Diese Überzeugung des Gerichts stützt sich zunächst darauf, dass die Schläge mit dem Ochsenziemer oder mit den Stöcken nicht nur auf das Gesäss, sondern auch auf andere Körperteile, insbesondere die Geschlechtsteile und die Nieren geführt worden sind. Boger selbst hat auf Befragen eingeräumt, dass ihm bekannt gewesen sei, dass bei einem Menschen der Tod eintreten kann, wenn er auf Hoden und Nieren geschlagen wird. Das Gericht hat seine Überzeugung ferner aus der Tatsache gewonnen, dass Boger nicht nur einen Menschen bei solchen verschärften Vernehmungen getötet hat, sondern dass die Misshandlungen in mehreren Fällen zum Tode von Häftlingen geführt haben, was Boger hätte davon abhalten müssen, in Zukunft die Häftlinge einer solchen lebensgefährlichen Behandlung zu unterziehen. Wenn er trotz dieser erkennbaren Folgen seine Methoden in der gleichen Weise fortgesetzt hat, ist der Schluss gerechtfertigt, dass er den Tod der Häftlinge in Kauf nahm.

Auch die Tatsache, dass Boger viele Häftlinge so zugerichtet hat, dass sie auf andere Personen den Eindruck erweckten, als seien sie fast tot oder könnten nicht mehr lange leben, spricht für die festgestellte innere Einstellung Bogers, auch wenn in diesen Fällen Beweismittel dafür fehlen, dass die Häftlinge einige Tage später an den Folgen der Misshandlungen gestorben sind.

6. Zu II.5.

Die Feststellungen über den Krematoriumsaufstand beruhen auf den glaubhaften Bekundungen der Zeugen Be., Philipp Mü., der Einlassung des Angeklagten Baretzki, soweit ihr gefolgt werden konnte, und dem sog. Broad-Bericht.

Der Zeuge Philipp Mü. war selbst in dem Sonderkommando und zwar im Krematorium III untergebracht. Er hat die Umstände, die zu dem Aufstand geführt haben, selbst miterlebt. Von dem Angeklagten Baretzki ist bestätigt worden, dass tatsächlich ein Aufstand stattgefunden hat. Das gleiche ergibt sich auch aus dem Broad-Bericht. Mü. hat allerdings die Erschiessungen der mindestens einhundert Häftlinge nicht miterlebt, da er sich zuvor in einem Kanalloch versteckt hatte und keine Beobachtung mehr machen konnte. Er hat aber die Schüsse hören können.

Der Zeuge Be. hat nach seiner glaubhaften Bekundung mit eigenen Augen gesehen, wie Boger und Houstek (Erber) die am Boden liegenden Häftlinge erschossen haben. Be. schätzte die Zahl der Erschossenen auf einhundertfünfzig bis zweihundert. Das Gericht hat, um jeden Unsicherheitsfaktor auszuschliessen, nur eine Mindestzahl von einhundert Häftlingen festgestellt. Be. konnte die Erschiessungen aus nächster Nähe beobachten, weil er ein Hydrantenrohr, das ein Feuerwehrauto auf der Fahrt zum Krematorium III bei einer scharfen Biegung des Weges verloren hatte, aufgehoben und zu dem Krematorium III hineingebracht hat. Damit ist eine einleuchtende Erklärung dafür gegeben, dass Be. als Häftling die Erschiessungen mit ansehen konnte.

Dass Be. glaubwürdig ist, ist oben bereits ausgeführt worden. Das Gericht ist überzeugt, dass für diese Erschiessungen kein Befehl einer höheren Dienststelle vorgelegen hat. Denn die Erschiessungen erfolgten unmittelbar nach dem Aufstand. Es war somit für eine Meldung an eine höhere Dienststelle und entsprechende Weisungen und Befehle keine Zeit. Aus dem Umstand, dass Boger die Häftlinge, die inzwischen völlig wehrlos geworden waren und von denen kein Angriff mehr zu befürchten war, ohne ein Gerichtsurteil und ohne einen Befehl einer höheren Dienststelle erschossen hat, hat das Gericht gefolgert, dass ihn Rachsucht gegen diese Häftlinge, die es gewagt hatten, sich gegen die SS zu erheben, zu dieser Tat bestimmt hat.

V. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1.

Der Angeklagte Boger hat durch die geschilderten Tätigkeiten im Rahmen des geleisteten "Rampendienstes" die Vernichtung mindestens eines RSHA-Transportes im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen gefördert, somit einen kausalen Beitrag zu dem Mord der Haupttäter an tausend Menschen geleistet. Dass seine Handlungen mitursächlich für den Tod dieser Menschen gewesen sind, bedarf kaum einer näheren Begründung. Durch die Überwachung der SS-Angehörigen hat er diese - die ihn als Angehörigen der Politischen Abteilung kannten - dazu angehalten, ihren Dienst, d.h. die ihnen bei den Vernichtungsaktionen zugewiesenen Aufgaben, befehlsgemäss zu erfüllen. Durch die Mitwirkung beim Aufstellen und Einteilen der angekommenen Menschen hat er die Voraussetzungen für die weitere Abwicklung des RSHA-Transportes, d.h. die Tötung des grössten Teils dieser Menschen, mitgeschaffen. Schliesslich hat er durch die Überwachung der Häftlinge und das Achtgeben auf die Einhaltung des Sprechverbotes verhindert, dass die jüdischen Menschen vorzeitig etwas über ihr Schicksal erfuhren. Damit hat er zu den Täuschungsmanövern beigetragen.

Der Angeklagte hat den Rampendienst auf Befehl seiner Vorgesetzten ausgeübt. Da er Angehöriger der Waffen-SS war, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit ebenfalls im Rahmen des §47 MStGB zu beurteilen. Ihm war klar, dass die Tötungen der unschuldigen jüdischen Menschen ein allgemeines Verbrechen waren. Er beruft sich selbst auch nicht darauf, dass er die Tötungen für rechtmässig gehalten hätte. Im übrigen kann hierzu auf die Ausführungen unter A. (Mulka) V.2. verwiesen werden. Der Angeklagte Boger ist daher für seine Mitwirkung strafrechtlich verantwortlich.

Bei ihm besteht ein erheblicher Verdacht, dass er die Massenvernichtung jüdischer Menschen aus innerer Überzeugung bejaht und die Ausrottung der Juden als notwendig angesehen und zu seiner eigenen Sache gemacht hat.

Hierfür spricht nicht nur, dass er bereits 1930 in die allgemeine SS eingetreten ist, bei der er bis zum SS-Hauptsturmführer aufgestiegen ist, dass er jahrelang in der Gestapo tätig war und nach Ausbruch des Krieges zur Stapoleitstelle nach Zichenau abgeordnet worden ist, sondern vor allem sein Verhalten im KL Auschwitz, wie es sich aus den Feststellungen unter II. ergibt. Gleichwohl blieben letzte Zweifel, ob er die Massenvernichtung der Juden tatsächlich als eigene Taten gewollt, somit mit Täterwillen gehandelt hat. Nach der glaubhaften Aussage der Zeugin Ro. äusserte Boger ihr gegenüber wiederholt: "Ich habe nichts gegen die Juden, ich hasse nur die Polacken, die verfluchten Polacken." Auch die Zeugin Wa. hat bekundet, dass Boger die Polen mehr als die Juden gehasst habe. Sein Verhalten bei den Bunkerentleerungen, bei den verschärften Vernehmungen, sein eifriges Suchen nach Widerstands- und Untergrundorganisationen im Lager und sein sonstiges Verhalten gegenüber den Häftlingen im Lager, das diesen Angst und Schrecken einflösste, war weitgehend durch diesen Hass gegen die Polen, die einen grossen Teil der Lagerinsassen stellten, bestimmt. Da auch nicht erkennbar geworden ist, dass sich Boger bei dem Rampendienst besonders eifrig oder brutal und rücksichtslos gegen die jüdischen Menschen gezeigt hat, konnte das Gericht seinen Täterwillen nicht mit letzter Sicherheit feststellen. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass er die Taten der Haupttäter nur - wenn auch bereitwillig - unterstützen und fördern wollte. Sein Tatbeitrag zu der Tötung von mindestens 1000 Menschen aus einem RSHA-Transport kann daher nur als Beihilfe im Sinne des §49 StGB bewertet werden.

Irgendwelche Rechtfertigungsgründe für die Handlungsweise des Angeklagten Boger sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Boger hat auch vorsätzlich gehandelt. Aus den Feststellungen unter II. ergibt sich, dass er nicht nur die Massenvernichtung der jüdischen Menschen bewusst fördern wollte, sondern auch die gesamten Tatumstände gekannt hat, die die Beweggründe der Haupttäter für diese Tötungen als niedrig und die Art ihrer Ausführung als heimtückisch und grausam kennzeichnen.

Der Angeklagte Boger hat auch das erforderliche Unrechtsbewusstsein gehabt, da er - wie oben schon ausgeführt - klar erkannt hat, dass die Tötung der unschuldigen jüdischen Menschen trotz des Befehles Hitlers verbrecherisch war. Boger hat auch nicht irrig angenommen, dass die Tötungsbefehle trotz ihres verbrecherischen Charakters für ihn bindend seien. Hierzu kann auch auf die Ausführungen unter A. (Mulka) V.2. verwiesen werden.

Dem Angeklagten Boger ist die Ausübung des Rampendienstes auch nicht abgenötigt worden. Er beruft sich selbst nicht darauf. Nach der Überzeugung des Gerichts hat er bereitwillig den Rampendienst versehen. Als alter SS-Angehöriger und Gestapobeamter hat er es für selbstverständlich gehalten, Befehle der Vorgesetzten - insbesondere des "Führers" - auszuführen, auch wenn sie verbrecherischer Natur waren. Er hat selbst immer wieder betont, dass er die gegebenen Befehle auszuführen gehabt hätte. Die Frage eines wirklichen oder vermeintlichen (irrig angenommenen) sog. Befehlsnotstandes (§52 StGB) oder eines allgemeinen Notstandes (§54 StGB) stellt sich bei ihm daher überhaupt nicht.

Der Angeklagte Boger war daher in diesem Falle wegen gemeinschaftlicher Beihilfe (§§47, 49 StGB) zum gemeinschaftlichen Mord (§§47, 211 StGB) begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB), an mindestens 1000 Menschen zu verurteilen.

2. Zu II.2.

Die Mitwirkung des Angeklagten Boger bei der Lagerselektion ist rechtlich genau so zu beurteilen wie seine Mitwirkung bei der Abwicklung des RSHA-Transportes. Die Tötung der unschuldigen Häftlinge war Mord. Sie erfolgte aus niedrigen Beweggründen. Denn ihre Tötung erfolgte nur, weil man sich der schwachen und für den Arbeitseinsatz nicht mehr verwendungsfähigen Häftlinge entledigen wollte. Sie sollten als überflüssige Esser beseitigt werden. Dass solche Motive auf tiefster sittlicher Stufe stehen und als verachtenswert anzusehen sind, kann nicht zweifelhaft sein. Da die ausgemusterten arbeitsunfähigen Häftlinge durch Gas in Gaskammern getötet wurden, war ihre Tötung grausam. Hierzu kann auf die Ausführungen unter A.V.1. verwiesen werden. Dass der Angeklagte Boger durch die - oben geschilderten - Handlungen bei dieser Lagerselektion die Tötungen gefördert, also einen kausalen Tatbeitrag zu dem Mord, dessen Haupttäter der SS-Lagerarzt und andere nicht näher festzustellende Personen gewesen sind, geleistet hat und leisten wollte und sich dessen auch bewusst war, bedarf keiner weiteren Begründung.

Das Gericht hat zu seinen Gunsten unterstellt, dass er auf Grund eines Befehls tätig geworden ist, weil eine nähere Aufklärung nicht möglich war. §47 MStGB kommt daher auch hier zur Anwendung.

Der Angeklagte Boger hat nach der Überzeugung des Gerichts auch hier klar erkannt, dass die Tötung dieser unschuldigen Menschen nur wegen ihres allgemeinen Schwächezustandes ein allgemeines Verbrechen darstellte. Die Tötung unschuldiger Menschen aus den festgestellten Beweggründen nach einem so oberflächlichen und ohne die geringsten rechtlichen Sicherungen durchgeführten Verfahren ist ein so krasser Verstoss gegen die auch den primitivsten Menschen bewussten Grundsätze über das Recht eines jeden Menschen auf sein Leben, dass der Angeklagte Boger keinen Zweifel an dem verbrecherischen Charakter dieser Tötungen haben konnte und nach der Überzeugung des Gerichts auch nicht gehabt hat. Im übrigen gilt hier das gleiche, was oben unter A.V. zu den Massentötungen jüdischer Menschen gesagt worden ist. Bei den Lagerselektionen wurden im übrigen in erster Linie jüdische Menschen ausgemustert. Aus den gleichen Gründen hat nach der Überzeugung des Gerichts der Angeklagte Boger auch nicht irrig angenommen, dass der Befehl, an dieser Lagerselektion teilzunehmen, verbindlich sei.

Das Gericht konnte auch hier - aus den gleichen Gründen wie unter 1. ausgeführt - nicht mit letzter Sicherheit einen Täterwillen bei dem Angeklagten Boger feststellen. Es sieht daher nur als erwiesen an, dass der Angeklagte Boger die Tötung der mindestens zehn Menschen als Gehilfe fördern wollte.

Die Auswahl der mindestens zehn Menschen erfolgte jeweils durch einen besonderen Willensentschluss des Lagerarztes. Dieser hatte es in der Hand, nach freiem eigenem Ermessen Häftlinge für den Tod auszumustern. Die Tötung der mindestens zehn Menschen erfolgte aber durch eine einzige Willensbetätigung der damit beauftragten SS-Männer des Vergasungskommandos, nämlich durch das Einwerfen des Zyklon B. Sie ist daher als eine einzige Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit anzusehen.

Der Angeklagte Boger hat seinen Tatbeitrag zu diesem Mord an zehn Menschen vorsätzlich geleistet. Das ergibt sich bereits aus dem Sachverhalt selbst. Er wusste, dass die Menschen nur deswegen selektiert und getötet werden sollten, weil sie als arbeitsunfähige, kranke Menschen und unnütze Esser als Belastung für das Lager angesehen wurden. Er wusste auch, dass sie durch Gas in den Gaskammern getötet wurden, kannte also die Umstände, die die Tötung als grausam kennzeichnen. Schliesslich wollte er auch selbst durch seine Handlungen die Beseitigung der als lebensunwert angesehenen Häftlinge fördern und war sich auch im klaren darüber, dass er einen kausalen Beitrag hierfür leistete.

Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich. Auch hier liegen die Voraussetzungen für einen Nötigungsnotstand (§52 StGB) oder einen allgemeinen Notstand (§54 StGB) nicht vor. Boger ist die Mitwirkung an dieser Lagerselektion nicht abgenötigt worden. Er behauptet das auch selbst gar nicht. Er hat auch nicht irrig angenommen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen einer solchen Notstandssituation vorlägen. Hierzu kann auf die Ausführung unter Ziffer 1 verwiesen werden.

Der Angeklagte Boger war daher wegen seiner Mitwirkung an mindestens dieser einen Lagerselektion wegen gemeinschaftlicher Beihilfe (§§47, 49 StGB) zu gemeinschaftlichem Mord (§§47, 211 StGB) begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB) an mindestens zehn Menschen zu verurteilen.

3. Zu II.3.

Die Erschiessungen nach den sog. Bunkerentleerungen erfüllen den Tatbestand des Mordes (§211 neuer Fassung StGB). Sie erfolgten aus niedrigen Beweggründen. Hauptmotiv für diese Tötung war, dass man im Bunker Platz für weitere Arrestanten schaffen wollte. Dagegen spricht nicht, dass man nicht einfach willkürlich bestimmte Zellen räumte, sondern bei den Bunkerentleerungen eine gewisse Auswahl traf und die - nach der Meinung der an den Bunkerentleerungen teilnehmenden SS-Angehörigen - gefährlichsten und todeswürdigsten Arrestanten aussuchte. Wenn man auch bei den Bunkerentleerungen ein gewisses Scheinverfahren durchführte und in Anmassung der Rechte eines Gerichtes die Auswahl der Delinquenten nach der Art ihrer angeblichen Verfehlungen oder nach sonstigen nicht näher zu erforschenden Gründen traf, also eine Art Urteil über sie fällte, so kam es überhaupt nur zu diesem Verfahren und "Urteil", weil man Platz im Bunker für neue Arrestanten brauchte und man diesen Platz schaffen wollte. Das kommt deutlich in dem von Grabner gebrauchten Ausdruck "Bunker ausstauben" zum Ausdruck. Der Raummangel in dem Arrestbunker war der Hauptgrund für die Erschiessungen. Man wollte keine neuen Arrestzellen in anderen Blocks einrichten, daher erschoss man einfach einen Teil der Arrestanten.

Tötungen aus diesen Motiven sind sittlich verachtenswert und stehen auf tiefster sittlicher Stufe. Solche Beweggründe müssen als niedrig bezeichnet werden.

Bei Boger kam noch der Hass auf die Polen hinzu. Wie oben schon ausgeführt, hat Boger wiederholt gegenüber der Zeugin Ro. geäussert, er hasse die Polacken, "die verfluchten Polacken". Soweit Boger an Erschiessungen von Polen mitgewirkt hat (Gestwinski, Gniardoroski), war nach der Überzeugung des Gerichts sein Handeln auch von Hass, also ebenfalls einem niedrigen Beweggrund, bestimmt.

Die Tötungen waren auch grausam. Zwar hat die Tötungsart selbst, nämlich das Erschiessen durch Genickschüsse, den Opfern keine besonderen körperlichen Schmerzen zugefügt. Die Schmerzen und Leiden, die der Täter seinem Opfer aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung zufügt, können aber auch seelischer Art sein (vgl. BGHSt. 3, 181). Auch eine Tötung durch Erschiessen kann grausam sein, auch wenn die Ausführungsart im engeren Sinne den Opfern keine besonderen Schmerzen zufügt (vgl. BGH NJW 1951, 666). Hier mussten die Arrestanten während der Bunkerentleerung schon in ihrer Zelle seelische Qualen ausstehen, bis ihre Zellen geöffnet und die Entscheidungen über ihr Schicksal getroffen wurden. Alle in den Zellen einsitzenden Häftlinge wussten, dass solche
Bunkerentleerungen den Tod einer Vielzahl von Arrestanten bedeuteten. Jeder musste damit rechnen, selbst zum Tode bestimmt zu werden. War die Entscheidung gefallen und waren die Opfer zu den Todeskandidaten gestellt worden, so wussten sie, dass sie dem Tode kaum noch entrinnen konnten. Den nahen Tod vor Augen, mussten sie warten, bis die Bunkerentleerung beendet war. Das hat jeweils längere Zeit gedauert. Nach der Überzeugung des Gerichts hat es den Opfern ferner besondere seelische Schmerzen bereitet, dass sie, was sie bereits von vorhergehenden Bunkerentleerungen und Erschiessungen und durch ihre Kameraden, insbesondere die im Block 11 tätigen Funktionshäftlinge, wussten, unschuldig auf eine so menschenunwürdige Art und Weise getötet werden sollten. Auch im Waschraum mussten die Opfer jeweils längere Zeit, den nahen Tod vor Augen, warten. Es dauerte stets längere Zeit, bis allen Opfern die Nummern auf die nackte Brust geschrieben worden waren. Welche Todesangst sie dabei ausgestanden haben, ergibt sich daraus, dass sie ihre Notdurft nicht mehr beherrschen konnten. Daneben mussten sie erleben, dass sich die SS-Angehörigen offensichtlich über ihr schweres Schicksal belustigten. Denn sie sahen und bemerkten, dass die SS-Angehörigen, wenn sie aus der Blockführerstube herauskamen und an ihnen vorbei zur Richtstätte gingen, lachten und scherzten und unberührt davon, dass sie ihrer schwersten Stunde entgegensahen, schwatzten. Dies mussten die Delinquenten als eine Verhöhnung und Missachtung empfinden. Das hat sie ohne Zweifel tief in ihrer Ehre verletzt. Nach der Überzeugung des Gerichts hat ihnen dieses Verhalten der SS-Angehörigen ebenfalls tiefe seelische Qualen bereitet. Ferner muss es für die Opfer auch ausserordentlich schmerzlich gewesen sein und war es nach der Überzeugung des Gerichts auch, dass sie auf Befehl der SS-Männer von dem Bunkerkalfaktor nackt im Laufschritt wie ein Stück Vieh zur Exekutionsstätte - der Schwarzen Wand - geschleppt wurden. Während sonst Exekutionen nach rechtmässigen Todesurteilen mit Würde, Ernst und einer gewissen Feierlichkeit vollzogen werden, geschahen hier die Exekutionen unter Missachtung jeglicher Menschenwürde. Besonders qualvoll war es schliesslich noch für alle zum Tode bestimmten Häftlinge - ausser den beiden, die als erste erschossen wurden -, dass sie beim Hinauslaufen aus dem Block 11 noch unmittelbar vor ihrem eigenen Tode die blutigen Leichen ihrer getöteten Kameraden sehen mussten, da man diese gegenüber dem Eingang von Block 11 an der Wand des Blockes 10 aufstapelte.

Daraus, sowie aus der ganzen Art und Weise der Erschiessungen selbst und dem von den SS-Angehörigen gezeigten Verhalten ist gleichzeitig zu ersehen, dass den Delinquenten aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus diese seelischen Schmerzen und Qualen zugefügt worden sind.

Die Tötungen waren rechtswidrig. Sie erfolgten ohne Urteil eines Gerichts. Auch damals waren Tötungen (ausser im Falle der Notwehr und sonstiger, hier nicht in Betracht kommender Rechtfertigungsgründe) nur gerechtfertigt, wenn sie zur Vollziehung eines auf Todesstrafe lautenden Urteils erfolgten (vgl. BGHSt. 2, 333). Hier lagen solche Urteile nicht zugrunde. Die Tötungen erfolgten nicht einmal auf Befehl höherer SS- oder Polizeidienststellen, etwa des RSHA oder Himmlers.

Der Angeklagte Boger kann sich nicht darauf berufen, dass er auf Grund von Befehlen seiner Vorgesetzten an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen mitgewirkt habe. §47 MStGB findet daher hier keine Anwendung. Der Leiter der Politischen Abteilung, Grabner, setzte zwar die Termine für die Bunkerentleerungen fest und bestellte die einzelnen SS-Angehörigen - auch den Angeklagten Boger - zu diesen Terminen in den Arrestbunker. Bei der Auswahl der zu erschiessenden Häftlinge und bei den anschliessenden Erschiessungen selbst wirkte Boger aber auf Grund eigener freier Entschliessung in innerer Übereinstimmung mit dem SS-Untersturmführer Grabner mit. Er übte massgebenden Einfluss auf die Entscheidung Grabners oder Aumeiers in der Richtung aus, dass die von ihm eingelieferten Häftlinge in vielen Fällen erschossen wurden. Im Falle Gestwinski handelte er nicht im Rahmen eines gegebenen Befehls, sondern auf Grund freier eigener Entscheidung. Er war es, der den Tod dieses Häftlings wollte und vorschlug. Das gleiche gilt für die anderen festgestellten Fälle. Die eigenhändigen Erschiessungen führte er aus eigenem Antrieb, nicht auf Befehl aus. Boger hat somit in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit Grabner und Aumeier oder einem anderen an den Bunkerentleerungen teilnehmenden Schutzhaftlagerführer den Tod der Häftlinge gewollt.

Boger hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat den Tod von mindestens neun Häftlingen, nämlich von 6 Häftlingen am 3.3.1943, der Häftlinge Solarz und Gniardoroski am 21.9.1943 und eines weiteren Häftlings am 28.9.1943, deren Tötung das Gericht feststellen konnte, bewusst gewollt. Er kannte auch die Beweggründe für die Tötungen, dass nämlich der Bunker wegen Überfüllung "ausgestaubt", d.h. geleert werden sollte, und er war sich auch darüber im klaren, dass er selbst den Tod polnischer Häftlinge aus Hass auf die Polen wollte. Boger kannte ferner die gesamten Umstände, die die Tötungen als grausam kennzeichnen; denn er war von Anfang bis zum Ende dabei.

Dem Angeklagten Boger war auch klar, dass die Tötungen rechtswidrig waren. Er hatte ebenso wie die anderen SS-Angehörigen die Erklärung unterschrieben, dass über das Leben eines Häftlings nur der "Führer" zu entscheiden habe. Er wusste also auf Grund dieser quittierten Belehrung, dass Grabner, Aumeier und er selbst nicht einmal nach der Auffassung der höheren Führung, die sonst wenig nach Recht und Unrecht fragte, über Leben und Tod eines Häftlings entscheiden durften und nicht berechtigt waren, einen Häftling zu töten. Als Kriminalbeamter musste ihm zudem geläufig sein und war ihm nach der Überzeugung des Gerichts auch völlig klar, dass Tötungen von Menschen ohne Urteil rechtswidrig sind. Der Angeklagte Boger hat auch nicht irrig angenommen, dass Befehle aus Berlin die Tötungen angeordnet hätten. Das konnte er wegen der ihm bekannten Umstände gar nicht annehmen. Die einzelnen Fälle wurden jeweils erst im Bunker, wenn auch nur ganz kurz, besprochen. Die Entscheidung über Leben und Tod eines Häftlings fiel erst im Bunker. Es wurde nie auf irgendeinen Exekutionsbefehl Bezug genommen. Er selbst hat auch auf die Entscheidungen massgeblichen Einfluss ausgeübt (Fall Gestwinski). In einem Fall hat er einen für den Tod bestimmten Häftling schliesslich vor dem Tod bewahrt (Be.). Hier war er also selbst Herr über Leben und Tod. Für Exekutionsbefehle blieb somit kein Raum.

Schliesslich führte auch der Umstand, dass die getöteten Opfer aus der Stärke des Blockes 11 zunächst in die Stärke des HKB übernommen wurden und dann als normal verstorben abgesetzt wurden, dem Angeklagten Boger deutlich vor Augen, dass hier rechtswidrige Tötungen verschleiert werden sollten. Er hat selbst - wie der Zeuge P. glaubhaft bekundet hat - wiederholt nach Erschiessungen die Listen der Erschossenen in den HKB gebracht und dem Schreiber befohlen, die aufgeführten Häftlinge vom "HKB abzusetzen".

Da Boger mit besonderem Eifer an den Bunkerentleerungen teilgenommen und an den anschliessenden Erschiessungen mitgewirkt hat, entfällt auch das Vorliegen irgendeines Notstandes im Sinne der §§52 und 54 StGB, ebenso die irrige Annahme der Voraussetzungen eines solchen Notstandes. Wenn Boger in der Hauptverhandlung behauptet hat, er habe nur einmal zwei Häftlinge auf Befehl Grabners erschiessen müssen, so ist das nur eine Schutzbehauptung, die ihm das Gericht nicht geglaubt hat.

Auch wenn man entgegen der Auffassung des Schwurgerichts der Meinung wäre, dass die Mitwirkung Bogers an den Bunkerentleerungen und den nachfolgenden Erschiessungen im Rahmen des §47 MStGB zu beurteilen sei, käme man zu dem gleichen Ergebnis. Denn Boger hat klar erkannt, dass die Tötungen verbrecherisch waren. Befehle, die auf solche Tötungen hinzielten, waren somit ebenfalls verbrecherisch. Wenn er gleichwohl mit besonderem Eifer und in der geschilderten Art und Weise mitgewirkt hat, so wäre er im Rahmen des §47 MStGB als Mittäter des Befehlsgebers zu bestrafen. Die Erschiessung eines jeden Häftlings ist als selbständige Tat im Sinne des §74 StGB anzusehen. Denn jeder Häftling wurde durch eine besondere Willensentschliessung und Entscheidung zum Tode bestimmt. Die Tötung eines jeden Häftlings erforderte eine besondere Willensbetätigung der Schützen, die die Genickschüsse abgaben.

Der Angeklagte Boger war daher wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens neun Fällen (§§47, 211, 74 StGB) zu neunmal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Wegen des vom Zeugen F. geschilderten Falles Wosniakowski konnte eine Verurteilung des Angeklagten Boger nicht erfolgen, weil insoweit das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft eingestellt worden ist (Ziff.5 des EB).

4. Zu II.4.

Die festgestellten Tötungen bei verschärften Vernehmungen durch Boger erfüllen ebenfalls den Tatbestand des Mordes. Sie waren grausam. Schon das Hängen auf der Bogerschaukel war für die Häftlinge qualvoll. Durch die Schläge mit dem Ochsenziemer oder mit einem Stock hat Boger den Häftlingen jeweils ausserordentlich schwere körperliche Schmerzen zugefügt, zumal er nicht nur auf das Gesäss, sondern auch auf andere Körperteile einschlug. In dem einen von Bur. geschilderten Fall liess Boger den Häftling nach schweren Misshandlungen in qualvoller Stellung zurück. In den beiden anderen von Bur. geschilderten Fällen schlug Boger etwa zwei Stunden mit Unterbrechungen auf die Häftlinge ein. Auch in dem von der Zeugin Wa. geschilderten Fall trat der Tod erst nach längeren Misshandlungen ein. Schmerzen und Qualen mussten von den Gemarterten daher lange Zeit erduldet werden. Auch in dem vom Zeugen Lee. geschilderten Fall wurde der misshandelte Häftling von Boger wie ein toter Gegenstand aus dem Fenster geworfen und in hilfloser Stellung liegen gelassen. Der Häftling litt infolge der schmerzhaften Misshandlungen an qualvollem Durst, bis er schliesslich starb.

Aus der Art und Weise, wie der Angeklagte Boger die sog. verschärften Vernehmungen durchführte, ergibt sich klar, dass er nur aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus den Opfern solche Qualen und Leiden zufügen konnte.

Die Tötungen waren auch rechtswidrig. Sie waren auch nach der Anschauung der damaligen Zeit nicht erlaubt. Irgendwelche Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Der Angeklagte Boger hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat damit gerechnet, dass die Häftlinge durch die Art seiner Behandlung sterben könnten und hat dies bewusst billigend in Kauf genommen. Somit hat er mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Das genügt. Boger kannte auch die gesamten Umstände, die die Tötungen als grausam kennzeichnen. Es ist nicht erforderlich, dass er selbst die Behandlung der Opfer als grausam wertete. Aus den getroffenen Feststellungen ergibt sich ferner, dass Boger auch das Bewusstsein gehabt hat, Unrecht zu tun. Irgendwelche Schuldausschliessungsgründe liegen nicht vor.

Boger war daher wegen der festgestellten Tötungen bei verschärften Vernehmungen wegen Mordes in mindestens fünf Fällen (§§211, 74 StGB) zu fünfmal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

5. Zu II.5.

Die Erschiessungen der mindestens hundert jüdischen Häftlinge erfüllen ebenfalls den Tatbestand des Mordes (§211 StGB), denn sie geschahen aus niedrigen Beweggründen. Wie unter II.5. festgestellt worden ist, hat Boger zusammen mit Houstek (Erber) die mindestens hundert Häftlinge nicht aus irgendeinem Affekt heraus, sondern aus Rache, weil sie es gewagt hatten, sich gegen die SS zu erheben, erschossen. Rachsucht ist ein Beweggrund, der nach gesundem Empfinden als sittlich verachtenswert anzusehen ist (vgl. Schönke-Schröder Anm.11 zu §211 StGB; BGH in NJW 1958, 189).

Boger hat nicht auf Befehl gehandelt. Die Anwendung des §47 MStGB scheidet daher aus. Irgendwelche Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Die Tötung der Häftlinge erfolgte ohne Gerichtsurteil. Auch eine Notwehrlage war nicht gegeben. Der Angriff der Häftlinge auf die SS-Angehörigen war bereits beendet. Die Häftlinge waren völlig wehrlos. Hiervon abgesehen, war der vorherige Angriff der Häftlinge auf die SS-Angehörigen durch eine eigene Notwehrlage gerechtfertigt (§53 StGB), da sie unschuldig getötet werden sollten. Aggressive Abwehrhandlungen der SS gegen diesen Angriff waren nicht durch Notwehr gerechtfertigt, da Notwehr gegen durch Notwehr gerechtfertigte Angriffe ausgeschlossen ist (vgl. Schönke-Schröder Anm.28 zu §53 StGB; RGSt. 67, 340).

Der Angeklagte Boger hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat die am Boden liegenden Häftlinge bewusst und gewollt erschossen.

Er kannte auch seine eigenen Beweggründe, die ihn hierzu bestimmten. Unerheblich ist, ob er seine eigenen Motive ebenfalls als niedrig im Sinne des §211 StGB empfand. Es genügt, dass er wusste, dass ihn Rachsucht zu seinem Handeln antrieb, also ein Motiv, das nach allgemeiner sittlicher Anschauung als niedrig anzusehen ist.

Der Angeklagte wusste auch, dass die Tötungen rechtswidrig waren. Das ergibt sich schon daraus, dass er sein eigenes Motiv für die Tötungen kannte (Rachsucht) und aus den gesamten Umständen nicht annehmen konnte und nach der Überzeugung des Gerichts auch nicht angenommen hat, dass irgendein Rechtfertigungsgrund gegeben war. Er wusste, dass Urteile eines Gerichts nicht vorlagen, dass er vielmehr die Häftlinge eigenmächtig zusammen mit Houstek (Erber) tötete. Er konnte auch nicht irrig irgendeine Notwehrlage annehmen, da die Häftlinge wehrlos am Boden lagen.

Die Tötungen der hundert Häftlinge sind als selbständige Taten im Sinne des §74 StGB anzusehen. Zwar muss davon ausgegangen werden, dass die Erschiessungen der am Boden liegenden Häftlinge auf einem einzigen Entschluss Bogers und Housteks beruhen. Die Tötung eines jeden Häftlings erforderte jedoch jeweils eine besondere Willensbetätigung Bogers oder Housteks, so dass die Erschiessung eines jeden Häftlings als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB angesehen werden muss.

Allerdings hat Boger nicht alle hundert Häftlinge eigenhändig erschossen. Eine nicht mehr festzustellende Anzahl der mindestens hundert Häftlinge hat Houstek getötet. Beide haben aber gleichzeitig und, nach der gesamten Sachlage und der Überzeugung des Gerichts, in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt und haben jeweils die Tötungen durch den anderen ebenfalls in ihren Willen aufgenommen. Beide haben somit als Mittäter (§47 StGB) gehandelt und sind für sämtliche mindestens hundert Tötungen in vollem Umfang strafrechtlich verantwortlich.

Der Angeklagte Boger war daher wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens hundert Fällen (§§47, 211, 74 StGB) zu hundertmal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

VI. Hilfsbeweisanträge

Der Hilfsbeweisantrag des Rechtsanwalts Dr. A., des Verteidigers des Angeklagten Boger:

"Falls das Gericht seine Ausführungen in seinem Plädoyer nicht als wahr unterstelle, Dokumente vom Institut für Zeitgeschichte in München beizuziehen und den ehemaligen Schulungsleiter in Auschwitz Knittel als Zeugen zu vernehmen", war gemäss §244 StPO abzulehnen, da die Urkunden, die herbeigezogen und offensichtlich verlesen werden sollen, nicht konkret bezeichnet sind und im übrigen keine konkreten beweiserheblichen Tatsachen angeführt sind, zu deren Beweis die Urkunden verlesen und der Schulungsleiter Knittel vernommen werden soll.

VII. Strafzumessung

Bei der Bemessung der gegen den Angeklagten Boger wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen auszuwerfenden Strafen sind folgende Umstände von Bedeutung gewesen: Zu Gunsten des Angeklagten konnte berücksichtigt werden, dass seine Mitwirkung sowohl bei dem "Rampendienst" wie bei der Lagerselektion auf Befehl beruhte, er also nicht von sich aus tätig geworden ist, dass er sich mit seinem sonst gezeigten Eifer und seiner Brutalität zurückhielt, und dass er insgesamt keinen besonders erheblichen Tatbeitrag leistete. Demgegenüber erhöhte, insbesondere bei der auf der Rampe geleisteten Beihilfe, die Zahl der unter seiner Mitwirkung gemordeten Menschen den Unrechtsgehalt der Straftaten, was sich strafschärfend auswirkte.

Danach konnten gemäss §§49 Abs.2, 44 StGB in Verbindung mit §4 der VO gegen Gewaltverbrecher vom 5.12.1939 die Strafen aus dem Strafrahmen von 3 Jahren bis zu 15 Jahren Zuchthaus entnommen werden.

Im Falle II.1. (Rampendienst) erschien eine Zuchthausstrafe von 4 Jahren und wegen der weiteren Beihilfe (II.2.) eine solche von 3 Jahren 6 Monaten Zuchthaus als ausreichende Strafe und Sühne.

Unter Berücksichtigung der angeführten Strafzumessungsgründe ist die Gesamtstrafe nach §74 StGB auf 5 Jahre Zuchthaus festgesetzt worden.

D. Die Straftaten des Angeklagten St.

I. Der Lebenslauf des Angeklagten St.

Der Angeklagte St. ist am 14.6.1921 als Sohn eines Polizeimeisters in Darmstadt geboren. Er hat noch einen jüngeren Bruder, der jetzt als Realschullehrer in Büdingen tätig ist. Der Angeklagte St. besuchte von 1927 bis 1931 die Volksschule in Darmstadt und anschliessend von 1931 bis März 1937 das Realgymnasium in Darmstadt, das er mit der Obersekundareife verliess. Die Leistungen des Angeklagten im Gymnasium waren zunächst durchschnittlich, in den letzten Jahren vor Schulabgang liessen sie jedoch nach. Deswegen kam es - wie der Angeklagte angibt - zu häufigen Auseinandersetzungen mit seinem Vater. Dieser soll damals die Auffassung vertreten haben, dass sein Sohn in ordentliche Zucht gehöre, wofür er den Arbeitsdienst und den Militärdienst als geeignete Erziehungseinrichtungen ansah. Eine Einstellung beim Arbeitsdienst oder bei der Wehrmacht, die von dem Angeklagten und seinem Vater in Erwägung gezogen wurde, war damals jedoch nicht möglich, da St. erst 16 Jahre alt war, das Einstellungsalter für Arbeits- und Wehrdienst jedoch 17 Jahre betrug. Dagegen war der Eintritt in die SS-Totenkopfverbände bereits mit 16 Jahren möglich. Der Vater des Angeklagten St., der von der Wehrmacht durch ein Merkblatt darauf hingewiesen worden war, dass das Eintrittsalter bei der SS 16 Jahre sei, gab nun seine schriftliche Einwilligung für den Eintritt in die SS. St. wurde am 1.12.1937 auf Grund freiwilliger Meldung als Staffelmann zur 2. SS-Totenkopfstandarte "Brandenburg" nach Oranienburg bei Berlin eingezogen. Die Ausbildung bestand zunächst in normaler infanteristischer Grundausbildung. Sie wurde ergänzt durch intensive Schulung in der nationalsozialistischen Anschauung. Wert wurde vor allem auf Rassenkunde gelegt. Im Mittelpunkt des Unterrichts standen unter anderem die Bücher des Rassenforschers Günther, Rosenbergs und anderer nationalsozialistischer Theoretiker. Die Grundausbildung dauerte 6 Monate. Schon im zweiten Monat der Ausbildungszeit, also im Januar 1938, wurde der Angeklagte bei der Bewachung des KZ Oranienburg als Aussenwache eingesetzt. Nach sechsmonatiger Ausbildungszeit in Oranienburg wurde der Angeklagte St. Ende Juni 1938 nach einem kurzen Urlaub zu dem KZ Buchenwald versetzt, wo er in einem Reiterzug Pferde zu betreuen hatte und später auch im Wachdienst eingesetzt wurde. Nach einem Jahr Dienstzeit wurde er am 1.12.1938 zum SS-Sturmmann und am 1.8.1939 zum SS-Rottenführer befördert.

Bei Ausbruch des Krieges am 1.9.1939 war er SS-Rottenführer und Gruppenführer. Er wurde als Rekrutenausbilder von September bis Dezember 1939 in Buchenwald eingesetzt. Dann wurde das Rekrutenregiment nach Dachau verlegt. Hier blieb St. bis April 1940. Anschliessend kam er zum Wach- und Ehrenbataillon nach Prag. Am 1.6.1940 wurde er zum SS-Unterscharführer befördert. Im August 1940 wurde er als Gruppenführer zum SS-Regiment "Westland" nach München versetzt. Hier zog er sich durch Sturz vom Pferd einen doppelten Unterschenkelbruch zu. Er lag 6 Wochen im Lazarett und wurde dann - bei weiterer Behandlungsbedürftigkeit - g.v.H. geschrieben und entlassen. Er kam deshalb für den Einsatz bei einem aktiven Frontregiment zunächst nicht in Frage und wurde zum Wachbataillon Dachau zurückversetzt. Hier war er von November bis Dezember 1940 als Aussenwache eingesetzt.

Am 15.12.1940 kamen etwa 20 bis 40 SS-Unterführer, zu denen auch der Angeklagte St. gehörte, von Dachau zum KZ Auschwitz. St. wurde in Auschwitz als Blockführer eingesetzt. Ihm war der Block 7 (der spätere Block 22), in dem sich vornehmlich polnische Schüler und Studenten im Alter bis zu 25 Jahren befanden, unterstellt. Im Mai 1941 kam er zur Politischen Abteilung, wo ihm bald die Leitung der Aufnahmeabteilung übertragen wurde.

Da St. seine Schulausbildung beenden wollte, liess er sich von Weihnachten 1941 bis zum März 1942 beurlauben. Er legte am 13.3.1942 als Externer an der Liebig-Oberschule in Darmstadt die Reifeprüfung ab. Anschliessend nahm er seine Tätigkeit in Auschwitz wieder auf. Er wurde am 1.9.1942 zum Oberscharführer befördert. Im Sommer 1942 beantragte er Studienurlaub, der ihm vom 1.12.1942 bis zum 31.3.1943 gewährt wurde. Er wurde am 8.12.1942 an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main immatrikuliert. Am gleichen Tag erhielt er seinen Studentenausweis. Er studierte dann an der Universität in Frankfurt am Main ein Semester Rechtswissenschaft bis zum 31.3.1943. Während seines Studienurlaubs richtete der Angeklagte - wie er angibt - ein Versetzungsgesuch an den SS-Obergruppenführer Heismayer. Nach Beendigung des Studienurlaubs meldete er sich am 1.4.1943 bei dem Leiter der Politischen Abteilung SS-Untersturmführer Grabner in Auschwitz wieder zurück. Ihm wurde jedoch von Grabner mitgeteilt, dass er mit Wirkung vom 1.4.1943 zu einem Ausbildungslehrgang nach Dachau kommandiert sei. Der Angeklagte St. fuhr am 2.4.1943 wieder von Auschwitz weg, unterbrach seine Fahrt in Darmstadt, wo er zwei Tage zu Hause verbrachte, und begann am 5.4.1943 seinen Dienst in Dachau. Der Lehrgang dauerte bis zum 25.5.1943. Mit Wirkung vom 25.5.1943 wurde er dann zur SS-Panzergrenadierdivision "Das Reich" versetzt. Er kam an der Ostfront zum Einsatz und wurde am 9.7.1943 verwundet. Nach einem Lazarettaufenthalt und Genesungsurlaub wurde er im Januar 1944 zur SS-Genesungskompanie nach Prag versetzt. Von hier aus wurde er am 1.3.1944 zu einem Vorbereitungslehrgang für die SS-Junkerschule nach Arolsen kommandiert, der bis Ende April 1944 dauerte. Von Mai 1944 bis Oktober 1944 besuchte er die SS-Junkerschule in Klagenfurt. Nach einem weiteren Lehrgang auf einem Truppenübungsplatz bei Prag wurde er am 9.11.1944 zum SS-Untersturmführer befördert. Während des Lehrganges erkrankte er an Gelbsucht. Nach seiner Genesung kam er im Januar 1945 erneut zum Fronteinsatz bei der SS-Division "Nordland". Er wurde am 5.3.1945 zum zweiten Mal verwundet.

In Berlin geriet er am 2.5.1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Nach zwei Tagen gelang es ihm, aus der Gefangenschaft zu entfliehen. Er schlug sich nach Sachsen-Anhalt durch, wo er bis zum Herbst 1946 in der Landwirtschaft arbeitete. Von Herbst 1946 bis Sommer 1948 studierte er an der Universität Giessen Landwirtschaft. Anschliessend arbeitete er, da er sein Studium wegen des schwebenden Spruchkammerverfahrens nicht fortsetzen konnte, von 1948 bis 1950 auf einem Bauernhof und machte dabei gleichzeitig sein landwirtschaftliches Praktikum in der Nähe von Nidda/Hessen. Im Jahre 1948 wurde er von der Spruchkammer in Darmstadt in die Gruppe der Minderbelasteten und auf seine Berufung hin am 20.8.1950 in die Gruppe IV (Mitläufer) eingestuft. Von 1950 bis 1951 studierte er weitere zwei Semester Landwirtschaft an der Universität in Giessen. Danach legte er die Diplomprüfung mit Erfolg ab. Im Anschluss daran leistete er einen zweijährigen Vorbereitungsdienst bei den landwirtschaftlichen Schulen in Weilburg und Darmstadt, die dem Hessischen Landwirtschaftsministerium unterstanden. Im Februar 1953 bestand er in Darmstadt sein Assessorexamen. Von November 1953 bis Herbst 1955 war er an der landwirtschaftlichen Schule in Gross-Gerau als Lehrer tätig. Danach arbeitete er als Sachbearbeiter für Wirtschaftsberatung bei der Landwirtschaftskammer in Frankfurt am Main bis zum 31.3.1957. Vom 1.4.1957 bis zu seiner Verhaftung am 23.4.1959 lehrte er an der Landwirtschaftsschule in Lövenich/Weiden bei Köln.

Der Angeklagte hat im Jahre 1953 geheiratet. Aus seiner Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Der Vater des Angeklagten hat am 31.3.1948 Selbstmord begangen.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Bezirksschöffengerichts in Darmstadt vom 6.5.1956 - 6 Ns 4/56 wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Strassenverkehrs zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten verurteilt worden. Ausserdem wurde ihm die Fahrerlaubnis für 1 Jahr entzogen. Er hat die Strafe vom 20.8. - 20.12.1956 teilweise verbüsst, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Der Angeklagte befand sich vom 23.4.1959 bis zum 23.10.1963 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Dann wurde er von dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Seit dem 15.5.1964 befindet er sich erneut in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten St. an Erschiessungen im kleinen Krematorium (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

a. Etwa im Mai oder Juni 1942 wurde eine Gruppe jüdischer Männer, Frauen und Kinder von der Gestapoleitstelle Kattowitz nach Auschwitz in LKWs transportiert. Die Kinder waren im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Die ganze Gruppe bestand aus mindestens zwanzig Personen. Die jüdischen Menschen waren in Ostoberschlesien in Ausführung des Befehls Hitlers zur "Endlösung der Judenfrage" von der Gestapoleitstelle Kattowitz festgenommen worden und sollten in Auschwitz gemäss diesem Befehl getötet werden.

Vor Ankunft des Transportes erhielt der Angeklagte St. von dem Leiter der Politischen Abteilung im KL Auschwitz die Mitteilung, dass diese Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in das kleine Krematorium zu führen und dort zu erschiessen seien. Der Angeklagte St. benachrichtigte kurz vor der Ankunft des Transportes den Rapportführer Palitzsch, dass im kleinen Krematorium Erschiessungen durchzuführen seien. Palitzsch begab sich daraufhin mit einem Kleinkalibergewehr unmittelbar in den für die Erschiessungen vorgesehenen Raum in dem Krematorium. Der Angeklagte St. nahm die jüdischen Menschen nach ihrer Ankunft in Empfang und führte sie, ohne sie in die Lagerstärke aufzunehmen, zum kleinen Krematorium. Unterwegs erklärte er ihnen auf ihre Fragen, was mit ihnen geschehen solle, sie würden zunächst gebadet, dann würden sie im Lager eingekleidet. Das glaubten diese auch. Im kleinen Krematorium befand sich vor dem für die Erschiessungen vorgesehenen Raum ein Vorraum. In diesen führte der Angeklagte St. die jüdischen Menschen hinein. Dann liess er sie ihr Gepäck und ihre Kleider ablegen. Hierauf führte er den ersten Juden nackt in den Erschiessungsraum hinein. Dort wartete bereits der Rapportführer Palitzsch mit dem hinter dem Rücken versteckten Kleinkalibergewehr. St. befahl dem Juden, sich mit dem Rücken zu Palitzsch aufzustellen. Nachdem dies geschehen war, erschoss Palitzsch den ahnungslosen Mann von hinten aus kurzer Entfernung durch Genickschuss. Die Leiche wurde sofort von Häftlingen, die im kleinen Krematorium beschäftigt waren, hinausgeschafft und in dem Verbrennungsofen des Krematoriums verbrannt. Die im Vorraum wartenden Menschen konnten den Knall des Schusses nicht hören, da auf das Kleinkalibergewehr ein Schalldämpfer aufgesetzt worden war und der Eingang zum Erschiessungsraum mit einer doppelwandigen Tür versehen war.

Nach der Erschiessung des ersten jüdischen Menschen führte St. die anderen im Vorraum wartenden Juden, auch die Kinder, einzeln und nacheinander in den Erschiessungsraum hinein. Sie wurden alle auf die gleiche Weise wie der erste jüdische Mensch erschossen. Häufig lenkten St. oder Palitzsch die Opfer kurz vor der Erschiessung noch dadurch ab, dass sie ihnen befahlen, in eine bestimmte Richtung zu schauen.

Nach Beendigung der Erschiessungen meldete der Angeklagte St. dem RSHA schriftlich die Anzahl der erschossenen Juden, wobei er aus Tarnungsgründen nur angab, dass diese Personen "gesondert untergebracht" worden seien.

b. Etwa vier bis sechs Wochen später wurde erneut eine Gruppe von mindestens zwanzig jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Oberschlesien durch die Gestapoleitstelle in Kattowitz nach Auschwitz deportiert. Die Kinder waren ebenfalls im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Auch in diesem Fall erhielt der Angeklagte St. von Grabner die Mitteilung, dass die Juden im kleinen Krematorium zu erschiessen seien. St. führte die Gruppe nach ihrer Ankunft sofort zum kleinen Krematorium. Das Kleinkalibergewehr nahm er dieses Mal selbst mit, da er Palitzsch zuvor nicht hatte erreichen können. Unterwegs erzählte er den jüdischen Menschen, sie würden zunächst gebadet und kämen dann in das Lager. Das glaubten diese auch. Von ihrer bevorstehenden Tötung ahnten sie nichts. Dass der Angeklagte St. ein Gewehr bei sich trug, erregte ihren Argwohn nicht. Denn sie waren es gewohnt, von bewaffneten Posten begleitet zu werden. Als St. mit ihnen beim kleinen Krematorium ankam, war Palitzsch bereits dort. Denn St. hatte ihn durch einen SS-Mann suchen und zum kleinen Krematorium bestellen lassen. St. übergab ihm das Gewehr, und Palitzsch ging in den Erschiessungsraum hinein. Die jüdischen Menschen mussten sich wieder im Vorraum auskleiden. Dann führte sie der Angeklagte St. einzeln und nacheinander in den Erschiessungsraum hinein, wo sie von Palitzsch auf die gleiche Weise, wie in dem unter a. geschilderten Fall, getötet wurden. Auch in diesem Fall meldete St. dem RSHA die Anzahl der erschossenen Juden unter Verwendung der Tarnbezeichnung "gesondert untergebracht".

St. wusste in den geschilderten Fällen, dass die Menschen nur deswegen erschossen wurden, weil sie Juden waren, sich aber keiner unerlaubten Handlungen schuldig gemacht hatten. Ihm war auch bekannt, dass die Menschen nicht durch irgendein Gericht zum Tode verurteilt waren.

Der Angeklagte St. hat noch weitere Personengruppen zum Erschiessen in das kleine Krematorium und auf den Hof zwischen Block 10 und 11 geführt und dort an den Erschiessungen teilgenommen. Nähere Einzelheiten konnten jedoch nicht festgestellt werden, insbesondere war nicht zu klären, um welche Personengruppen es sich gehandelt hat und wieviel Menschen jeweils erschossen worden sind.

2. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Erschiessung von zwei Kindern (EB 1)

Zu einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitpunkt - wahrscheinlich im Sommer 1942 - brachte der Angeklagte St. eine polnische Frau und zwei polnische Kinder zur Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung. Die Frau trug das eine Kind, das noch sehr klein war, auf dem Arm. Das andere Kind, das nicht ihr eigenes war, führte sie an der Hand. St. liess diese drei Personen warten und ging zur Rapportführerstube. Von dort holte er ein Kleinkalibergewehr. Dann führte er die drei Personen allein in das kleine Krematorium. Dort wurden die drei Personen mit dem Kleinkalibergewehr erschossen. Ob St. die beiden Kinder und die Frau eigenhändig erschossen hat, konnte nicht mit Sicherheit geklärt werden. Es spricht zwar sehr viel dafür, das Gericht ist jedoch zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass noch ein zweiter SS-Angehöriger im kleinen Krematorium anwesend gewesen ist und die Erschiessungen der drei Personen in Gegenwart des Angeklagten St. vollzogen hat, ähnlich wie bei der Erschiessung der jüdischen Menschen (vgl. oben 1.a. und b.).

Gegen die Kinder lag kein Todesurteil vor. Ob die Frau durch ein Polizeistandgericht zum Tode verurteilt worden war, konnte nicht geklärt werden. Zu Gunsten des Angeklagten St. ist das Schwurgericht davon ausgegangen, dass die Frau auf Grund eines solchen Todesurteils erschossen worden ist. Ferner wurde zu seinen Gunsten unterstellt, dass die Erschiessung der Kinder auf Befehl einer Gestapodienststelle angeordnet worden ist.

Nach der Erschiessung der drei Personen kam der Angeklagte St. allein aus dem kleinen Krematorium heraus. Er kehrte zu seinem Dienstzimmer zurück. Er war sehr aufgeregt. Er wusch sich die Hände, zog sich den Rock aus und liess sich von seinem Kalfaktor die Schuhe putzen. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch. Obwohl er sonst nicht rauchte, zündete er sich eine Zigarette an.

Der Angeklagte St. wusste, dass die kleinen Kinder ohne Todesurteil unschuldig nur deswegen getötet wurden, weil sie Angehörige des polnischen Volkes und damit eines - nach nationalsozialistischer Auffassung - minderwertigen Volkes waren.

3. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Tötung jüdischer Menschen durch Gas im kleinen Krematorium (Eröffnungsbeschluss Ziffer 3)

Der Angeklagte St. hat auch an mehreren Vergasungen von jüdischen Menschen im kleinen Krematorium teilgenommen. Das Schwurgericht hat hierzu im einzelnen folgendes festgestellt: Eines Abends, im Oktober 1941, erhielt der Angeklagte St. von dem Leiter der Politischen Abteilung, Grabner, den Befehl, sich am nächsten Abend vor dem kleinen Krematorium einzufinden. Grabner erklärte hierbei dem Angeklagten St., dass er über die Dinge und Ereignisse des nächsten Tages strengstes Stillschweigen zu wahren hätte. St. musste auf Verlangen Grabners eine entsprechende schriftliche Erklärung unterzeichnen.

Am nächsten Tag kam ein Transport jüdischer Menschen nach Einbruch der Dunkelheit mit LKWs an. Die Juden mussten vor dem kleinen Krematorium aussteigen und antreten. St. rief ihre Namen anhand der ihm von dem Transportführer übergebenen Liste auf, um ihre Stärke festzustellen. Danach wurden die Menschen in den Vergasungsraum hineingeführt und durch Einwerfen von Zyklon B getötet. Für St. war dies die erste Vergasung, die er miterlebte.

Einige Zeit später kamen abends gegen 22.00 Uhr mehrere LKWs mit mindestens zweihundert jüdischen Männern, Frauen und Kindern an. Die jüdischen Menschen mussten vor dem kleinen Krematorium aussteigen und antreten. Sie stammten aus Ostoberschlesien und waren zum Zwecke ihrer Tötung nach Auschwitz deportiert worden. St. nahm auf Befehl Grabners von dem Transportführer die Listen mit den Namen und der Anzahl der eingelieferten Personen entgegen. Dann liess er die Deportierten in den Hof des kleinen Krematoriums einrücken, wo er ihre Namen vorlas, um die Stärke festzustellen. Ausser St. waren inzwischen der Lagerkommandant, der Schutzhaftlagerführer, Grabner und andere SS-Angehörige im Hof des kleinen Krematoriums eingetroffen. Nach Feststellung der Stärke liess St. die Menschen, denen von den SS-Angehörigen gesagt wurde, sie würden gebadet, in den Vergasungsraum des kleinen Krematoriums einrücken. Die Juden ahnten nicht, was ihnen bevorstand. Als alle im Vergasungsraum waren, wurde die Tür von aussen verschlossen und verriegelt. Danach sollte durch die zwei hierfür eingeteilten Desinfektoren das Zyklon B von aussen durch die dafür vorgesehenen Öffnungen in den Vergasungsraum hineingeschüttet werden. Es war jedoch nur ein Desinfektor anwesend. Grabner gab daraufhin dem Angeklagten St. den Befehl, das Zyklon B einzuschütten. St. tat dies auch zusammen mit dem anderen Desinfektor. Durch das sich entwickelnde Gas wurden alle im Vergasungsraum befindlichen Männer, Frauen und Kinder getötet, wie es bereits bei Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka näher beschrieben worden ist.

Nach der Aktion meldete St. die Anzahl der getöteten Menschen schriftlich dem RSHA, indem er angab, dass die Juden "gesondert untergebracht" worden seien.

Der Angeklagte St. wusste, dass die jüdischen Menschen ohne Gerichtsurteil unschuldig nur wegen ihrer Abstammung getötet wurden.

4. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei der Tötung jüdischer Menschen, die ab Sommer 1942 mit Eisenbahnzügen nach Auschwitz deportiert und auf der alten Rampe selektiert wurden (Eröffnungsbeschluss Ziffer 4)

Wie oben bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka unter A.II. bereits ausgeführt worden ist, kamen im Sommer 1942 laufend RSHA-Transporte auf der alten Rampe an. Bei der Abwicklung dieser Transporte wirkte der Angeklagte St. ebenfalls mit. Als Leiter der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung war es in erster Linie seine Aufgabe, die Stärke der angekommenen Transporte festzustellen. Zu diesem Zweck ging er häufig selbst auf die Rampe, wenn RSHA-Transporte angekommen waren, und nahm von dem Transportführer des Zuges die Listen mit den Namen und der Anzahl der deportierten Menschen entgegen. Dann überprüfte er die Stärke des Transportes, indem er die angetretenen Menschen selbst zählte oder durch andere SS-Angehörige zählen liess. Stimmte die festgestellte Zahl mit der Anzahl der auf der Transportliste aufgeführten Menschen überein, quittierte er dem Transportführer die Übernahme des Transportes.

Nach der oben bereits geschilderten Ausmusterung (Selektion) der angetretenen Menschen stellte St. die Anzahl der als arbeitsfähig ausgesonderten Personen fest. Anschliessend führte er diese entweder selbst in das Lager zum Baden und Einkleiden und der Erledigung der Aufnahmeformalitäten oder er liess sie durch andere SS-Männer in das Lager führen. Er hat auch - was das Gericht als wahr unterstellt hat - die Rampe öfters noch während des Selektionsvorganges mit den als arbeitsfähig ausgesuchten Menschen verlassen. In mindestens einem Fall hat der Angeklagte St. aber auch zusammen mit anderen SS-Angehörigen die aus einem solchen RSHA-Transport zum Tode bestimmten Menschen von der Alten Rampe zu den Auskleidebaracken in der Nähe der umgebauten Bauernhäuser geführt. Auch diese Menschen waren ahnungslos. Als sie sich in den Baracken ihrer Kleider entledigt hatten, führte sie der Angeklagte St. zusammen mit anderen SS-Männern zu der Gaskammer in einem der umgebauten Bauernhäuser. Er überwachte dort das Hineingehen der Menschen, die glaubten, sie würden gebadet. Anschliessend wurden die Menschen in der bereits geschilderten Art und Weise durch Zyklon B getötet. Es waren mindestens einhundert Personen.

In allen Fällen meldete der Angeklagte St. über den Leiter der Politischen Abteilung die Anzahl der getöteten Menschen und die Anzahl der in das Lager aufgenommenen Personen, wobei er die oben erwähnten Tarnbezeichnungen benutzte.

Auch in diesem Falle wusste der Angeklagte St. dass die jüdischen Menschen unschuldig ohne Gerichtsurteil nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur "jüdischen Rasse" getötet wurden.

5. Die Mitwirkung des Angeklagten St. bei weiteren Vergasungen von jüdischen Menschen im kleinen Krematorium im Mai und Juni 1942, die nicht angeklagt sind und die in dem Eröffnungsbeschluss dem Angeklagten St. nicht zur Last gelegt werden

Der Angeklagte St. hat noch an weiteren Vergasungen jüdischer Menschen im Mai und Juni 1942 teilgenommen. Diese Vergasungen fanden ebenfalls im kleinen Krematorium statt. Ein jüdisches Sonderkommando, dessen Kapo Fischel hiess, und das deswegen Fischelkommando genannt wurde, hatte die Leichen der getöteten Personen aus dem Vergasungsraum im kleinen Krematorium zu den Verbrennungsöfen zu schleppen und dort zu verbrennen. Zu dem sog. Fischelkommando gehörte auch der Zeuge Philipp Mü. Das Fischelkommando unterstand dem Angeklagten St. Wenn die Angehörigen dieses Sonderkommandos die Leichen der Opfer aus dem Vergasungsraum herauszogen und zu den Verbrennungsöfen brachten, trieb sie der Angeklagte St. jeweils bei ihrer schweren und schrecklichen Arbeit an und schlug dabei auf sie ein. Als der Zeuge Philipp Mü. das erste Mal bei einer solchen Verbrennung mitwirkte, brach Feuer in einem Raum aus. Das Häftlingssonderkommando musste das Feuer löschen. Dabei brachen drei jüdische Häftlinge körperlich zusammen. St. erschoss sie daher mit seiner Pistole. Die Leichen der Vergasten wurden dann, da die Öfen defekt waren, nachts auf ein Feld gefahren und dort von dem Zeugen Philipp Mü. und drei anderen jüdischen Häftlingen des Fischelkommandos in eine grosse Grube, die voll Wasser stand, geworfen. In der nächsten Nacht fuhr der Angeklagte St. mit diesen vier Häftlingen und drei weiteren französischen Juden, die zu dem Fischelkommando hinzugenommen worden waren, auf einem Feuerwehrauto wieder hinaus zu der Grube. Nun mussten die sieben Häftlinge die Leichen wieder aus dem Wasser herausholen und auf einem Haufen aufschichten. St. trieb sie dabei an wie Tiere. Durch die schwere Arbeit erschöpft, liessen bei zwei französischen Juden die körperlichen Kräfte nach. Sie ruhten deswegen einen Augenblick aus und stützten sich dabei auf den Leichenhaufen. St. schrie sie an: "Was ist los, ihr Moritze?" Dann zog er seine Pistole und erschoss die beiden.

Bei weiteren Vergasungen jüdischer Menschen im Mai 1942 nahm St. häufig vor den Vergasungen einige jüdische Frauen beiseite. Wenn dann die anderen jüdischen Menschen in den Gaskammern waren, stellte er die Frauen im Hof des kleinen Krematoriums an die Wand. Dann schoss er einer oder zwei Frauen in die Brust und in die Füsse. Wenn dann die anderen Frauen zitterten, auf die Knie fielen und den Angeklagten anflehten, sie am Leben zu lassen, schrie er sie an: "Sarah, Sarah, los, steh!" Dann erschoss er sie alle nacheinander. Einmal entdeckte der Angeklagte St. einen alten Juden, der sich unter den von den anderen jüdischen Menschen abgelegten Kleidern versteckt hatte. St. rief: "Ah, Israel!" Dann stellte er den Juden an die Wand. Hierauf schoss er ihm in einen Fuss. Der Jude fiel um. St. richtete ihn auf und schoss ihn dann in den zweiten Fuss. Da der Jude wieder umfiel und nicht mehr stehen konnte, stellte St. einen Koffer an die Wand und setzte den Juden darauf. Dann erschoss er ihn.

An wieviel Vergasungen der Angeklagte St. im Mai 1942 teilgenommen hat und wieviel Menschen dabei getötet worden sind, konnte nicht festgestellt werden.

III. Einlassung des Angeklagten St., Beweismittel und Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten St. beruhen auf den Angaben des Angeklagten St.

2. Zu II.1. a. und b.

Der Angeklagte St. hat in der Hauptverhandlung zugegeben, dass er die beiden Personengruppen, die aus je 20 Personen bestanden hätten, zum Erschiessen in das kleine Krematorium geführt und ihnen dabei auf ihre Frage erklärt habe, dass sie gebadet würden. Er hat ferner eingeräumt, dass die Erschiessungen dann in der geschilderten Art und Weise im kleinen Krematorium durchgeführt worden seien. Allerdings hat er behauptet, dass die Erschiessungen auf Grund von Standgerichtsurteilen erfolgt seien. Grabner habe ihm gesagt, dass die Personen durch ein Standgericht zum Tode verurteilt worden seien.

Diese Behauptung hat das Gericht dem Angeklagten St. nicht geglaubt. Sie ist von ihm erstmalig in der Hauptverhandlung vorgebracht worden. Bei seiner polizeilichen Vernehmung durch Kriminalobermeister Ae. im Ermittlungsverfahren hat der Angeklagte St. angegeben, dass es sich bei den beiden Personengruppen um Juden aus der Nähe von Kattowitz gehandelt habe. Er hat ferner eindeutig ausgesagt, dass unter diesen Personen auch Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren gewesen seien. Davon, dass die Juden durch ein Standgericht zum Tode verurteilt gewesen seien, hat er nichts erwähnt.

Die Feststellung über diese frühere Aussage des Angeklagten St. hat das Schwurgericht auf Grund der Vernehmungen des Zeugen Ae. getroffen. Der Zeuge konnte sich noch gut an die Vernehmung des Angeklagten St. erinnern. Er gab glaubhaft an, dass der Angeklagte St. von sich aus die damaligen Geschehnisse geschildert habe. Grosse Teile des über die Vernehmung aufgesetzten Protokolls habe er sogar selbst formuliert. Der Zeuge konnte sich allerdings nicht mehr an alle Einzelheiten der Aussage des Angeklagten St. erinnern. Ihm wurden daher zur Stützung seines Gedächtnisses die Teile des Protokolls vorgelesen, die die oben erwähnten Angaben St's enthalten. Der Zeuge hat daraufhin bestätigt, dass das, was in dem Protokoll stehe, genau dem entspreche, was der Angeklagte St. damals von sich aus ihm gegenüber ausgesagt habe. Auch der Angeklagte St. hat nach der Vernehmung des Zeugen Ae. eingeräumt, dass damals alles richtig in das Protokoll aufgenommen worden sei, was er ausgesagt habe. Damit bestehen keine Zweifel, dass der Angeklagte St. bei seiner polizeilichen Vernehmung tatsächlich die oben wiedergegebenen Angaben gemacht hat.

Das Gericht ist überzeugt, dass die damaligen Angaben St's gegenüber dem Zeugen Ae. richtig waren und der Wahrheit entsprachen und dass seine jetzige Einlassung nur eine Schutzbehauptung ist. Für St. kam damals die Verhaftung und Vernehmung überraschend. Er hatte keine Zeit, sich Ausreden und Schutzbehauptungen zu überlegen. Er hat vielmehr aus sich heraus frei alles so geschildert, wie er es in seiner Erinnerung hatte.

Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte St. erst nachträglich in der Untersuchungshaft und in der langen Zeit bis zum Beginn der Hauptverhandlung Überlegungen angestellt, wie er seine Position verbessern könne. Dabei ist er auf die Idee gekommen, sich auf das Vorliegen von Standgerichtsurteilen zu berufen.

Dafür, dass die beiden Personengruppen ohne Standgerichtsurteil erschossen worden sind, spricht eindeutig - abgesehen davon, dass St. früher nichts von Standgerichtsurteilen erwähnt hat -, dass die Erschiessungen heimlich und unter Täuschung der Opfer durchgeführt worden sind. Wären die Opfer durch ein Gericht zum Tode verurteilt gewesen, hätte es dieser Täuschung nicht bedurft. Denn dann hätten sie auf Grund des ihnen verkündeten Urteils gewusst, dass ihnen der Tod bzw. die Erschiessung bevorstehe. Auch die Tatsache, dass zu den beiden Personengruppen kleine Kinder gehörten, spricht dagegen, dass sie durch ein Standgericht zum Tode verurteilt worden sind. Ferner weist der Umstand, dass St. den Vollzug der Erschiessung unter Verwendung der Tarnbezeichnung "gesondert untergebracht" an das RSHA gemeldet hat, darauf hin, dass es sich um die Erschiessung von Juden im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" gehandelt hat. Diese Tarnung wäre nicht erforderlich gewesen, wenn es sich um normale Exekutionen auf Grund von Standgerichtsurteilen gehandelt hätte. Gestützt wird diese Überzeugung schliesslich noch durch die Aufzeichnungen des früheren Lagerkommandanten Höss, wonach im Rahmen "der Endlösung der Judenfrage" zuerst Ostoberschlesien von Juden geräumt worden ist, die nach Auschwitz verbracht und dort ohne Selektionen getötet worden sind.

Dem Angeklagten St. war nach der Überzeugung des Gerichts all dies auch bekannt. Denn die Tatsachen, dass die Opfer nur Juden waren, dass zu ihnen auch kleine Kinder gehörten, dass die Opfer über ihr bevorstehendes Schicksal getäuscht wurden und dass schliesslich der Angeklagte St. den Vollzug der Erschiessungen unter Tarnbezeichnungen melden musste, konnten in ihm gar nicht den Gedanken aufkommen lassen, dass es sich um Exekutionen auf Grund von Standgerichtsurteilen wegen irgendwelcher Vergehen oder Verbrechen gehandelt hat. Im übrigen wurde ihm - ebenso wie allen anderen SS-Angehörigen - immer wieder eingehämmert, dass die Juden als Angehörige der "minderwertigen jüdischen Rasse" vernichtet werden müssten.

3. Zu II.2.

Der Angeklagte St. bestreitet, die Frau und die beiden Kinder im kleinen Krematorium eigenhändig erschossen zu haben. Im übrigen hat er zu diesem Fall nicht näher Stellung genommen. Das Gericht sieht den Angeklagten St. auf Grund der glaubhaften Aussage des Zeugen Sm. als überführt an, die Frau und die beiden Kinder zur Erschiessung in das kleine Krematorium geführt zu haben und dort zumindest bei ihrer Erschiessung durch einen anderen SS-Angehörigen, dem er das Kleinkalibergewehr übergeben hatte, dabeigewesen zu sein. Der Zeuge Sm., der Jurist und Direktor des Museums in Auschwitz ist und einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen hat, war bei der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung als Schreiber beschäftigt. Er kannte den Angeklagten St. daher sehr gut. St. unterhielt sich öfters mit ihm, da beide etwa im gleichen Alter waren und die höhere Schule besucht hatten. Eine Verwechslung scheidet somit aus.

Der Zeuge Sm. hat glaubhaft geschildert, dass der Angeklagte St. die Frau und die beiden Kinder zur Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung gebracht und dann den Karabiner aus der Blockführerstube geholt habe. Der Zeuge hat dann weiter gesehen, dass St. mit den dreien allein in das kleine Krematorium gegangen ist. Von seinem Zimmer aus konnte der Zeuge den Weg bis zum kleinen Krematorium überblicken und auch den Eingang zu diesem überwachen. Der Zeuge hat dann weiter gesehen, dass St. wieder allein aus dem kleinen Krematorium herausgekommen ist. Die Frau und die beiden Kinder hat er nicht mehr aus dem Krematorium herauskommen sehen. Aus all diesen Umständen und dem danach gezeigten Verhalten des Angeklagten St. hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass der Angeklagte St. die drei Personen in das kleine Krematorium zum Zwecke der Erschiessung geführt und, da nicht mit Sicherheit festzustellen war, dass er sie selbst erschossen hat, einem anderen SS-Angehörigen zur Erschiessung übergeben hat und bei der Erschiessung auch selbst dabeigewesen ist.

Allerdings konnten Einzelheiten über diese Erschiessung nicht festgestellt werden, da kein Augenzeuge der Erschiessung vorhanden ist.

4. Zu II.3.

Der Angeklagte St. hat eingeräumt, dass er bei der Vergasung von mindestens zweihundert Personen in der geschilderten Weise mitgewirkt hat. Allerdings hat er behauptet, dass unter diesen Personen keine Kinder gewesen seien. Es habe sich vielmehr nur um erwachsene Polen und Juden gehandelt. Ihre Tötung sei ebenfalls auf Grund von Standgerichtsurteilen erfolgt. Zu dem Einwerfen des Zyklon B sei er zunächst von Grabner befohlen worden. Er habe jedoch gezögert, den Befehl auszuführen. Daraufhin habe ihm der Schutzhaftlagerführer befohlen, er solle schnell machen. Als er dann immer noch gezögert habe, habe ihm der Kommandant Höss gedroht, wenn er nicht hinaufgehe und das Gas einwerfe, werde er selbst mit in den Vergasungsraum hineingesteckt. Erst auf Grund dieser Drohung, die er für ernstlich gehalten habe, sei er auf das Dach des kleinen Krematoriums gestiegen und habe das Zyklon B zusammen mit dem anderen SS-Mann in die Einfüllöcher geschüttet. Er habe nicht das Gefühl gehabt, dass Unrecht geschehe, da die Leute durch ein Standgerichtsurteil zum Tode verurteilt gewesen seien. Ihm sei nur die Art der Vollstreckung der Todesstrafe als feige und unmännlich erschienen. Auch diese Einlassung hat das Schwurgericht dem Angeklagten St. nicht abgenommen. Er hat sie erstmalig in der Hauptverhandlung vorgebracht. Bei seiner Vernehmung durch den Zeugen Ae. hat der Angeklagte St. diese Darstellung nicht gegeben. Er hat vielmehr ausgesagt, dass es sich bei diesem Transport um Juden gehandelt habe, unter denen auch Kinder gewesen seien. Davon, dass auch Polen unter den Opfern gewesen seien, und dass Standgerichtsurteile gegen sie vorgelegen hätten, hat er nichts erwähnt. Auch hat er sich nicht auf eine Drohung des Lagerkommandanten Höss berufen. St. hat ferner gegenüber dem Zeugen Ae. angegeben, dass bereits vor dieser Vergasung (bei der er das Zyklon B selbst eingeworfen hat) eine Vergasung von Juden in der unter II. geschilderten Weise stattgefunden habe, vor der er von Grabner zur besonderen Geheimhaltung und strengstem Stillschweigen verpflichtet worden sei. Der Zeuge Ae., der - wie schon ausgeführt - über diese polizeiliche Vernehmung des Angeklagten St. vernommen worden ist, konnte sich noch gut erinnern, dass St. nicht gesagt hat, er sei zu dem Einwerfen des Gases gezwungen worden. Vielmehr habe St. nur - so hat der Zeuge glaubhaft angegeben - erklärt, er habe das Zyklon B auf Befehl Grabners eingeworfen.

Dem Zeugen Ae. wurden - da er sich nicht mehr an alle Einzelheiten der Vernehmung des Angeklagten St. erinnern konnte - auch die Teile des polizeilichen Protokolls zur Stützung seines Gedächtnisses vorgelesen, in dem die Schilderung dieser Vergasung als Aussage des Angeklagten St. protokolliert ist. Der Zeuge hat bestätigt, dass St. genau so ausgesagt hat, wie es im Protokoll steht. Auch St. hat dies nach der Vernehmung des Zeugen Ae. bestätigt.

Somit steht nach der Überzeugung des Gerichts fest, dass St. gegenüber dem Zeugen Ae. tatsächlich nur von einem Judentransport, zu dem auch Kinder gehört haben, gesprochen hat und nichts von Standgerichtsurteilen oder einer Drohung durch den Lagerkommandanten Höss erwähnt hat. Auch in diesem Fall ist das Schwurgericht überzeugt, dass St's Angaben bei seiner polizeilichen Vernehmung der Wahrheit entsprachen und dass die von dieser Darstellung abweichenden Angaben St's in der Hauptverhandlung nur als Schutzbehauptung vorgebracht worden sind.

Wäre St. tatsächlich von Höss zum Einwerfen des Zyklon B gezwungen worden, so wäre kein Grund ersichtlich, warum er diese für seine Entlastung wichtige Tatsache verschwiegen haben sollte. Im übrigen hat St. als eifriger SS-Unterführer Befehle stets prompt ausgeführt. In anderen Fällen hat er nie gezögert, bei der Tötung von Menschen mitzuwirken. Das räumt er auch selbst ein. Auf die Frage, warum er ausgerechnet in diesem Fall gezögert habe, einen Befehl auszuführen, hat er geantwortet, er sei für das Einwerfen des Zyklon "nicht zuständig" gewesen. Diese Antwort konnte das Gericht nicht überzeugen. Sie ist offensichtlich die Ausrede eines in die Enge getriebenen und der Unwahrheit überführten Angeklagten.

Damit steht fest, dass die Opfer nur Juden waren, unter denen sich auch eine gewisse, nicht näher festzustellende Anzahl von Kindern befunden hat. Nach der Überzeugung des Gerichts waren es Juden, die im Rahmen "der Endlösung der Judenfrage" auf Befehl Hitlers und seiner Komplizen aus Ostoberschlesien nach Auschwitz deportiert worden sind, damit sie dort getötet würden. Diese Überzeugung stützt sich darauf, dass

1. der Transport nur aus jüdischen Menschen bestand, zu denen auch Kinder gehörten,

2. dass St. vorher durch Grabner - wie er früher bei seiner polizeilichen Vernehmung gegenüber dem Zeugen Ae. angegeben hat - zu strengster Geheimhaltung verpflichtet worden ist, sogar eine entsprechende schriftliche Erklärung unterschreiben musste,

3. dass der Lagerkommandant Höss, der im KL Auschwitz verantwortlich für die sog. Judenaktionen im Rahmen der Endlösung der Judenfrage war, persönlich bei der Vergasung anwesend war,

4. dass nach den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten Höss zuerst aus Ostoberschlesien jüdische Transporte im Rahmen "der Endlösung der Judenfrage" nach Auschwitz gebracht worden sind und dort zunächst ohne Selektionen im kleinen Krematorium vergast worden sind,

5. dass der Angeklagte St. nach Durchführung der Aktionen an das RSHA melden musste, dass die betreffenden Personen "gesondert untergebracht" worden sind.

Daraus ergibt sich gleichzeitig, wovon das Gericht an sich schon auf Grund der Angaben des Angeklagten St. gegenüber dem Zeugen Ae. überzeugt war, dass gegen diese mindestens hundert Personen kein Standgerichtsurteil vorgelegen haben kann.

5. Zu II.4.

Der Angeklagte St. hat eingeräumt, dass er von Grabner über die Ankunft von RSHA-Transporten verständigt worden sei und dass er sich daraufhin zur Rampe begeben habe. Dort habe er jedoch nur - so hat er sich eingelassen - die als arbeitsfähig ausgesonderten Menschen gesondert aufgestellt, gezählt und dann in die Aufnahmebaracke der Politischen Abteilung geführt, um dort die Aufnahmeformalitäten zu erledigen. Zu den Gaskammern habe er die jüdischen Menschen nie begleitet. Es sei allerdings ab und zu vorgekommen, dass die Zahlen nicht gestimmt hätten. Dann hätte er sich an die SS-Männer an den Vergasungsräumen gewendet, die die Menschen dort vor ihrer Tötung gezählt hätten. Wenn er hin und wieder an den Vergasungsräumen gewesen sei, dann nur aus diesem Grunde.

Auch diese Einlassung des Angeklagten St. steht in Widerspruch zu den Angaben, die er bei seiner polizeilichen Vernehmung durch den Zeugen Ae. gemacht hat. Damals hat der Angeklagte St., was der Zeuge Ae. glaubhaft bestätigt hat, eindeutig und präzise angegeben, dass er auch die für den Tod bestimmten jüdischen Menschen zu den Gaskammern begleitet habe, wobei er seine Dienstpistole getragen habe. Der Angeklagte St. war auch dabei, wenn die Menschen in die Gaskammern hineingeführt wurden.

Denn er hat gegenüber dem Zeugen Ae. erklärt, dass dabei gelegentlich Stockungen entstanden seien, so dass die vorderen Menschen von den hinterhergehenden Personen hineingeschoben worden seien.

Das Gericht ist überzeugt, dass der Angeklagte St. auch in diesem Punkte damals die Wahrheit gesagt hat, und dass seine Einlassung in der Hauptverhandlung unglaubhaft ist. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich der Angeklagte St. damals zu Unrecht belastet und Dinge geschildert haben sollte, die dem Zeugen Ae. noch gar nicht bekannt waren.

Damit steht fest, dass der Angeklagte St. nicht nur die jüdischen Menschen zur Gaskammer begleitet, sondern dort auch das Einrücken der Menschen in die Gaskammer überwacht hat.

Über die von dem Angeklagten St. zugegebene Tätigkeit hinaus hat auch der Zeuge Ho., der als SS-Mann ebenfalls in der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung tätig war und dessen Vorgesetzter der Angeklagte St. war, bekundet, dass St. die Gesamtstärke der Transporte häufig selbst festgestellt hat, indem er zusammen mit ihm alle angekommenen Menschen (also nicht nur die arbeitsfähigen) gezählt habe. Ho., der seine Aussage sehr zurückhaltend gemacht hat und den Angeklagten St. offensichtlich schonen wollte, hat diese Angaben allerdings erst gemacht, als ihm entsprechende Vorhalte aus seiner früheren Vernehmung gemacht worden sind. Seine Aussage erscheint daher insoweit glaubhaft, zumal die Übernahme der Transporte zu dem Aufgabengebiet des Angeklagten St. gehört hat.

Der Zeuge Sm. hat auch glaubhaft bestätigt, dass St. häufig Transportzettel von der Rampe in die Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung gebracht habe.

Wie oft der Angeklagte St. jüdische Menschen zu den Gaskammern begleitet hat, konnte nicht festgestellt werden. Es konnte daher nur von einer unbestimmten Anzahl von Fällen ausgegangen werden. Das Gericht hat sich darauf beschränkt, da sich unsichere Schätzungen verboten, dem Urteil mindestens einen Fall zugrunde zu legen. Die Anzahl der bei diesem Transport getöteten Menschen war ebenfalls nicht sicher festzustellen. Um jede mögliche Unsicherheit auszuschliessen, ist das Gericht von der geringen Mindestzahl von einhundert Menschen ausgegangen, die bei dem Transport auf jeden Fall getötet worden sind. Denn damals kamen mit Transporten durchschnittlich 1000 Personen an, von denen höchstens 25%, also 250 Menschen in das Lager aufgenommen worden sind.

6. Zu II.5.

Die Feststellungen unter II.5. beruhen auf der glaubhaften Aussage des Zeugen Philipp Mü. Der Angeklagte St. bestreitet, sich in der vom Zeugen Mü. geschilderten Art und Weise betätigt zu haben. Das Schwurgericht ist jedoch überzeugt, dass die vom Zeugen Philipp Mü. geschilderten Vorfälle glaubhaft sind und der Wahrheit entsprechen. Die Verteidigung des Angeklagten St. hat Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen vorgebracht. Mü. habe sich - so wurde behauptet - in erhebliche Widersprüche zu seiner früheren Aussage verwickelt. Er habe offenbar diese konkreten Belastungen St's erfunden, weil bis dahin in der Hauptverhandlung noch keine gravierenden Belastungen St's erkennbar geworden seien. Schliesslich sei in der Darstellung des Zeugen eine Reihe von Unwahrscheinlichkeiten, die seine Schilderungen nicht als glaubhaft erscheinen lassen könnten.

Das Schwurgericht konnte jedoch keine ins Gewicht fallenden Widersprüche zwischen der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung und seinen früheren Bekundungen feststellen. Kleine Abweichungen zwischen beiden Aussagen sind für die Glaubwürdigkeit des Zeugen unbedeutend. So hat er früher angegeben, er sei an einem Sonntag zum Fischelkommando gekommen, während er in der Hauptverhandlung erklärt hat, es sei an einem Samstag gewesen. Früher hat er angegeben, bei seiner ersten Tätigkeit im kleinen Krematorium, als das Feuer ausgebrochen sei, habe St. vier Häftlinge des Kommandos erschossen, während er in der Hauptverhandlung bekundet hat, es seien drei gewesen. Zwar ist es objektiv von erheblicher Bedeutung, ob jemand drei oder vier Menschen erschossen hat. Unter normalen Umständen wird ein Zeuge, der die Erschiessung mehrerer Menschen miterlebt, danach auch genau angeben können, wieviel es gewesen sind. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass für den Zeugen Philipp Mü. die Erschiessungen durch den Angeklagten St. unter für ihn fürchterlichen Umständen geschehen sind, dass er damals selbst in ständiger Todesgefahr schwebte, dass er danach noch weitere schreckliche Erlebnisse gehabt hat und dass schon über zwanzig Jahre seit diesen Erlebnissen vergangen sind. Unter diesen Umständen erscheint es verständlich, dass der Zeuge nicht mehr so sicher ist, ob damals drei oder vier Häftlinge von St. erschossen worden sind. Diese Abweichungen zwischen der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung und seiner früheren Aussage ist daher nicht so bedeutend, dass dadurch die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage gestellt wäre. Früher hat der Zeuge angegeben, sie seien mit den Leichen der vergasten Menschen auf einem Auto nachts durch die Stadt Auschwitz bis zu einer Sumpfgrube gefahren, während er in der Hauptverhandlung bekundet hat, sie seien mit dem Feuerwehrauto auf ein Feld gefahren, wo sie die Leichen in eine Wassergrube geworfen hätten. Auch das sind nur unerhebliche Unterschiede.

Das Argument, Mü. habe den Angeklagten St. belasten müssen, weil bis dahin noch keine schweren Belastungen gegen den Angeklagten St. in der Hauptverhandlung vorgebracht gewesen seien, greift ebenfalls nicht durch. Als der Zeuge Mü. das erste Mal in der Tschechoslowakei vernommen worden ist, nämlich am 2.12.1963, hatte die Hauptverhandlung überhaupt noch nicht begonnen. Mü. konnte also damals noch gar nicht wissen, ob St. von anderen Zeugen belastet werden würde oder nicht. Gleichwohl hat er bereits bei dieser Vernehmung im wesentlichen die gleichen Dinge geschildert wie in der Hauptverhandlung.

Das Schwurgericht hat auch nicht den Eindruck gehabt, dass Mü. die Erlebnisse nur erfunden hat, um St. wahrheitswidrig zu belasten. Mü. stand bei seiner Vernehmung ersichtlich unter dem Eindruck schwerster persönlicher Erlebnisse. Die Art, wie er seine Aussage gemacht hat, lässt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass seine Angaben nur das Produkt seiner Phantasie gewesen sein sollen. In eindrucksvoller Weise hat er sogar die Stimme und den Befehlston St's nachgemacht.

Die Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen Philipp Mü. wurden auch darauf gestützt, dass Mü., als er das erste Mal von St. in das kleine Krematorium hineingeführt worden sei, siebenhundert angezogene Leichen und weitere hundert Leichen russischer Kriegsgefangener in Uniform in dem Vergasungsraum gesehen haben will und dass er zusammen mit den anderen Häftlingen diese Leichen habe ausziehen müssen. Ferner hätten nach seiner Schilderung zerstörte Koffer in dem Raum herumgelegen, was ebenfalls unwahrscheinlich sei. Dagegen hätten sich später nach der Aussage Mü's die jüdischen Menschen vor den Vergasungen jeweils im Hof des kleinen Krematoriums ausziehen und die Sachen in dem Hof liegen lassen müssen.

Es wurde auch für unwahrscheinlich gehalten, dass in etwa sechs Wochen - wie der Zeuge Mü. es angegeben hat - zehn- bis elftausend Menschen im kleinen Krematorium vergast worden sein könnten.

Diese Bedenken greifen jedoch nicht durch. Mü. konnte die Opfer nicht zählen. Dazu blieb ihm keine Zeit. Er hat sich auch keine Aufzeichnungen über die Anzahl der Vergasungen machen können. Für ihn ist es daher unmöglich, exakte Zahlen angeben zu können. Sein Gedächtnis kann nur festgehalten haben, dass eine grosse Anzahl von Menschen in der fraglichen Zeit getötet worden ist. Seine Zahlenangaben beruhen nur auf Schätzungen. Es mag sein, dass die schrecklichen Erlebnisse im kleinen Krematorium, die durch die weiteren Erlebnisse bei den Krematorien I bis IV, in denen Hunderttausende von Menschen getötet wurden, überlagert worden sind, Mü. verleitet haben, die Zahl der Opfer im kleinen Krematorium viel zu hoch zu schätzen. Der Kern seiner Aussage, dass eine Vielzahl von jüdischen Menschen durch Gas in dem kleinen Krematorium getötet worden ist, wird dadurch nicht in Frage gestellt.

Wenn es auch auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheint, dass Menschen in Kleidung vergast worden sind, weil nach der Schilderung Mü's später die Menschen sich stets im Hof ausziehen mussten, und die SS das grösste Interesse daran hatte, die Kleidung aus wirtschaftlichen Gründen zu behalten, ist es doch nicht unmöglich. Auch bei der ersten Vergasung im Block 11, auf die noch zurückzukommen sein wird, wurden die Menschen in Kleidung vergast. Es ist immerhin denkbar, dass aus besonderen Gründen in diesem Fall die Menschen sofort in ihrer Kleidung und mit ihren Koffern in die Gaskammer geführt worden sind.

Möglicherweise ist von der SS aus zeitlichen Gründen in diesem einen Fall von den sonstigen Gepflogenheiten abgewichen worden. Es spricht sogar für die Glaubwürdigkeit Mü's, dass er die auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinenden Dinge so geschildert hat, wie er sie in seinem Gedächtnis bewahrt hat.

Da nach seiner Darstellung in allen späteren Fällen die Opfer sich stets im Hof des kleinen Krematoriums entkleiden mussten, hätte es für ihn naheliegen müssen anzugeben, dass auch in dem Fall, den er als erstes persönliches Erlebnis im kleinen Krematorium geschildert hat, die Opfer nackt getötet worden sind, wenn alles nur seiner Phantasie entsprungen wäre. Soweit die Zahl der Opfer, die er bei seinem ersten Eintreffen im kleinen Krematorium gesehen hat, zu hoch erscheint, gilt das oben bereits Gesagte. Mü. hat die Leichen nicht gezählt. Seine Zahlenangabe beruht nur auf einer Schätzung. Möglicherweise hat er auf Grund des furchtbaren Anblicks, der sich ihm beim ersten Mal bot, die Zahl der Opfer zu hoch geschätzt. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass der Zeuge Mü. insgesamt unglaubwürdig sei.

Das Schwurgericht ist daher überzeugt, dass der Kern seiner Aussage, auf dem die obigen Feststellungen beruhen, der Wahrheit entspricht.

IV. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1., 3., 4.

Die unter Ziffer II.1.a. und b., 3. und 4. geschilderten Tötungen jüdischer Menschen erfüllen den Tatbestand des §211 StGB neuer Fassung. Die Juden wurden auf Grund des Ausrottungsbefehls Hitlers getötet. Ihre Tötung erfolgte daher - wie oben schon ausgeführt - aus niedrigen Beweggründen. Die jüdischen Menschen wurden auch in allen geschilderten Fällen heimtückisch getötet. Wie sich aus den tatsächlichen Feststellungen unter II.1., 3. und 4. ergibt, bestärkte man die Arglosigkeit der ahnungslosen und wehrlosen Menschen durch bewusste Täuschungsmanöver und nutzte dann diese Arg- und Wehrlosigkeit bei den Erschiessungsaktionen in den Fällen II.1. a. und b. und bei den Tötungen durch Gas in den Fällen II.3. und 4. aus. Schliesslich waren die Tötungen in den Gaskammern auch grausam, wie oben unter A.V.1. schon dargelegt worden ist. Auch wegen der Rechtswidrigkeit dieser Tötungen kann auf diese Ausführung Bezug genommen werden.

Haupttäter dieser Morde waren Hitler und seine Komplizen. Der Angeklagte St. hat die unter II.1., 3. und 4. geschilderten Tötungen jeweils durch eigene Handlungen gefördert, somit einen kausalen Tatbeitrag hierzu geleistet. Das ergibt sich klar aus dem Sachverhalt. Er hat bei den Tötungen auf Befehl mitgewirkt. Seine Beteiligung muss daher im Rahmen des §47 MStGB strafrechtlich beurteilt werden.

St. hat klar erkannt, dass die befohlenen Tötungen ein allgemeines Verbrechen waren und die ihm gegebenen Befehle, dabei mitzuhelfen, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Er will zwar - wie er in der Hauptverhandlung behauptet hat - geglaubt haben, die Tötungen seien rechtmässig. Dabei hat er sich aber nicht etwa darauf berufen, dass er sie deswegen für rechtmässig gehalten habe, weil sie von der höchsten Staatsführung befohlen worden seien. Vielmehr hat er seinen irrigen Glauben an die Rechtmässigkeit der Tötungen mit der Behauptung zu begründen versucht, dass sie auf Grund von Standgerichtsurteilen erfolgt seien. Diese Behauptung ist jedoch - wie oben ausgeführt - widerlegt. Damit entfällt St's einziges Argument für seinen angeblichen irrigen Glauben an die Rechtmässigkeit der Tötungen.

Seine Einlassung steht auch im Widerspruch zu seinen Angaben, die er gegenüber dem Zeugen Ae. bei seiner polizeilichen Vernehmung gemacht hat. Damals hat er - wie der Zeuge Ae. glaubhaft bestätigt hat - erklärt, "er habe wohl gefühlt, dass die Befehle, die jüdischen Menschen zu töten, ein Unrecht gewesen sei". Daraus ergibt sich bereits, dass er, da er nach der Überzeugung des Gerichts bei seiner polizeilichen Vernehmung seine damalige innere Einstellung richtig wiedergegeben hat, das Unrechtmässige der Tötungen erkannt hat. Darüber hinaus ist - wie bereits oben unter A.V. ausgeführt worden ist - die Tötung schuldloser Menschen, insbesondere von Kindern, ein so krasser Verstoss gegen die auch dem primitivsten Menschen bewussten Grundsätze vom Recht eines jeden Menschen auf sein Leben, dass auch der Angeklagte St., ebenso wie alle anderen SS-Angehörigen in Auschwitz, keine Zweifel an der Rechtswidrigkeit der befohlenen Tötungen haben konnte und nach der Überzeugung des Gerichts auch nicht gehabt hat. Auch die Begleitumstände, unter denen die Opfer getötet wurden (strengste Geheimhaltung, Täuschung der Opfer, Meldung der Tötungen durch Tarnbezeichnungen) und die dem Angeklagten St. alle bekannt waren, mussten ihm die Gewissheit aufdrängen, dass hier Unrecht geschah. Schliesslich war der Angeklagte St. etwa im gleichen Alter wie der Angeklagte Baretzki. Dieser hat freimütig eingeräumt, dass er erkannt hat, dass die Tötung der Juden Unrecht sei. Für St., der wesentlich intelligenter als der Angeklagte Baretzki ist und bis zu seinem 16. Lebensjahr die höhere Schule besucht hat und in geordneten Familienverhältnissen aufgewachsen ist, können daher ebenfalls keine Zweifel an der Unrechtmässigkeit der Tötungen bestanden haben.

Bei der Frage, ob der Angeklagte St. die Tötungen als eigene Taten gewollt, also als Mittäter gehandelt hat oder ob er nur als Gehilfe die Taten der Haupttäter unterstützen wollte, war folgendes in Betracht zu ziehen: Der Angeklagte St. ist bereits im Alter von 16 Jahren und 5 Monaten zur 2. SS-Totenkopfstandarte eingezogen worden. Während seiner Ausbildungszeit wurde er in der nationalsozialistischen Weltanschauung ständig intensiv geschult. Besonderer Wert wurde dabei auf Rassenkunde gelegt. Im Sinne Eickes, dem damaligen Inspektor der KL und Kommandeur der SS-Totenkopfverbände, wurde er zur Härte und zum Hass gegen die sog. Staatsfeinde und zu unbedingtem Gehorsam gegenüber seinen SS-Vorgesetzten erzogen. Bei St. fiel diese Schulung und Erziehung auf fruchtbaren Boden. Er wurde überzeugter Nationalsozialist.

Dies ergibt sich zunächst daraus, dass er trotz seiner Jugend schon vor Ausbruch des Krieges Verwendung im KZ-Dienst fand und schliesslich im Jahre 1940 als geeignet für den Einsatz im KZ Auschwitz angesehen wurde. Trotz seiner Jugend wurde er auch relativ schnell befördert. Bereits mit 18 Jahren wurde er nach weniger als zweijähriger Dienstzeit zum Rottenführer befördert und als Gruppenführer eingesetzt. Mit 19 Jahren wurde er zum SS-Unterscharführer befördert. Dies alles spricht dafür, dass er schon damals innerlich mit der nationalsozialistischen Weltanschauung übereinstimmte und sich als guter Nationalsozialist und SS-Mann im Sinne der Forderungen Eickes bewährt haben muss. Diese Übereinstimmung des Angeklagten St. mit den Zielen des Nationalsozialismus und der SS-Führung, insbesondere mit der von diesen bewusst geförderten feindlichen Einstellung gegenüber sog. Staatsfeinden, wozu in erster Linie die Juden zählten, zeigte sich dann auch bei dem Angeklagten St. im KL Auschwitz.

Der Pädagoge Kx., 69 Jahre alt und von Beruf Gymnasiallehrer, hatte im KL Auschwitz Gelegenheit, den Angeklagten St. zu beobachten. Er war als Häftling in der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung eingesetzt und kam somit in nähere Berührung mit ihm. Der Zeuge, der einen ausgezeichneten Eindruck auf das Schwurgericht gemacht hat und mit grosser Ruhe und einem tiefen Verständnis für menschliche Schwächen und aus einer gewissen weisen Abgeklärtheit heraus über die damaligen Geschehnisse sprach, hat geschildert, dass er zunächst nach dem äusseren Aussehen des Angeklagten St. und dem ersten Eindruck geglaubt habe, dieser sei ein anständiger Mensch und sympathischer SS-Mann. Darüber sei er froh gewesen. St. habe ihn dann aber bitter enttäuscht. Als die russischen Kriegsgefangenen in das Lager aufgenommen worden seien, habe St. die Kriegsgefangenen oft fürchterlich mit der Peitsche geschlagen. Das sei für ihn - den Zeugen - schrecklich gewesen. Von anderen Häftlingen habe er erfahren, dass dieses Schlagen jedoch noch nicht das Schlimmste sei. Allerdings habe er selbst nicht gesehen, dass St. russische Kriegsgefangene getötet habe. Häftlingen gegenüber habe St. erklärt: "Mitleid heisst Schwäche!" Dieses Verhalten des Angeklagten St. gegenüber den russischen Kriegsgefangenen, das ihm nicht befohlen war, sondern aus eigenen Antrieben erfolgte, zeigte, dass er sich die Grundsätze Eickes über die Behandlung sog. Staatsfeinde zu eigen gemacht und zu seinem eigenen Prinzip erhoben hatte. Auch der zitierte Ausspruch des Angeklagten St. offenbart diese innere Einstellung.

Ein Kollege des Zeugen Kx., ein Professor, der als Häftling im KL Auschwitz war und dem Angeklagten St. Unterricht für die Vorbereitung auf das Abitur erteilt hat, vertrat bereits damals die Auffassung, dass St's Verhalten nur aus seiner nationalsozialistischen Einstellung heraus zu verstehen sei. Der Zeuge Kx., der sich als Pädagoge für St. interessierte, unterhielt sich wiederholt mit diesem Professor über St. Beide fragten sich, wie das Verhalten St's zu erklären sei. Der Professor meinte, dass St. zwar im Kern anständig sei, aber unter dem unheilvollen Einfluss der NS-Ideologie stehe, die er sich zu eigen gemacht habe.

Dass der Angeklagte St. sich ganz mit der Einstellung der NS-Machthaber und der SS-Führung gegenüber sog. Staatsfeinden identifiziert hat, zeigte sich auch in seinem sonstigen Verhalten gegenüber den Häftlingen im KL Auschwitz. Der Zeuge Lei., der zusammen mit dem Angeklagten St. eine Zeitlang als Blockführer eingesetzt war, hat glaubhaft geschildert, dass der Angeklagte St. besonders hart gegen die Häftlinge gewesen sei. Er habe sie mit kreischender, furchterregender Stimme angeschrien. Die Häftlinge hätten alle Angst vor ihm gehabt. St. habe sie sogar mit Füssen getreten. Ein besonders krasser Fall, der Aufschluss über die innere Einstellung St's gegenüber Häftlingen, insbesondere Juden gibt, hat die Zeugin Kraf. geschildert. Eine Jüdin mit dem Vornamen Flora, eine ältere, bescheidene und ängstliche Frau, meldete sich eines Tages in der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung zur Registrierung. St. fragte sie, wie sie heisse. Als die Jüdin ihren Namen leise nannte, brüllte St. sie an, sie solle lauter sprechen. Als die Jüdin noch immer - nach der Auffassung St's - zu leise sprach, schrie er, sie solle mit ihm herauskommen. Beim Hinausgehen, trat er sie, dass sie hinfiel. Dann musste sie hundertmal laut ihren Namen rufen. St. ging währenddessen weg und befahl der Zeugin Kraf., aufzupassen, dass Flora auch hundertmal ihren Namen rufe. Kurz danach kam er wieder zurück und fragte die Zeugin, wie oft Flora ihren Namen gerufen habe. Die Zeugin Kraf. belog St., indem sie antwortete, Flora habe bereits 96mal ihren Namen gerufen. Sie wollte die ältere Frau nämlich aus ihrer unangenehmen Situation befreien. St., der jedoch sofort durch Befragen der Jüdin entdeckte, dass er von der Zeugin Kraf. belogen worden war, schrie nun die Zeugin an und befahl ihr, sich neben Flora zu stellen und zu rufen, sie dürfe ihre Vorgesetzten nicht belügen. Durch das Dazwischentreten von zwei SS-Führern wurde die Zeugin Kraf. hiervon jedoch befreit. Sie sah aber einige Zeit danach, dass St. mit der Jüdin Flora wegging. Nach einer Weile kam er zurück und sagte zu ihr: "Die habe ich erledigt und Du bist die Nächste! Ich finde schon einen Grund, verlass Dich darauf!"

Ob St. die Jüdin Flora getötet hat, konnte allerdings nicht festgestellt werden. Sein Ausspruch spricht jedoch zumindest dafür, dass er sie schwer geschlagen hat.

Dieses Verhalten des Angeklagten St. gegenüber den Häftlingen und einer jüdischen älteren, hilflosen Frau spricht ebenfalls dafür, dass er auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stand und das Vernichtungsprogramm der NS-Machthaber bez. der jüdischen Menschen innerlich bejaht und aus innerster Überzeugung von der Richtigkeit dieses Programms bei den geschilderten Tötungen der Juden mitwirken wollte. St. hat bei seiner Vernehmung zur Sache auch erklärt, dass er die Judenvernichtung damals bejaht habe, wobei er entschuldigend hinzufügte, dass daran die NS-Propaganda schuld gewesen sei, die ihnen immer wieder eingehämmert habe, die Juden seien an allem Schuld, die Juden seien das Unglück Deutschlands.

Letzte Zweifel daran, dass St. die geschilderten Tötungen als eigene Taten gewollt hat, wurden schliesslich beseitigt durch sein Verhalten bei den Vergasungen, die der Zeuge Philipp Mü. geschildert hat. Die Art, wie der Angeklagte St. damals die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos kaltblütig erschossen hat, als sie ihm wegen ihres körperlichen Zustandes nicht mehr nützlich erschienen, und wie er die jüdischen Frauen und den entdeckten alten Juden umgebracht hat, zeigt, dass er jegliche moralischen und sittlichen Hemmungen abgestreift hatte. Sie zeugt ferner davon, dass in ihm, der vor seinem Eintritt in die SS ein unauffälliges Leben geführt hatte und auch nach dem Kriege sich wieder ganz in das bürgerliche Leben eingeordnet hat, unter dem Einfluss der NS-Propaganda die niederen Instinkte gegenüber jüdischen Menschen geweckt worden sind und er die Juden nur noch als Ungeziefer ansah, das es zu vernichten galt. Ihm hat es nach der ganzen Art seines Verhaltens offensichtlich Freude und innere Befriedigung bereitet, die jüdischen Menschen nicht nur zu töten, sondern vorher auch noch zu quälen. Damit hat er sich ganz mit dem Hass der NS-Machthaber gegen die Angehörigen der jüdischen Rasse identifiziert und sich ihre Ziele, die Juden auszurotten, zu eigen gemacht.

Das Schwurgericht hat daher keine Zweifel, dass St. in allen unter II.1., 3. und 4. geschilderten Fällen die Tötung der Juden als eigene Tat gewollt, somit als Mittäter gehandelt hat.

Der Angeklagte St. hat in allen unter II.1., 3. und 4. geschilderten Fällen auch vorsätzlich gehandelt. Er hat seinen Tatbeitrag in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen geleistet, wobei ihm klar gewesen ist, dass er kausale Tatbeiträge zu den Tötungen leistete. Das kann nach dem geschilderten Sachverhalt nicht zweifelhaft sein. Er hat hierbei auch das Bewusstsein gehabt, Unrecht zu tun. Denn er hat - wie oben schon ausgeführt - erkannt, dass die Tötung unschuldiger jüdischer Menschen, insbesondere von Kindern, verbrecherisch war.

Er hat nicht irrig angenommen, dass die ihm gegebenen Befehle, an der Judenvernichtung mitzuwirken, trotz ihres verbrecherischen Charakters für ihn bindend gewesen seien. Hier gilt das gleiche, was bereits oben unter A.V.2. bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka ausgeführt worden ist. Die Tötung der schuldlosen jüdischen Menschen, insbesondere der Kinder, trug den Stempel des Unrechts so klar auf der Stirn, dass auch der primitivste Mensch, der zur Unterscheidung von Gut und Böse gekommen ist, keine Zweifel daran haben konnte, dass solche verbrecherischen Befehle nicht bindend sein konnten, auch wenn sie von der höchsten Staatsführung ausgingen. Hinzu kommt, dass - was dem Angeklagten St. bekannt war - die Tötungen unter strengster Geheimhaltung und unter Täuschung der Opfer erfolgten.

Dagegen spricht auch nicht, dass St. als junger Mensch ganz dem Einfluss der NS-Propaganda erlegen und in jungen Jahren zu Hass und Härte gegen die sog. Staatsfeinde und blindem Gehorsam gegen die SS-Vorgesetzten erzogen worden ist. Er mag die Tötung der Juden - ebenso wie die NS-Machthaber - zwar für zweckmässig, nützlich und notwendig angesehen haben, das besagt jedoch nicht, dass ihm das Gefühl und die Erkenntnis gefehlt hätten, dass die aus diesen Erwägungen heraus gegebenen Tötungsbefehle gegen anerkannte Rechtsgrundsätze und gegen die allen Angehörigen von Kulturnationen gemeinsame übereinstimmende Rechtsüberzeugung verstiessen und daher nicht bindend sein konnten.

Das hat er bei seiner ersten Vernehmung gegenüber dem Kriminalobermeister Ae. selbst auch so zum Ausdruck gebracht. Wenn er die verbrecherischen Befehle blindlings befolgt hat, dann nur deswegen, weil er sich die verbrecherischen Ziele der NS-Machthaber zu eigen gemacht und darauf vertraut hat, dass er wegen der Tötungen nie zur Verantwortung gezogen werden würde.

Eine jede Erschiessung der vierzig jüdischen Menschen aus den beiden Gruppen (Ziffer II.1.a. und b.) ist als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB anzusehen. Denn sie erforderte jeweils eine besondere Willensbetätigung und richtete sich gegen das Leben eines Menschen. Jede Erschiessung wurde durch Zusammenwirken des Angeklagten St. mit dem Rapportführer Palitzsch ausgeführt. Die Tötung der beiden Gruppen konnte nicht nur als zwei Massenverbrechen angesehen werden, da dem deutschen Recht der Begriff des Massenverbrechens fremd ist (vgl. auch Urteil des BGH vom 22.5.1962 - 5 StR 4/62).

Die Tötung einer Gruppe von 200 Personen im kleinen Krematorium durch Gas (Ziff.II.3.) ist als eine selbständige Handlung im Sinne einer gleichartigen Handlungseinheit (§73 StGB) anzusehen, da hier durch eine Willensbetätigung, nämlich das Einwerfen des Zyklon B, 200 Menschen auf einmal getötet worden sind, §211 also 200mal durch ein und dieselbe Handlung verletzt worden ist.

Die Vergasung jüdischer Menschen, die - wie unter II.3. geschildert - vor der Tötung der 200 Personen geschah, und an der der Angeklagte St. ebenfalls beteiligt war, ist nicht angeklagt und vom Eröffnungsbeschluss nicht erfasst. Dem Angeklagten St. wird in Ziff.3 des Eröffnungsbeschlusses nur die Mitwirkung an einer Vergasung, bei der er das Zyklon B in den Vergasungsraum eingeschüttet haben soll, zur Last gelegt. Wegen seiner Mitwirkung an der unter II.3. zunächst geschilderten Vergasung jüdischer Menschen konnte er daher nicht verurteilt werden.

Die Tötung der Gruppe von mindestens 100 Menschen in der Gaskammer eines der umgebauten Bauernhäuser (Ziff.II.4.) war ebenfalls ein Mord, begangen in gleichartiger Tateinheit an mindestens 100 Menschen. Hier gilt das gleiche wie im Falle der Vergasung von 200 Menschen im kleinen Krematorium.

Der Angeklagte St. war daher auf Grund des unter II.1., 3. und 4. festgestellten Sachverhalts wegen gemeinschaftlichen Mordes (§§47, 74, 211 StGB) in 40 Fällen (Erschiessungen im kleinen Krematorium), wegen gemeinschaftlichen Mordes in einem weiteren Fall, begangen in gleichartiger Tateinheit an mindestens 200 Menschen (§§47, 211, 73 StGB) und wegen gemeinschaftlichen Mordes, begangen in gleichartiger Tateinheit an mindestens 100 Menschen (§§47, 211, 73 StGB) zu verurteilen.

 2. Zu II.2.

Die Tötung der beiden Kinder erfüllt ebenfalls den Tatbestand des Mordes. Sie erfolgte aus niedrigen Beweggründen. Der äussere Anlass für die Tötung konnte zwar nicht mit Sicherheit geklärt werden. Es ging das Gerede, dass damals das grössere Kind sich ein Kaninchen zum Spielen geholt habe, was ihm als Diebstahl ausgelegt worden sei.

Nach der Überzeugung des Gerichts war jedoch der Hintergrund dieser Tötungen die radikale nationalsozialistische Politik gegen die Angehörigen der polnischen Nation. Das eigentliche Motiv für die Tötungen war der Hass gegen die Polen als Angehörige einer sog. minderwertigen Rasse, die man unterdrücken und teilweise ausrotten wollte. Denn die beiden Kinder waren noch gar nicht strafmündig. Unter normalen Verhältnissen und den normalen, den Grundsätzen aller Kulturnationen entsprechenden Gesetzen wäre die Tötung von Kindern wegen irgendeines Vergehens nicht möglich gewesen. Deutsche strafunmündige Kinder wären auch niemals, selbst wenn sie irgendwelche Vergehen begangen hätten, auf diese Weise getötet worden. Die Gestapo-Leitstelle Kattowitz hat daher nach der Überzeugung des Gerichts die Tötung der beiden Kinder befohlen, weil sie Polen und damit Angehörige einer sog. minderwertigen Rasse waren, mag auch sonst irgendein äusserer Anlass vorgelegen haben, der aber in Wirklichkeit nur als ein willkommener Vorwand diente, um entsprechend der nationalsozialistischen Unterdrückungs- und Ausrottungspolitik zwei weitere Angehörige der "verhassten polnischen Nation" zu "liquidieren". Ein solches Motiv ist aber sichtlich verachtenswert und steht auf niedrigster Stufe; es ist als niedrig im Sinne des §211 StGB anzusehen.

Der Angeklagte St. hat bei den Tötungen auf Befehl mitgewirkt. Seine Handlungsweise muss daher im Rahmen des §47 MStGB beurteilt werden.

Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte St. klar erkannt, dass die Tötungen der beiden Kinder ein allgemeines Verbrechen war. Jedem geistig normalen Menschen ist bekannt, dass kleine Kinder, vor allem, wenn sie noch so klein sind, dass sie von ihrer Mutter auf dem Arm getragen werden müssen, strafrechtlich noch nicht zur Verantwortung gezogen werden können, da sie Gut und Böse noch nicht unterscheiden können. Das hat nach der Überzeugung des Gerichts auch der Angeklagte St. gewusst, der aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen stammt und immerhin bis zu seinem 16. Lebensjahr die höhere Schule besucht und sich in Auschwitz noch auf das Abitur vorbereitet hat, das er im Jahre 1943 auch abgelegt hat. Damit musste sich ihm aber auch gleichzeitig die Erkenntnis aufdrängen, dass die Tötung nicht zur Ahndung strafbaren Unrechts, sondern nur deswegen erfolgte, weil die beiden Kinder Angehörige der verhassten polnischen Nation waren. Nach der Überzeugung des Gerichts hat er diese Erkenntnis auch gehabt, zumal gegen die Kinder, was er wusste, nicht einmal ein Standgerichtsurteil vorlag.

Den Angeklagten St. trifft daher nach §47 MStGB die Strafe des Teilnehmers. Nach der Überzeugung des Gerichts hat St. auch in diesem Fall die Taten als eigene gewollt. Da St. ganz dem Einfluss der NS-Propaganda erlegen ist und sich die Ziele der NS-Machthaber im Bezug auf die Judenpolitik zu eigen gemacht und mit Eifer bei der Tötung der Juden mitgewirkt hat, ist das Gericht - auch auf Grund seines sonstigen Verhaltens in Auschwitz, wie es oben geschildert worden ist - überzeugt, dass er auch in diesem Fall die Tötung der beiden Kinder als eigene Taten gewollt hat.

St. hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem namentlich nicht bekannten SS-Angehörigen den Tod der Kinder herbeigeführt. Dabei waren ihm die Umstände bekannt, die den Beweggrund für die Tötung als niedrig kennzeichnen. Der Angeklagte St. hat auch das Bewusstsein gehabt, Unrecht zu tun. Das ergibt sich bereits aus dem vorher Gesagten.

Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte St. irrig angenommen hat, der Tötungsbefehl sei trotz seines verbrecherischen Charakters für ihn bindend. Nach der Überzeugung des Gerichts hat dies der Angeklagte St. nicht geglaubt. Denn die Tötung von kleinen Kindern ist ein so schwerer Verstoss gegen das Recht und trägt den Stempel des Unrechts zu klar auf der Stirn, dass St. zu dieser Annahme nicht kommen konnte.

Wie der Zeuge Sm. bekundet hat, war ein anderer SS-Angehöriger, der ebenfalls in der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung beschäftigt war, nämlich der SS-Rottenführer Klaus, auch sehr empört darüber, dass die Kinder getötet werden sollten. Sonstige Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe liegen nicht vor. Insbesondere scheidet ein Befehlsnotstand (§52 StGB) aus, da der Angeklagte St. aus innerer Überzeugung und in Übereinstimmung mit den Zielen der NS-Machthaber die Tötungen als eigene Taten gewollt hat.

Die Erschiessungen der beiden Kinder sind als zwei selbständige Handlungen anzusehen (§74 StGB), da sie durch jeweils selbständige Willensbetätigungen ausgeführt worden sind und sich jeweils gegen das Leben eines Menschen richteten.

St. ist daher in diesem Fall wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen (§§47, 74, 211 StGB) zu bestrafen. Wegen der Erschiessung der Frau hat das Schwurgericht den Angeklagten St. nicht verurteilt. Es ist nicht mit Sicherheit auszuschliessen, dass gegen die Frau ein Standgerichtsurteil vorlag. Ob dieses Standgerichtsurteil als rechtmässiges Todesurteil angesehen werden kann oder ob es in krasser Weise gegen allgemeine Rechtsgrundsätze verstossen hat und daher keine Rechtfertigung für die Tötung der Frau geben konnte, konnte nicht geklärt werden, da alle näheren Umstände nicht bekannt sind. Auch konnte in diesem Fall nicht mit Sicherheit festgestellt werden, selbst wenn die Tötung der Frau objektiv rechtswidrig gewesen ist, ob der Angeklagte St. klar erkannt hat, dass die Tötung der Frau verbrecherisch gewesen ist.

3. Zu II.5.

Die unter diesem Punkt angeführten Taten des Angeklagten St. sind nicht angeklagt und nicht in dem den Angeklagten St. betreffenden Eröffnungsbeschluss enthalten. Denn in Punkt 3 des Eröffnungsbeschlusses wird dem Angeklagten St. nur die Mitwirkung an einer einzigen ganz bestimmten Vergasung im Oktober 1941, bei der er nämlich selbst das Zyklon B eingeworfen hat, zur Last gelegt.

In Punkt 4 des Eröffnungsbeschlusses wird dem Angeklagten die Teilnahme an einer unbestimmten Anzahl von Vernichtungsaktionen ab Sommer 1942 zur Last gelegt. Vergasungsaktionen, die vor dieser Zeit stattgefunden haben, nämlich im Mai und bis zum 21.6.1942, können damit nicht gemeint sein. Die Anklage und der Eröffnungsbeschluss beziehen sich ersichtlich auch nur auf Vergasungsaktionen, die in den umgebauten Bauernhäusern durchgeführt worden sind. Aus diesem Grunde konnte der Angeklagte St. wegen der unter II.6. festgestellten Taten nicht verurteilt werden. Eine rechtliche Würdigung erübrigt sich daher. Auch die Tötung der zu dem Fischelkommando gehörenden Juden ist nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten. Diese Taten geben jedoch - wie bereits ausgeführt - Aufschluss über die innere Einstellung des Angeklagten St. zu den Massentötungen der Juden überhaupt. Aus diesem Grunde waren sie daher anzuführen.

V. Anwendung des Jugendstrafrechts auf den Angeklagten St.

Der Angeklagte St. ist am 14.6.1921 geboren. Er war daher bei der Vergasung der Gruppe jüdischer Menschen im Oktober 1941 (II.3.) noch keine 21 Jahre alt. Auch bei der Erschiessung der beiden jüdischen Gruppen (II.1.a. und b.) hatte er das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet. Jedenfalls muss zu seinen Gunsten davon ausgegangen werden, da der Zeitpunkt der Tötung nicht auf den Tag genau festgestellt werden konnte. Da auch nicht mit Sicherheit geklärt werden konnte, wann der Angeklagte St. die beiden Kinder getötet hat, muss zu seinen Gunsten davon ausgegangen werden, dass dies vor dem 14.6.1942, also vor Vollendung des 21. Lebensjahres gewesen ist. Der Angeklagte St. war daher im Zeitpunkt dieser Taten "Heranwachsender" im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes. Nach §105 Abs.I.1 JGG sind auf Verfehlungen Heranwachsender, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht sind, die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§4-32 JGG anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.

Das ist bei dem Angeklagten St. der Fall. Er kam noch als Jugendlicher, nämlich mit 16 Jahren und fünf Monaten zur SS. Damit kam er unter den unheilvollen Einfluss der nationalsozialistischen Erzieher. Die intensive weltanschauliche und biologische Schulung, die nur in Klischees dachte und mit Phrasen auf den Jugendlichen St. einhämmerte, führte nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. Lec., dem sich das Gericht in vollem Umfang anschliesst, dazu, dass St. keinen Spielraum zu eigenem Denken und einer seelischen Entwicklung und Entfaltung mehr hatte. Er blieb in seiner geistig-seelischen Entwicklung stehen. Die intensive Schulung, die dem einzelnen das Denken abnahm, verhinderte eine Reifung, die zu einer eigenen Meinungsbildung hätte führen können.

Aufschlussreich hierfür ist der Abituraufsatz, den St. im Jahre 1942 kurz vor Vollendung seines 21. Lebensjahres schrieb. Er hatte als Aufsatzthema "Die Befreiung Deutschlands von den Ketten des Versailler Diktates durch Adolf Hitler" gewählt. Der ganze Aufsatz gibt das wieder, was St. in der SS über die deutsche Geschichte gelernt hatte. Er beginnt damit, dass in schicksalsschwerer Stunde der unbekannte Gefreite des Weltkrieges Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen wurde: "Dieser Mann hat es durch zähe Energie, Vaterlandsliebe und Verantwortungsbewusstsein fertig gebracht, das Deutsche Reich wieder an den Platz zu stellen, der ihm in der Geschichte gebührt." Der Aufsatz schliesst mit den Worten: "Deutschland hat sich durch sein geniales Staatsoberhaupt seinen Platz in der Welt zurückerobert. Noch steht unser Volk im Existenzkampf, über dessen Ausgang keine Zweifel herrschen. Nach seinem siegreichen Ende wird Deutschland einer Blütezeit entgegensehen, die uns über die schmachvolle Zeit voll stolzer Befriedigung hinwegsetzt. Durch den Vertrag von Versailles wurde das deutsche Volk wehrlos gemacht, aber man hat hierbei die Drachensaat für eine blutige Ernte gesät. Die Sieger hatten damals nicht an die deutsche Einheit und seinen genialen Volksführer gedacht."

Auch die schauerlichen Erlebnisse in Auschwitz hatten nicht genügt, das verlogene Bild eines herrlichen Deutschland, das der Angeklagte St. vor sich sah, zu zerstören. St. ist nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. Lec. ein Beispiel dafür, wie ein durchschnittlich begabter, durchaus normal und unauffällig veranlagter junger Mensch bereitwillig das mit sich geschehen lässt, was man als eine Umkehrung des Gewissens bezeichnen kann.

Diese Macht der Verführung bei dem Angeklagten St. wird bestätigt durch die Aussage des Zeugen Kx. und den Eindruck den der Kollege des Zeugen Kx. von dem Angeklagten St. hatte. Beide konnten sich das Verhalten des Angeklagten, der an sich seinem Erscheinungsbild nach zunächst einen guten Eindruck machte und ihnen im Kern gut erschien, nur durch den unheilvollen Einfluss, den die nationalsozialistische Schulung auf den Angeklagten St. genommen hatte, erklären. Der Gutachter hat daher nach der Überzeugung des Gerichts mit Recht bejaht, dass St. vor Vollendung seines 21. Lebensjahres in Auschwitz noch einem Jugendlichen gleichzuachten sei.

Bei seiner Beteiligung an der Tötung der Juden in einem der umgebauten Bauernhäuser (II.4.) war St. bereits 21 Jahre alt. Denn diese Vergasung erfolgte im Sommer 1942, also nach dem 21.6.1942.

Nach §32 JGG gilt für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Hierbei ist nicht nur auf die äussere Schwere der zu vergleichenden Taten und ihre Anzahl abzustellen. Vielmehr liegt der Schwerpunkt bei den Taten, deren Unrechtsgehalt nach der äusseren und inneren Tatseite die grössere Bedeutung für die Allgemeinheit und den Täter selbst, namentlich für seine Persönlichkeitsentwicklung zukommt. Dabei ist eine Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und der Vorgänge, die die einzelnen Straftaten ausmachen, unerlässlich. Die Tatwurzeln, die zu den Taten geführt haben, sind sorgfältig zu berücksichtigen (vgl. Dallinger-Lackner Komm. zum JGG 2.Aufl. Anm.9a zu §32 JGG).

Hier liegt das Schwergewicht bei den Taten, die der Angeklagte St. vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen hat. Die Beteiligung des Angeklagten St. an den Vergasungen in einem der umgebauten Bauernhäuser ist nur eine Fortsetzung der bereits vorher begangenen Taten in der gleichen Umwelt und unter den gleichen Umwelteinflüssen. Irgendein Einschnitt in seiner Entwicklung, die eine weitere geistige und seelische Reifung ermöglicht hätte, ist nicht ersichtlich. Der Angeklagte St. stand weiterhin unter dem unheilvollen Einfluss der nationalsozialistischen Weltanschauung und der Parolen, die die Vernichtung der jüdischen Menschen als notwendig hinstellten. Auch stand er weiterhin unter dem Zwang des in der SS herrschenden Prinzips des blinden Gehorsams. Die Tatwurzeln sind die gleichen für alle Taten. Die Verführung des Angeklagten St. durch die weltanschauliche und biologische Schulung wirkte auch nach Vollendung des 21. Lebensjahres nach, ohne dass St. durch irgendwelche gegensätzlichen Einflüsse sich davon hätte frei machen können.

Nach Auffassung des Schwurgerichts liegt daher der Schwerpunkt bei den Taten, die der Angeklagte St. in der Zeit seines Heranwachsens begangen hat, so dass auf seine gesamten Taten das Jugendstrafrecht gemäss §32 JGG anzuwenden ist. Der Angeklagte St. ist somit wegen der oben im einzelnen angeführten Taten nach Jugendstrafrecht zu bestrafen.

VI. Hilfsbeweisanträge

Der Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten St., die Zeugen
1. Moh.,
2. Frau Mü.,
3. Frau Mö.
darüber zu vernehmen, dass der Angeklagte St. in der letzten Mai- und ersten Juniwoche des Jahres 1942 seinen Jahresurlaub zusammen mit Heini Mü. hatte und diesen in Darmstadt verlebte, war gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, weil die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen so behandelt werden können, als wären sie wahr. Auch wenn der Angeklagte St. in diesen beiden Wochen von Auschwitz abwesend gewesen ist, wird dadurch die Aussage des Zeugen Philipp Mü. nicht erschüttert. Denn der Zeuge Philipp Mü. hat nicht behauptet, dass der Angeklagte St. in der letzten Mai- und in der ersten Juniwoche des Jahres 1942 an Vergasungen im kleinen Krematorium teilgenommen hat. Der Zeuge konnte nur ungefähre Zeitangaben machen. Die vom Zeugen genannten Zahlen der Opfer, hat das Gericht - wie schon ausgeführt - nur als unsichere Schätzungen angesehen und ihnen keinen Beweiswert zuerkannt. Der Urlaub des Angeklagten St. in der letzten Mai- und ersten Juniwoche des Jahres 1942 schliesst nicht aus, dass der Angeklagte St. in den ersten drei Maiwochen und in der zweiten Juniwoche an Vergasungen im kleinen Krematorium teilgenommen hat, durch die eine Vielzahl jüdischer Menschen getötet worden sind.

VII. Strafzumessung

Der Angeklagte musste wegen Mordes in mindestens 44 Fällen unter Anwendung von Jugendstrafrecht bestraft werden. Wegen der Schwere der Schuld, die der Angeklagte im KL Auschwitz vielfältig auf sich geladen hat, musste auf Jugendstrafe erkannt werden (§17 JGG). Gemäss §§32, 31 und 18 JGG war wegen aller Straftaten eine einheitliche Strafe auszuwerfen. Bei ihrer Bemessung waren folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:

Der Erziehungszweck der Jugendstrafe hatte in den Hintergrund zu treten, da seit Begehung der Taten mehr als zwanzig Jahre vergangen sind und der Angeklagte als ausgereifter Mann einer Erziehung im Sinne des Jugendstrafrechts nicht mehr zugänglich ist.

Bei aller Verführung durch die NS-Ideologie und der Erziehung zu blindem Gehorsam behält der gegen den Angeklagten zu erhebende Schuldvorwurf sein besonderes Gewicht. Der Angeklagte hat abgestumpft gegen ethische Wertungen die Mordtaten begangen; er hat mit starkem verbrecherischem Willen den Tod vieler unschuldiger Menschen, darunter Kinder, verschuldet; die Schwere seiner Taten ist von ausserordentlichem Gewicht.

Hiernach erschien es, selbst wenn man berücksichtigt, dass St. ohne sein Zutun KZ-Bewacher geworden, dem einen oder anderen Häftling Gutes erwiesen haben mag, und er nach dem Kriege ein ordentliches Leben geführt hat, unerlässlich, unter Betonung des Sühnegedankens auf das Höchstmass von 10 Jahren Jugendstrafe zu erkennen.

Diese Strafe erschien gerechtfertigt, auch wenn der Angeklagte wenigstens einen geringen Teil seiner Straftaten eingeräumt und damit zu erkennen gegeben hat, dass er bereit ist, für sein Verhalten in Auschwitz Strafe auf sich zu nehmen.

E. Die Straftaten des Angeklagten Dylewski

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dylewski

Der Angeklagte Dylewski ist als Sohn eines Grubensteigers am 11.5.1916 in Finkenwalde (Kreis Stettin) geboren. Er hat noch eine Schwester. Er verlebte seine Jugendzeit im Elternhaus in Lazisk bei Kattowitz/Oberschlesien. Nach dem ersten Weltkrieg optierte der Vater des Angeklagten für Polen, so dass die ganze Familie die polnische Staatsangehörigkeit erwarb. Der Angeklagte besuchte von 1922 bis 1926 die deutschen Volksschulen in Knurow und Nicolai und anschliessend ein Jahr lang ein Privatgymnasium in Pless. Von diesem wechselte er dann auf das staatliche Gymnasium in Nicolai über, an dem er 1935 die Reifeprüfung ablegte. Nach dem Abitur arbeitete er sechs Monate als Praktikant für Maschinenbau in der Danziger Werft in Danzig. Im Frühjahr 1936 begann er das Studium für Flugzeugtechnik an der Technischen Hochschule in Danzig. 1938 bestand er das Vorexamen. Nach dem 6. Semester wechselte er in die Fachrichtung Maschinenbau über.

Im August 1939 unterbrach er sein Studium und meldete sich freiwillig zur SS-Heimwehr in Danzig. Er will sich allerdings nur unter "moralischem" Druck der Heimwehr freiwillig zur Verfügung gestellt haben. Seine Meldung sei auch nur - so gibt er an - für den Polenfeldzug gedacht gewesen, da er sein Studium habe fortsetzen wollen. Während des Polenfeldzuges blieb der Angeklagte in Danzig. Nach dem Feldzug bat er um seine Entlassung aus der SS-Heimwehr. Sein Entlassungsgesuch wurde jedoch abgelehnt. Er wurde vielmehr zum 1. SS-Totenkopf-Infanterieregiment 3 versetzt, das in Dachau aufgestellt wurde. Mit dieser Einheit nahm er am Frankreichfeldzug teil.

Nach einem Urlaub im August 1940 kam er zum SS-Totenkopf-Infanterieersatzbataillon III nach Breslau. Von dort wurde er als SS-Sturmmann mit etwa 50 Mann, die von Auschwitz angefordert worden waren, am 1.9.1940 nach Auschwitz zum Wachsturmbann versetzt. Dort wurde er bei einer Wachkompanie als Ausbilder eingesetzt. Vom Frühjahr 1941 bis August 1941 hatte der Angeklagte Studienurlaub. Danach war er noch kurze Zeit als Ausbilder im Wachsturmbann tätig. Am 1.9.1941 wurde er zur Politischen Abteilung im Stammlager des KZ Auschwitz versetzt. Zunächst war er nur als Dolmetscher des Kriminalassistenten oder Kriminalsekretärs Wosnitzka eingesetzt.

Später wurde er auch mit der selbständigen Durchführung von Vernehmungen beauftragt. Er hatte insbesondere Fluchtfälle zu bearbeiten. Am 6.11.1941 wurde er zum SS-Unterscharführer und am 17.4.1944 zum SS-Oberscharführer befördert. Von Ende April oder Anfang Mai 1944 bis Ende Juli oder Anfang August 1944 hatte der Angeklagte einen zweiten Studienurlaub. Während des Urlaubs bemühte er sich über einen Studienkollegen um seine Versetzung von Auschwitz. Im August 1944 wurde er dann auch nach Hersbruck bei Nürnberg zu einer unterirdischen Flugzeugfabrik, die dem SS-WVHA unterstand, versetzt.

Nach dem Zusammenbruch geriet der Angeklagte nicht in Kriegsgefangenschaft. Es gelang ihm, in Zivilkleidung von seiner Dienststelle nach München zu entkommen. Bis zum Herbst 1945 arbeitete er bei einem Bauern in Pfaffenhausen. Von Herbst 1945 bis Ende des Jahres 1947 war er in einer Gärtnerei in Hamburg als Gärtnergehilfe tätig. Er führte damals den falschen Namen Peter Schmidt. Es gelang ihm, einen Führerschein auf den Namen Peter Schmidt zu erhalten. Auf Grund dieses Führerscheins wurde ihm dann ein Personalausweis auf den Namen Peter Schmidt ausgestellt. Der Angeklagte führte den falschen Namen bis zum Jahre 1952.

1948 nahm der Angeklagte sein Studium an der Humboldt-Universität in Ostberlin wieder auf. Er bestand das Examen als Diplom-Gewerbelehrer. Anschliessend war er als Gewerbelehrer in der SBZ und ab 1950 in Düsseldorf tätig. Seit 1952 arbeitete er als Sachverständiger für Werkstoffabnahme beim Technischen Überwachungsverein in Düsseldorf. Er verdiente in dieser Stellung 1800.- DM brutto im Monat. 1952 nahm der Angeklagte seinen richtigen Namen wieder an. Der Angeklagte hat am 5.5.1943 zum ersten Male geheiratet. Aus dieser Ehe mit der Zeugin Ruth geb. Fe. ist eine am 13.6.1944 geborene Tochter hervorgegangen. Die Ehe wurde im Jahre 1952 von dem Landgericht in Köln geschieden. Am 28.2.1953 heiratete der Angeklagte seine jetzige Ehefrau, die eine Tochter mit in die Ehe brachte. Aus der zweiten Ehe stammt ebenfalls eine Tochter.

Der Angeklagte leidet seit Jahren an Gehirnkrämpfen, bei denen Gehirndurchblutungsstörungen auftreten. Erstmalig traten diese Anfälle auf, nachdem er vier bis sechs Wochen in Auschwitz gewesen war. Wegen dieser Gehirnkrämpfe war der Angeklagte nicht frontdienstverwendungsfähig. Die Anfälle treten insbesondere nachts auf. Dabei wird der Angeklagte völlig unbeweglich.

Der Angeklagte Dylewski befand sich vom 24.4.1959 bis zum 25.5.1959 und vom 16.12.1960 bis zum 23.3.1961 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Seit dem 5.10.1964 befindet er sich erneut in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten Dylewski an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Dylewski war als Angehöriger der Politischen Abteilung an den Massentötungen der mit RSHA-Transporten angekommenen jüdischen Menschen (vgl. oben A.II.) beteiligt. Als Angehöriger der Politischen Abteilung im KL Auschwitz wurde der Angeklagte Dylewski zum Rampendienst eingeteilt. Er war wiederholt auf Grund dieser Einteilung bei der Ankunft, Einteilung und Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe. Anfangs wurde er zur Sicherung der angekommenen Transporte mit herangezogen, weil der Wachsturmbann damals diese Aufgabe allein nicht erfüllen konnte. Mit anderen Angehörigen der SS bildete er um die angekommenen Menschen auf der alten Rampe eine Postenkette, damit niemand entfliehen und kein unbefugter das Gelände der alten Rampe betreten konnte.

Später musste er nach der Ankunft von RSHA-Transporten, wenn die jüdischen Menschen aus den Eisenbahnwaggons ausgestiegen waren, zusammen mit anderen SS-Männern die Eisenbahnwaggons durchgehen und zurückgebliebene Personen aus den Wagen hinausschicken. Dies hat er auch getan. Als Angehöriger der Politischen Abteilung hat er ferner die gleichen Überwachungsfunktionen, die auch der Angeklagte Boger (vgl. oben C.II.1.) zu erfüllen hatte, ausgeübt. Er achtete darauf, dass die Häftlinge des Häftlingskommandos nicht mit den Zugängen sprachen und dass die SS-Angehörigen ihren Rampendienst ordnungsgemäss erfüllten.

Schliesslich hat der Angeklagte Dylewski mehrfach die für den Tod bestimmten jüdischen Menschen zusammen mit anderen SS-Angehörigen bis zum Eingang des Lagers Birkenau begleitet, von wo sie dann zu den Gaskammern gebracht und getötet wurden.

Der Angeklagte Dylewski hat in einer unbestimmten Anzahl von Fällen den Rampendienst auf diese Weise versehen. Mit Sicherheit hat er bei der Vernichtung von mindestens zwei RSHA-Transporten, die an zwei verschiedenen Tagen nach Auschwitz gebracht worden sind, einige der geschilderten Tätigkeiten ausgeübt.

Er wusste, dass die jüdischen Menschen nur deswegen getötet wurden, weil sie Juden waren. Es war ihm ferner bekannt, dass die gesamten Vernichtungsaktionen unter strengster Geheimhaltung durchgeführt wurden. Er selbst war - wie alle anderen Angehörigen der SS - zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet worden. Er wusste auch, dass die Opfer über ihr bevorstehendes Schicksal getäuscht und dass sie in den Gaskammern auf die oben im einzelnen geschilderte Art und Weise getötet wurden. Schliesslich war dem Angeklagten Dylewski auch klar, dass er durch seine eigene Tätigkeit im Rahmen des sog. Rampendienstes die Vernichtungsaktionen förderte.

Die Beteiligung des Angeklagten Dylewski an den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen der für den Tod ausgesuchten Häftlinge (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2, 3 und 4)

Der Angeklagte Dylewski hat als Angehöriger der Politischen Abteilung, zu der er am 1.9.1941 versetzt worden ist, auch an den sog. Bunkerentleerungen (vgl. oben C.II.3.) teilgenommen. Er war vor allem Sachbearbeiter von Fluchtsachen. Wiederholt sassen Häftlinge in den Zellen des Arrestbunkers ein, deren Fälle er zu bearbeiten hatte. Zu den Bunkerentleerungen wurde er von Grabner, dem Leiter der Politischen Abteilung, hinbestellt. Er ging zusammen mit den anderen SS-Angehörigen in den Arrestbunker hinunter, wenn dieser - wie sich Grabner auszudrücken pflegte - "ausgestaubt" werden sollte. Wenn die Zellentüren geöffnet wurden und sich die einsitzenden Häftlinge meldeten, berichtete der Angeklagte Dylewski jeweils in den von ihm bearbeiteten Fällen, was gegen den Häftling vorlag und was seine Ermittlung ergeben hatte. In Fluchtfällen bestimmte Grabner in der Regel, dass die betreffenden Häftlinge, sofern sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, zu erschiessen seien. Deutsche Staatsangehörige wurden, auch wenn sie geflohen und wieder ergriffen worden waren, nicht zum Erschiessen ausgewählt. Der Angeklagte Dylewski sorgte dafür, dass die für den Tod bestimmten Häftlinge sich zu der Gruppe der zu Erschiessenden stellten und wachte darüber, dass sie sich nicht unbemerkt zu der in das Lager zu entlassenden Gruppe schlichen. Wenn die Bunkerentleerungen beendet und die für den Tod bestimmten Häftlinge in den Waschraum geführt worden waren, ging der Angeklagte Dylewski mit den anderen SS-Angehörigen in die Blockführerstube. In einigen Fällen verliess er den Block 11 bereits vor der Exekution. In mindestens drei Fällen nahm er jedoch an den anschliessenden - oben unter C.II.3. geschilderten - Exekutionen teil. Er ging mit den anderen SS-Männern auf den Hof und nahm direkt neben dem Ausgang aus dem Block 11 zum Hof Aufstellung.

Von Grabner erhielt Dylewski jeweils auch den Auftrag, sich für einen evt. verzweifelten Aufstand der Häftlinge bereitzuhalten und, falls es zu Widerstandshandlungen der Häftlinge kommen sollte, diese sofort mit Gewalt zu brechen. Dylewski richtete dementsprechend im Arrestbunker sein Augenmerk auf die für den Tod ausgesuchten Häftlinge und beobachtete in den genannten mindestens drei Fällen den Ausgang aus dem Block 11 und das Herausbringen der Delinquenten und die Erschiessungen an der Schwarzen Wand. In den genannten drei Fällen wurden jeweils mindestens 10 Häftlinge unter Anwesenheit des Angeklagten Dylewski erschossen. Der genaue Zeitpunkt dieser Taten konnte nicht mehr festgestellt werden. Mit Sicherheit steht jedoch fest, dass sich der Angeklagte Dylewski an Bunkerentleerungen und den geschilderten Erschiessungen erst nach seiner Versetzung zur Politischen Abteilung, also nach dem 1.9.1941, beteiligt hat.

Dass der Angeklagte Dylewski auf die Entscheidungen über das Schicksal der im Bunker einsitzenden Häftlinge massgebenden Einfluss ausgeübt oder - wie Boger - die Erschiessungen von Häftlingen selbst vorgeschlagen und sich mit Grabner und Aumeier über solche Erschiessungen sehr schnell verständigt und geeinigt hätte, konnte nicht festgestellt werden. Bei einer Bunkerentleerung, deren Zeitpunkt nicht mehr festgestellt werden konnte, wurde unter anderem auch ein Häftling namens Lewandowski aus der Zelle herausgerufen. Lewandowski wollte sich zu der Gruppe, die in das Lager entlassen werden sollte, begeben. Der Angeklagte Dylewski rief ihn jedoch zurück und stellte ihn zu der Gruppe, die für den Tod bestimmt war. Dass er in diesem Falle den Häftling Lewandowski eigenmächtig für den Tod bestimmt hätte, konnte nicht festgestellt werden. Es war nicht auszuschliessen, dass der Häftling Lewandowski schon an der Zellentür durch Grabner für den Tod ausgesucht worden ist und Dylewski (nur) in Ausführung dieser Anordnung verhindert hat, dass Lewandowski mit der Gruppe der zu Entlassenden unbemerkt in das Lager entkommen konnte.

Lewandowski ist anschliessend an der Schwarzen Wand erschossen worden.

Der Angeklagte Dylewski wusste, dass die Häftlinge ohne Todesurteil und ohne Befehl des RSHA oder anderer höherer Dienststellen für den Tod ausgesucht und erschossen wurden. Ihm war auch bekannt, dass die Bunkerentleerungen und die Erschiessungen erfolgten, um Platz für weitere Arrestanten im Bunker zu schaffen. Die gesamten Umstände, unter denen die Bunkerentleerungen und die anschliessenden Erschiessungen stattfanden, erlebte er selbst in den genannten mindestens drei Fällen von Anfang bis zum Ende mit. Ihm war klar, dass die an den Bunkerentleerungen und nachfolgenden Erschiessungen beteiligten SS-Angehörigen nicht befugt waren, über Leben und Tod eines Häftlings zu entscheiden.

III. Einlassung des Angeklagten Dylewski, Beweismittel, Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen über den Lebenslauf des Angeklagten Dylewski beruhen auf seiner Einlassung und den Bekundungen der früheren Ehefrau des Angeklagten Dylewski, der Zeugin Ruth Dylewski.

2. Zu II.1.

Der Angeklagte Dylewski ist geständig, wiederholt Rampendienst versehen zu haben und dabei mit anderen SS-Angehörigen in einer Postenkette Absperr- und Sicherungsaufgaben erfüllt zu haben. Er hat ferner zugegeben, die Eisenbahnwagen nach zurückgebliebenen Personen durchsucht und solche Personen auf die Rampe hinausgeschickt zu haben. Schliesslich hat er auch eingeräumt, die für den Tod bestimmten jüdischen Menschen mit anderen SS-Angehörigen zum Lager Birkenau begleitet zu haben. Dass der Angeklagte Dylewski darüber hinaus als Angehöriger der Politischen Abteilung auf der Rampe auch die Häftlinge des Häftlingskommandos und die SS-Angehörigen die bei den Vernichtungsaktionen mitwirkten, überwacht hat, hat das Gericht auf Grund der Einlassung des Angeklagten Boger festgestellt, der - wie oben ausgeführt - angegeben hat, dass dies zu den Aufgaben der Politischen Abteilung gehört habe.

Da es unmöglich war festzustellen, wie oft der Angeklagte Dylewski "Rampendienst" gemacht hat, er selbst auch keine Zahl mehr angeben konnte, hat sich das Gericht, da es sich nicht auf unsichere Schätzungen einlassen durfte, darauf beschränkt, eine Mindestzahl festzustellen. Dylewski hat nach seiner eigenen Einlassung "wiederholt" Rampendienst gemacht. Es konnte daher mit jeden Zweifel ausschliessender Sicherheit festgestellt werden, dass er mindestens zweimal bei der Vernichtung von RSHA-Transporten mitgewirkt hat. Nach seiner eigenen Einlassung hat der Angeklagte Dylewski auch gewusst, dass die jüdischen Menschen unter strengster Geheimhaltung und nur deswegen getötet werden sollten und getötet wurden, weil sie Juden waren.

Dass der Angeklagte Dylewski auch die gesamten Umstände, unter denen die Opfer getötet wurden (Täuschung über ihr bevorstehendes Schicksal, Tötung durch Gas in den Gaskammern) gekannt hat, hat das Gericht daraus geschlossen, dass er selbst wiederholt auf der Rampe war und die Opfer bis nach Birkenau begleitet hat. Dabei hat er zwangsläufig die gesamten Umstände erfahren.

3. Zu II.2.

Der Angeklagte Dylewski ist ferner geständig, an den Bunkerentleerungen in der geschilderten Weise und an mindestens drei Erschiessungen - so wie es unter II.2. geschildert worden ist - teilgenommen zu haben.

Allerdings behauptet er, dass meist ein Exekutionsbefehl des RSHA vorgelegen hätte, wenn ein Häftling zum Erschiessen bestimmt worden sei. Wenn Grabner Erschiessungen eigenmächtig angeordnet habe, so habe er - Dylewski - das damals noch nicht gewusst. Das habe er erst im Ermittlungsverfahren gegen Grabner erfahren. Er - Dylewski - habe die Erschiessungen als grausam empfunden, habe aber nicht gewusst, wie weit das Kriegsrecht gehe. Er habe sie für rechtmässig gehalten. Diese Einlassung sieht das Schwurgericht als eine Schutzbehauptung an. Unter C.II.3. ist bereits festgestellt worden, dass die Bunkerentleerungen und die nachfolgenden Erschiessungen an der Schwarzen Wand ohne Urteil eines Gerichts und ohne Befehl höherer Dienststellen durchgeführt worden sind. Unter C.IV.4. ist im einzelnen dargelegt worden, warum das Schwurgericht zu diesen Feststellungen gekommen ist. Dort sind alle Umstände angeführt worden, aus denen sich ergibt, dass die Erschiessungen ohne Gerichtsurteile und ohne Befehle des RSHA oder anderer höherer Dienststellen durchgeführt worden sind. Dem Angeklagten Dylewski, der an den Bunkerentleerungen wiederholt teilgenommen hat, waren alle diese Umstände bekannt. Ihm musste sich daher - ebenso wie dem Angeklagten Boger - die Erkenntnis aufdrängen, dass kein Befehl vom RSHA oder einer anderen Dienststelle vorliegen konnte. Vor allem aber kannte er selbst in den Fällen, die er bearbeitet hatte und über die er während der Bunkerentleerungen kurz referieren musste, die Akten, wusste also genau, dass weder ein Exekutionsbefehl, noch ein Gerichtsurteil vorlag. Ihm musste auch klar sein und war nach der Überzeugung des Gerichts auch eindeutig klar, dass für eine Entscheidungsmöglichkeit durch Grabner oder andere SS-Angehörige kein Raum hätte sein können, wenn bereits die Entscheidung vom RSHA oder einer anderen Dienststelle vorgelegen hätte. Der gesamte Aufwand im Arrestbunker wäre dann überflüssig gewesen. Ein einzelner SS-Mann oder der Bunkerkalfaktor hätte auf Grund von Exekutionsbefehlen die betreffenden Delinquenten einzeln zum Erschiessen aus den Zellen herausholen und zur Schwarzen Wand bringen können. Das Gericht ist daher überzeugt, dass der Angeklagte Dylewski ebenso wie der Angeklagte Boger genau gewusst hat, dass weder ein Gerichtsurteil noch Exekutionsbefehle höherer Dienststellen den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen zugrunde lagen.

Sein Argument für seinen angeblichen Glauben an die Rechtmässigkeit der Erschiessungen entfällt damit.

Andererseits konnte das Gericht nicht mit Sicherheit feststellen, dass Dylewski selbst Häftlinge zum Erschiessen eigenmächtig ausgesucht oder zum Erschiessen vorgeschlagen hätte. Der Zeuge Be. hat zwar in der Hauptverhandlung gemeint, Dylewski habe einen Häftling namens Krammacz zum Erschiessen ausgesucht. Das Gericht hat aber Zweifel, ob die Erinnerung des Zeugen, der sonst einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat und sich nach Kräften bemüht hat, die Wahrheit zu sagen, insoweit zuverlässig ist. Der Zeuge konnte anders als im Falle Boger keine näheren Umstände angeben, die seine Behauptung, Dylewski habe den Krammacz ausgesucht und erschossen, stützen. Bei der Erschiessung des Krammacz war der Zeuge nicht dabei. Er konnte hierüber also keine Angaben als Augenzeuge machen. Dylewski war unter den polnischen Häftlingen und den Arrestanten nicht so bekannt wie Boger. Be. hat schliesslich bei seiner früheren Vernehmung im Ermittlungsverfahren, was ihm in der Hauptverhandlung vorgehalten worden ist, angegeben, dass Boger den Krammacz aus der Zelle herausgerufen habe. Seine Bekundung in der Hauptverhandlung steht daher insoweit in Widerspruch zu seinen früheren Angaben. Das Gericht konnte daher nicht die sichere Überzeugung gewinnen, dass Dylewski den Krammacz tatsächlich eigenmächtig ausgesucht und zum Erschiessen bestimmt hat.

Andere Zeugen, die einen besonderen Eifer des Angeklagten Dylewski bei solchen Bunkerentleerungen beobachtet hätten, sind nicht vorhanden. Insbesondere konnten auch die im Block 11 als Blockschreiber beschäftigt gewesenen Zeugen Bro., Wl. und Pi. nicht bestätigen, dass Dylewski selbständig und eigenmächtig Häftlinge zum Erschiessen bestimmt oder vorgeschlagen hätte.

Der Zeuge Pi., der Blockschreiber im Block 11 von Dezember 1942 - Mai 1944 gewesen ist, hat dies zwar im Fall des Häftlings Lewandowski angenommen, er musste aber auf näheres Befragen einräumen, dass dies nur eine Schlussfolgerung von ihm gewesen sei. Er hält es für möglich, dass Lewandowski durch Grabner schon an der Zellentür zum Erschiessen ausgesucht worden ist und dass Dylewski nur in Ausführung dieser Anordnung den Lewandowski zur Gruppe der zu Erschiessenden gestellt hat.

Der Zeuge Wl., der von Februar 1942 bis Dezember 1942 Blockschreiber auf Block 11 gewesen ist, hat zwar allgemein angegeben, dass ausser Grabner und Aumeier auch andere Angehörige der Politischen Abteilung, zum Beispiel St. und Dylewski, über das Schicksal von Häftlingen bei sog. Bunkerentleerungen entschieden hätten. Er konnte jedoch keine konkreten Fälle angeben, in denen St. und Dylewski Häftlinge selbständig und eigenmächtig zum Tode bestimmt hätte. Bei St. ist dies auch unwahrscheinlich, da er nicht in der Ermittlungsabteilung der Politischen Abteilung tätig gewesen ist. Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, dass Häftlinge im Arrestbunker eingesessen haben, deren Fälle der Angeklagte St. bearbeitet hätte. Es ist auch von keinem zuverlässigen Zeugen bestätigt worden, dass St. überhaupt an Bunkerentleerungen teilgenommen hätte. Es ist nicht auszuschliessen, dass der Zeuge Wl. hier einer Täuschung unterliegt.

Schliesslich musste der Zeuge Wl. auf Vorhalt einräumen, dass in einem Aufsatz über das Bunkerbuch, den er zusammen mit den früheren Schreibern von Block 11, Bro. und Pi. geschrieben hat und der in der Nr.1 der "Hefte von Auschwitz" veröffentlicht worden ist, geschrieben steht, dass bei Bunkerentleerungen "die entscheidende Stimme in den durch die Politische Abteilung geführten Fällen der Leiter dieser Abteilung und in allen anderen das Los der Häftlinge betreffenden Fällen der Lagerführer gehabt habe". Diese Angaben, die unter der Mitwirkung des Zeugen Wl. gemacht worden sind, stehen im Widerspruch zu seinen Aussagen in der Hauptverhandlung. Der Zeuge versuchte den Widerspruch dadurch aufzulösen, dass er behauptete, die anderen Mitglieder der Politischen Abteilung hätten nur in den - seltenen - Fällen selbständig entschieden, in denen Grabner an den Bunkerentleerungen nicht teilgenommen hätte. Einen konkreten Fall, in dem der Angeklagte Dylewski eigenmächtig und selbständig einen Arrestanten zum Erschiessen ausgesucht hätte, konnte er jedoch nicht nennen.

Das Gericht hat daher nicht die Überzeugung gewinnen können, dass Dylewski von sich aus Häftlinge für den Tod bestimmt oder von sich aus dem Grabner die Tötung von Häftlingen vorgeschlagen hätte.

Das Gericht konnte auch nicht mit Sicherheit feststellen, dass Dylewski nach Bunkerentleerungen Häftlinge eigenhändig erschossen hat.

Kein zuverlässiger Zeuge hat behauptet, den Angeklagten Dylewski nach Bunkerentleerungen als Todesschützen gesehen zu haben. Auch die genannten Blockschreiber haben dies nicht behauptet.

Der Zeuge Bro., der im Wege der Rechtshilfe durch das Kreisgericht in Kattowitz vernommen worden ist - das Protokoll über diese Vernehmung ist in der Hauptverhandlung verlesen worden - hat zwar ausgesagt, dass zu Erschiessungen an der Todeswand auch der Angeklagte Dylewski mit dem Kleinkalibergewehr gekommen sei. Aus dieser Aussage geht jedoch nicht hervor, ob Dylewski eigenhändig geschossen hat. Ferner ist nicht ersichtlich, um welche Art von Erschiessungen es sich gehandelt hat. Der Zeuge war bereits im Jahre 1941 auf Block 11 und blieb dort nur bis Februar 1942. Dann wurde er von dem Zeugen Wl. abgelöst. Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es damals schon Bunkerentleerungen mit anschliessenden Erschiessungen gegeben hat. Die Exekutionen wurden zunächst - wie der Zeuge auch geschildert hat - durch ein Exekutionskommando durchgeführt. Es handelte sich um polnische Staatsangehörige (vgl. 2. Abschnitt VII.1.), die zum Zwecke der "Liquidierung" durch das RSHA, häufig auf Grund von Polizeistandgerichtsurteilen, in das KL eingeliefert worden waren und dort erschossen wurden. Die Exekutionen wurden dann vereinfacht. Die Funktion des Exekutionskommandos übernahmen einzelne SS-Angehörige, die die polnischen Staatsangehörigen durch Genickschüsse töteten. Aus der Aussage des Zeugen Bro. geht nicht klar hervor, ob es sich bei den von ihm angeführten Exekutionen um solche Erschiessungen gehandelt hat. Es ist aber anzunehmen, da der Zeuge über Bunkerentleerungen nichts erwähnt hat. Die näheren Umstände dieser Erschiessungen konnten nicht festgestellt werden. Er war nicht zu klären, welche Dienststellen die Exekutionen angeordnet hatten. Ferner konnte nicht festgestellt werden, ob den Erschiessungen Urteile irgendwelcher Sondergerichte zugrunde lagen. Wenn auch anzunehmen ist, dass die Tötungen rechtswidrig waren, konnte nicht festgestellt werden, ob der Angeklagte Dylewski klar erkannt hat, dass die Befehle, die die Tötungen anordneten, verbrecherisch waren. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass bei solchen Exekutionen, die durch das RSHA angeordnet wurden, in der Regel den ausführenden Organen keine näheren Angaben gemacht wurden, so dass Dylewski des Glaubens sein konnte, es lägen rechtmässige Urteile den Exekutionsanordnungen zugrunde.

Die Zeugen Gl., Philipp Mü., Fa. und Fab. wollen den Angeklagten Dylewski dabei beobachtet haben, wie er Menschen an der Schwarzen Wand bzw. im Hof zwischen Block 10 und 11 erschossen hat.

Der Zeuge Gl. war Leichenträger im KL Auschwitz. In dieser Eigenschaft musste er auch bei Erschiessungen an der Schwarzen Wand die Leichen der Erschossenen zur Seite tragen. Er hat bei seiner Vernehmung behauptet, der Angeklagte Dylewski habe in mindestens drei Fällen auch eigenhändig Häftlinge erschossen. In jedem dieser drei Fälle seien acht bis zehn Personen getötet worden. Ob der Angeklagte Dylewski jeweils alle Häftlinge dieser drei Gruppen eigenhändig erschossen habe, könne er allerdings nicht sagen. Bestimmt habe er aber von jeder Gruppe mehr als einen Häftling erschossen.

Das Gericht hat jedoch Bedenken, ob die Erinnerung des Zeugen Gl. insoweit zuverlässig ist. Der Zeuge stand noch stark unter dem Eindruck des Erlebten in Auschwitz. Er hat unzählige Erschiessungen mit eigenen Augen mit ansehen müssen. Es war ihm anzumerken, dass er seelisch noch sehr stark unter dem blutigen Geschehen, das ihm bei der Schilderung während der Hauptverhandlung offensichtlich noch mit allen grässlichen Begleiterscheinungen vor Augen stand, litt. Er war während dieser Vernehmung mehrfach dem Zusammenbruch nahe. Er hat zwar Namen der an den Erschiessungen beteiligten SS-Angehörigen genannt. Soweit es sich jedoch um die Frage gehandelt hat, wer eigenhändig die Erschiessungen durchgeführt hat, hat er mehrfach betont, dass es ihm sehr schwer falle, im Moment der Vernehmung die Namen der Todesschützen zu nennen. Erst auf näheres und dringendes Befragen hat er nach und nach Namen von SS-Angehörigen, unter anderen auch den Namen des Angeklagten Dylewski, genannt. Dabei ist es möglich und verständlich, dass der Zeuge guten Glaubens irrige Angaben gemacht hat. Es erscheint durchaus möglich, dass die schrecklichen Eindrücke so stark waren, dass sie die Erinnerung an die Personen der Todesschützen verdrängt haben, zumal es damals - aus der Sicht der Zeugen gesehen - keine entscheidende Rolle gespielt hat, wer die Erschiessungen eigenhändig durchgeführt und wer nur bei der Durchführung der Aktionen auf andere Weise mitgeholfen hat. Dass es zumindest zweifelhaft erscheint, ob die Erinnerung des Zeugen insoweit zuverlässig ist, ergibt sich auch aus folgendem:

Der Zeuge hat unter anderem geschildert, dass einmal mehrere Offiziere in Uniform gebracht worden seien, von denen er angenommen habe, dass sie deutsche Offiziere seien. Sie seien nackt an der Schwarzen Wand erschossen worden. Bei der Schilderung dieser Begebenheit hat der Zeuge erklärt, er wisse nicht, ob der Angeklagte Boger persönlich die Offiziere erschossen habe. Auf erneutes Befragen betonte er, dass der Angeklagte Boger zwar bei den Erschiessungen dabeigewesen sei, er wisse aber nicht, ob er selbst geschossen habe. Erst nach der Mittagspause behauptete der Zeuge, dass er sich nun entsinne, dass Boger selbst die Offiziere erschossen habe. Eine überzeugende Begründung dafür, woher dem Zeugen nun die sichere Erinnerung daran gekommen sei, konnte er nicht angeben.

Der Zeuge Gl. hat ferner behauptet, der Angeklagte Dylewski habe einen Häftling namens Kowalczyk eigenhändig erschossen. Er erinnere sich deswegen genau an diesen Häftling, weil er eine Brille getragen habe und Schreiber auf Block 28 gewesen sei. Kowalczyk sei auch Leichenträger gewesen und habe mit ihm - Gl. - im HKB zusammengearbeitet. Kowalczyk sei an einem der drei Tage erschossen worden, an denen er Dylewski eigenhändig habe schiessen sehen. Der Zeuge Wei. dagegen, der ebenfalls als Leichenträger auf Block 28 tätig gewesen ist, hat bekundet, dass der Angeklagte Boger eines Tages den Häftling Kowalczyk auf Block 11 eingeliefert habe. Einige Tage später sei er erschossen worden. Boger habe selbst das Kleinkalibergewehr an den Kopf des Häftlings Kowalczyk gelegt und ihn erschossen.

Nach der Eintragung im Bunkerbuch Band I Seite 44 ist der Häftling Kowalczyk - Häftlingsnummer 353 - am 24.9.1943 in den Bunker eingeliefert und am 11.10.1943 erschossen worden.

Bei diesen widersprechenden Aussagen konnte das Gericht nicht die sichere Überzeugung gewinnen, dass Dylewski tatsächlich - wie es der Zeuge Gl. behauptet - den Kowalczyk eigenhändig erschossen hat. Es konnte daher auch nicht die Gewissheit erlangen, dass Dylewski an dem Tag, an dem Kowalczyk erschossen worden ist, überhaupt geschossen hat und dass die übrigen Angaben des Zeugen Gl. betreffend den Angeklagten Dylewski zuverlässig sind.

Der Zeuge Gl. will ferner den Angeklagten Boger schon im Jahre 1941 gesehen haben. Tatsächlich ist Boger aber erst am 1.12.1942 nach Auschwitz gekommen. Auch das zeigt, dass die Erinnerung des Zeugen Gl. an Personen nicht mehr zuverlässig ist, was durchaus verständlich erscheint.

Aus der Aussage des Zeugen Gl. konnten daher bezüglich des Angeklagten Dylewski über die oben getroffenen Feststellungen hinaus keine weitere Feststellungen getroffen werden.

Nach der Aussage des Zeugen Philipp Mü. soll der Angeklagte Dylewski zusammen mit dem Angeklagten St. kleine Judentransporte an der Schwarzen Wand im Hof zwischen Block 10 und 11 erschossen haben.

Auch insoweit bestehen Bedenken, ob die Angaben des Zeugen Mü. zuverlässig sind. Zunächst hat der Zeuge nicht erläutert, woher er die sichere Überzeugung gewonnen hat, dass die Opfer Juden gewesen sind. Kein sonstiger Zeuge hat bestätigt, dass Juden, die im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" nach Auschwitz transportiert worden sind, auch im Hof zwischen Block 10 und 11 erschossen worden sind. Möglicherweise hat der Zeuge Polen, die vom RSHA oder Gestapoleitstellen auf Grund von Polizeistandgerichtsurteilen zur "Liquidierung" nach Auschwitz gebracht worden sind, als Juden angesehen. Ferner hat der Zeuge Mü. den Angeklagten Dylewski damals nicht dem Namen nach gekannt. Er hat erklärt, dass der SS-Unterscharführer, der dem Angeklagten St. bei den Erschiessungen geholfen habe, Klaus geheissen habe. Klaus habe eine Monteuruniform angehabt.

Der Angeklagte Dylewski hiess zwar mit Vornamen Klaus. In Auschwitz gab es aber noch - wie oben schon ausgeführt - einen SS-Oberscharführer Clausen und einen SS-Angehörigen namens Klaus. Möglicherweise verwechselt der Zeuge Philipp Mü. den Angeklagten Dylewski mit einem dieser beiden. Dass der Oberscharführer Clausen häufig bei Erschiessungen anwesend gewesen ist, ist anzunehmen, da er einige Zeit die Funktionen eines Rapportführers inne hatte. Wie der Zeuge P. glaubhaft bekundet hat, war der Angeklagte Dylewski im HKB unter seinem Nachnamen bekannt. Man habe zwar im HKB seinen Vornamen (Klaus) gewusst, habe ihn aber, wenn man über ihn gesprochen habe, nur mit seinem Nachnamen genannt. Der Zeuge meint, wenn Häftlinge gesagt hätten, "der Klaus geht wieder in den Bunker, da müsse wieder etwas los sein", so sei anzunehmen, dass es sich dabei um Clausen gehandelt habe. Allerdings könne er nicht ausschliessen, dass damit auch irgendein anderer SS-Mann gemeint gewesen sein könnte.

Diese Auffassung des ausserordentlich zuverlässigen Zeugen P. zeigt immerhin, dass eine Verwechslungsmöglichkeit besteht. Der Zeuge Philipp Mü. will allerdings den Angeklagten Dylewski in der Hauptverhandlung als den "Klaus" wiedererkannt haben. Dem Schwurgericht erscheint dieses Wiedererkennen jedoch problematisch. Der Zeuge hat mit dem Klaus - anders als mit dem Angeklagten St. - keinen näheren Kontakt gehabt. Es erscheint nicht sicher, dass die Erinnerung des Zeugen an den SS-Mann, den er vor über zwanzig Jahren gesehen hat, ganz zuverlässig ist. Bedenken bestehen vor allem deswegen, weil - wie der Zeuge Philipp Mü. bekundet hat - die Angehörigen des Fischelkommandos dem Zeugen Mü. nach seinem Weggang vom Stammlager später erzählt haben, dass "Klaus" die Funktionen des Angeklagten St. übernommen habe, nachdem St. von Auschwitz weggekommen sei. Dylewski ist jedoch nie Nachfolger des Angeklagten St., nämlich Leiter der Aufnahmeabteilung der Politischen Abteilung gewesen. Das spricht dafür, dass die Angehörigen des Fischelkommandos, zu dem auch der Zeuge Philipp Mü. eine Zeitlang gehört hat, einen anderen
SS-Mann als den Angeklagten Dylewski als Klaus bezeichnet haben und dass der Zeuge Mü. beim angeblichen Wiedererkennen des Angeklagten Dylewski, den er möglicherweise schon in Zeitungen oder Zeitschriften abgebildet gesehen hat, einer Täuschung unterliegt.

Aus der Aussage des Zeugen Philipp Mü. konnte daher das Schwurgericht bezüglich des Angeklagten Dylewski keine sicheren Feststellungen treffen.

Im übrigen muss es auch offen bleiben, welches die Hintergründe für die Erschiessungen gewesen sind, so dass keine sicheren Feststellungen bezüglich der äusseren und inneren Tatseite getroffen werden können. Jedenfalls erscheint es nach der Aussage des Zeugen Philipp Mü. ausserordentlich unwahrscheinlich, dass Mü. Exekutionen nach sog. Bunkerentleerungen gesehen hat.

Der Zeuge Fa. hat folgenden Vorfall geschildert: Im Herbst 1943 habe er eine Exekution im Hof zwischen Block 10 und 11 vom Block 10 aus beobachtet. Eine Frau aus dem Block 10 habe ihm gesagt, dass auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 eine ganze Familie stehe. Er habe dann einen etwa 34jährigen Mann, eine junge Frau, ein kleines Kind im Alter von etwa einem Jahr, das die Frau auf dem Arm getragen habe und einen kleinen Jungen, den der Mann an der Hand gehalten habe, auf dem Hof stehen sehen. Die Personen hätten etwa eine halbe Stunde gewartet. Dann sei ein SS-Mann gekommen und habe das kleine Kind in den Kopf geschossen. Die Mutter sei daraufhin zusammengebrochen. Der SS-Mann habe hierauf die Mutter erschossen. Der 34jährige Mann habe sich dann hingekniet und sei ebenfalls erschossen worden. Zuletzt habe der SS-Mann den Jungen getötet.

Der Zeuge Fa. erklärte dann, indem er auf den Angeklagten Dylewski zeigte, dieser Angeklagte sei der Schütze gewesen. Er habe ihn damals in Auschwitz nur unter dem Namen "Klaus" gekannt. Er habe ihn oft auf Block 11 gehen sehen. Die Häftlinge hätten ihn Klaus genannt. Er erkenne jetzt das Gesicht wieder.

Der Zeuge Fa. hat einen ruhigen und glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Seine Aussage war klar, ruhig, sachlich und bestimmt. Das Schwurgericht hat keinen Zweifel, dass sich der vom Zeugen Fa. geschilderte Vorfall tatsächlich abgespielt hat. Das Gericht hatte auch den Eindruck, dass der Zeuge davon überzeugt war, in dem Angeklagten Dylewski den damaligen SS-Mann, der die Familie erschossen hat, wiederzuerkennen. Gleichwohl bleiben letzte Zweifel, ob der Angeklagte Dylewski damals tatsächlich diese Erschiessung durchgeführt hat. Die Beobachtungsmöglichkeit des Zeugen Fa. aus Block 10 war nur beschränkt. Vor den Fenstern des Blockes 10 waren Bretter angebracht worden, um Neugierigen die Sichtmöglichkeit auf den Hof zwischen Block 10 und 11 zu nehmen. Der Zeuge Fa. konnte daher allenfalls durch Ritzen oder Astlöcher auf den Hof schauen. Hinzu kommt, dass Beobachtungen aus Block 10 streng verboten waren. Im Block 10 galten verschärfte Sicherungsbestimmungen. Wer entgegen dem strengen Verbot durch die Ritzen oder Astlöcher der Bretter sah, musste bei Entdeckung mit schweren Strafen rechnen. Eine ruhige Beobachtung war daher kaum möglich. Der Beobachter musste ständig darauf bedacht sein, sich gegen solche Entdeckungen abzusichern. Geräuschen und Bewegungen im Block 10 musste er seine angespannte Aufmerksamkeit widmen, um beim Nähern von SS-Angehörigen sofort unauffällig verschwinden zu können. In einer solchen Situation erscheint es nicht sicher, dass der Zeuge Fa. bereits damals den SS-Schützen, den er nur aus einer gewissen Entfernung sehen konnte, einwandfrei identifiziert hat. Möglicherweise hat er bereits damals den SS-Mann, der vielleicht fremd für ihn war, bei der beschränkten Beobachtungsmöglichkeit guten Glaubens für einen bekannten SS-Mann, den er unter dem Namen Klaus kannte, gehalten. Diese Fehlerquelle lässt sich nach Auffassung des Gerichts nicht mit Sicherheit ausschliessen.

Es lässt sich aber auch bei dem Zeugen Fa. trotz des guten Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung gemacht hat, nicht mit letzter Sicherheit feststellen, dass er in dem Angeklagten Dylewski völlig irrtumsfrei den SS-Mann wiedererkannt hat, den er in Auschwitz unter dem Namen Klaus gekannt hat. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen beim Zeugen Mü. Bezug genommen werden. Letzte Zweifel, dass auch der Zeuge Fa. einer Täuschung aus nicht näher zu erforschenden Gründen unterliegt, lassen sich daher nicht ausräumen.

Im übrigen sei noch darauf hingewiesen, dass Bedenken bestehen, ob dieser vom Zeugen Fa. geschilderte Fall vom Eröffnungsbeschluss erfasst ist. Nach Ansicht des Schwurgerichts ist dies entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht der Fall. Im Eröffnungsbeschluss wird dem Angeklagten Dylewski unter Ziffer 4 zur Last gelegt, Häftlinge durch Erschiessen an der sog. Schwarzen Wand im Hof zwischen Block 10 und 11 getötet zu haben obwohl - wie er gewusst habe - gegen diese Häftlinge kein rechtmässiges Todesurteil vorgelegen habe.

Der vom Zeugen Fa. geschilderte Fall war bei Anklageerhebung und bei Erlass des Eröffnungsbeschlusses noch nicht bekannt. Er ist erstmalig vom Zeugen Fa. in der Hauptverhandlung geschildert worden. Den Erschiessungen unter Ziffer 4 des Eröffnungsbeschlusses (betr. den Angeklagten Dylewski) liegen daher andere geschichtliche Vorgänge zugrunde.

Das wird zudem deutlich aus der Formulierung des Punktes 4 des Eröffnungsbeschlusses, wonach es sich bei den Opfern um Häftlinge, also Lagerinsassen, und um Erschiessungen an der Schwarzen Wand, also nicht um eine Erschiessung in der Mitte des Hofes gehandelt haben soll.

Bei den vier Personen, die nach der Schilderung des Zeugen Fa. erschossen worden sind, handelt es sich aber offensichtlich um Zivilisten. Die Erschiessung selbst fand nicht an der Schwarzen Wand, sondern im Hof zwischen Block 10 und 11 statt.

Schliesslich hat der Zeuge Fab. geschildert, dass der Angeklagte Dylewski im Jahre 1943 eine jüdische Familie, bestehend aus einem Mann, einer Frau und einem Kind zur Schwarzen Wand gebracht und dort erschossen habe. Auch der Zeuge Fab. kannte den Angeklagten Dylewski in Auschwitz nicht dem Namen nach. Er will ihn aber in der Hauptverhandlung als den SS-Mann wiedererkannt haben, der damals die jüdische Familie erschossen habe.

Auch hier bestehen jedoch Bedenken, ob die Erinnerung des Zeugen Fab. zuverlässig ist und er den Angeklagten Dylewski irrtumsfrei identifiziert hat.

Der Zeuge will den Angeklagten Dylewski im Jahre 1943 auch bei Vergasungen gesehen haben, wenn er - der Zeuge - als Leichenträger Leichen zum Krematorium gebracht habe. Allerdings wisse er nicht - so hat er angegeben - was Dylewski dort gemacht habe. Der Zeuge will im Krematorium vergaste Leichen vorgefunden haben.

Das erscheint wenig glaubhaft. Im kleinen Krematorium wurden, soweit das feststellbar war, im Jahre 1943 keine Vergasungen mehr durchgeführt. Zu dieser Zeit waren bereits die vier neuen Krematorien im Betrieb. Zuvor dienten - ab Sommer 1942 - die umgebauten Bauernhäuser als Vergasungsräume. Fiel eines der vier Krematorien aus, so wurde das eine der beiden umgebauten Bauernhäuser noch weiter als Bunker V zu Vergasungen benutzt. Sollte aber der Zeuge eines der Krematorien in Birkenau gemeint haben, so erscheint seine Aussage noch weniger glaubhaft. Denn bei den strengen Geheimhaltungs- und Sicherungsvorschriften ist nicht anzunehmen, dass man die Leichenträger aus dem Stammlager die vergasten Leichen in den Vergasungsräumen hat sehen lassen. Dagegen spricht eindeutig, dass das jüdische Sonderkommando, das die Leichen aus den Vergasungsräumen zu den Verbrennungsöfen transportieren und dort verbrennen musste, streng isoliert von den anderen Lagerinsassen gehalten wurde. Auch war nach dem Bau der vier Krematorien ein besonderes SS-Kommando zur Bewachung der Krematorien eingesetzt, dass alle Unbefugten, auch SS-Angehörige aus dem Krematoriumsbereich fernhielt. Insoweit muss daher der Zeuge einer Täuschung unterliegen.

Der Zeuge Fab. hat auch den Angeklagten Broad schwer belastet. Auch den Angeklagten Broad will er in der Hauptverhandlung wiedererkannt haben. Auch insoweit hat das Schwurgericht, was hier schon vorweggenommen sei, Bedenken, ob der Zeuge Fab. den Angeklagten Broad zuverlässig wiedererkannt hat.

Der Zeuge Fab. kannte den Angeklagten Broad im KL Auschwitz ebenfalls nicht dem Namen nach. Nach seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung wurde er von dem Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Or. befragt, ob er die SS-Männer Dylewski und Broad kenne. Der Zeuge verneinte dies. Er fügte jedoch hinzu, dass junge SS-Männer aus der Politischen Abteilung ebenfalls an der Schwarzen Wand geschossen hätten. Bei der Gegenüberstellung des Zeugen mit den Angeklagten glaubte dann der Zeuge Fab., den Angeklagten Broad - ebenso wie den Angeklagten Dylewski - von damals her zu kennen bzw. wiederzuerkennen. Er erklärte dann weiter, dass Broad geschossen habe, wenn Frauen zu erschiessen gewesen seien. Er habe bei Erschiessungen am linken Flügel der angetretenen SS-Männer gestanden. Häufig habe er auch selbst geschossen. Einmal seien Frauen erschossen worden. Broad habe zunächst nicht geschossen. Dann habe er gerufen: "Warte einmal, das ist eine Junge, die werde ich erschiessen." Er sei dann vorgelaufen und habe ein Gewehr genommen und nicht nur diese, sondern weitere Frauen erschossen. Das sei im Sommer 1944 gewesen. Woher die Frauen gekommen seien, wisse er nicht. Sie seien aus dem Block 11 herausgeführt worden. Viele Frauen seien hingerichtet worden.

Auch in bezug auf den Angeklagten Broad hat das Gericht jedoch Zweifel, ob der Zeuge den Angeklagten Broad irrtumsfrei wiedererkannt hat. Der Zeuge Fab. war nach seiner Bekundung als Leichenträger eingesetzt. Er hatte bei Erschiessungen die Leichen der Erschossenen von der Schwarzen Wand zur Mauer des Blockes 10 zu tragen. Das musste sehr schnell gehen. Für genaue Beobachtungen blieb dabei nicht sehr viel Zeit. Der Zeuge hat Schreckliches erlebt. Darunter hat er ohne Zweifel schwer gelitten. Das war ihm noch in der Hauptverhandlung anzumerken. Das Schwurgericht hat Bedenken, ob die Erinnerung des Zeugen alle Einzelheiten des damaligen Geschehens, insbesondere, was die Personen der Beteiligten betrifft, noch genau wiedergibt. Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Gedächtnisses ergeben sich aus folgendem: Bei seiner Vernehmung in Prag, bei der er übrigens diesen Vorfall nicht erwähnt hat, hat der Zeuge angegeben, dass er im Herbst 1943 nach Auschwitz gekommen sei. In der Hauptverhandlung hat er bekundet, er sei bereits im Herbst 1942 nach Auschwitz gebracht worden. Dort sei er nur eine Woche im Stammlager geblieben, dann sei er nach Buna gekommen. Von dort sei er im Frühjahr 1943 in das Stammlager zurückgekommen und dem Leichenträgerkommando zugeteilt worden. Bei den Erschiessungen will der Zeuge auch den Rapportführer Palitzsch gesehen haben. Palitzsch hat zwar in der ersten Zeit (1941 und 1942) zahlreiche Erschiessungen eigenhändig durchgeführt. Im Frühjahr 1943 kam er jedoch zusammen mit dem Angeklagten Hofmann als Rapportführer in das Lager Birkenau. Es ist daher unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich, dass Palitzsch danach noch an Erschiessungen an der Schwarzen Wand im Stammlager teilgenommen hat.

Der Zeuge Fab. glaubte auch, den Angeklagten Mulka bei Erschiessungen an der Schwarzen Wand gesehen zu haben. Insoweit dürfte sich aber der Zeuge mit grosser Wahrscheinlichkeit irren. Denn der Angeklagte Mulka kam bereits vor Beginn des Frühjahrs 1943, nämlich am 9.3.1943, von Auschwitz weg. Ferner hat der Zeuge Fab. bei der Gegenüberstellung mit den Angeklagten den Angeklagten Boger zunächst als den Angeklagten Schlage bezeichnet, hat sich dann allerdings verbessert. Auch das zeigt, dass das Erinnerungsbild des Zeugen nach zwanzig Jahren nicht mehr so zuverlässig ist, und dass er die Physiognomien der an den Erschiessungen Beteiligten nicht mehr ganz sicher im Gedächtnis hat, ganz abgesehen davon, dass sich die Angeklagten im Laufe der zwanzig Jahre verändert haben. Denn den Angeklagten Boger will er auch dem Namen nach in Auschwitz gekannt und oft bei Erschiessungen gesehen haben. Weitere Bedenken, ob der Zeuge Fab. tatsächlich den Angeklagten Broad bei Erschiessungen von Frauen im Hof zwischen Block 10 und 11 gesehen hat, bestehen deswegen, weil der Angeklagte Broad von Frühjahr 1943 bis mindestens zum 1.8.1944, wahrscheinlich aber noch länger, als Angehöriger der Politischen Abteilung im Zigeunerlager in Birkenau tätig gewesen ist. Er hatte dort sein Dienstzimmer in einer Baracke vor dem Zigeunerlager und hielt sich tagsüber in Birkenau auf. Es ist daher unwahrscheinlich, dass er zu Erschiessungen im Stammlager herangezogen worden ist.

Ferner hat der Zeuge Sm. bekundet, dass ab Februar 1944 keine Erschiessungen mehr im Hof zwischen Block 10 und 11 stattgefunden hätten. Von diesem Zeitpunkt an seien die Erschiessungen nur noch an der Sauna in Birkenau durchgeführt worden. Die Schwarze Wand wurde nach der glaubhaften Bekundung des Zeugen Pi. abgerissen, nachdem Liebehenschel Kommandant von Auschwitz geworden war (November 1943). Nach dem Wechsel der Kommandanten hörten nach der Bekundung des Zeugen Pi. die Erschiessungen auf Block 11 auf. Diese Angaben decken sich in etwa mit den Bekundungen des Zeugen Sm.

Somit erscheinen die Angaben des Zeugen Fab., dass noch im Sommer 1944 Frauen auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 erschossen worden seien, unrichtig. Der Zeuge irrt sich zumindest in der Zeit. Wenn diese Erschiessungen aber früher waren, erscheint es unwahrscheinlich, dass Broad an ihnen teilgenommen hat, weil er im Lager Birkenau dienstlich tätig war.

Im übrigen hat kein anderer Zeuge von diesen vom Zeugen Fab. geschilderten Erschiessungen der Frauen und von dem auffälligen Benehmen des Angeklagten Broad dabei berichtet. Der Zeuge Pi., der von Dezember 1942 bis Mai 1944 Blockschreiber im Block 11 gewesen ist, hätte eigentlich davon etwas wissen müssen, wenn sie in dieser Zeit stattgefunden hätten. Dass sie nicht mehr nach dem Weggang Pi's stattgefunden haben können, ergibt sich aus den Aussagen der Zeugen Sm. und Pi.

Aus all diesen Gründen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Zeuge Fab., der an sich einen guten Eindruck auf das Gericht gemacht hat, einem Irrtum zum Opfer gefallen ist und möglicherweise Erschiessungen mit den Angeklagten Dylewski und Broad in Verbindung bringt, die zu anderen Zeiten und unter Beteiligung anderer SS-Angehöriger stattgefunden haben. Das Schwurgericht konnte daher auf Grund der Aussage des Zeugen Fab. keine für die Angeklagten Dylewski und Broad nachteiligen Feststellungen treffen.

Zusammenfassend lassen sich somit aus den Aussagen der Zeugen Gl., Philipp Mü., Fa. und Fab. keine sicheren Feststellungen bezüglich des Angeklagten Dylewski treffen.

Da es nicht möglich war, festzustellen, wie oft der Angeklagte Dylewski an Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen teilgenommen hat, weil zuverlässige Zahlenangaben fehlen, hat sich das Schwurgericht darauf beschränkt, Mindestzahlen festzustellen. Nach der eigenen Einlassung des Angeklagten Dylewski hat er in mindestens drei Fällen, also an drei verschiedenen Tagen, sowohl an Bunkerentleerungen als auch an den anschliessenden Erschiessungen in der oben geschilderten Art und Weise teilgenommen, so dass dies mit Sicherheit den tatsächlichen Feststellungen zugrunde gelegt werden konnte. Die Feststellungen, dass an diesen drei verschiedenen Tagen je mindestens zehn Häftlinge erschossen worden sind, beruht ebenfalls auf der Einlassung des Angeklagten Dylewski. Nach der Überzeugung des Gerichts ist das die Mindestzahl der an diesen drei Tagen jeweils getöteten Häftlinge.

IV. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1.

Der Angeklagte Dylewski hat in den festgestellten mindestens zwei Fällen die Mordtaten der Haupttäter (vgl. oben A.V.1.) dadurch gefördert, dass er nach der Ankunft der für die Vernichtung bestimmten RSHA-Transporte auf der Rampe die unter II.1. geschilderten Tätigkeiten ausgeübt hat. Er war ein Glied in dem gesamten Vernichtungsapparat und hat im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen zu dem reibungslosen Ablauf der Vernichtungsaktionen beigetragen und zum Tode von mindestens je 750 Menschen einen kausalen Tatbeitrag geleistet. Da er auf Befehl seiner Vorgesetzten Rampendienst versehen hat, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen des §47 MStGB zu beurteilen. Dylewski hat klar erkannt, dass die gegebenen Tötungsbefehle verbrecherisch waren und die Massentötung der unschuldigen jüdischen Menschen ein allgemeines Verbrechen darstellte. Das hat er selbst bei seiner Einlassung eingeräumt. Im übrigen gilt auch bei dem Angeklagten Dylewski das gleiche, was oben bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka unter A.V.2. ausgeführt worden ist.

Der Angeklagte Dylewski ist daher für seine befohlene Mitwirkung bei der Massentötung jüdischer Menschen strafrechtlich verantwortlich. Es konnte jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass er die Tötung der jüdischen Menschen als eigene Taten gewollt hat. Ein besonderer Eifer des Angeklagten Dylewski beim Rampendienst konnte nicht festgestellt werden. Er hat nur das getan, was ihm befohlen war. Auch ein eigenes persönliches Interesse des Angeklagten an der Massentötung der Juden war nicht ersichtlich. Sein sonstiges Verhalten im KL Auschwitz lässt ebenfalls keine Schlüsse auf einen Täterwillen zu. Das Schwurgericht konnte daher nur feststellen, dass er die Mordtaten der Haupttäter befehlsgemäss fördern und unterstützen wollte. Seine Tatbeiträge konnten daher nur als Beihilfehandlungen gewertet werden.

Der Angeklagte Dylewski, für dessen Mitwirkung an der Massentötung jüdischer Menschen keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind, hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat - wie unter II.1. festgestellt worden ist - gewusst, dass er die Mordtaten der Haupttäter an den unschuldigen jüdischen Menschen durch seine Tätigkeiten im Rahmen des von ihm ausgeübten Rampendienstes förderte und somit einen kausalen Tatbeitrag leistete. Das wollte er auch. Ferner waren ihm die gesamten Tatumstände bekannt, die die Beweggründe für die Tötungen der Juden als niedrig und die Art der Ausführung als heimtückisch und grausam kennzeichneten.

Dass er auch das Bewusstsein gehabt hat, Unrecht zu tun, ergibt sich schon aus dem vorher Gesagten, dass er nämlich die Befehle der Haupttäter als verbrecherisch erkannt und auch gewusst hat, dass die Tötung unschuldiger Menschen ein allgemeines Verbrechen ist.

Irgendwelche Umstände, aus denen er hätte entnehmen können, dass seine Mitwirkung gerechtfertigt sei, lagen nicht vor. Er hat auch nicht irrig das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes angenommen. Das behauptet er selbst nicht. Schliesslich hat er auch nicht irrig angenommen, dass die verbrecherischen Befehle für ihn bindend gewesen seien. Hierzu kann auf die Aufführung unter A.V.2. Bezug genommen werden.

Dem Angeklagten Dylewski ist die Mitwirkung bei der Massentötung der RSHA-Juden nicht durch eine wirkliche oder vermeintliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben abgenötigt worden. Er beruft sich selbst nicht darauf, dass sein Wille gebeugt worden sei. Er ist gar nicht auf die Idee gekommen, sich den verbrecherischen Befehlen seiner Vorgesetzten zu entziehen oder ihre Ausführung abzulehnen. Wie die anderen SS-Angehörigen hat er sein Gewissen zum Schweigen gebracht und getreu dem in der SS herrschenden Prinzip des blinden Gehorsams alles ausgeführt, was ihm befohlen worden ist im Vertrauen darauf, dass er wegen seiner Mitwirkung an den Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Er hat auch nie einen Versuch gemacht, sich vom Rampendienst zu "drücken" oder davon befreit zu werden.

Sonstige Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich.

Er war daher wegen seiner Mitwirkung an der Vernichtung von mindestens zwei RSHA-Transporten wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in zwei Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) begangen jeweils in gleichartiger Tateinheit an je mindestens 750 Menschen (§73 StGB) zu bestrafen.

2. Zu II.2.

Wie schon unter C.V.3. ausgeführt worden ist, war die Tötung der Häftlinge nach sog. Bunkerentleerungen Mord. Der Angeklagte Dylewski hat diese Mordtaten in den festgestellten Fällen gefördert und hierzu einen kausalen Beitrag geleistet, indem er über die Fälle der von ihm eingelieferten Häftlinge referiert hat in dem Bewusstsein, dass viele dieser Häftlinge von Grabner zum Tode bestimmt werden würden und indem er ferner die von Grabner zum Erschiessen ausgewählten Häftlinge zur Gruppe der Todeskandidaten gestellt und darüber gewacht hat, dass sie sich nicht mehr durch irgendwelche Manipulationen ihrem von Grabner bestimmten Schicksal entziehen konnten. Seine Anwesenheit im Arrestbunker diente ebenso wie die aller anderen SS-Angehörigen dazu, den Häftlingen klar zu machen, dass ein verzweifelter Aufstand sinnlos sei. Die ihm übertragenen Abschirm- und Sicherungsaufgaben dienten dem reibungslosen Ablauf der Erschiessungsaktionen. Durch die Ausübung dieses Abschirm- und Sicherungsdienstes leistete er somit ebenfalls einen kausalen Beitrag zu den Mordtaten. All dies war dem Angeklagten Dylewski auch bewusst.

Der Angeklagte Dylewski hat an den Bunkerentleerungen und nachfolgenden Erschiessungen auf Befehl Grabners, seines unmittelbaren Vorgesetzten, teilgenommen. Die Frage, ob er sich strafbar gemacht hat oder ob nur Grabner als sein Vorgesetzter für diese Taten strafrechtlich verantwortlich ist, muss daher ebenfalls im Rahmen des §47 MStGB geprüft werden.

Der Angeklagte Dylewski hat nach der Überzeugung des Gerichts klar erkannt, dass die ihm von Grabner gegebenen Befehle, an diesen Bunkerentleerungen und den anschliessenden eigenmächtig angeordneten Erschiessungen in der geschilderten Art und Weise teilzunehmen, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Oben ist im einzelnen dargelegt worden, dass der Angeklagte Dylewski wusste, dass weder Gerichtsurteile noch Befehle höherer Dienststellen den Erschiessungen zugrunde lagen und dass seine Behauptung, er habe dies nicht gewusst, nur eine Schutzbehauptung ist. Wie alle anderen SS-Angehörigen wusste er, dass weder Grabner noch Aumeier befugt waren, selbständig und eigenmächtig die Tötung von Häftlingen zu befehlen. Denn er war wie alle anderen SS-Angehörigen im KL Auschwitz darüber belehrt worden, dass niemand im Lager solche Tötungen eigenmächtig anordnen durfte. Auch die gesamten Begleitumstände, unter denen diese Tötungen vollzogen wurden, nämlich das Verfahren im Arrestbunker bei der Auswahl der zu erschiessenden Häftlinge, die Art und Weise, wie die Häftlinge getötet wurden und schliesslich die Art, wie diese Taten dann verschleiert wurden, mussten ihm die Erkenntnis aufdrängen, dass die Erschiessungen verbrecherisch waren. Ihn trifft daher für seine Mitwirkung die Strafe des Teilnehmers.

Auch hier konnte nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte Dylewski die Tötung der Häftlinge zu seiner eigenen Sache gemacht, somit mit Täterwillen gehandelt hat. Anders als beim Angeklagten Boger konnte nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte Dylewski mit besonderem Eifer an dem Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen teilgenommen hat oder von sich aus Häftlinge zum Erschiessen vorgeschlagen oder ausgesucht hätte. Auch hat er nicht mit dem gleichen Eifer wie Boger im Lager Häftlinge wegen irgendwelcher Vergehen aufgespürt und in den Bunker eingeliefert. Er hat die Häftlinge nicht - wie der Angeklagte Boger - im Lager in Angst und Schrecken versetzt. Der Zeuge P., der durch sein ausgezeichnetes Gedächtnis alle Prozessbeteiligten in Erstaunen versetzt hat, weil er noch von vielen Häftlingen die Häftlingsnummer kannte, und vollen Glauben verdient, hat Dylewski relativ gut beurteilt. Er hat bekundet, dass Dylewski kein Schläger gewesen sei. Der Zeuge Dr. Hun. hat von einem Gespräch berichtet, das zwischen dem Generalbevollmächtigten der Kruppwerke Beitz und dem jetzigen polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz nach einer Verhandlung über andere Fragen über den Angeklagten Dylewski geführt worden ist. Der polnische Ministerpräsident, der im KL Auschwitz als Häftling gewesen ist, hat bei diesem Gespräch nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Dr. Hun. in bezug auf den Angeklagten Dylewski geäussert, dass der Mann (Dylewski) ihn hätte töten können, wenn er es gewollt hätte. Das habe er jedoch nicht getan. Wenn er - Cyrankiewicz - jetzt noch lebe, so habe er das ihm (Dylewski) zu verdanken.

Das Gericht hat daraus in Verbindung mit der Einlassung des Angeklagten Dylewski den Schluss gezogen, dass der Angeklagte Dylewski in Auschwitz den jetzigen polnischen Ministerpräsidenten als Häftling vernommen, aber dafür gesorgt hat, dass er nicht erschossen worden ist. Die Staatsanwaltschaft hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, Dylewski habe demnach doch eine Entscheidungsbefugnis über Leben und Tod eines Häftlings gehabt. Dieser Auffassung hat sich das Gericht jedoch nicht anschliessen können. Es ist durchaus denkbar, dass Dylewski nur die Möglichkeit gehabt hat, durch eine gute Beurteilung oder durch eine relativ harmlose Darstellung des Ermittlungsergebnisses einen Häftling vor dem Bunker und damit vor einer evtl. späteren Erschiessung zu retten. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass Dylewski überhaupt keine Häftlinge in den Bunker hätte einliefern brauchen oder dass er in jedem Fall hätte damit rechnen müssen, dass ein in den Bunker eingelieferter Häftling getötet werden würde. Auch steht damit keineswegs fest, dass Dylewski tatsächlich bei Bunkerentleerungen eigenmächtig und selbständig Häftlinge für den Tod bestimmt hätte. Im übrigen konnte der Angeklagte Dylewski als Angehöriger der Politischen Abteilung in Fluchtfällen, wenn nichtdeutsche Häftlinge nach gelungener Flucht wieder ergriffen worden waren, die betreffenden Häftlinge kaum vor dem Bunker bewahren, da insoweit der Tatbestand klar lag.

Auch der Zeuge Pi. hat bekundet, dass er dem Angeklagten Dylewski das Leben verdanke. Der Zeuge hat als Blockschreiber im Block 11 andere Häftlinge vor einem Spitzel, dem bereits erwähnten Lewandowski, gewarnt. Unter den Häftlingen, die er gewarnt hatte, befand sich ebenfalls ein Spitzel, der dem Angeklagten Dylewski von dieser Warnung berichtete. Dylewski fragte daraufhin am nächsten Tag den Zeugen Pi., was er für Dummheiten im Lager erzähle. Im übrigen liess er die Sache auf sich beruhen. Nach den damaligen Gepflogenheiten in der Politischen Abteilung - so meinte der Zeuge Pi. - hätte er wegen dieser Warnung sein Leben verwirkt gehabt. Wenn ihm nichts passiert sei, so verdanke er das dem Angeklagten Dylewski.

Auch der Zeuge Ber. (früher Berx.), der durch das Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Melbourne am 2.4.1962 vernommen worden ist, hat bekundet, Dylewski habe sich, als er - Ber. - von ihm - Dylewski - wegen eines Fluchtversuches als Häftling vernommen worden sei, korrekt verhalten. Er - Ber. - habe nie von anderen Häftlingen gehört, dass Dylewski sich bei Vernehmungen unmenschlich verhalten habe. Auch sonst habe er nichts von Misshandlungen oder Tötungen durch Dylewski gehört. Das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen ist in der Hauptverhandlung verlesen worden, ebenso das Protokoll über seine Vereidigung durch das deutsche Konsulat vom 25.1.1965. Das Gericht hat keine Veranlassung, den Angaben dieses Zeugen zu misstrauen, zumal er den Angeklagten Boger belastet hat. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum der Zeuge, der in Auschwitz als Häftling ein schweres Leben gehabt hat, den Angeklagten Dylewski wahrheitswidrig hätte entlasten sollen.

Schliesslich hat der Zeuge Bur. erklärt, dass Dylewski im Gegensatz zu Boger bei Vernehmung humaner gewesen sei. Er habe die Menschen bei Vernehmungen in der Politischen Abteilung nicht gefoltert oder getötet. Allerdings hat der Zeuge hinzugefügt, Dylewski habe die Menschen "mit dem Bleistift getötet", er habe "Todesurteile mit dem Bleistift so hingeschrieben". Dabei handelte es sich aber offensichtlich um eine Schlussfolgerung des Zeugen. Dylewski hat ohne Zweifel viele Häftlinge nach durchgeführten Ermittlungen und Vernehmungen in den Block 11 eingewiesen. Damit bestand - wie allen Lagerinsassen bekannt war - die Gefahr, dass sie bei einer Bunkerentleerung getötet werden könnten. Insofern kam die Einweisung in den Arrestbunker aus der Sicht der Häftlinge fast einem Todesurteil gleich. Der Zeuge hat seine Behauptung, dass Dylewski die Menschen mit dem Bleistift getötet habe, auch nur auf die Tatsache gestützt, dass Häftlinge aus dem Vernehmungszimmer Dylewskis herausgekommen seien und gesagt hätten, sie seien zum Tode verurteilt, sie kämen auf Block 11. Daraus ist ersichtlich, dass die Häftlinge die Einweisung in den Block 11 einem Todesurteil gleichgeachtet haben - so auch der Zeuge Bur. - ohne dass jedoch feststeht, dass Dylewski tatsächlich auch selbst den Tod dieser Häftlinge als eigene Tat gewollt hat. Denn es war nicht möglich, aufzuklären, ob es immer in der Macht des Angeklagten Dylewski stand, die Häftlinge vor dem Arrestbunker zu bewahren, wenn seine Vernehmungen und Ermittlungen ein bestimmtes aktenkundiges Ergebnis gehabt hatten. Es steht auch nicht fest, ob der Angeklagte Dylewski bei Einweisungen in den Arrestbunker stets mit der Tötung des von ihm eingewiesenen Häftlings gerechnet und dies von vornherein billigend in Kauf genommen hat. Immerhin sind bei weitem nicht alle in den Arrestbunker eingewiesenen Häftlinge getötet worden.

Schliesslich sprechen auch weitere Umstände dagegen, dass Dylewski die Erschiessungen nach Bunkerentleerungen zu seiner eigenen Sache gemacht und sie als eigene Taten gewollt hat. So hat die Zeugin Ruth Dylewski, die frühere geschiedene Ehefrau des Angeklagten Dylewski, die auf das Gericht einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat, bekundet, dass sich ihr früherer Ehemann im KL Auschwitz nicht wohl gefühlt habe. Er habe nach seiner Versetzung nach Auschwitz einen deprimierten Brief geschrieben. Er sei ziemlich verbittert gewesen. Von Anfang an habe er sich bemüht, von Auschwitz wegzukommen. Schliesslich sei ihm das im Jahre 1944 gelungen. In seinen Briefen habe er immer wieder geäussert, dass für ihn ein Bleiben in Auschwitz unerträglich sei. Infolge der Erlebnisse in Auschwitz habe er ein Nervenleiden bekommen, das zu nächtlichen Anfällen geführt habe. Vorher sei er gesund gewesen.

Die Angaben der Zeugin werden in gewisser Hinsicht bestätigt durch ein Schreiben, das der Angeklagte Dylewski am 3.9.1941 an die "Kameradschaft Ferdinand Schulz" und "Akaflieg in Danzig" gerichtet hat. Das Original dieses Schreibens lag dem Gericht nicht vor. Das Schreiben ist jedoch in dem 5. Rundbrief der Kameradschaft Ferdinand Schulz aus dem September 1941 wörtlich zitiert. Der Rundbrief wurde insoweit in der Hauptverhandlung verlesen.

Das Gericht hat daher keinen Zweifel, dass der Angeklagte Dylewski damals tatsächlich diesen Brief geschrieben hat. In dem Brief beklagt sich der Angeklagte Dylewski darüber, dass er nach wie vor an Auschwitz "gekettet" sei und keine Anzeichen darauf deuteten, dass er das Kriegsende an einem anderen Ort erleben solle. Wörtlich heisst es dann: "Eine einzige Chance des Wegkommens, die uns mal geboten wurde, konnte ich nicht ausnutzen, weil ich mit einer Nervengeschichte ans Bett gebunden war. Im Augenblick geniesse ich den einzigen Vorteil dieser Erkrankung, einen zweiwöchigen Erholungsurlaub."

Diese Ausführungen bestätigen die Angaben der Zeugin Ruth Dylewski, dass der Angeklagte Dylewski tatsächlich von Auschwitz von Anfang an wegwollte, und dass die Verhältnisse ihn offensichtlich nervlich stark belastet haben.

All dies spricht nicht für einen Täterwillen des Angeklagten Dylewski bei den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen.

Allerdings haben einige Zeugen von Tötungshandlungen des Angeklagten Dylewski berichtet, die er angeblich im KL Auschwitz begangen haben soll. Diese Taten sind weder in der Anklage noch im Eröffnungsbeschluss aufgeführt. Gleichwohl musste sich das Gericht mit diesen Zeugenaussagen auseinandersetzen. Denn wären die von den Zeugen geschilderten Tatsachen erwiesen, so wären damit sehr starke Beweisanzeichen dafür gegeben, dass der Angeklagte Dylewski sowohl die Tötung der "RSHA-Juden" als auch die Tötung der im Arrestbunker ausgesuchten Häftlinge als eigene Taten gewollt hat. In keinem der von den nachfolgend aufgeführten Zeugen geschilderten Fällen konnte jedoch das Gericht die sichere Überzeugung gewinnen, dass der Angeklagte Dylewski tatsächlich der Täter gewesen ist.

Der Zeuge Doe. hat von einem Fall berichtet, der sich Ende 1943 oder Anfang 1944 abgespielt hat. Der Zeuge musste sonntags mit anderen Häftlingen Baumaterial
vom Bahnhof auf einem schmalen Weg, der von Steinblöcken umsäumt war, in das Lager Birkenau tragen. Hinter dem Zeugen ging ein Pole namens Galezowski. Unterwegs gab es eine Stockung. Die SS-Männer, die die Aufsicht führten, riefen den Häftlingen zu, sie sollten schneller gehen. Ein hinter Galezowski gehender Häftling stiess daraufhin den Galezowski von hinten an und rief, er möge schneller gehen. Galezowski, der krank und abgezehrt war, konnte jedoch seine Schritte nicht beschleunigen. Er drehte sich zu dem Häftling um und sagte ihm auf polnisch, er könne nicht schneller gehen. Hierauf tauchte ein SS-Mann, der sich hinter einem Steinblock versteckt hatte, auf und rief Galezowski zu sich. Er schlug ihn mit der Hand nieder. Hierauf befahl er Galezowski, wieder aufzustehen. Als dieser dem Befehl nachkam, schlug ihn der SS-Mann erneut und dann immer wieder, bis Galezowski nach hinten auf einen der Steinblöcke fiel. Galezowski wurde am nächsten Tag in den HKB verbracht und starb einige Tage später, wie der Zeuge Doe. von Kameraden erfahren hat.

Der Zeuge Doe. kannte den SS-Mann, der den Galezowski niedergeschlagen hat, nicht. Er meinte aber, es sei Dylewski gewesen. Denn der Blockälteste habe ihm gesagt, der Schläger sei Dylewski von der Politischen Abteilung gewesen.

Das Gericht konnte jedoch nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Blockälteste den SS-Mann, der den Galezowski niedergeschlagen hat, richtig identifiziert hat. Denn es ist nicht sicher, dass er den Angeklagten Dylewski damals nicht mit einem anderen SS-Mann verwechselt hat. Dem Gericht fehlt jede Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, dass der Blockälteste, dessen Namen der Zeuge Doe. nicht mehr genau in Erinnerung hatte - er meinte, er habe Kaufhold geheissen, war sich aber nicht mehr ganz sicher - den Angeklagten Dylewski genau gekannt hat. Es spricht immerhin einiges dagegen, dass der Angeklagte Dylewski der Schläger gewesen ist. Oben ist bereits angeführt worden, dass der Zeuge P. bekundet hat, dass Dylewski kein Schläger gewesen sei. Ebenso haben die Zeugen Ber. und Bur. ausgesagt, dass Dylewski bei Vernehmungen die Häftlinge nicht gefoltert und geschlagen habe. Ferner hat sich der Angeklagte Dylewski dahin eingelassen, dass er tagsüber nicht in Birkenau gewesen sei. Sonntags sei er fast nie im Lagerbereich geblieben, sondern mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Seine Einlassung erscheint insoweit nicht unbedingt unglaubhaft. Denn tatsächlich war er als Angehöriger der Politischen Abteilung nur im Stammlager beschäftigt. Kein anderer Zeuge hat bestätigt, dass Dylewski auch in Birkenau dienstlich zu tun gehabt hätte. Dort hat vielmehr der Angeklagte Broad im Zigeunerlager (B.II.e.) als Angehöriger der Politischen Abteilung deren Aufgaben wahrgenommen. Er hatte vor diesem Lagerabschnitt sein Dienstzimmer. Auch der Angeklagte Boger tauchte öfters in Birkenau auf und führte dort Ermittlungen durch. Von dem Angeklagten Dylewski ist jedoch im Zusammenhang mit dem Lager in Birkenau sonst nie die Rede gewesen.

Die frühere Ehefrau des Angeklagten Dylewski hat schliesslich bestätigt, dass sie nach der Eheschliessung mit dem Angeklagten Dylewski am 5.5.1943 nach Nikolai/Oberschlesien (in der Nähe von Auschwitz) gezogen sei und dort bis etwa Mai 1944 gewohnt habe. Ihr früherer Ehemann sei fast jedes Wochenende nach Hause gekommen. Er sei dann stets von Samstag bis Montag früh geblieben.

Die Zeugin erschien - wie oben bereits ausgeführt - glaubwürdig. Das Gericht hatte nicht den Eindruck, dass die Zeugin, die ihre Aussage mit dem Eid bekräftigt hat, ihren früheren Ehemann wahrheitswidrig entlasten wollte.

Bei Abwägung all dieser Gesichtspunkte konnte das Gericht aus der Aussage des Zeugen Doe., dem das Gericht den geschilderten Vorfall geglaubt hat, weil der Zeuge selbst einen ausgezeichneten persönlichen Eindruck hinterlassen und seine Aussage knapp, klar und präzise gemacht hat und genau zwischen dem unterschied, was er selbst erlebt und gesehen und was er von anderen erfahren hat, nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Angeklagte Dylewski derjenige gewesen ist, der den Häftling Galezowski niedergeschlagen und seinen Tod verursacht hat.

Der Zeuge Krx. hat den Angeklagten Dylewski ebenfalls schwer belastet. Der Zeuge kam Anfang Juni 1941 nach Auschwitz und kam sofort in die Strafkompanie, die damals im Block 11 untergebracht war. Er blieb drei Monate, also bis Ende August 1941 in der SK.

Der Zeuge Krx. behauptete bei seiner Vernehmung, dass der Angeklagte Dylewski während dieser Zeit eines Abends mit zwei weiteren SS-Männern in ihren Saal hineingekommen sei, um einen Häftling abzuholen. Man habe vergessen, beim Eintritt der SS-Männer Achtung zu rufen. Deswegen habe Dylewski "Sportmachen" angeordnet. Der "Sport" sei von einem Funktionshäftling durchgeführt worden und habe eine halbe Stunde gedauert. Danach hätten sich alle Häftlinge auf den Boden legen müssen und seien mit zehn Eimern Wasser übergossen worden. Dann sei ein Fenster geöffnet worden. Ein Häftling sei daraufhin zum Fenster hinaus auf den Drahtzaun gesprungen, der mit elektrischem Strom geladen gewesen sei. Der Häftling sei sofort tot gewesen. Während der Nacht seien dann noch vier Häftlinge an den Folgen des "Sportmachens" gestorben. Dylewski habe nach dem "Sport" den einen Häftling weggeführt. Der Zeuge Krx. hat weiter behauptet, der Angeklagte Dylewski habe sich während dieser Zeit (zwischen Juni und August 1941) zusammen mit anderen SS-Führern und Unterführern, nämlich dem zweiten Schutzhaftlagerführer Schwarz, dem Rapportführer Palitzsch, dem SS-Führer Fritsch und anderen SS-Angehörigen an einem "Massaker" in der Kiesgrube beteiligt. Die SS-Männer hätten die Häftlinge mit Schaufelstielen geschlagen, erschossen und gejagt. Dann habe man vier Rollwagen voll Leichen in das Lager zurückgefahren. Auf einem Rollwagen, den er selbst habe schieben helfen, hätten zwanzig Leichen gelegen. Der Angeklagte Dylewski habe auch einen Stiel in der Hand gehabt und habe damit auf einen Häftling eingeschlagen.

Die Aussage des Zeugen Krx. scheint dem Gericht jedoch aus einer Reihe von Gründen nicht zuverlässig genug, um die sichere Überzeugung gewinnen zu können, dass der Angeklagte Dylewski tatsächlich an den geschilderten Vorfällen beteiligt gewesen ist, auch wenn man davon ausgeht, dass sich diese Vorfälle tatsächlich so abgespielt haben, wie es der Zeuge Krx. geschildert hat.

Der Zeuge selbst hat angegeben, dass er jedesmal zwei bis drei Wochen krank werde, wenn er an Auschwitz denke. Er habe deswegen immer versucht, die Erinnerung an Auschwitz zu verdrängen. Schon aus diesem Grunde besteht die Gefahr, dass der Zeuge Krx., der ohne Zweifel Schweres im KL Auschwitz erlebt hat und der noch immer darunter leidet, in seiner Erinnerung unbewusst Erlebnisse in Verbindung zu Angeklagten bringt, die daran gar nicht beteiligt waren. Ferner ist noch unklar, woher der Zeuge bereits damals, als er kurz nach seiner Einlieferung in das Lager in der SK gewesen ist, den Angeklagten Dylewski gekannt haben soll. Die SS-Männer haben sich den Häftlingen nicht vorgestellt. Der Zeuge hat auch selbst nicht behauptet, dass er den Angeklagten Dylewski bereits vor dem Ereignis auf Block 11 gekannt habe. Zwar kann der Zeuge Krx. später, als er im Lager als Kapo und später als Oberkapo eingesetzt war, den Angeklagten Dylewski kennengelernt haben. Möglich ist aber, dass er nachträglich irrtümlich entweder schon damals oder jetzt nach zwanzig Jahren die Erlebnisse auf dem Block 11 und in der Kiesgrube mit dem Angeklagten Dylewski in Verbindung gebracht hat. Denn es erscheint fraglich, ob Krx., der noch relativ neu im Lager war und für den die Erlebnisse schockierend und mit Angst für sein eigenes Leben verbunden gewesen sein müssen, die beteiligten SS-Männer so genau angesehen hat, dass er sie nach Wochen und Monaten zuverlässig wiedererkennen konnte und dass er die damalige gedankliche Verbindung heute noch zuverlässig nachvollziehen kann.

Hiervon abgesehen erscheint es aber auch unwahrscheinlich, dass der Angeklagte Dylewski bereits zwischen Juni und August 1941 in das Schutzhaftlager und in den Block 11 kommen konnte. Von Juni bis August 1941 war der Angeklagte Dylewski nach seiner Einlassung im Studienurlaub. Insoweit ist seine Einlassung glaubhaft. Denn er hat dies von Anfang an so angegeben, auch als die schwerwiegenden Belastungen des Zeugen Krx., die der Zeuge erstmals in der Hauptverhandlung vorgebracht hat, noch nicht bekannt waren. Sie wird auch durch die glaubhafte Aussage der Zeugin Ruth Dylewski bestätigt. Die Zeugin hat bekundet, dass ihr früherer Ehemann, den sie im Februar 1941 kennengelernt hat, schon 1941 - noch vor ihrer Eheschliessung - einen längeren Studienurlaub gehabt habe. Der Angeklagte Dylewski war nach seinem Studienurlaub noch im Wachsturmbann eingesetzt. Er kam erst am 1.9.1941 in die Politische Abteilung. Wie sich aus seinem - bereits oben erwähnten - Schreiben vom 3.9.1941 an die Kameradschaft Ferdinand Schulz ergibt, hatte er zu dieser Zeit Krankheitsurlaub. Als Angehöriger des Wachsturmbannes durfte er das Schutzhaftlager nicht betreten. Es erscheint daher kaum möglich, dass er bereits in der Zeit zwischen Juni und August 1941 den Block 11 betreten hat.

Gegen die Zuverlässigkeit der Aussage des Zeugen Krx. sprechen aber noch weitere Gründe. Bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung hat der Zeuge verschwiegen, dass er - was immerhin für die Beurteilung seiner Aussage von Wichtigkeit sein konnte - in Auschwitz Kapo und Oberkapo gewesen ist. Erst auf Vorhalt und Befragen durch die Verteidiger hat er zugegeben, dass er Oberkapo im Neubaukommando gewesen sei. Auf weiteres Befragen hat er energisch in Abrede gestellt, jemals in seiner Eigenschaft als Kapo oder Oberkapo Häftlinge geschlagen zu haben. Auch das erscheint auf den ersten Blick nicht recht glaubhaft. Denn - wie sich aus der Beweisaufnahme ergeben hat - sparten die Kapos gegenüber den Häftlingen, deren Vorgesetzte sie waren, nicht mit Schlägen, weil sie auf Befehl der SS sich rücksichtslos gegenüber den Häftlingen durchsetzen und diese immer wieder zu besseren Arbeitsleistungen antreiben mussten. Ein Kapo, der gegenüber den Häftlingen zu "weich" war, konnte sich in der Regel nicht lange auf seinem Posten halten.

Eine Reihe ukrainischer Zeugen, die ebenfalls als Häftlinge im KL Auschwitz waren, haben auch übereinstimmend bekundet, dass Krx. als Oberkapo Häftlinge seines Arbeitskommandos geschlagen hätte. Die ukrainischen Zeugen kamen damals mit anderen ukrainischen Nationalisten, darunter Wasil Bandera im Jahre 1942 in das KL Auschwitz. Wasil Bandera war ein ukrainischer Nationalistenführer, der eine unabhängige Ukraine hatte schaffen wollen und deswegen von den Deutschen mit seinem Anhang festgenommen und in das Gefängnis eingeliefert worden war. Auch der Bruder des Wasil Bandera, Alexander Bandera, war in der damaligen Zeit in das KL Auschwitz verbracht worden. Zwischen den polnischen Häftlingen und den ukrainischen Nationalisten bestanden damals starke Spannungen im Lager. Das haben nicht nur die ukrainischen Zeugen, sondern auch polnische Zeugen, unter anderem der Zeuge Kl., bestätigt. Die Brüder Bandera kamen bald nach ihrer Einlieferung in das Lager zu Tode. Die Hintergründe hierfür konnten in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden. Die ukrainischen Zeugen haben zwar behauptet, der Zeuge Krx. sei an der Tötung der Gebrüder Bandera massgeblich beteiligt gewesen. Ihre Aussagen waren jedoch nicht widerspruchsfrei, so dass auf Grund ihrer Aussagen insoweit keine sicheren Feststellungen getroffen werden konnten. Fest steht jedoch nach ihren Aussagen, die insoweit übereinstimmten, dass die Brüder Bandera im Neubaukommando des Zeugen Krx. gearbeitet haben. Man hat auch bereits damals den Zeugen Krx. für ihren Tod verantwortlich gemacht. Der Zeuge F. hat glaubhaft bekundet, dass die Politische Abteilung bereits damals dem Zeugen Krx. vorgeworfen habe, er habe den einen der Gebrüder Bandera vom Gerüst herabgestürzt, und sie habe ihn deswegen zur Verantwortung gezogen. Krx. selbst habe ihm damals im Lager erzählt, dass es zwischen dem einen Bandera und einem andern Häftling einen Streit gegeben habe und dass dabei Bandera vom Gerüst herabgestürzt sei. Er - Krx. - sei dafür verantwortlich gemacht worden.

In der Hauptverhandlung hat nun der Zeuge Krx. energisch in Abrede gestellt, die Brüder Bandera damals überhaupt gekannt zu haben. Er hat ferner behauptet, er sei damals von der Politischen Abteilung verhaftet worden, weil er einer geheimen Lagerorganisation angehört habe. Beides erscheint angesichts der Bekundung des Zeugen F. unglaubhaft. Denn wenn sich Krx. bereits damals gegenüber dem Zeugen F. in der von diesem geschilderten Weise geäussert hat, woran das Gericht angesichts des guten und zuverlässigen Eindrucks des Zeugen F. in der Hauptverhandlung keinen Zweifel hat, so muss Krx. bereits damals mindestens einen der Brüder Bandera gekannt haben. Ferner muss er damals nicht wegen der Zugehörigkeit zu einer Untergrundorganisation, sondern im Zusammenhang mit dem Tode eines der Brüder Bandera festgenommen und in den Bunker eingeliefert worden sein.

Wenn aber Krx. in diesem - an sich nebensächlichen - Punkt - der für ihn aber wichtig genug sein mag - in der Hauptverhandlung nicht die Wahrheit gesagt hat, erscheint es zweifelhaft, ob er in anderer Hinsicht, vor allem in bezug auf die Belastung des Angeklagten Dylewski vollen Glauben verdient.

Dass die Erinnerung des Zeugen Krx. nicht zuverlässig ist, zeigt sich an einem weiteren Beispiel: In der Hauptverhandlung hat der Zeuge Krx. bekundet, mit ihm zusammen sei nach seiner damaligen Festnahme im Lager ein Häftling namens Wroblewski in die Zelle Nr.20 des Arrestbunkers eingeliefert worden. Wroblewski sei völlig zerschlagen gewesen. Am nächsten Morgen habe Boger sie - die Häftlinge - aus der Zelle herausgerufen. Wroblewski habe jedoch nicht aufstehen können. Boger habe daraufhin den Ja. gerufen und durch ihn den Wroblewski aus der Zelle herausholen lassen. Er - Krx. - habe dann mit eigenen Augen gesehen, dass Boger den Wroblewski mit der Pistole erschossen habe. Früher hat der Zeuge Krx. bei einer Anhörung durch den Zeugen Sm. in der Wohnung des Krx. eine andere Darstellung gegeben. Der Zeuge Sm. hat - wie er glaubhaft bekundet hat - über diese Anhörung eine schriftliche Aufzeichnung gefertigt, die in die Form einer Vernehmung gekleidet ist. Das Gericht hat keine Zweifel, dass der zuverlässige Zeuge Sm. nur das aufgezeichnet hat, was ihm der Zeuge Krx. angegeben hat. Die schriftliche Aufzeichnung wurde dem Zeugen Krx. in der Hauptverhandlung vorgehalten. Sie stimmt nach der Überzeugung des Gerichts mit der damaligen Darstellung des Zeugen Krx. gegenüber Sm. überein. Danach hat er gegenüber dem Zeugen Sm. erklärt, dass Wroblewski sofort nach ihrer Einlieferung in den Arrestbunker, also bereits abends, von Boger erschossen worden sei. Er - Krx. - sei in der Zelle gewesen. Boger habe den Wroblewski aus der Zelle herausgeholt und kurz danach habe er - Krx. - einen Schuss gehört. Nach dieser Darstellung war Krx. also nicht Augenzeuge der Erschiessung. Er hat danach nur den Schuss gehört und daraus den Schluss gezogen, dass Boger den Wroblewski getötet hat. Die beiden Darstellungen weichen somit erheblich voneinander ab. Auch das spricht gegen die Zuverlässigkeit der Angaben des Zeugen Krx.

Aus all diesen Gründen hat das Gericht die Aussage des Zeugen Krx. nicht verwertet. Es konnte somit auch nicht mit jeden Zweifel ausschliessender Sicherheit feststellen, dass der Angeklagte Dylewski an den beiden vom Zeugen Krx. geschilderten Vorfälle beteiligt gewesen ist. Aus der Aussage des Zeugen Krx. lassen sich somit keine Schlüsse auf die innere Einstellung des Angeklagten Dylewski bei den Bunkerentleerungen und den Erschiessungen an der Schwarzen Wand ziehen.

Auch der Zeuge Mot. hat den Angeklagten Dylewski schwer belastet. Er hat behauptet, Dylewski habe im Sommer 1942 einen Häftling vor der SS-Küche getötet, weil sich der Häftling einige Kartoffeln angeeignet habe. Dylewski habe zunächst den Häftling mit einem Stock geschlagen und dann, nachdem der Häftling zu Boden gefallen sei, den Stock über den Hals des Häftlings gelegt. Hierauf habe er sich mit den Füssen auf die beiden Enden des Stockes gestellt und den Häftling gewürgt. Er - Mot. - habe dies durch das Fenster der SS-Kantine, in der er beschäftigt gewesen sei, beobachtet. Im Jahre 1942 sei er von Dylewski vernommen worden. Dylewski habe ihm dabei nicht nur Ohrfeigen gegeben, sondern ihn auch mit der Peitsche in das Gesicht geschlagen. Ausserdem habe er ihm einen Finger mit der Tischschublade gequetscht. Danach habe er ihn mit der Peitsche bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Auf Grund dieser Misshandlung habe er einen Schädelbruch erlitten.

Auch dieser Zeuge erscheint jedoch nicht zuverlässig. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Zeuge tatsächlich Erlebnisse infolge der damals erlittenen Verletzungen und infolge des langen Zeitraumes, der seither verstrichen ist, unbewusst, vielleicht auch aus nicht näher zu erforschenden Gründen, bewusst, wahrheitswidrig auf den Angeklagten Dylewski projiziert. Denn der Zeuge hat auch den Angeklagten St. zu Unrecht belastet. Er hat behauptet, dass der Angeklagte St. um die Jahreswende des Jahres 1942/1943 auf der Strasse vor Block 27 sieben bis neun Personen zum Erschiessen ausgesucht habe. Unter ihnen sei ein Häftling namens Niebudeck gewesen und ein ehemaliger Oberst namens Kamuniecki. St. habe dann diese Personen persönlich erschossen. Der Zeuge hat mit aller Bestimmtheit erklärt, dass St. diese Personen ausgesucht und mit einem Kleinkalibergewehr auf den Block 11 gebracht habe. Eine Stunde später seien Leichenträger mit Rollwagen auf Block 11 gefahren und hätten die Leichen der von St. ausgesuchten Personen abgeholt. Das habe er mit eigenen Augen gesehen. Von einem Kameraden namens Wetulan habe er erfahren, dass St. mit Bestimmtheit die Häftlinge erschossen habe.

Diese Aussage des Zeugen kann jedoch nicht der Wahrheit entsprechen. Aus der ersten Eintragung auf Blatt 105 des ersten Bandes des Bunkerbuches, die in der Hauptverhandlung verlesen worden ist, ergibt sich eindeutig, dass der Häftling Kamuniecki am 6.1.1943 auf Anordnung der Politischen Abteilung in den Arrestbunker eingeliefert worden ist und am 25.1.1943 verstorben (wahrscheinlich erschossen worden) ist. Zu dieser Zeit war jedoch der Angeklagte St. überhaupt nicht in Auschwitz. Er hatte Studienurlaub und studierte an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main Rechtswissenschaft. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Studienbogen für den Angeklagten St., der bei der Universität Frankfurt am Main aufbewahrt wird und in der Hauptverhandlung verlesen worden ist. Danach ist der Angeklagte St. am 8.12.1942 an der Universität in Frankfurt am Main immatrikuliert worden. Am gleichen Tag hat er Gebührenfreiheit beantragt. Ferner ist an diesem Tag für ihn ein Studienausweis, den er eigenhändig unterzeichnet hat, von dem Universitätssekretariat ausgestellt und ferner eine Karteikarte angelegt worden.

Damit wird die Einlassung des Angeklagten St., dass er von Dezember 1942 bis zum 1.4.1943 in Frankfurt am Main studiert hat, bestätigt. Das Schwurgericht hält es für ausgeschlossen, dass St. während seines Studienurlaubs freiwillig nach Auschwitz gefahren ist und dort trotz Urlaubs Dienst gemacht hat.

Damit ist bereits die Bekundung des Zeugen Mot. hinsichtlich des Angeklagten St. widerlegt. Sie steht aber auch im Widerspruch zu einer Eintragung im Heft Nr.4 (Seite 64 ff.) der Auschwitzer Hefte (Kalendarium der Ereignisse) die dem Zeugen Mot. in der Hauptverhandlung vorgehalten worden ist. Wenn aber der Zeuge Mot. in bezug auf den Angeklagten St. offensichtlich die Unwahrheit gesagt hat, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob bewusst oder unbewusst, kann der Aussage insgesamt auch in bezug auf den Angeklagten Dylewski kein Beweiswert mehr zuerkannt werden.

Auch der Zeuge Kam. hat den Angeklagten Dylewski schwer belastet. Kam. ist im Februar 1941 nach Auschwitz gekommen. Er war damals 16 Jahre alt. Er kam sofort in die Strafkompanie, die damals im Block 11 untergebracht war. Dieser Block trug damals allerdings noch die Nummer 13. Kam. musste mit anderen Angehörigen der Strafkompanie in der Kiesgrube arbeiten. Der Zeuge hat geschildert, dass im Spätsommer 1941 der Angeklagte Dylewski in der Kiesgrube erschienen sei und alle Kapos zusammengerufen habe. Dann habe er diesen die Anweisung erteilt, alle Juden zu liquidieren. Daraufhin seien die Kapos losgerannt und hätten angefangen, die Juden zu schlagen und zu töten. Ein Kapo habe sich an Dylewski wegen eines Judenjungen, der 15-16 Jahre alt gewesen sei, gewandt. Er - der Zeuge - habe zwar nicht verstanden, was der Kapo gesagt habe. Aber wahrscheinlich habe er sich für den Jungen eingesetzt. Dylewski habe daraufhin den Jungen zu sich gerufen und habe ihn angeschaut. Dann habe er ihm bedeutet, zur Arbeit zurückzugehen. Als sich der Judenjunge zurückgewandt habe, habe Dylewski ihn erschossen.

Auch in diesem Fall konnte das Schwurgericht nicht die sichere Überzeugung gewinnen, dass der Zeuge den Vorfall zutreffend mit dem Angeklagten Dylewski in Verbindung gebracht hat.

Der Zeuge kannte damals den Angeklagten Dylewski nicht. Auf die Frage, wieso er Dylewski gekannt habe, hat der Zeuge keine befriedigende Antwort gegeben. Er hat eingeräumt, dass er den Namen Dylewski nicht gekannt habe. Er habe ihn - Dylewski - so gab der Zeuge zur Erläuterung an - gesehen, als er zu ihnen gekommen sei, um die Arbeit der Strafkompanie zu überwachen. Auf die Frage, ob Dylewski denn Bewachungsaufgaben gehabt habe, erklärte der Zeuge, das könne er nicht sagen. Aber jedesmal, wenn er gekommen sei, seien sie von den Kapos schärfer angefasst worden. Später musste der Zeuge auf Vorhalt einräumen, dass er den SS-Unterführer, den er jetzt als den Angeklagten Dylewski bezeichnet, insgesamt nur zweimal gesehen hat. Dylewski war im Sommer 1941 in Studienurlaub. Danach war er noch eine Zeitlang im Wachsturmbann. Erst im September 1941 kam er zur Politischen Abteilung. Anfang September 1941 war er - wie schon oben ausgeführt - zwei Wochen krank. Danach wurde er in der Politischen Abteilung mit Dolmetscheraufgaben betraut und hatte Schreibarbeiten auszuführen. Erst später wurden ihm selbständige Vernehmungen übertragen. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Dylewski bereits im Spätsommer 1941 zur Überwachung der Strafkompanie eingesetzt worden ist. Das war im übrigen auch nicht Sache der Politischen Abteilung, sondern der Schutzhaftlagerführung.

Der Zeuge hat auch gar nicht gewusst, ob der SS-Mann, den er jetzt als den Angeklagten Dylewski bezeichnet, damals zur Politischen Abteilung gehört hat. Das hat er selbst eingeräumt. Er hat es lediglich angenommen. Er habe, so hat er auf Befragen erklärt, geglaubt, dass alle, die zur SK gekommen seien "um sich auszutoben", zur Politischen Abteilung gehört hätten.

Zur Begründung dafür, warum er geglaubt habe, dass der SS-Mann, der den Judenjungen erschossen hat, der Angeklagte Dylewski gewesen sei, hat der Zeuge noch angegeben, dass man den SS-Mann "Klaus" genannt habe.

Der Angeklagte Dylewski hiess zwar mit dem Vornamen Klaus, aber nach Auffassung des Schwurgerichts ist das noch kein sicherer Beweis, dass Dylewski damals tatsächlich der Täter gewesen ist. Im KL Auschwitz gab es noch - wie oben schon ausgeführt - den SS-Unterführer Clausen. Dieser war eine Zeitlang Rapportführer. Er war sehr gefürchtet. Es ist möglich, dass dieser - was zu seinen Aufgaben gehört hat - von Zeit zu Zeit die SK kontrolliert hat. Ausserdem gab es noch einen SS-Mann mit dem Nachnamen Klaus. Schliesslich kann nicht ausgeschlossen werden, dass unter den vielen anderen SS-Männern weitere mit Vornamen Klaus gewesen sind. Auffällig war auch, dass der Zeuge Kam. keine Namen anderer SS-Männer mehr hat nennen können. So wusste er nicht einmal mehr den Namen des SS-Kommandoführers oder seines Blockführers.

Es besteht daher die Möglichkeit, dass der Zeuge Kam. einen Vorfall, den er vor mehr als zwanzig Jahren tatsächlich erlebt hat, nachträglich zu Unrecht auf den Angeklagten Dylewski projiziert hat.

Auch insoweit lässt sich daher nicht mit Sicherheit feststellen, dass Dylewski tatsächlich die Liquidierung der Juden angeordnet und einen Judenjungen eigenmächtig erschossen hat.

Schliesslich erscheinen auch weitere Zeugen, die den Angeklagten Dylewski belastet oder negativ beurteilt haben, nicht voll glaubwürdig.

So hat der Zeuge My. in der Hauptverhandlung behauptet, der Angeklagte Dylewski habe zusammen mit dem Angeklagten Boger einen Häftling auf der Schaukel geschlagen. Er, der Zeuge, sei zu dieser Vernehmung hinzugekommen. Bei seiner früheren Vernehmung durch das Kreisgericht in Gleiwitz am 18.8.1962 hat der Zeuge, was ihm in der Hauptverhandlung vorgehalten worden ist und was er bestätigt hat, jedoch angegeben, dass er den Angeklagten Dylewski bei Vernehmungen von Häftlingen nicht gesehen habe. Eine befriedigende Erklärung für diesen Widerspruch konnte der Zeuge nicht angeben.

Der Zeuge Sew. hat früher im Ermittlungsverfahren behauptet, der Angeklagte Dylewski habe ihn bewusstlos geschlagen. In der Hauptverhandlung hat er ausgesagt, dass Dylewski ihn nur geschlagen habe, weil er einen Brief seines Chefs - des Angeklagten B. - zu einem Fräulein Pisch, die in der Verwaltung beschäftigt gewesen ist, gebracht habe. Als er dem Angeklagten Dylewski aber auf seine Frage, woher er den Brief habe, gesagt habe, der Brief sei von B., habe der Angeklagten Dylewski das überprüft und habe ihn entlassen. Er - der Zeuge - habe dann wieder in seine Unterkunft zurückgehen können. Erst auf Vorhalt, dass er früher behauptet habe, von dem Angeklagten Dylewski bewusstlos geschlagen worden zu sein, gab der Zeuge an, er habe auf der Erde gelegen. Man habe ihn mit Wasser übergossen. Trotzdem sei er noch glimpflich davongekommen. Schon diese widerspruchsvollen Angaben lassen Zweifel an der Zuverlässigkeit des Zeugen aufkommen. Hinzu kommt aber noch, dass der Zeuge auch im Falle Lupa, der dem Angeklagten Boger zur Last gelegt wird (Eröffnungsbeschluss betr. Boger 4g.) und der noch in einem späteren Abschnitt zu erörtern sein wird, widerspruchsvolle Angaben gemacht hat. Seine Bekundungen in diesem Fall lassen den Eindruck entstehen, dass der Zeuge zu phantasievollen Erzählungen neigt. Seiner Aussage konnte daher kein Beweiswert zuerkannt werden.

Der Zeuge Kro. schliesslich hat in der Hauptverhandlung behauptet, dass der Angeklagte Dylewski brutal gewesen sei. Er hat den Angeklagten Dylewski allerdings selbst nie bei Vernehmungen gesehen. Sein negatives Urteil hat der Zeuge damit begründet, dass er oft Blut von den Wänden und von dem Schreibtisch des Angeklagten Dylewski habe wegwischen müssen. Daraus hat der Zeuge den Schluss gezogen, dass Dylewski ein brutaler Schläger gewesen sein müsse.

Der Angeklagte Dylewski arbeitete jedoch im gleichen Zimmer wie der Angeklagte Boger. Auch der Zeuge Kro. hat bestätigt, dass der Angeklagte Dylewski nach seiner Erinnerung im gleichen Raum wie Boger amtiert habe. Es ist daher nicht ausgeschlossen - bei der erwiesenen Brutalität des Angeklagten Boger sogar wahrscheinlich -, dass die Blutspuren von Vernehmungen des Angeklagten Boger herrührten. Sie lassen jedoch keinen Schluss auf die Vernehmungsmethoden des Angeklagten Dylewski zu.

Zusammenfassend lassen sich somit aus den Aussagen der Zeugen Doe., Krx., Mot., Sew., My., Kam. und Kro. keine Erkenntnisse zur inneren Einstellung und Willensrichtung des Angeklagten Dylewski bei seiner Beteiligung an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen gewinnen.

Es kann daher nur festgestellt werden, dass der Angeklagte Dylewski die Tötungen der Arrestanten fördern und unterstützen wollte.

Irgendwelche Rechtfertigungsgründe für die Beteiligung des Angeklagten Dylewski sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Dylewski hat auch vorsätzlich gehandelt. Dies ergibt sich aus den getroffenen Feststellungen unter II.2. und den bereits oben gemachten Ausführungen, dass ihm bewusst gewesen ist, zu den als rechtswidrig erkannten Tötungen kausale Tatbeiträge zu leisten und dass er die gesamten Umstände gekannt hat, die die Beweggründe für die Tötungen als niedrig und die Art ihrer Ausführung als grausam kennzeichnen. Irgendwelche Schuldausschliessungsgründe liegen nicht vor. Der Angeklagte Dylewski beruft sich selbst nicht darauf, dass er in einem Nötigungsnotstand (§52 StGB) oder einem allgemeinen Notstand (§54 StGB) gehandelt habe. Er hat lediglich angegeben, dass es damals eine Befehlsverweigerung nicht gegeben habe, er habe dazu auch keine Veranlassung gehabt. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, dass er gar nicht auf die Idee gekommen ist, den Befehl Grabners nicht auszuführen, oder sich der Beteiligung an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen zu entziehen. Er hat vielmehr auf Grund freier Entschliessung - wenn vielleicht auch widerwillig - die Befehle ausgeführt. Dafür, dass sein Wille unter Gefahr für Leib oder Leben gebeugt worden sei, liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor. In diesem Fall ist das auch schon deswegen nicht anzunehmen, weil damals der intelligente und gewandte Angeklagte nur eine Meldung über die - auch nach der damaligen Anschauung der SS-Führung - rechtswidrigen Tötungen an vorgesetzte Dienststellen (RSHA) hätte zu machen brauchen, um sich einer angeblichen Nötigung zu entziehen. Aus den gleichen Gründen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte Dylewski irrig die tatsächlichen Voraussetzungen eines Nötigungsnotstandes oder eines allgemeinen Notstandes angenommen hätte. Er beruft sich auch selbst nicht darauf.

Die Erschiessung eines jeden einzelnen Häftlings ist als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB anzusehen, weil bei jedem einzelnen Häftling der Entschluss für seine Tötung von den Tätern jeweils besonders gefasst worden ist und weil es bei der Tötung eines jeden Häftlings jeweils besonderer Willensbetätigung bedurft hat, die sich jeweils gegen das Leben eines bestimmten Menschen richtete.

Der Angeklagte Dylewski war daher wegen seiner Beteiligung an den Bunkerentleerungen und mindestens drei Erschiessungsaktionen, bei denen mindestens dreissig Menschen getötet worden sind, wegen Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens dreissig Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) zu verurteilen.

V. Strafzumessung

Gegen den Angeklagten Dylewski musste eine gerecht erscheinende Strafe wegen Beihilfe zum Mord in 32 Fällen gefunden werden.

Massgeblich waren dabei folgende Umstände:

Der Angeklagte hat vor und nach seiner Tätigkeit in Auschwitz ein ordentliches Leben geführt und wäre nicht straffällig geworden, wenn er nicht durch Befehle in Verbrechen verstrickt worden wäre. Er ist, ohne gefragt zu werden, zum Wachsturmbann nach Auschwitz versetzt worden, hat unter den dortigen Zuständen seelisch gelitten und sich immer wieder bemüht, wegzukommen. Er hat nie einen besonderen Eifer gezeigt, sich in die Mordmaschinerie des Vernichtungslagers Auschwitz einspannen zu lassen. Der Angeklagte hat im Gegenteil, wie dies im einzelnen bereits ausgeführt ist, in zahlreichen Fällen unmittelbar und zeitweilig auch unter Inkaufnahme eigener Gefährdung bewirkt, dass zahlreiche Häftlinge vor ihrer Vernichtung geschützt wurden. Er hat, was ebenfalls strafmildernd ins Gewicht fiel, jeweils keinen besonders wesentlichen Tatbeitrag geleistet. Demgegenüber konnte auch bei diesem Angeklagten nicht daran vorbeigesehen werden, dass er trotz seiner Intelligenz bestialischen Mördern seine Hand lieh und so zum Gelingen verwerflichster Mordkomplotte beitrug.

Für alle Beihilfehandlungen erschienen gleich hohe Strafen angemessen:

Bezüglich der Tätigkeit auf der Rampe war zu Gunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, dass sein Tatbeitrag gering war und die Vernichtung jüdischer Menschen auf den Plänen der damaligen Staatsspitzen beruhte; demgegenüber musste die Zahl der Opfer, die unter seiner Mitwirkung gemordet wurden, straferschwerend ins Gewicht fallen. Bei den sog. Bunkerentleerungen, die der Initiative örtlicher SS-Führer entsprangen, hatte das Mitwirken des Angeklagten schon mehr Bedeutung, mag auch in jedem Fall "nur" ein Mensch umgebracht worden sein.

Danach wurde in jedem Fall eine Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten als gerechte Strafe und Sühne erachtet; die nach §74 StGB zu bildende Gesamtstrafe erschien bei Berücksichtigung aller angeführten Umstände in Höhe von 5 Jahren angemessen.

F. Die Straftaten des Angeklagten Broad

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Broad

Der Angeklagte Broad ist als Sohn eines brasilianischen Kaufmanns und dessen deutscher Ehefrau am 25.4.1921 in Rio de Janeiro geboren; bald nach seiner Geburt zog seine Mutter mit ihm nach Deutschland, und zwar zunächst nach Freiburg und im Jahre 1926 nach Berlin. Sein Vater blieb in Brasilien zurück. Der Angeklagte besuchte die Volksschule in Berlin von 1927 bis 1931 und anschliessend das Realgymnasium, an dem er im Jahre 1940 die Reifeprüfung ablegte.

In die Hitlerjugend trat er bereits im Jahre 1931 ein. Er gehörte ihr bis 1936 an. Später erhielt er wegen dieser frühzeitigen Mitgliedschaft das goldene HJ-Ehrenabzeichen. Nach dem Abitur studierte der Angeklagte bis Dezember 1941 an der Technischen Hochschule in Berlin. Dann meldete er sich freiwillig zur SS. Auf Grund dieser Meldung wurde er im Januar 1942 zum Infanterieersatzbataillon der SS-Division "Nord" nach Wehlau/Ostpreussen eingezogen.

Als Grund für seine freiwillige Meldung zur Waffen-SS gibt der Angeklagte an, dass er wegen seiner brasilianischen Staatsangehörigkeit Schwierigkeiten gehabt habe. Man habe ihm die Aufenthaltsbewilligung nicht verlängern wollen. Mit seinem Vater in Brasilien habe er keine Verbindung gehabt. Er habe nicht einmal seine Adresse gewusst. Ein Bekannter von ihm, der Beziehungen zur SS gehabt habe, habe ihm geraten, sich zur SS als Dolmetscher zu melden, nachdem seine Meldung zur Wehrmacht keinen Erfolg gehabt habe. Denn die Wehrmacht habe ihn wegen seiner brasilianischen Staatsangehörigkeit nicht genommen. Da die Waffen-SS auch Staatsangehörige anderer Nationen aufgenommen habe, habe er sich zu dieser gemeldet.

Eine Woche nach seiner Einberufung wurde das Infanterieersatzbataillon der Division "Nord" nach Trautenau (Sudetenland) verlegt. Dort erhielten die Rekruten ihre militärische Ausbildung. Ende März oder Anfang April 1942 kam die Einheit bereits zum Einsatz an die Front. Da der Angeklagte sehr stark kurzsichtig und deswegen nur g.v.H. war, kam er nicht zum Einsatz. Er wurde vielmehr noch im April 1942 zum KL Auschwitz versetzt. Dort machte er zunächst Wachdienst in einer Wachkompanie des Wachsturmbannes. Als Dolmetscher für die Politische Abteilung gesucht wurden, meldete er sich. Er kam daraufhin im Juni 1942 als Schreiber und Dolmetscher zur Politischen Abteilung. Später wurden ihm auch selbständige Arbeiten (Vernehmungen usw.) übertragen.

Im Sommer 1944 sollte der Angeklagte, der es in Auschwitz nur bis zum SS-Rottenführer gebracht hatte, an einem Vorbereitungslehrgang in Arolsen für die SS-Führerschule teilnehmen. Er kam auch nach Arolsen, wurde aber wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Lehrgang zurückgestellt. Er will dann gleichwohl als "Putzer" bis zur Beendigung des Lehrganges in Arolsen geblieben sein. Nach seiner Rückkehr aus Arolsen war der Angeklagte Broad weiterhin in der Politischen Abteilung des KZ Auschwitz bis zur Auflösung des Lagers im Jahre 1945 tätig. Als das Lager geräumt wurde, brachte er mit anderen SS-Angehörigen sechs inhaftierte SS-Männer in das Konzentrationslager Gross-Rosen bei Breslau und setzte sich mit einem LKW, der mit Akten der Politischen Abteilung beladen war, zum Konzentrationslager Mittelbau bei Nordhausen/Harz ab. Ende März 1945 begleitete er einen Häftlingstransport zum Konzentrationslager Ravensbrück. Bei Ravensbrück kam er noch kurz zum Fronteinsatz und geriet am 6.5.1945 in englische Kriegsgefangenschaft.

Als der Angeklagte im englischen Kriegsgefangenenlager Gorleben war, meldete er sich freiwillig bei dem Kommandanten der in Gorleben liegenden englischen Abteilung. Die Abteilung hatte die Aufgabe, die Vernehmungen von deutschen Kriegsgefangenen durchzuführen. Der Kommandeur der englischen Einheit war der Zeuge van het Kaa. Der Angeklagte berichtete diesem, dass er in Auschwitz gewesen sei und dass er über die Zustände in diesem Lager Angaben machen könne. Daraufhin liess der Zeuge van het Kaa. den Angeklagten Broad aus dem Kriegsgefangenenlager herausholen, in eine englische Uniform einkleiden und bei der englischen Abteilung Unterkunft gewähren. Der Angeklagte Broad schrieb dann handschriftlich auf deutsch auf Befehl des Zeugen van het Kaa. in wenigen Tagen einen ausführlichen Bericht über das Konzentrationslager Auschwitz. Von dem Zeugen Wi., der damals Sergeant in der Abteilung des Zeugen van het Kaa. war, wurde dann der Bericht mit der Schreibmaschine wörtlich mit mehreren Durchschlägen abgeschrieben. Er umfasste 75 Schreibmaschinenseiten. Broad fertigte ausserdem eine Liste der in Auschwitz beschäftigt gewesenen Personen an. Er blieb in der Folgezeit weiterhin bei der englischen Einheit, auch als diese nach Munsterlager verlegt wurde. Er half den Engländern bei der Ermittlung gegen SS-Angehörige. Er war stets bemüht, im Auftrag der Engländer Kriegsverbrecher und verdächtige Personen ausfindig zu machen.

Im Jahre 1947 wurde der Angeklagte aus der englischen Einheit entlassen. Er fand Arbeit als kaufmännischer Angestellter in einem Sägewerk in Munsterlager. Als dieser Betrieb im Jahre 1953 Konkurs machte, zog er nach Braunschweig und betätigte sich wieder als kaufmännischer Angestellter. 1957 wurde er in Braunschweig von der Firma Heinrich Hinz Elektroapparatebau eingestellt, bei der er noch im Zeitpunkt seiner Verhaftung in dieser Sache am 30.4.1959 tätig war. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft am 23.12.1960 wurde er erneut von der Firma Hinz mit einem Bruttogehalt von 1042.- DM eingestellt. Der Angeklagte hat im Herbst das erste Mal geheiratet. Die erste Ehe mit Gisela Mü. wurde im Jahre 1955 vor dem Landgericht Braunschweig geschieden. 1958 schloss der Angeklagte die Ehe mit Irmgard Pag. Diese verstarb 1959. Kinder sind aus den beiden Ehen nicht hervorgegangen. Inzwischen hat der Angeklagte erneut geheiratet. Der Angeklagte war in Untersuchungshaft vom 30.4.1959 bis zum 23.12.1960. Am 6.11.1964 wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 6.4.1959 wieder in Vollzug gesetzt. Seitdem befindet sich der Angeklagte wieder in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten Broad an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Broad war als Angehöriger der Politischen Abteilung, zu der er im Juni 1942 versetzt worden war, an der Massentötung der mit RSHA-Transporten angekommenen jüdischen Menschen (vgl. oben A.II.) beteiligt.

Der Angeklagte Broad wurde ebenso wie die anderen Angehörigen der Politischen Abteilung auch zum Rampendienst eingeteilt. Er war wiederholt bei der Ankunft, Einteilung und Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe. Dort hat er die gleichen Überwachungsfunktionen wie der Angeklagte Boger ausgeführt (vgl. oben C.II.). Er achtete darauf, dass die Häftlinge des Häftlingskommandos nicht mit den Zugängen sprachen, damit diese nichts über ihr bevorstehendes Schicksal erführen, und dass die SS-Angehörigen ihren Rampendienst befehlsgemäss versahen. Er sorgte auch dafür, dass die bereits als arbeitsunfähig beurteilten Menschen, die für den Tod bestimmt waren, nicht dadurch ihrem Tode entgingen, dass sie sich der Gruppe der als arbeitsfähig anerkannten und für die Aufnahme in das Lager vorgesehenen Häftlinge zugesellten.

Einmal warnte ein Häftling aus dem Häftlingskommando, das die Gepäckstücke der angekommenen Menschen auf die LKWs zu verladen hatte, eine Frau aus einem angekommenen RSHA-Transport heimlich. Er sagte ihr, dass in dem Rot-Kreuz-Wagen Gas sei und dass sie getötet und anschliessend verbrannt werden sollten. Der Angeklagte Broad hatte zu dieser Zeit gerade Rampendienst. Die Frau lief zu Broad hin und erklärte ihm, sie sei erschrocken, weil man sie - wie ihr ein Häftling gesagt habe - vergiften und töten wolle. Broad liess sich den Häftling zeigen, der ihr diese Mitteilung gemacht hatte, und beruhigte die Frau, indem er ihr antwortete, sie solle dem Häftling, der dies gesagt habe, nicht glauben. Es sei ein Verbrecher, das sehe sie schon an seinen abstehenden Ohren und seiner Glatze. Nachdem die Frau weggebracht worden war, erstattete der Angeklagte Broad Meldung über den Häftling. Dieser wurde anschliessend wegen "Verbreitung von Greuelnachrichten" zu 150 Stockschlägen "verurteilt". Der Lagerführer las das "Urteil" vor. Dem Häftling wurden dann von seinen Mithäftlingen auf Befehl der SS 150 Stockschläge verabreicht. Er starb an den Folgen der Schläge.

Der Angeklagte Broad hat in einer unbestimmten Anzahl von Fällen die Überwachungsfunktionen bei der Ankunft von RSHA-Transporten ausgeübt. Mit Sicherheit hat er dies mindestens in zwei Fällen getan. In diesen beiden Fällen sind jeweils mindestens 1000 Menschen aus den angekommenen Transporten getötet worden.

Der Angeklagte Broad wusste, dass die jüdischen Menschen nur deswegen unschuldig getötet wurden, weil sie Juden waren. Ihm war ferner bekannt, dass die Vernichtungsaktionen unter strengster Geheimhaltung und unter Täuschung der Opfer über ihr bevorstehendes Schicksal durchgeführt wurden. Auch wusste er, dass die Opfer in der oben geschilderten Art und Weise in den Gaskammern getötet wurden. Schliesslich war dem Angeklagten Broad auch klar, dass er durch seine eigene Tätigkeit (Überwachung des Häftlingskommandos, Überwachung der SS-Angehörigen, Überwachung der als arbeitsunfähig ausgesonderten Menschen) die Vernichtungsaktionen förderte.

2. Die Beteiligung des Angeklagten Broad an den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen an der Schwarzen Wand (Eröffnungsbeschluss Ziffer 2)

Der Angeklagte Broad wurde von dem Leiter der Politischen Abteilung, Grabner, auch zu den sog. Bunkerentleerungen bestellt. Er ging mit den anderen SS-Angehörigen zu solchen Bunkerentleerungen mit in den Arrestbunker. In mindestens zwei Fällen ging er auch mit zu den anschliessenden Erschiessungen auf den Hof und war während der gesamten Erschiessungsaktionen auf dem Hof anwesend.

Seine Anwesenheit im Arrestbunker und bei den Erschiessungen im Hof sollte zusammen mit der Anwesenheit der anderen SS-Angehörigen den Opfern einen Widerstand oder Aufstand von vornherein als aussichtslos erscheinen lassen. Er sollte ferner einen eventuellen Widerstand oder einen plötzlichen verzweifelten Aufstand der Opfer zusammen mit den anderen SS-Angehörigen brechen. Hierfür hielt sich der Angeklagte Broad bereit. Er war sich dessen auch bewusst.

Dass der Angeklagte Broad bei den Bunkerentleerungen einen massgebenden Einfluss auf die Auswahl der zu erschiessenden Häftlinge ausgeübt hätte, konnte nicht festgestellt werden. Auch konnte nicht festgestellt werden, dass er selbst eigenhändig Häftlinge, die durch die sog. Bunkerentleerungen zum Erschiessen ausgewählt worden waren, anschliessend erschossen hätte.

In den mindestens zwei Fällen, in denen der Angeklagte Broad an den Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen teilnahm, sind mindestens jeweils zehn Häftlinge, insgesamt zwanzig Häftlinge, getötet worden. Der genaue Zeitpunkt dieser Taten konnte nicht mehr festgestellt werden. Mit Sicherheit steht jedoch fest, dass sich der Angeklagte Broad an Bunkerentleerungen und den geschilderten Erschiessungen erst nach seiner Versetzung zur Politischen Abteilung, also nach dem 1.6.1942, beteiligt hat.

Der Angeklagte Broad wusste, dass die Häftlinge ohne Todesurteil und auch ohne Befehl des RSHA oder einer sonstigen höheren Dienststelle für den Tod ausgesucht und erschossen wurden.

Ihm war auch bekannt, dass die Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen erfolgten, um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen. Er merkte auch auf Grund seiner eigenen Anwesenheit, wie die Auswahl der Opfer im einzelnen vor sich ging und wie anschliessend die Erschiessungen durchgeführt wurden. Ihm war klar, dass die an den Bunkerentleerungen und nachfolgenden Erschiessungen beteiligten SS-Angehörigen nicht befugt waren, über Leben und Tod eines Häftlings zu entscheiden.

III. Einlassung des Angeklagten Broad, Beweismittel, Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten Broad beruhen auf seinen eigenen Angaben sowie auf den glaubhaften Aussagen der Zeugen van het Kaa. und Wi.

2. Zu II.1.

Der Angeklagte Broad bestreitet, jemals zum Rampendienst eingeteilt oder befohlen worden zu sein. Er hat auch in Abrede gestellt, jemals bei der Abwicklung der RSHA-Transporte auf der Rampe tätig gewesen zu sein. Er sei zwar öfter - so hat er sich eingelassen - an der alten Rampe mit dem Fahrrad vorbeigefahren, weil er dienstlich vom Stammlager zum Lager Birkenau hätte fahren müssen. Dabei habe er auch wiederholt angekommene RSHA-Transporte gesehen. Er habe jedoch nichts mit der Einteilung und dem Abtransport der jüdischen Menschen zu tun gehabt. Nur zwei- bis dreimal sei er vom Fahrrad abgestiegen, weil er hätte wissen wollen, was da vor sich gehe. Dabei habe er auch mit einigen Menschen gesprochen. Diese seien froh gewesen, dass sie sich mit ihm in französischer Sprache hätten unterhalten können. Es könne sein, dass sie dabei zu nahe an ihn herangekommen seien und er sie mit der Hand zurückgestossen habe. Möglicherweise seien diese Handbewegungen von Zeugen so ausgelegt worden, als ob er selektiert habe.

Diese Einlassung des Angeklagten Broad ist an sich schon unglaubhaft, denn es erscheint unwahrscheinlich, dass er als Rottenführer gewagt haben soll, mit den angekommenen Menschen zu sprechen, ohne zum Rampendienst eingeteilt gewesen zu sein. Denn das Betreten der Rampe war Unbefugten, auch SS-Angehörigen verboten. Ferner war es allen SS-Angehörigen streng verboten, sich mit den Zugängen zu unterhalten. Seine Einlassung ist nach der Überzeugung des Gerichts nur eine Schutzbehauptung, mit der der intelligente Angeklagte, der sich sagen muss, dass seine Anwesenheit auf der Rampe während der Abwicklung von RSHA-Transporten anderen Personen nicht verborgen geblieben sein kann, seiner Anwesenheit auf der Rampe eine harmlose Erklärung geben wollte, um einer Bestrafung zu entgehen.

Das Gericht sieht als erwiesen an, dass der Angeklagte ebenfalls zum Rampendienst eingeteilt worden ist und den Rampendienst auch in der geschilderten Weise nicht nur auf der alten Rampe, sondern auch auf der Rampe im Lager Birkenau versehen hat.

Der oben bereits erwähnte glaubwürdige Zeuge Erich K. hat - wie er glaubhaft bekundet hat - den Angeklagten Broad wiederholt auf der Rampe in Birkenau bei der Abwicklung von RSHA-Transporten gesehen. Der Zeuge hat den Vorfall beobachtet, der zur Meldung des Häftlings, der eine Frau hat warnen wollen, führte. Er war selbst dabei, wie der Häftling auf Grund der Meldung des Angeklagten Broad die 150 Stockschläge bekam. Der Zeuge hat zwar nicht selbst das Gespräch zwischen dem später getöteten Häftling und der Frau gehört, auch nicht die Erklärung, die der Angeklagte Broad der Frau auf ihr Befragen hin gegeben hat. Ein anderer Häftling aus dem Kanada-Kommando hat dem Zeugen K. jedoch unmittelbar nach der Bestrafung des von Broad gemeldeten Häftlings hiervon berichtet. Dieser andere Häftling war in unmittelbarer Nähe und hat die Gespräche mit anhören können. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass der Häftling aus dem Kanada-Kommando dem Zeugen K. zutreffend berichtet hat. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Häftling damals dem Zeugen K. etwas Falsches hätte berichten sollen. Im übrigen wird sein Bericht gestützt durch die Tatsache, dass der Häftling - was der Zeuge K. selbst gehört hat - "auf Grund der Meldung des SS-Rottenführers Broad wegen Verbreitung von Greuelnachrichten" zu den 150 Stockschlägen "verurteilt" worden ist. Beim Verlesen des "Urteils" wurde ausdrücklich auf die Meldung des Angeklagten Broad Bezug genommen. Der Zeuge K. hat auch selbst die Vollstreckung der verhängten Strafe, die unmittelbar nach Verlesung des "Urteils" erfolgte, miterlebt. Aus dem Vorfall ergibt sich, dass der Angeklagte Broad zum Rampendienst eingeteilt gewesen sein muss und dass er in diesem Fall Überwachungsfunktionen ausgeübt hat.

Auch die Zeugin Pal. hat den Angeklagten Broad wiederholt auf der Rampe in Birkenau bei der Ankunft griechischer, holländischer und ungarischer Transporte gesehen. Die Zeugin hat als Blockschreiberin im FKL den Angeklagten Broad gut gekannt. Eine Verwechslungsmöglichkeit scheidet aus. Denn der Angeklagte Broad, der als Angehöriger der Politischen Abteilung für das Lager Birkenau zuständig war, kam aus dienstlichen Gründen wiederholt auf den Block, in dem die Zeugin als Schreiberin tätig war. Er hat - wie die Zeugin glaubhaft versichert hat - wiederholt mit der Zeugin gesprochen.

Die Zeugin hat den Angeklagten Broad auch zutreffend charakterisiert. Er sei - so gab sie an - kein typischer SS-Mann gewesen. Er habe englisch gelernt und Bücher gelesen. Diese Beschreibung passt genau auf den Angeklagten Broad. Die Zeugin hat zwar nicht näher angeben können, was der Angeklagte Broad auf der Rampe in Birkenau getan hat. Sie hat nur bekundet, dass er während der Selektion auf der Rampe gestanden habe. Das spricht für die Glaubwürdigkeit der Zeugin. Es beweist aber auch, dass Broad zum Rampendienst eingeteilt war und auch diesen Dienst versehen hat. Dass die Zeugin keine besonderen Tätigkeiten des Angeklagten Broad beobachten konnte, ist nicht verwunderlich. Denn die Überwachung der Häftlinge und der SS-Angehörigen erforderte keine besonderen, für Aussenstehende auffälligen Tätigkeiten.

Schliesslich beruhen die Feststellungen des Schwurgerichts über die Einteilung des Angeklagten Broad zum Rampendienst und seine Überwachungsfunktionen auf der Rampe auch noch auf der Einlassung des Angeklagten Boger. Boger hat eingeräumt, als Angehöriger der Politischen Abteilung zum Rampendienst eingeteilt gewesen zu sein und diesen Dienst auch versehen zu haben. Wenn aber Boger als Mitglied der Politischen Abteilung zum Rampendienst eingeteilt worden ist, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass auch Broad als Mitglied der Politischen Abteilung zum Rampendienst befohlen worden ist. Denn die Angehörigen der verschiedenen Abteilungen wurden abwechselnd zum Rampendienst eingeteilt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum man Broad von dieser Einteilung hätte ausnehmen sollen. Die Einlassung Bogers stützt auch die Überzeugung des Gerichts, dass Broad auf der Rampe Überwachungsfunktionen ausgeübt hat. Denn Boger hat eingeräumt, solche Funktionen auf der Rampe wahrgenommen zu haben. Wenn aber die Überwachungsfunktionen zum Aufgabenbereich der Politischen Abteilung gehörten, so kann nach der Überzeugung des Gerichts ohne weiteres gefolgert werden, dass auch Broad diese Funktionen während des Rampendienstes wahrgenommen hat. Die Annahme, Broad sei nur als Zuschauer zur Rampe befohlen worden, wäre lebensfremd.

Das Schwurgericht hat auch keine Zweifel, dass Broad den Grund für die Tötungen der Juden kannte. Allen SS-Angehörigen im KL Auschwitz war klar, dass die jüdischen Menschen nur deswegen getötet wurden, weil sie Juden waren, also wegen ihrer Abstammung.

Es kann auch nicht zweifelhaft sein, dass der Angeklagte Broad genau die Umstände gekannt hat, unter denen die Opfer getötet wurden. Er selbst hat die Frau, die sich auf Grund der Warnung durch einen Häftling an ihn gewandt hatte, bewusst über ihr bevorstehendes Schicksal, die Tötung durch Gas, getäuscht. Das zeigt, dass ihm die gesamten Täuschungsmanöver, unter denen die jüdischen Menschen zu den Gaskammern geführt wurden, geläufig waren. Ferner hat er bei seiner Vernehmung selbst eingeräumt, gewusst zu haben, dass die jüdischen Menschen zunächst in den beiden umgebauten Bauernhäusern und später in den neu gebauten vier Krematorien durch Gas getötet würden. Wenn auch nicht mit Sicherheit feststeht, ob er selbst solche Vergasungen in den Bauernhäusern oder in den Krematorien beobachtet hat, so waren ihm die Umstände, unter denen die Menschen starben, dennoch bekannt. Einmal wurde darüber unter den SS-Angehörigen in Auschwitz trotz Verbotes gesprochen; zum anderen hat er nach seiner eigenen Einlassung einmal im Stammlager von seinem Dienstzimmer aus eine Vergasung im kleinen Krematorium beobachtet. Er hat gesehen, wie SS-Angehörige das Zyklon B eingeworfen haben und er hat das Geschrei der Opfer gehört. Somit war ihm klar, unter welchen Umständen die jüdischen Menschen sterben mussten, da die Tötungsart in den Bauernhäusern und in den vier Krematorien die gleiche war wie im kleinen Krematorium im Stammlager.

Die Überzeugung, dass dem Angeklagten Broad auch klar geworden ist, durch seine Tätigkeit auf der Rampe die Vernichtungsaktion zu fördern, hat das Schwurgericht aus dem geschilderten objektiven Sachverhalt gewonnen. Dem intelligenten Angeklagten Broad kann nicht verborgen geblieben sein, dass er, wenn er den Rampendienst versah und Häftlinge und SS-Angehörige überwachte, für den reibungslosen Ablauf der Vernichtungsaktionen einen Tatbeitrag leistete. Vor allem musste ihm das klar sein und war ihm nach der Überzeugung des Gerichts auch klar, als er die Frau bewusst über ihre bevorstehende Tötung täuschte. Denn hier liegt es auf der Hand, dass er durch diese Täuschung Unruhe unter den jüdischen Menschen und Schwierigkeiten bei der Durchführung der Vernichtungsaktionen verhindern wollte und auch verhindert hat.

Es war nicht möglich, genau festzustellen, wie oft der Angeklagte Broad Überwachungsfunktionen auf der Rampe ausgeübt hat. Das Gericht hat sich daher, da es das Urteil nicht auf unsichere Schätzungen stützen durfte, darauf beschränkt, eine Mindestzahl festzustellen und diese dem Urteil zugrunde zu legen. Nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen Erich K. und Pal. hat der Angeklagte Broad wiederholt, also mehr als einmal, somit mindestens zweimal, Rampendienst auf der Rampe in Birkenau versehen. In einem dieser beiden Fälle hat er die jüdische Frau über ihr bevorstehendes Schicksal getäuscht und den Häftling zur Meldung gebracht.

Die Rampe in Birkenau wurde erst im Jahre 1944 in Betrieb genommen. Zu dieser Zeit waren die RSHA-Transporte durchschnittlich 3000 Personen stark. Hiervon wurden höchstens 25% als arbeitsfähig in das Lager aufgenommen, 75% getötet. Um ganz sicher zu gehen, hat das Gericht nur eine Mindestzahl von je 1000 Personen, die jeweils von diesen beiden Transporten getötet worden sind, festgestellt und dem Urteil zugrunde gelegt.

3. Zu II.2.

Die Feststellungen unter II.2. beruhen zunächst auf der Einlassung des Angeklagten Broad. Der Angeklagte Broad hat eingeräumt, dass er von Grabner zu Bunkerentleerungen bestellt und mindestens drei- bis viermal zu Bunkerentleerungen in den Arrestbunker mitgenommen worden sei. Er hat ferner eingeräumt, dass er auch mindestens zweimal bei den anschliessenden Erschiessungen dabeigewesen sei, wobei er drei bis fünf Meter von der Schwarzen Wand entfernt gestanden habe. Allerdings will er angeblich nicht gewusst haben, warum man ihn überhaupt mitgenommen habe. Er habe - so hat er behauptet - bei den Bunkerentleerungen nichts zu tun gehabt. Insoweit ist seine Einlassung unglaubhaft.

Es wäre lebensfremd anzunehmen, dass Grabner den Angeklagten Broad nur als unbeteiligten Zuschauer bei den Bunkerentleerungen und den Erschiessungen hätte dabei haben wollen. Denn Grabner musste einerseits ein Interesse daran haben, den Kreis der an den Bunkerentleerungen und Erschiessungen Beteiligten möglichst klein zu halten, damit über die eigenmächtigen Erschiessungen, die auch nach der damaligen Auffassung der SS-Führung rechtswidrig waren, nichts in die Aussenwelt dränge. Jeder Zuschauer, der nicht in die rechtswidrigen Tötungen verstrickt war, konnte für Grabner gefährlich werden, wenn er hierüber einer übergeordneten Dienststelle berichtete oder anderen davon erzählte. Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass Grabner mehr SS-Angehörige als unbedingt nötig zur Durchführung der Erschiessungsaktionen mit hineingezogen hat.

Andererseits mussten die SS-Führer Aumeier und Grabner mit verzweifelten Aufstands- oder Widerstandshandlungen der zum Tode bestimmten Menschen rechnen. Denn Menschen, die den Tod als unausweichlich vor Augen sehen, können in aussichtsloser Situation zu allem fähig sein. Da häufig eine grössere Anzahl von Häftlingen zum Tode bestimmt und nicht einzeln, sondern in einer Gruppe ausserhalb der Zellen aufgestellt und geschlossen zum Waschraum geführt wurde, lag diese Gefahr um so näher, zumal es sich bei den Arrestanten oft um entschlossene und nationalbewusste Polen handelte. Grabner musste daher dafür sorgen, dass genügend SS-Angehörige anwesend waren, die kraft ihrer Anzahl solche verzweifelten Widerstands- oder Aufstandshandlungen von vornherein als aussichtslos für die Opfer erscheinen lassen mussten und die, falls trotzdem ein Aufstand gewagt werden sollte, in der Lage waren, diesen im Keim zu ersticken. Dass Grabner daran gedacht hat, ergibt sich aus der Einlassung des Angeklagten Dylewski, der eingeräumt hat, dass Grabner ihm solche Sicherungsaufgaben zugewiesen und ihm befohlen habe, sich für einen verzweifelten Aufstand der Häftlinge bereit zu halten und diesen, falls er erfolgen sollte, zu verhindern.

Das Gericht ist daher überzeugt, dass der Angeklagte Broad nicht nur als unbeteiligter Zuschauer zu den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen mitgenommen worden ist, sondern dass er von Grabner die gleichen Sicherungsaufgaben wie der Angeklagte Dylewski zugewiesen bekommen hat und dass dem Angeklagten Broad entgegen seiner Einlassung auch durchaus bewusst gewesen ist, dass er für den reibungslosen Ablauf der Aktion im Bunker und an der Schwarzen Wand mitverantwortlich war.

Der Angeklagte Broad hat sich weiter dahin eingelassen, dass er geglaubt habe, die Exekutionen auf Block 11, beziehungsweise an der Schwarzen Wand, erfolgten auf Grund von Standgerichtsurteilen oder auf Grund von Exekutionsbefehlen. Er habe sie daher für rechtmässig gehalten. Auch diese Einlassung ist unglaubhaft und nur eine Schutzbehauptung. Sie wird bereits widerlegt durch seine schriftlichen Aufzeichnungen, die er in dem sog. Broad-Bericht im Jahre 1945 gemacht hat. In dem Bericht hat er die Erschiessungen an der Schwarzen Wand nach Bunkerentleerungen beschrieben. Er hat nichts davon erwähnt, dass die Erschiessungen auf Grund von Urteilen oder auf Grund von Befehlen höherer Dienststellen erfolgt seien. Vielmehr hat er eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass Grabner das Wochenende dazu benutzt habe, den Bunker "auszustauben". Er hat dann eingehend beschrieben, wie die Kommission, bestehend aus mehreren SS-Angehörigen begonnen hat, den Bunker "auszustauben" und wie dann dieses "Ausstauben" im einzelnen vor sich gegangen ist. Unter anderem hat er wörtlich ausgeführt: "Aumeier hält eine Liste aller Arretanden gegen die Tür, über die er nun mit Grabner zusammen hier unten Gericht halten will." Weiter hat er in dem Bericht angegeben, dass Grabner über das Schicksal der Häftlinge, die von der Politischen Abteilung eingesperrt worden seien, entschieden habe und dass Aumeier in den Fällen, in denen die Häftlinge von der Schutzhaftlagerführung in den Arrest verbracht worden seien, entschieden habe. Daraus ergibt sich bereits eindeutig, dass der Angeklagte Broad bereits damals genau gewusst hat, dass die Erschiessungen nicht durch Gerichtsurteile oder Befehl des RSHA oder sonstiger höherer SS-Dienststellen gedeckt waren, sondern eigenmächtig von Grabner oder Aumeier angeordnet wurden. Dass diese hierzu nicht befugt und die Tötungen daher unrechtmässig waren, war dem Angeklagten Broad damals ebenfalls klar. Das ergibt sich ebenfalls aus dem Bericht. Bei der Beschreibung der Erschiessungen durch Palitzsch hat Broad nämlich wörtlich unter anderem ausgeführt: "Er (Palitzsch) ist stolz darauf, ohne jede Gewissensempfindungen diese unschuldigen Menschen umzubringen .... Nach etwa einer Stunde ist dieses unbeschreiblich grauenhafte Schauspiel vorbei. Grabner hat seinen Bunker "ausgestaubt" und sitzt nun bei einem guten Frühstück ...."

Im übrigen gilt insoweit für den Angeklagten Broad das gleiche, war bereits unter E.III.3. bzgl. des Angeklagten Dylewski ausgeführt worden ist. Auch dem Angeklagten Broad waren alle Umstände bekannt, aus denen sich ergibt, dass die Erschiessungen ohne Gerichtsurteile und ohne Befehle des RSHA oder höherer Dienststellen erfolgt sind. Ihm musste sich daher ebenso wie dem Angeklagten Boger und dem Angeklagten Dylewski die Erkenntnis aufdrängen, dass keine Urteile und keine Befehle den Tötungen zugrunde liegen konnten. Auch ohne den Broad-Bericht stünde es daher zur Gewissheit des Gerichtes fest, dass der Angeklagte Broad gewusst hat, dass die Erschiessungen eigenmächtig ohne Gerichtsurteil und ohne Befehle höherer SS-Dienststellen erfolgt sind und daher unrechtmässig waren.

Aus dem erwähnten Teil des Broad-Berichtes ergibt sich schliesslich, dass dem Angeklagten Broad auch bekannt war, dass die Erschiessungen zum Zwecke des "Ausstaubens" d.h. um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen, erfolgt sind. Von der Art der Durchführung der Erschiessungen und ihrer Vorbereitung hat der Angeklagte Broad ebenfalls Kenntnis genommen, was sich daraus ergibt, dass er sie von Anfang bis Ende miterlebt hat.

Wie oft der Angeklagte Broad an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen teilgenommen hat, konnte nicht geklärt werden. Das Gericht hat sich daher darauf beschränkt, Mindestzahlen festzustellen. Nach der Einlassung des Angeklagten Broad hat er an mindestens zwei Erschiessungen, denen Bunkerentleerungen vorausgegangen waren, teilgenommen. Er hat zwar nicht angegeben, wieviel Menschen bei diesen Erschiessungen getötet worden sind. Da jedoch bei Bunkerentleerungen stets eine grössere Anzahl von Häftlingen für den Tod bestimmt und erschossen worden ist, konnte das Gericht - ebenso wie im Falle Dylewski, der als Mindestanzahl zehn Häftlinge pro Bunkerentleerung und Erschiessung angegeben hat - mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass in jedem der beiden Fälle mindestens zehn Menschen getötet worden sind.

IV. Rechtliche Würdigung der unter II. getroffenen Feststellungen

1. Zu II.1.

Der Angeklagte Broad hat in den festgestellten mindestens zwei Fällen die Taten der Haupttäter (vgl. oben A.V.1.) dadurch gefördert, dass er durch die Überwachung der Angehörigen des Häftlingskommandos und die Überwachung der an der Abwicklung der RSHA-Transporte beteiligten SS-Angehörigen für einen reibungslosen Ablauf der Vernichtungsaktionen gesorgt hat. In einem Fall hat er darüber hinaus zur Täuschung der Opfer beigetragen, indem er einer durch einen Häftling gewarnten Frau vorgespiegelt hat, der Häftling habe sie belogen. Hierdurch hat er die Arglosigkeit der Opfer durch eigene aktive Tätigkeit aufrecht erhalten.

Da er als Angehöriger der Waffen-SS auf Befehl seiner Vorgesetzten den Rampendienst versehen hat, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen des §47 MStGB zu beurteilen.

Der Angeklagte Broad hat klar erkannt, dass die Befehle, die die Tötung unschuldiger jüdischer Menschen anordneten, Handlungen betrafen, die ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Der Angeklagte Broad hat selbst die Vergasungen der Juden als Verbrechen bezeichnet. Im übrigen gilt hier das gleiche, was oben bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Mulka unter A.V.2. ausgeführt worden ist.

Der Angeklagte Broad muss daher wegen seiner Mitwirkung an der Massentötung jüdischer Menschen als Teilnehmer bestraft werden. Auch bei ihm konnte nicht festgestellt werden, dass er die Tötung jüdischer Menschen als eigene Tat gewollt hat. Ein besonderer Hass des Angeklagten Broad auf die Juden oder ein besonderer Eifer beim Rampendienst konnte nicht festgestellt werden. Wenn er den Häftling, der trotz seines Sprechverbotes mit einer der angekommenen Frauen gesprochen hat, zur Bestrafung gemeldet hat, lag das im Rahmen des ihm gegebenen Auftrages und kann noch nicht als besonderer, über die gegebenen Befehle hinausgehender Eifer angesehen werden. Ein persönliches Interesse des Angeklagten Broad an der Vernichtung der Juden war nicht ersichtlich. Auch das sonstige Verhalten des Angeklagten Broad im KL Auschwitz lässt keine Schlüsse auf einen Täterwillen zu. Das Gericht konnte daher nur feststellen, dass der Angeklagte Broad die Mordtaten der Haupttäter befehlsgemäss fördern und unterstützen wollte.

Der Angeklagte Broad, für dessen Mitwirkung an den Massentötungen jüdischer Menschen keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind, hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat - wie sich aus den Feststellungen unter II.1. ergibt - gewusst, dass er durch seine Überwachungstätigkeit die Vernichtungsaktionen förderte und somit einen kausalen Beitrag zu den Massentötungen leistete. Das wollte er auch. Ferner kannte er - wie sich ebenfalls aus den Feststellungen unter II.1. ergibt - die gesamten Tatumstände, die die Beweggründe der Haupttäter als niedrig und die Art der Ausführung der Tötung als heimtückisch und grausam kennzeichnen. Dass er auch das Bewusstsein gehabt hat, Unrecht zu tun, ergibt sich daraus, dass er die Tötungsbefehle als verbrecherisch erkannt und auch gewusst hat, dass die Tötung unschuldiger jüdischer Menschen ein allgemeines Verbrechen ist. Irgendwelche Umstände, aus denen er hätte entnehmen können, dass seine Mitwirkung gerechtfertigt sei, lagen nicht vor. Er hat auch nicht irrig das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes angenommen. Das behauptet er selbst nicht. Schliesslich hat er auch nicht irrig angenommen, dass die verbrecherischen Befehle, weil sie von der höchsten Staatsführung ausgegangen sind, trotz ihres verbrecherischen Charakters für ihn bindend gewesen seien. Hierzu kann auf die Ausführung unter A.V.2. Bezug genommen werden.

Dem Angeklagten Broad ist seine Mitwirkung bei der Massentötung jüdischer Menschen auch nicht durch eine wirkliche oder vermeintliche Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben abgenötigt worden. Er beruft sich nicht darauf, dass sein Wille gebeugt worden sei. Er ist ebenso wie der Angeklagte Dylewski gar nicht auf die Idee gekommen, sich den verbrecherischen Befehlen seiner Vorgesetzten zu entziehen und ihre Ausführung abzulehnen. Er hat ebenso wie die anderen SS-Angehörigen sein Gewissen zum Schweigen gebracht und in blindem Gehorsam alles ausgeführt, was ihm befohlen wurde im Vertrauen darauf, dass er wegen seiner Mitwirkung an den Massentötungen nicht zur Verantwortung gezogen werden würde. Sonstige Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Broad war daher wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens zwei Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) begangen jeweils in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB) an mindestens je 1000 Menschen zu bestrafen.

2. Zu II.2.

Der Angeklagte Broad hat die Tötung der Häftlinge in den festgestellten zwei Fällen dadurch gefördert, dass er durch seine befohlene Anwesenheit im Arrestbunker und anschliessend auf dem Hof und durch die befohlene Übernahme von Sicherungsaufgaben die reibungslose Durchführung der Erschiessungen im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen ermöglicht hat. Damit hat er einen kausalen Beitrag zu den Tötungen geleistet. Das war ihm auch bewusst. Da er auf Befehl Grabners, seines unmittelbaren Vorgesetzten, gehandelt hat, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen des §47 MStGB zu prüfen. Der Angeklagte Broad hat nach der Überzeugung des Gerichts klar erkannt, dass die Erschiessungen der im Arrestbunker einsitzenden Häftlinge ein allgemeines Verbrechen waren. Wie sich aus den Feststellungen unter II.2. ergibt, hat Broad gewusst, dass die Tötungen ohne Gerichtsurteil und nicht auf Grund von Befehlen höherer SS-Dienststellen erfolgt sind. Soweit Broad das Gegenteil behauptet, ist das nur eine Schutzbehauptung, wie unter III.3. näher ausgeführt worden ist. Damit entfällt auch sein Argument für seinen angeblichen Glauben an die Rechtmässigkeit der Tötungen. Der Angeklagte Broad wusste - ebenso wie Boger und Dylewski und alle anderen SS-Angehörigen -, dass weder Grabner noch Aumeier befugt waren, eigenmächtig Tötungen von Häftlingen anzuordnen.

Den Angeklagten Broad trifft daher für seine Mitwirkung an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Tötungen die Strafe des Teilnehmers. Auch hier konnte jedoch nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte Broad die Tötungen der Häftlinge zu seiner eigenen Sache gemacht, somit mit Täterwillen gehandelt hat. Einen besonderen Eifer hat der Angeklagte Broad nach den getroffenen Feststellungen nicht gezeigt. Auch konnte nicht festgestellt werden, dass er sich zu den Erschiessungen nach Bunkerentleerungen vorgedrängt oder sonst massgeblichen Einfluss auf die Auswahl der zu tötenden Häftlinge genommen habe. Auch das sonstige Verhalten des Angeklagten Broad lässt keine Schlüsse auf einen Täterwillen zu. Der Zeuge van V., der im Zigeunerlager als Blockältester eingesetzt war, hat den Angeklagten Broad positiv beurteilt. Nach der Meinung dieses Zeugen passte der Angeklagte Broad nicht in die SS. Der Zeuge hat nie selbst gesehen oder gehört, dass Broad einen Häftling geschlagen habe, obwohl Broad nach der Aussage des Zeugen täglich in das Zigeunerlager hineingekommen ist. Einmal verriet ein Häftling dem Angeklagten Broad, dass der Zeuge van V. Geld habe. Der Besitz von Geld war verboten. Der Angeklagte Broad machte bei dem Zeugen van V. eine Durchsuchung und fand das Geld. Gleichwohl meldete er den Zeugen van V. nicht, so dass diesem nichts passierte. Der Zeuge van V. ist glaubwürdig. Er war als holländischer Offizier in das KL Auschwitz eingewiesen worden. Jetzt ist er Oberst in der holländischen Armee. Er hat seine Aussage klar, präzise und sachlich gemacht. Bedenken, dass er in der einen oder anderen Richtung übertrieben hätte, bestehen nicht.

Auch der Zeuge Bur. hat günstig über den Angeklagten Broad ausgesagt. Der Zeuge kannte den Angeklagten Broad, da er als Reiniger in der Politischen Abteilung tätig war, ebenso wie die Angeklagten Boger und Dylewski. Der Zeuge konnte nicht feststellen, dass Broad die Häftlinge bei Vernehmungen misshandelt oder geschlagen hätte. Einmal beauftragte der Angeklagte Broad den Zeugen Bur., misshandelten und gefolterten Häftlingen, die von Angehörigen der Kattowitzer Gestapo "vernommen" worden waren, Wasser zu bringen. Dabei brachte er seine Empörung über die Vernehmungsmethode der Kattowitzer Gestapo zum Ausdruck. Ein andermal sollte der Angeklagte Broad eine Gruppe jüdischer Menschen, die von deutschen Polizisten gebracht worden waren und bewacht wurden, auf dem Motorrad nach Birkenau zu den Gaskammern geleiten, da die Polizisten den Weg nicht kannten. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Bur. entzog sich Broad jedoch dieser Aufgabe, indem er einem SS-Führer gegenüber erklärte, er habe ein krankes Bein und könne nicht mit dem Motorrad fahren. Tatsächlich war Broad jedoch gesund.

Auch die Zeugin Meh. hat Broad dahin charakterisiert, dass er nicht der Typ eines SS-Mannes gewesen sei. Das Protokoll über die Vernehmung dieser Zeugin wurde verlesen, da die Zeugin verstorben ist.

Die Zeugin Hilli Wei. hat den Angeklagten Broad als den "anständigsten Menschen der Lagerverwaltung" bezeichnet. Das richterliche Protokoll über die Vernehmung dieser Zeugin wurde verlesen, da die Zeugin wegen Erkrankung in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden konnte. Allerdings ist zweifelhaft, ob man der Zeugin in der Beurteilung des Angeklagten Broad folgen kann. Von den Zeuginnen Wa., Maj. und Scha. wurde der Angeklagte Broad als klug, intelligent, raffiniert, undurchsichtig und hinterlistig charakterisiert. Keine der Zeuginnen hat jedoch über konkrete Fälle berichten können, aus denen der Schluss auf einen Täterwillen des Angeklagten Broad bei den Erschiessungen nach Bunkerentleerungen gezogen werden konnte. Nach der Aussage der Zeugin Wa. hat Broad russischen Kriegsgefangenen bei Vernehmungen zunächst höflich Platz angeboten. Dann hat er sie allerdings beschimpft mit Ausdrücken wie "Du russisches Schwein", "Wie kannst Du sitzen bleiben, wenn ein SS-Mann sitzt". Dabei habe sich Broad - so gab die Zeugin an - amüsiert. Er habe sich überhaupt über alles im Lager amüsiert. Im übrigen habe Broad bei Vernehmungen auch geschlagen. Doch wisse sie nicht, ob jemand an den Schlägen gestorben sei. Nähere Einzelheiten konnte die Zeugin nicht angeben. Irgendwelche Erkenntnisse für die hier interessierende Frage lassen sich aus der Aussage der Zeugin nach Auffassung des Schwurgerichts nicht gewinnen.

Über die Vernehmungsmethoden Broads haben noch weitere Zeugen Angaben gemacht. Aus ihnen ergibt sich kein einheitliches Bild. Hierüber werden noch Ausführungen bei der Erörterung des Punktes 3 des den Angeklagten Broad betreffenden Eröffnungsbeschlusses in einem späteren Abschnitt zu machen sein. Hier sei nur erwähnt, dass der Schuldvorwurf in Ziffer 3 des Eröffnungsbeschlusses durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt worden ist. Es konnte nicht festgestellt werden, dass Broad bei Vernehmungen einen Häftling getötet hat. Damit ergeben sich auch keine sicheren Beweisanzeichen dafür, dass Broad mit Täterwillen bei den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen mitgewirkt hat. Der Zeuge Fab. hat den Angeklagten Broad, wie bereits oben bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Dylewski unter E.III.3. ausgeführt worden ist, schwer belastet. Dort ist jedoch bereits ausgeführt, dass das Gericht nicht die sichere Überzeugung davon gewinnen konnte, dass der Zeuge Fab. den Angeklagten Broad irrtumsfrei erkannt, bzw. wiedererkannt hat und dass Bedenken gegen die Zuverlässigkeit dieses Zeugen bestehen.

Der Zeuge Wei. will ebenso wie der Zeuge Fab. den Angeklagten Broad in der Hauptverhandlung wiedererkannt haben. In der Sitzung vom 6.11.1964 zeigte der Zeuge bei der Gegenüberstellung mit den Angeklagten auf den Angeklagten Broad und erklärte wörtlich: "Ich meine, den kenne ich auch von Block 11, den Namen kenne ich nicht." Dabei war sich der Zeuge jedoch nicht ganz sicher. In der Sitzung vom 12.11.1964 wurde der Zeuge von der Staatsanwaltschaft nach dem Angeklagten mit der Brille gefragt, den er am 6.11.1964 zu erkennen geglaubt habe. Dabei zeigte der betreffende Staatsanwalt auf den Angeklagten Dylewski, der einige Reihen hinter dem Angeklagten Broad sass. Der Zeuge Wei. bekundete nun in bezug auf den Angeklagten Dylewski in der Meinung, es sei der von ihm am 6.11.1964 als bekannt bezeichnete (Broad), dass er auch einige Male an der Schwarzen Wand gewesen sei, wenn Frauen hingerichtet worden seien. Auf seinen Irrtum hingewiesen, erklärte der Zeuge, er sei sich nicht sicher gewesen, die beiden (Broad und Dylewski) sähen sich ähnlich. Er erinnere sich nicht an Dylewski. Broad, den er nicht mit dem Namen gekannt habe, habe jedoch eigenhändig Menschen erschossen. Ob er auch auf Frauen geschossen habe, das wisse er nicht.

Das Schwurgericht konnte auf diese Aussage hin keine sicheren Feststellungen in bezug auf den Angeklagten Broad treffen. Schon bei dem angeblichen Wiedererkennen am 6.11.1964 zeigte sich eine gewisse Unsicherheit bei dem Zeugen. Der Zeuge brachte dies auch durch seine vorsichtige Formulierung "er meine", ihn (Broad) wiederzuerkennen, zum Ausdruck. Die Verwechslung in der Sitzung vom 12.11.1964 aber macht deutlich, dass der Zeuge kein zuverlässiges Erinnerungsbild mehr an die damaligen SS-Schützen hat und er möglicherweise den Angeklagten Broad mit einem anderen SS-Mann, der an der Schwarzen Wand Menschen erschossen hat, verwechselt. Der Angeklagte Broad hat allerdings selbst bei seiner Vernehmung durch den Zeugen Ae. im Ermittlungsverfahren - wie der Zeuge Ae. glaubhaft bekundet hat - eingeräumt, es könne möglich sein, dass er auch selbst an der Schwarzen Wand geschossen habe. Ja. habe ihm einmal gesagt, er (Broad) habe ihm bald in die Hand geschossen. Wenn sich auch aus dieser Aussage des Angeklagten Broad ergibt, dass er selbst an der Schwarzen Wand eigenhändig Menschen erschossen hat, so lässt sich jedoch nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ob er Arrestanten nach sog. Bunkerentleerungen erschossen hat oder, ob die Opfer seiner Genickschüsse zum Tode verurteilte Menschen (durch Stand- oder Sondergerichtsurteile) gewesen sind. Eine exakte rechtliche Beurteilung ist daher nicht möglich, da weder im objektiven noch subjektiven Bereich sichere Tatsachenfeststellungen getroffen werden können. Die Tatsache allein, dass er auch eigenhändig geschossen hat (selbst nach Bunkerentleerungen), wäre im übrigen noch kein sicherer Beweis, wenn auch ein starkes Indiz für seinen Täterwillen, da er möglicherweise nur auf Befehl gehandelt haben könnte.

Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass keine sicheren Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Angeklagte Broad mit Täterwillen an den Erschiessungen nach sog. Bunkerentleerungen mitgewirkt hat. Es konnte nur festgestellt werden, dass er als Gehilfe die Taten Grabners, Aumeiers und Bogers und anderer fördern wollte.

Der Angeklagte Broad, für dessen Mitwirkung keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind, hat auch vorsätzlich gehandelt.

Wie sich aus den unter II.2. getroffenen Feststellungen ergibt, war er sich durchaus bewusst, dass er bei den Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen Sicherungsaufgaben zu erfüllen hatte. Diese hat er bewusst und gewollt geleistet. Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass ihm auch klar sein musste und nach der Überzeugung des Gerichts auch klar war, dass er zu den Taten einen kausalen Tatbeitrag leistete. Der Angeklagte Broad kannte nach den getroffenen Feststellungen auch die gesamten Tatumstände, die die Beweggründe für die Tötung als niedrig und die Art ihrer Ausführung als grausam kennzeichnen. Der Angeklagte Broad hat auch das Bewusstsein gehabt, Unrecht zu tun. Unter III.3. ist im einzelnen ausgeführt worden, dass seine Behauptung, er habe geglaubt, die Erschiessungen seien durch Urteile und Exekutionsbefehle höherer Dienststellen gedeckt und daher rechtmässig, eine Schutzbehauptung ist und dass der Angeklagte Broad erkannt hat, dass die Häftlinge unschuldig getötet wurden und daher die Erschiessungen unrechtmässig waren.

Irgendwelche Schuldausschliessungsgründe liegen nicht vor. Der Angeklagte Broad beruft sich nicht darauf, dass er sich in einem Befehlsnotstand (§52 StGB) oder einem allgemeinen Notstand (§54 StGB) befunden habe und dass ihm seine Mitwirkung durch Beugung seines Willens abgenötigt worden sei. Es liegen auch sonst keine Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Notstände vor. Der Angeklagte Broad hat nie irgendeinen Versuch gemacht, sich der Mitwirkung an den Bunkerentleerungen und den Erschiessungen zu entziehen. Für den intelligenten Angeklagten, der gewusst hat, dass Grabner die Erschiessung von Häftlingen auch nach den damaligen Anschauungen der SS-Führung nicht eigenmächtig befehlen durfte, wäre es leicht gewesen, Meldung über die rechtswidrigen Tötungen an vorgesetzte Dienststellen (RSHA) zu erstatten, um diese zu unterbinden oder sich nicht daran beteiligen zu müssen.

Aus den gleichen Gründen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte Broad irrig die tatsächlichen Voraussetzungen eines Nötigungsnotstandes oder eines allgemeinen Notstandes angenommen hätte. Er beruft sich auch selbst nicht darauf.

Die Erschiessung eines jeden Häftlings ist als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB anzusehen. Es kann hierzu auf die bereits gemachten Ausführungen Bezug genommen werden (C.V.3.).

Der Angeklagte Broad war daher wegen seiner Beteiligung an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens zwanzig Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) zu bestrafen.

V. Strafzumessung

Insgesamt musste gegen den Angeklagten eine Gesamtstrafe wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 22 Fällen ausgesprochen werden. Der Findung der angemessenen Einzelstrafen liegen folgende Zumessungserwägungen zugrunde: Der ausserordentlich intelligente und kaum durchschaubare Angeklagte hat sich in allen Situationen im Konzentrationslager Auschwitz, wie auch später nach seiner Gefangennahme, so verhalten, wie es ihm opportun erschien. Er hat sich damals für sein Teil zur Mitwirkung an zahlreichen Mordtaten einspannen lassen, ohne je irgendwelchem Abscheu gegen die ungeheuerliche Ausrottung menschlichen Lebens Ausdruck zu geben.

Demgegenüber spricht für den Angeklagten:

Er hat nach dem Kriege einen ordentlichen Beruf ausgeübt und sich unauffällig geführt. Er ist verhältnismässig jung durch eine Reihe von Zufällen in die Politische Abteilung gelangt und in Situationen gestellt worden, aus denen sich seine Straftaten entwickelten. Er hat sich bei der befohlenen Erfüllung seiner "Aufgaben" im wesentlichen zurückgehalten, hat es wohl deshalb auch nur bis zum SS-Rottenführer gebracht und hat sich, wie die Zeugen Bur. und van V. geschildert haben, jedenfalls gelegentlich auch anständig verhalten, sein Tatbeitrag war nur in einem Falle erheblich; seine Funktionen hatten vergleichsweise geringere Bedeutung.

In dem unter II.1. geschilderten Fall seiner Teilnahme am Rampendienst hat der Angeklagte in Erfüllung seiner "Aufgabe" die Bedenken eines gewarnten Opfers raffiniert zu zerstreuen gewusst; hier erreicht seine Beihilfehandlung grösseres Gewicht. Unter Berücksichtigung der angeführten Strafzumessungsgründe ist daher für diese Tat auf eine Einsatzstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus erkannt worden, während in allen anderen Fällen die Mindeststrafe von 3 Jahren Zuchthaus als ausreichende Strafe und Sühne erachtet worden ist.

Die Gesamtstrafe wurde bei Beachtung aller angeführten wesentlichen Strafzumessungsgründe gem. §74 StGB auf 4 Jahre Zuchthaus festgesetzt.

G. Die Straftaten des Angeklagten Schlage

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Schlage

Der Angeklagte Schlage wurde am 11.2.1903 als Sohn eines Arbeiters in Truttenau/Krs.Königsberg (Ostpreussen) geboren. Er besuchte die Volksschule von seinem 6. bis zum 14. Lebensjahr zunächst in Truttenau, dann in Itzehoe, wohin seine Eltern im Jahre 1912 verzogen, und schliesslich in Rosengarten bei Langerbrück/Krs.Angerburg (Schleswig-Holstein), nachdem seine Eltern in Langerbrück einen Bauernhof erworben hatten. Nach der Schulentlassung arbeitete der Angeklagte zunächst bei der Reichsbahn. Wegen der schlechten Verdienstmöglichkeiten erlernte er jedoch in 3 Jahren das Maurerhandwerk. Nach der Gesellenprüfung besuchte er 1927 oder 1928 eine Werkmeisterschule. Im Anschluss daran arbeitete er als Maurerpolier bei einer Königsberger Firma, und zwar auf Baustellen, die meist im Ausland (Litauen, Lettland) lagen. Im Jahre 1924 heiratete der Angeklagte. Aus der Ehe sind zwei Söhne hervorgegangen, die jetzt 40 und 38 Jahre alt und verheiratet sind.

Bei Kriegsausbruch lebte der Angeklagte in Königsberg. Er wurde im Frühjahr (März oder April) 1940 zu einer Polizeiverfügungstruppe nach Plock an der Weichsel / Ostpreussen eingezogen und alsbald einer SS-Standarte zugeteilt. Ende des Jahres 1940 oder Anfang 1941 wurde er mit anderen SS-Angehörigen zu dem KZ Auschwitz versetzt. Damals war er SS-Sturmmann. Vor der Versetzung nach Auschwitz will der Angeklagte noch einige Zeit - etwa von Herbst 1940 an - in Tschenstochau gewesen sein.

In Auschwitz wurde der Angeklagte zunächst der 3. Kompanie des Wachsturmbannes zugeteilt. Eine Zeitlang versah er bei dieser Kompanie die Funktionen des Hilfskuriers. Eines Tages - der Angeklagte gibt an, es sei im Frühjahr oder Frühsommer 1942 gewesen, der genaue Zeitpunkt liess sich jedoch nicht mehr feststellen -, wurde der Angeklagte Schlage zum Schutzhaftlager kommandiert und als Läufer, Hilfsblockführer und schliesslich als Blockführer eingesetzt.

Im Herbst 1942 - der genaue Zeitpunkt liess sich nicht mehr feststellen - wurde der Angeklagte Schlage Arrestaufseher in dem Arrestblock 11 des Stammlagers. Diese Funktion übte er mindestens 8-10 Wochen ununterbrochen aus. Anschliessend, etwa von Januar oder Februar 1943 bis Mitte April 1943, war der Angeklagte Kommandoführer eines Häftlingskommandos, das in der Zementfabrik in Golleschau arbeitete. Wegen Fluchtbegünstigung von 3 Häftlingen wurde er dort Mitte April 1943 verhaftet und - wie er sich einlässt - für unbestimmte Zeit in den Arrestblock 11 gebracht, wo er ca. 3 Wochen in Haft gewesen sein will. Anschliessend wurde er wieder im Lagerdienst eingesetzt. Er blieb im Stammlager bis zur Evakuierung dass Lagers. Er gibt an, er sei Ende September oder am 3.10.1943 in das Lazarett gekommen. Im April oder Mai 1944 sei er aus dem Lazarett entlassen worden und nach Auschwitz zurückgekommen. Anschliessend habe er, so gibt er an, 10 Wochen Genesungsurlaub bekommen, den er bei seiner Familie in Königsberg verbracht habe. Anschliessend habe er noch 8 Wochen Erholungsurlaub nach Gorenka bekommen. Erst im August 1944 sei er nach Auschwitz zurückgekommen und als z.b.V. bei der Postzensur eingesetzt worden. Mit dem Block 11 habe er nichts mehr zu tun gehabt.

Nach der Auflösung des Konzentrationslagers Auschwitz begleitete der Angeklagte, der in Auschwitz noch zum SS-Unterscharführer befördert worden war, einen Häftlingstransport bis zum Konzentrationslager Gross-Rosen. Im Mai 1945 geriet er in polnische Kriegsgefangenschaft und kam in das Lager 66110 bei Bromberg. Er gab sich als Wehrmachtsangehöriger aus. Am 8.8.1949 wurde er aus der Gefangenschaft und der Wehrmacht entlassen und begab sich zu seiner Familie nach Dehme - Bad Oeynhausen, wo er heute noch wohnt.

Seit Oktober 1961 ist der Angeklagte als Hausmeister bei einer Damenmantel- und Kostümfabrik in Gefeld mit einem Bruttoverdienst von zuletzt über 1000.- DM monatlich beschäftigt gewesen. Er bezieht ausserdem eine Unfallrente von 76.30 DM monatlich. Das Eigentum an dem Grundstück, auf dem er wohnt, hat er seinem Sohn übertragen. Ihm und seiner Ehefrau steht noch ein Einsitzrecht zu.

Der Angeklagte hat sich vor und nach der sog. Machtübernahme nie politisch betätigt. Er trat weder der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen bei. Er war nur Mitglied der Deutschen Arbeitsfront.

Der Angeklagte ist während der Hauptverhandlung auf Grund des Haftbefehls des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 13.4.1964 verhaftet worden. Seitdem befindet er sich in dieser Sache in Untersuchungshaft.

II. Die Beteiligung des Angeklagten Schlage an sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand (Eröffnungsbeschluss betr. den Angeklagten Schlage)

Der Angeklagte Schlage wurde - wie in seinem Lebenslauf bereits geschildert - im Herbst 1942 Arrestaufseher im Block 11. Er hatte jeweils 12 Stunden Dienst, dann wurde er von einem anderen Arrestaufseher abgelöst. Während der Dienststunden hatte er sich im Block 11 aufzuhalten. Er führte die Aufsicht über die im Block 11 beschäftigten Funktionshäftlinge und hatte für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit im Block zu sorgen. Für die im Arrestbunker befindlichen Zellen hatte er die Schlüssel. Morgens schloss er die Zellentüren auf und führte die in den Zellen eingesperrten Häftlinge zum Waschen. Auch war er für die Verteilung des Essens an die Häftlinge verantwortlich.

An den Bunkerentleerungen (vgl. oben C.II.3.) nahm er teil. Er ging mit Grabner, Aumeier und den anderen SS-Angehörigen in den Arrestbunker hinab und schloss dort nacheinander die einzelnen Zellentüren auf. Danach schloss er sie wieder zu. Auch er hatte sich für eventl. Widerstands- und Aufstandshandlungen der Häftlinge im Arrestbunker bereit zu halten und falls es hierzu kommen sollte, diese sofort zu brechen. Nach den Bunkerentleerungen holte er gelegentlich das Kleinkalibergewehr aus der Blockführerstube und trug es zur Exekutionsstätte. Er ging auch mit auf den Hof und griff ein, wenn Häftlinge sich in ihrer Todesangst nicht zur Schwarzen Wand führen lassen wollten. Dann trieb er sie zur Exekutionsstätte. Es gab auch Fälle, dass Häftlinge beim Herausführen aus dem Block 11 sich dem Griff des Bunkerkalfaktors widersetzten, stehen blieben und riefen: "Es lebe Polen!" Dann griff der Angeklagte Schlage ebenfalls ein und half, die Häftlinge zur Schwarzen Wand zu bringen.

Im übrigen hatte sich der Angeklagte Schlage ebenso wie die Angeklagten Broad und Dylewski während der Erschiessungen und schon vorher während des Wartens der Häftlinge im Waschraum und auf dem Flur genauso wie zuvor im Arrestbunker für einen eventl. Widerstand oder Aufstand der Häftlinge bereitzuhalten, um einen solchen im Zusammenwirken mit den anderen SS-Angehörigen sofort niederschlagen zu können. Nach Beendigung der Erschiessungen beaufsichtigte der Angeklagte Schlage das Aufladen der Leichen auf die Rollwagen und ihren Abtransport zum Krematorium.

Der Angeklagte Schlage hat an mindestens acht Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen teilgenommen. In diesen Fällen wurden jeweils mindestens je zehn Häftlinge erschossen. Ob der Angeklagte Schlage auch selbst eigenhändig Häftlinge nach solchen Bunkerentleerungen erschossen hat, konnte trotz erheblichen Verdachts nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Der Angeklagte Schlage wusste, dass die Häftlinge ohne Todesurteil und ohne Befehle höherer SS-Dienststellen nur auf Grund der Anordnung der im Arrestbunker versammelten SS-Führer und Unterführer erschossen wurden. Er wusste auch, dass die Erschiessungen zur Räumung des Bunkers, um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen, erfolgten. Den gesamten Ablauf der Aktion nahm er als unmittelbar Beteiligter von Anfang bis zum Ende wahr. Dem Angeklagten Schlage war auch klar, dass er durch seine - oben geschilderten - Tätigkeiten die Erschiessungsaktionen förderte und unterstützte.

III. Einlassung des Angeklagten Schlage, Beweismittel, Beweiswürdigung

Der Angeklagte Schlage hat sich widersprüchlich eingelassen. Zunächst hat er eingeräumt, dass er acht bis zehn Wochen als Arrestaufseher im Block 11 gewesen sei. Er hat auch zugegeben, dass er mindestens an einer Bunkerentleerung teilgenommen habe. Dabei will er allerdings nur die Zellentüren aufgeschlossen haben. Im übrigen habe er - so hat er sich eingelassen - mit den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen nichts zu tun gehabt. Er sei vielmehr nach der einen Bunkerentleerung wieder in sein Dienstzimmer gegangen. Nur gerüchtweise habe er gehört, dass Palitzsch die Häftlinge erschossen habe. Gesehen habe er gar nichts. Nur die Schüsse habe er gehört. Im Widerspruch hierzu hat er dann eingeräumt, dass er auch teilweise auf dem Hof gewesen sei, wenn die Leichen der Erschossenen aufgeladen worden seien. Später ist er von dieser Einlassung wieder abgerückt. Er hat behauptet, nie Arrestaufseher gewesen zu sein. Er sei nur tageweise aushilfsweise zum Block 11 kommandiert worden.

Diese Einlassung des Angeklagten Schlage ist schon in sich unglaubhaft. Auf Grund der Aussagen der Zeugen Wl., Pi. und Bor. steht fest, dass Schlage längere Zeit, und zwar ab Herbst 1942 Arrestaufseher in Block 11 gewesen ist. Der Zeuge Wl., der von Februar 1942 bis Dezember 1942 Schreiber auf Block 11 gewesen ist und anschliessend noch bis April 1943 auf der Quarantänestation im Block 11 blieb, hat glaubhaft bekundet, dass Schlage im Spätherbst 1942 Arrestaufseher geworden sei. Das Gericht hat keine Bedenken, dass die Aussage dieses Zeugen der Wahrheit entspricht. Wl. hat als Blockschreiber täglich mit den Arrestaufsehern zu tun gehabt. Er musste sie daher genau kennen. Seine Bekundung wird bestätigt durch den Zeugen Bor. Dieser war vom 17.12.1942 bis zum 9.3.1943 im Arrest des Blockes 11, wie sich aus der Eintragung im Bunkerbuch ergibt. Er hat den Angeklagten Schlage als Arrestaufseher erlebt. Auch der Zeuge Pi. hat den Angeklagten Schlage als Arrestaufseher kennengelernt. Auch dieser Zeuge, der im Dezember 1942 nach dem Zeugen Wl. Blockschreiber geworden ist, musste täglich mit dem Angeklagten Schlage als Arrestaufseher zusammenarbeiten. Ein Irrtum des Zeugen in der Person des Angeklagten Schlage erscheint daher ausgeschlossen.

Die ursprüngliche Einlassung des Angeklagten Schlage, er sei Arrestaufseher gewesen, verdient daher mehr Glauben, als seine spätere Behauptung, er habe diese Funktion nie ausgeübt. Das Gericht ist daher überzeugt, dass seine ursprüngliche Einlassung, acht bis zehn Wochen Arrestaufseher gewesen zu sein, auf jeden Fall den Mindestzeitraum ergibt, während dessen er die Funktion eines Arrestaufsehers innegehabt hat. Da die Zeugen insoweit keine sicheren Zeitangaben machen konnten, ist das Gericht von dieser Einlassung ausgegangen und hat nur festgestellt, dass der Angeklagte Schlage mindestens acht Wochen Arrestaufseher gewesen ist.

Die Einlassung des Angeklagten Schlage, ausser dem Aufschliessen der Zellentüren nichts mit den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen zu tun gehabt zu haben, ist jedoch unglaubhaft. Sie verdient schon deswegen keinen Glauben, weil es zu den Aufgaben des Arrestaufsehers, dessen Verantwortlichkeit die Arrestanten unterstanden, gehört hat, für Ruhe und Ordnung im Block 11, insbesondere auch im Arrestbunker, zu sorgen. Es erscheint nur natürlich, dass er bei den Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen auch für die Einhaltung von Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte und für deren reibungslose Durchführung eingesetzt wurde. Schlage hat auch indirekt in Widerspruch zu dieser Einlassung zugegeben, dass er doch mit diesen Aktionen etwas zu tun gehabt haben muss, indem er eingeräumt hat, nach den Erschiessungen teilweise beim Aufladen der Leichen im Hof zugegen gewesen zu sein. Damit hat er auch zugegeben, mehr als einmal an solchen Bunkerentleerungen und Erschiessungen teilgenommen zu haben.

Die Überzeugung des Gerichts, dass Schlage in der geschilderten Weise an den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen beteiligt gewesen ist, stützt sich aber nicht nur auf diese allgemeine Erwägung, sondern auch auf die Einlassung des Angeklagten Dylewski und die glaubhafte Aussage des Zeugen Pi.

Der Angeklagte Dylewski hat - wie oben schon ausgeführt - eingeräumt, dass er von Grabner zum Sicherungs- und Abschirmdienst für eventl. Widerstands- und Aufstandshandlungen der Häftlinge eingeteilt worden ist. Bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Broad ist ausgeführt worden, dass auch Broad diesen Sicherungs- und Abschirmdienst zu versehen hatte. Es wäre kaum zu verstehen, wenn Grabner hierzu nur die Angeklagten Dylewski und Broad eingeteilt hätte. Denn beide allein wären einem verzweifelten Widerstand oder Aufstand der Häftlinge nicht gewachsen gewesen. Das Gericht ist daher überzeugt, dass sich auch der Angeklagte Schlage - ausser seinen sonstigen Aufgaben - für eventl. Aufstands- und Widerstandshandlungen bereit zu halten und gegebenenfalls diese niederzuschlagen hatte. Der Zeuge Pi. hat glaubhaft bestätigt, dass der Angeklagte Schlage mehrfach den Karabiner aus der Blockführerstube geholt und auf den Hof gebracht hat. Er hat auch bemerkt, dass Schlage wiederholt zu den Erschiessungen auf den Hof gegangen und dort geblieben ist. Über weitere Einzelheiten konnte er allerdings nicht berichten, da er selbst während der Erschiessungen nicht auf dem Hof war.

Über die Tätigkeit des Angeklagten Schlage während der Erschiessungen hat der Zeuge Gl. berichtet. Das Schwurgericht hat zwar in gewisser Hinsicht Bedenken an der Zuverlässigkeit der Aussage dieses Zeugen, wie oben bei der Erörterung der Straftaten des Angeklagten Dylewski bereits ausgeführt worden ist. Vor allem erscheint es nicht sicher, dass Gl. noch zuverlässig weiss, wer eigenhändig die Häftlinge erschossen hat. Auch im Falle des Angeklagten Schlage wusste der Zeuge nicht mehr zu sagen, ob Schlage selbst Häftlinge erschossen hat. Der Zeuge gab jedoch mit Bestimmtheit an, dass Schlage auf dem Hof Häftlinge mit an die Schwarze Wand getrieben habe, wenn Stockungen eingetreten seien. Insoweit erscheint seine Aussage glaubhaft und zuverlässig. Denn die geschilderte Mitwirkung passt ganz in den Aufgabenbereich des Arrestaufsehers und die gegebene Situation. Sie wird auch zumindest unmittelbar durch die Aussage des Zeugen Pi. bestätigt, wonach Schlage tatsächlich während der Erschiessungen auf dem Hof gewesen ist.

Das Gericht hat daher keine Zweifel, dass der Angeklagte Schlage die geschilderten Tätigkeiten bei den Bunkerentleerungen und den Erschiessungen ausgeübt hat.

Darüber hinaus besteht ein erheblicher Verdacht, dass der Angeklagte Schlage auch eigenhändig Häftlinge nach Bunkerentleerungen erschossen hat. Denn der Angeklagte Broad hat in seinem im Jahre 1945 gemachten Aufzeichnungen bei der Beschreibung einer Erschiessung an der Schwarzen Wand ausgeführt, dass der "Arrestaufseher" diese vollzogen habe. Es steht jedoch nicht mit Sicherheit fest, dass auch der Angeklagte Schlage dies getan hat. Broad nennt den Namen des Angeklagten Schlage in seinem Bericht nicht. Zwar hat auch der Zeuge Wei. bekundet, dass Schlage Menschen eigenhändig an der Schwarzen Wand erschossen habe. Er konnte aber nicht angeben, ob die Opfer, die Schlage erschossen haben soll, nach Bunkerentleerungen zur Exekution gebracht worden sind oder ob es sich bei den Opfern um Personen gehandelt hat, die auf Grund von Sondergerichts- oder Standgerichtsurteilen zur Exekution nach Auschwitz eingeliefert worden waren. Die Erschiessung von solchen Personengruppen wird dem Angeklagten Schlage durch den Eröffnungsbeschluss nicht zur Last gelegt. Auf Grund der Aussage des Zeugen Wei. kann daher nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass Schlage eigenhändig Häftlinge, die nach Bunkerentleerungen zur Exekution gebracht worden sind, getötet hat.

Die genaue Anzahl der Bunkerentleerungen und Erschiessungen, an denen der Angeklagte Schlage in der geschilderten Weise beteiligt war, konnte nicht festgestellt werden. Sie ist unbestimmt. Auch konnte nicht geklärt werden, wieviel Opfer insgesamt unter Mitwirkung des Angeklagten Schlage den Tod fanden. Das Gericht musste sich daher auf die Feststellung von Mindestzahlen beschränken. Nach der eigenen Einlassung des Angeklagten Schlage war er mindestens acht Wochen im Arrestbunker als Arrestaufseher tätig. Die Bunkerentleerungen fanden nach den Aufzeichnungen des Angeklagten Broad (in dem sog. Broad-Bericht) mindestens einmal in der Woche statt. Auch nach der Aussage des Zeugen Se., der sich vom 21.1. bis 13.2.1943 im Arrestbunker befunden hat, war wöchentlich eine Bunkerentleerung. Einige Zeugen haben angegeben, dass zu anderen Zeiten noch häufiger als einmal in der Woche Bunkerentleerungen stattgefunden hätten. So z.B. die Zeugen Brei. und Wö. Die Erinnerung der Zeugen Wl. und Pi. an die Anzahl der Bunkerentleerungen war nicht mehr präzise.

Das Gericht ist daher von den Angaben des Angeklagten Broad in seinem bereits im Jahre 1945 geschriebenen Bericht ausgegangen, da seine Erinnerung damals noch frisch war, und zu der Feststellung gekommen, dass in der Zeit, während der der Angeklagte Schlage Arrestaufseher gewesen ist, mindestens je eine Bunkerentleerung pro Woche, somit insgesamt 8 Bunkerentleerungen gewesen sind.

Nach der Überzeugung des Gerichts sind nach diesen Bunkerentleerungen mindestens jeweils 10 Menschen erschossen worden. Denn bei Bunkerentleerungen wurde stets eine grössere Anzahl von Häftlingen für den Tod bestimmt, um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen und anschliessend erschossen. Der Angeklagte Dylewski hat - wie bei der Erörterung seiner Straftaten ausgeführt - eingeräumt, dass in den Fällen, an denen er beteiligt war, mindestens je 10 Häftlinge erschossen worden seien. Es konnte daher - ebenso wie in den Fällen Dylewski und Broad - mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass in jedem Fall mindestens zehn Häftlinge, also insgesamt bei acht Bunkerentleerungen 80 Häftlinge erschossen worden sind.

Der Angeklagte Schlage hat nach der Überzeugung des Gerichts auf Grund der ganzen Situation auch erkannt, dass die Erschiessungen ohne Todesurteile und ohne Befehle höherer Dienststellen erfolgten. Hier gilt im wesentlichen das gleiche, was bereits unter E.III.3. bezüglich des Angeklagten Dylewski ausgeführt worden ist. Auch dem Angeklagten Schlage waren alle Umstände bekannt, aus denen sich ergibt, dass die Erschiessungen erst im Bunker angeordnet worden sind und nicht auf Grund von Todesurteilen oder Befehlen höherer Dienststellen erfolgt sein können. Er erlebte selbst mit, dass erst im Arrestbunker über das Schicksal der Häftlinge entschieden wurde. Demnach konnte er gar nicht auf die Idee kommen, dass es sich um Exekutionen auf Grund von Urteilen oder Befehlen höherer Dienststellen handelte. Das behauptet er auch selbst nicht.

Da Grabner nach den Aufzeichnungen des Angeklagten Broad stets vom "Ausstauben" des Bunkers sprach, hat das Gericht auch keinen Zweifel, dass der Angeklagte Schlage wusste, dass die Erschiessungen erfolgten, um Platz im Bunker für weitere Arrestanten zu schaffen.

Die gesamten Begleitumstände der Bunkerentleerungen und anschliessenden Erschiessungen musste der Angeklagte Schlage zwangsläufig wahrnehmen, da er sie von Anfang bis zu Ende miterlebt hat.

IV. Rechtliche Würdigung der unter II. getroffenen Feststellungen

Die Erschiessung der Häftlinge nach Bunkerentleerungen war Mord (vgl. oben C.V.3.). Der Angeklagte Schlage hat in den festgestellten Fällen diese Mordtaten durch die unter II. näher geschilderten Tätigkeiten gefördert, was keiner näheren Begründung bedarf, und somit einen kausalen Tatbeitrag zu diesen Taten geleistet. Das war ihm nach der gesamten Situation auch bewusst.

Schlage hat bei den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen auf Befehl seiner Vorgesetzten mitgewirkt. Seine strafrechtliche Verantwortlichkeit ist daher, da er Angehöriger der Waffen-SS gewesen ist, nach §47 MStGB zu beurteilen. Der Angeklagte Schlage hat nach der Überzeugung des Gerichts erkannt, dass die von den SS-Angehörigen im Arrestbunker eigenmächtig angeordneten Tötungen verbrecherisch waren, und dass die ihm gegebenen Befehle, dabei in der geschilderten Art und Weise mitzuwirken, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Er selbst hat erklärt, dass er die in Auschwitz angewandten Methoden, also auch die Erschiessungen nach Bunkerentleerungen, als "verabscheuungswürdig" angesehen habe. Er hat nicht behauptet, dass er sie für rechtmässig gehalten habe. Entschuldigend hat er allerdings hinzugefügt, dass man in Auschwitz nicht mehr habe denken dürfen, das sei ihnen abgenommen worden. Damit hat er eingeräumt, sich darüber im klaren gewesen zu sein, dass die Erschiessungen nach Bunkerentleerungen unrechtmässig gewesen sind. Im übrigen gilt auch hier, da er nach den getroffenen Feststellungen wusste, dass weder Gerichtsurteile, noch irgendwelche Befehle höherer Dienststellen den Tötungen zugrunde lagen, das bezüglich des Angeklagten Dylewski unter E.IV.2. Ausgeführte.

Den Angeklagten Schlage trifft daher für seine Mitwirkung die Strafe des Teilnehmers.

Es konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass der Angeklagte Schlage die Tötungen innerlich bejaht und sie zu seiner eigenen Sache gemacht, somit mit Täterwillen gehandelt hat, wenn auch ein erheblicher Verdacht dafür besteht, Der Angeklagte Schlage war ein williger Befehlsempfänger. Häftlingen gegenüber war er brutal und grausam. Bei der Behandlung der Häftlinge zeigte er sich unbarmherzig und ohne Mitleid. Wenn Häftlinge zu nahe an den Block 11 herankamen, rief er sie zu sich, nahm sie mit auf den Block 11 und schlug sie dort. Nach der glaubhaften Bekundung des Zeugen Pi. hatte Schlage daher den Ruf eines brutalen und grausamen SS-Mannes. Einmal erschoss Schlage - wie der Zeuge Pi. ebenfalls glaubhaft bekundet hat - eine schwangere Frau im Waschraum mit dem Karabiner. Sie war als Polizeihäftling in den Block 11 eingeliefert worden. Eines Tages musste sie der Zeuge Pi. rufen. Er führte die Frau in den Waschraum. Sie war ahnungslos. Der Zeuge blieb auf dem Korridor. Kurz danach kam der Angeklagte Schlage mit dem Karabiner. Er ging in den Waschraum hinein und erschoss dort sofort die ahnungslose Frau. Nach der Erschiessung wurde die Leiche von dem Arzt aufgeschnitten. Der Arzt entnahm der Leiche - offenbar um irgendwelche Untersuchungen anzustellen - irgendwelche Organe oder Fleischteile. Die näheren Umstände konnten nicht aufgeklärt werden. Zu Gunsten des Angeklagten Schlage muss daher davon ausgegangen werden, dass ihm diese Erschiessung befohlen worden ist. Der Fall, der nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten ist und daher nicht zu einer Verurteilung des Angeklagten Schlage führen konnte, zeigt aber, dass der Angeklagte Schlage ungerührt und mitleidlos Erschiessungsbefehle ausgeführt hat.

Seine Einstellung Häftlingen gegenüber sowie die brutale Erschiessung der schwangeren Frau im Waschraum könnten als Beweisanzeichen dafür angesehen werden, dass Schlage auch die Erschiessungen der Häftlinge nach Bunkerentleerungen für richtig hielt, innerlich bejahte und zu seiner eigenen Sache gemacht hat. Wenn das Schwurgericht gleichwohl Zweifel an einer solchen inneren Einstellung des Angeklagten Schlage nicht überwinden konnte, so deswegen, weil er nach den getroffenen Feststellungen bei den Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen nicht durch besonderen Eifer auffiel, sich auch nicht zu den Erschiessungen selbst drängte und auch sonst keine Anzeichen erkennbar geworden sind, dass er Häftlinge, die im Bunker einsassen, den massgebenden SS-Führern unter irgendwelchen Vorwänden zur Tötung vorgeschlagen oder ihre Tötung als notwendig hingestellt hat. Nach der Persönlichkeit des Angeklagten Schlage, wie sie in der Hauptverhandlung erkennbar geworden ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass er aus einer bereitwilligen Befehlsergebenheit heraus stur und genau die gegebenen Befehle, ohne nach Recht oder Unrecht zu fragen, ausgeführt hat.

Das Schwurgericht konnte daher nur feststellen, dass der Angeklagte Schlage, wenn auch bereitwillig, die Tötungen der Häftlinge als fremde Taten fördern und unterstützen wollte. Er konnte daher nur als Gehilfe im Sinne des §49 StGB angesehen werden.

Dieses Ergebnis wird auch nicht durch weitere Zeugenaussagen, die den Angeklagten Schlage belastet haben, in Frage gestellt.

Der Zeuge Philipp Mü. will den Angeklagten Schlage im Mai oder Juni auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 dabei beobachtet haben, wie er Häftlinge auf den Pfahl gehängt und gequält habe, bis sie tot gewesen seien. Es ist jedoch möglich, dass sich der Zeuge Philipp Mü. insoweit in der Person des damaligen Täters irrt. Der Zeuge kannte damals den Angeklagten Schlage nicht. Er will ihn in der Hauptverhandlung wiedererkannt haben. Wahrscheinlich unterliegt der Zeuge jedoch einer Täuschung. Denn nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Wl., der zu dieser Zeit Blockschreiber in Block 11 gewesen ist, kam Schlage erst im Spätherbst als Arrestaufseher auf den Block 11. Er hätte es wissen müssen, wenn Schlage bereits im Mai oder Juni auf Block 11 gewesen wäre. Er hätte auch von diesem Pfahlhängen durch den Angeklagten Schlage erfahren müssen. Mü. verwechselt wahrscheinlich den Angeklagten Schlage mit einem anderen SS-Mann.

Die russischen Zeugen Was., Pog. und Sten. haben behauptet, dass Schlage russische Kriegsgefangene brutal getötet habe. Das Gericht konnte sich jedoch nicht davon überzeugen, dass diese Zeugen den Angeklagten Schlage damals einwandfrei erkannt haben. Von keinem anderen Zeugen ist bestätigt worden, dass Schlage irgend etwas mit russischen Kriegsgefangenen zu tun gehabt hätte. Möglicherweise haben die Zeugen Vorfälle, die sie tatsächlich erlebt haben, irrtümlich auf den Angeklagten Schlage projiziert. Auf Grund ihrer Aussagen konnten daher bezüglich des Angeklagten Schlage keine sicheren Feststellungen getroffen werden.

Der Zeuge Fab. hat behauptet, dass der Angeklagte Schlage im Frühjahr 1944 einen Mann, eine Frau und ein Kind im Waschraum des Blockes 11 erschossen hätte. Ferner hat der Zeuge Fab. geschildert, dass der Angeklagte Schlage im Jahre 1943 und 1944 an Einzelerschiessungen teilgenommen habe. Er habe auch selbst geschossen. Nach den Erschiessungen habe Schlage Häftlinge, die trotz der Genickschüsse noch gelebt hätten, durch Gnadenschüsse getötet. So habe er einmal einen Zigeuner nach der Exekution erst durch mehrere Schüsse ins Herz von vorne und hinten, dann durch mehrere Schüsse in die beiden Schläfen und schliesslich durch einen Schuss in den Hals getötet. Danach habe er gesagt: "Er hat ein Leben wie eine Katze."

Dass gegen die Zuverlässigkeit des Zeugen Fab. Bedenken bestehen, ist bereits oben unter E.III.3. ausgeführt worden. Das Gericht konnte auch in diesen Fällen nicht die sichere Überzeugung gewinnen, dass der Zeuge Fab. den Angeklagten Schlage damals einwandfrei gekannt hat. Es war nicht mit Sicherheit auszuschliessen, dass der Zeuge tatsächlich erlebte Vorfälle irrtümlich mit dem Angeklagten Schlage in Verbindung gebracht hat, während ein anderer SS-Mann der Täter war. Bedenken bestehen auch deshalb, weil nicht mit Sicherheit feststeht, wann Schlage ausser den festgestellten acht Wochen sonst noch als Arrestaufseher im Block 11 gewesen ist. Der Zeuge Pi. hat lediglich angeben können, dass der Angeklagte Schlage mehrfach mit Unterbrechungen im Block 11 gewesen sei und dass er im Mai 1944 die Funktionen eines Hauptblockführers gehabt habe. Zu dieser Zeit fanden aber - wie oben schon ausgeführt worden ist - keine Erschiessungen mehr auf dem Hof zwischen Block 11 und 10 statt. Es muss auch noch einmal hervorgehoben werden, dass der Zeuge Fab. bei der Gegenüberstellung mit den Angeklagten zunächst den Angeklagten Boger als den Angeklagten Schlage bezeichnet hat.

Im übrigen ist die Erschiessung der Familie nicht vom Eröffnungsbeschluss erfasst. Bei den vom Zeugen Fab. beobachteten Erschiessungen an der Schwarzen Wand, war nicht zu klären, ob es Erschiessungen nach Bunkerentleerungen oder ob es Exekutionen auf Grund von Stand- oder Sondergerichtsurteilen oder auf Grund von Exekutionsbefehlen des RSHA gewesen sind. Schlage wird im Eröffnungsbeschluss nur die Teilnahme an Erschiessungen nach Bunkerentleerungen zur Last gelegt. Eine Verurteilung wegen dieser Fälle hätte daher nicht erfolgen können, auch wenn sie auf Grund der Aussage des Zeugen Fab. als erwiesen anzusehen wären.

Sie könnten aber auch keinen sicheren Aufschluss für die hier erörterte Frage, ob Schlage bei den Erschiessungen nach Bunkerentleerungen mit Täter- oder Gehilfenwillen gehandelt hat, geben. Denn auch in diesen Fällen muss angenommen werden, dass die Erschiessungen auf Grund von Befehlen höherer Vorgesetzter erfolgt sind, so dass für ihn das Verbrecherische seines Verhaltens nicht ohne weiteres zu erkennen war.

Der Angeklagte Schlage hat die kausalen Tatbeiträge vorsätzlich geleistet. Denn nach den getroffenen Feststellungen hat er das Bewusstsein gehabt, dass er die Erschiessungen durch die geschilderten Tätigkeiten förderte. Er kannte auch die Tatumstände, die die Beweggründe für die Tötungen als niedrig kennzeichnen; denn er wusste, dass die Tötungen erfolgten, um Platz für weitere Arrestanten zu schaffen. Schliesslich hat er auch die gesamten Aktionen von Anfang bis zum Ende selbst miterlebt und somit Kenntnis von den gesamten Tatumständen gehabt, die die Tötungen als grausam kennzeichnen.

Er hat auch nicht irrig angenommen, dass er die Befehle seiner Vorgesetzten trotz ihres verbrecherischen Zweckes als bindend befolgen müsse; denn er war darüber belehrt worden und wusste, dass kein SS-Angehöriger im KL Auschwitz eigenmächtig Häftlinge misshandeln und töten durfte. Ihm war auch klar, dass Aumeier und Grabner und die anderen an den Bunkerentleerungen beteiligten SS-Angehörigen nicht befugt waren und es daher auch nicht bindend befehlen konnten, Häftlinge ohne Gerichtsurteile oder Befehle höherer Dienststellen zu erschiessen bzw. daran mitzuwirken. Dem Angeklagten Schlage ist seine Mitwirkung an den Bunkerentleerungen und Erschiessungen nicht abgenötigt worden. Er selbst behauptet nicht, dass sein Wille gebeugt worden sei. Als williger und sturer Befehlsempfänger hat er blindlings alles getan, was ihm aufgetragen worden ist, ohne nach Recht oder Unrecht zu fragen. Schuldausschliessungsgründe im Sinne der §§52 und 54 StGB sind daher nicht gegeben. Auch sonstige Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Schlage war daher wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 80 Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) zu bestrafen.

V. Strafzumessung

Dem Angeklagten konnte zugute gehalten werden, dass auch er durch ausserhalb seiner Person liegende Umstände in Situationen gestellt wurde, aus denen sich seine Straftaten entwickelten und dass auf ihn als Mann von 62 Jahren eine länger dauernde Freiheitsstrafe ungleich schwerer wirkt als auf einen jüngeren Täter. Der Angeklagte Schlage hat, auch das wirkte sich strafmildernd aus, vor und nach dem Kriege unauffällig gelebt und vorbildlich für seine Familie gesorgt. Andererseits aber hat der Angeklagte als williger Befehlsempfänger erhebliche Beiträge zum reibungslosen Ablauf der sog. Bunkerentleerungen geleistet und sich als blindlings gehorchender, abgestumpfter SS-Wächter bei der Behandlung der Häftlinge brutal, grausam und unbarmherzig gezeigt. Er hat sich, obgleich er nie Mitglied der allgemeinen SS gewesen war, in einem erschreckenden Umfange die schäbigsten Methoden zum Schikanieren wehrloser Häftlinge zu eigen gemacht. In jedem Falle der Beihilfe erschien daher eine Zuchthausstrafe von 4 Jahren als angemessene Sühne. Aus den 80 Einzelstrafen ist gem. §74 StGB unter Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände eine Gesamtstrafe von 6 Jahren Zuchthaus gebildet worden.

H. Die Straftaten des Angeklagten Hofmann

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Hofmann

Der Angeklagte Hofmann ist als Sohn eines Metzgers am 5.4.1906 in Hof an der Saale geboren. Er wuchs mit noch weiteren fünf Geschwistern im Elternhaus auf. Im Jahre 1915 verstarb seine Mutter. Sein Vater heiratete 1919 zum zweiten und im Jahre 1925 zum dritten Male.

Der Angeklagte Hofmann besuchte von 1912 bis 1920 die Volksschule. Nach der Schulentlassung erlernte er von April 1920 bis 1923 das Tapezierhandwerk. Die Lehre schloss er mit bestandener Gesellenprüfung ab. Einige Monate später wurde er arbeitslos. Er ging deswegen zu einem Bruder seines Vaters nach Emden, der dort ein Kolonialwarengeschäft betrieb. In diesem Geschäft arbeitete der Angeklagte bis zum Sommer 1925. Danach verzog er mit seinem Onkel nach Zwischenahn/Oldenburg. Dort eröffneten beide eine Pension und ein kleines Versandgeschäft mit Tee und Kaffee.

Als dieses Geschäft zurückging, arbeitete der Angeklagte als Kellner und Hoteldiener in verschiedenen Hotels. Im Jahre 1931 wurde er arbeitslos. Er ging deshalb wieder nach Hof/Saale zurück.

Im Juli oder August 1932 trat er in die NSDAP und die allgemeine SS ein. Von April bis Juni 1933 nahm er an einem Hilfspolizeikursus bei der Landpolizei in Hof teil und wurde am 1.7.1933 bei der Schutzpolizei in Hof als Hilfspolizist eingestellt. Ende September 1933 wurde er von dort zur Wachtruppe des KZ Dachau für 7 Wochen, nämlich bis zum 31.12.1933, abkommandiert und anschliessend von dem Wachsturmbann des KZ Dachau als Wachtposten-SS-Sturmmann übernommen. In dieser Eigenschaft war er bis September 1934 tätig. Danach wurde er als Telefonist in der Telefonzentrale der Kommandantur bis September 1937 eingesetzt. Während dieser Zeit wurde er zum Unterscharführer befördert (1936). Ab 1.September 1937 wurde er im Schutzhaftlager des KZ Dachau verwendet. Im Jahre 1937 wurde er dann zum SS-Oberscharführer und am 30.1.1939 zum SS-Hauptscharführer befördert. Weitere Beförderungen erfolgten am 30.1.1941 (SS-Untersturmführer) und am 20.4.1942 (SS-Obersturmführer).

Der Angeklagte Hofmann blieb bis zum 1.12.1942 im KZ Dachau. Zuletzt war er stellvertretender Schutzhaftlagerführer. Dann wurde er zum KZ Auschwitz versetzt. Hier wurde er zunächst als dritter Schutzhaftlagerführer des Stammlagers A I eingesetzt. Erster Schutzhaftlagerführer war damals der SS-Hauptsturmführer Aumeier, 2. Schutzhaftlagerführer war SS-Hauptsturmführer Schwarz. Im März oder April 1943 wurde der Angeklagte als Schutzhaftlagerführer in das Zigeunerlager in Birkenau versetzt. Diese Funktion übte er nur bis September 1943 aus. Dann wurde er wieder 3. Schutzhaftlagerführer im Stammlager. Nach der Trennung des Lagers in drei selbständige Lager (Stammlager, Lager Birkenau und Lager Monowitz) wurde der Angeklagte am 22.11.1943 erster Schutzhaftlagerführer im Stammlager. Zu gleicher Zeit wurde der bisherige Kommandant von Auschwitz - Höss - vom SS-Sturmbannführer Liebehenschel abgelöst. SS-Hauptsturmführer Schwarz wurde Kommandant von Monowitz, während im Lager Auschwitz-Birkenau der Sturmbannführer Hartjenstein als Kommandant eingesetzt wurde, der am 9.5.1944 von SS-Hauptsturmführer Kramer abgelöst wurde. Der Angeklagte Hofmann wurde schliesslich, nachdem er am 20.4.1944 zum SS-Hauptsturmführer befördert worden war, mit Wirkung vom 15.5.1944 zum KZ Natzweiler versetzt. Dort war er bis Februar 1945 in verschiedenen Nebenlagern als Lagerführer tätig.

Den Zusammenbruch erlebte der Angeklagte in Guttenbach/Neckar, wohin die Kommandantur des KZ Natzweiler verlegt worden war. Er besorgte sich Zivilkleider und setzte sich ab. Nach Kriegsende arbeitete er bis 1954 in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben als Landwirt und Hilfsarbeiter. Auch als Heizer verdiente er sich in verschiedenen Orten Bayerns und Württembergs seinen Lebensunterhalt.

Der Angeklagte ist im Jahre 1948 oder 1949 von der Spruchkammer in Rothenberg o.T. entnazifiziert und dabei zu einer Geldbusse von 20.- DM verurteilt worden. In dem Spruchkammerverfahren hatte er angegeben, dass er erst 1937 Mitglied der NSDAP geworden sei. Seine Zugehörigkeit zur SS und seine Tätigkeit in den Konzentrationslagern hatte er verschwiegen.

Der Angeklagte hat im Dezember 1939 geheiratet. Aus seiner Ehe sind zwei Jungen, die bereits volljährig sind, und eine - jetzt volljährige - Tochter hervorgegangen. Der Angeklagte ist nach dem Kriege nicht mehr zu seiner Familie zurückgekehrt. Im Jahre 1954 hat er eine andere Frau kennengelernt, von der er zwei uneheliche Kinder hat und die er heiraten möchte. Schon im Jahre 1946 war ihm von einer anderen Frau ein uneheliches Kind geboren worden, dessen Amtsvormund das Jugendheim Kehlheim ist.

Wegen seiner Tätigkeit im KZ Dachau ist der Angeklagte Hofmann durch Urteil des Schwurgerichts in München II vom 19.12.1961 - 2 Ks 8/61 - wegen Mordes in 2 Fällen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. Das Urteil ist seit dem 28.5.1962 rechtskräftig. Hofmann verbüsst z.Zt. diese Strafe. Der Angeklagte Hofmann hat jedoch die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Gegen den Angeklagten ist ferner ein Strafverfahren wegen seiner Tätigkeit im KZ Natzweiler vor dem Schwurgericht in Hechingen anhängig. In dieser Sache befand sich der Angeklagte vom 16.4.1959 bis zum Beginn der Verbüssung der durch das Schwurgericht in München verhängten Strafe in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten Hofmann an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Hofmann hat als dritter Schutzhaftlagerführer des Stammlagers und als erster Schutzhaftlagerführer des Lagers Birkenau bei der massenweisen Tötung der sog. RSHA-Juden (vgl. oben 2. Abschnitt VII.5.; 3. Abschnitt A.II.) mitgewirkt.

Er wurde wiederholt als "diensthabender Führer" zum Rampendienst eingeteilt. Er begab sich wiederholt in dieser Funktion zur Abwicklung der RSHA-Transporte zur Rampe. Dort leitete er und überwachte die Einteilung der aus den Eisenbahnwaggons ausgestiegenen jüdischen Menschen und den Abtransport der für die Vergasung bestimmten Menschen zu den Vergasungsräumen. Er selbst ging mehrfach auch zu den Gaskammern mit. Dort überwachte er als diensthabender Führer die Vernichtungsaktionen. Beim Hineinführen der Menschen in die Gaskammern half er mit, wenn Stockungen eintraten, indem er mit anderen SS-Männern die Menschen in den Vergasungsraum "hineinschob". Ferner beobachtete er auch das Einschütten des Zyklon B. Nach Abschluss der Aktionen teilte er an die daran beteiligten SS-Männer die Gutscheine für Zusatzverpflegung und Genussmittel aus.

Es konnte nicht festgestellt werden, wie oft der Angeklagte Hofmann Rampendienst versehen hat. Mit Sicherheit war er jedoch bei der Abwicklung von mindestens drei verschiedenen RSHA-Transporten in der geschilderten Art und Weise tätig. In jedem dieser drei Fälle sind jeweils mindestens 750 jüdische Menschen durch Gas getötet worden.

Der Angeklagte Hofmann wusste, dass die Vernichtungsaktionen unter Beobachtung strengster Geheimhaltungsvorschriften und unter Verwendung von Tarnbezeichnungen erfolgten, und dass die jüdischen Menschen in der oben unter A.II. geschilderten Weise über ihr bevorstehendes Schicksal bis zuletzt getäuscht wurden. Ihm war auch - wie allen anderen SS-Angehörigen - bekannt, dass die jüdischen Menschen nur wegen ihrer Abstammung getötet wurden. Den Todeskampf der in der Gaskammer eingeschlossenen Opfer nach dem Einschütten des Zyklon B nahm er selbst unmittelbar wahr, wenn er sich zu der Gaskammer begeben und dort die Aufsicht geführt hat.

2. Die Mitwirkung des Angeklagten Hofmann bei den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen von Häftlingen an der Schwarzen Wand auf dem Hof zwischen Block 10 und 11 (Eröffnungsbeschluss 2)

Der Angeklagte Hofmann hat als dritter Schutzhaftlagerführer des Stammlagers auch mehrfach an den sog. Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen der für den Tod ausgesuchten Häftlinge (vgl. oben C.II.3.) teilgenommen. In mindestens drei Fällen ging er zusammen mit anderen SS-Angehörigen, dem ersten oder zweiten Schutzhaftlagerführer, dem Untersturmführer Grabner und anderen, in den Arrestbunker. In einem Fall führte er die Liste der im Bunker inhaftierten Häftlinge. Wenn nach der Meldung der einzelnen in den Zellen einsitzenden Häftlinge kurz über die zu treffende Entscheidung gesprochen wurde, beriet er mit und stimmte zu, wenn Häftlinge zum Erschiessen ausgewählt wurden. In dem einen Fall, in welchem er die Liste der Häftlinge führte, machte er jeweils ein Kreuz hinter den Namen bzw. die Nummer der Häftlinge, deren Tod beschlossen wurde. In allen drei Fällen ging er nach Beendigung der Bunkerentleerungen und, nachdem die erforderlichen Vorbereitungen für die Erschiessungen getroffen worden waren, mit den anderen SS-Angehörigen auf den Hof und beobachtete die anschliessenden Erschiessungen der Häftlinge. Dass er auch eigenhändig Häftlinge nach solchen Bunkerentleerungen an der Schwarzen Wand getötet hätte, konnte nicht festgestellt werden.

Bei diesen Bunkerentleerungen wurden mindestens je 10 Häftlinge, also insgesamt 30 Häftlinge, für den Tod ausgesucht und anschliessend an der Schwarzen Wand in Anwesenheit des Angeklagten Hofmann durch Genickschüsse getötet. Der genaue Zeitpunkt dieser Taten konnte nicht mehr festgestellt werden. Mit Sicherheit hat sich der Angeklagte Hofmann an Bunkerentleerungen und den geschilderten Erschiessungen erst nach seiner Versetzung zum KL Auschwitz, also nach dem 1.12.1942, beteiligt.

Der Angeklagte Hofmann wusste, dass die Erschiessungen ohne Gerichtsurteile und ohne Exekutionsbefehle höherer SS-Dienststellen erfolgten, damit Platz für weitere Arrestanten im Bunker geschaffen werde. Die gesamten Umstände, unter denen die Erschiessungsaktionen durchgeführt wurden, nahm er unmittelbar selbst wahr.

3. Die Tötung eines Häftlings durch einen Flaschenwurf (Eröffnungsbeschluss 6)

Der Angeklagte Hofmann war - wie schon ausgeführt - von März oder April 1943 bis September 1943 als erster Schutzhaftlagerführer im Lager Birkenau eingesetzt. Insbesondere unterstand ihm das Zigeunerlager (B II e). Sein Rapportführer war der Oberscharführer Palitzsch. Während dieser Zeit, der genaue Zeitpunkt konnte nicht mehr festgestellt werden, wurden drei Häftlinge, die in der Kantine des Zigeunerlagers beschäftigt waren, von dem Angeklagten Broad aus nicht mehr näher festzustellenden Gründen verhaftet. Wahrscheinlich hatten sie Lebensmittel oder sonstige Dingeverschoben. Zur Strafe wurden sie in die Strafkompanie eingewiesen. Der Angeklagte Hofmann ärgerte sich darüber sehr.

Offenbar fürchtete er Rügen vorgesetzter Stellen, wenn es bekannt würde. Kurz nach diesem Vorfall entdeckte Hofmann bei der Kantine des Zigeunerlagers eine herumliegende Flasche. Auch hierüber ärgerte er sich, da er stets Wert auf peinliche Ordnung und Sauberkeit im Lagerabschnitt legte. Er schimpfte deswegen auf die Häftlinge. Er hob die Flasche auf, während gerade ein Häftling, ein Zigeuner, an ihm vorbeiging. Hofmann nahm dem Häftling mit der freien Hand die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Der Zigeuner bückte sich nach der Mütze, um sie wieder aufzuheben. Da warf Hofmann dem Häftling, während sich dieser gerade bückte, mit voller Wucht die Flasche aus kurzer Entfernung an den Kopf. Dabei rief er: "Ihr Handwerksburschen!" Der Häftling brach bewusstlos zusammen. Er wurde von anderen Häftlingen in den HKB gebracht. Kurz danach starb er. Sein Tod trat infolge der durch den Flaschenwurf erlittenen Verletzungen ein.

Der Angeklagte Hofmann wollte mit dem Flaschenwurf den Häftling aus Verärgerung über die herumliegende Flasche töten.

4. Weitere Taten des Angeklagten Hofmann, die nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten sind

Hofmann griff als erster Schutzhaftlagerführer mit eiserner Härte durch. Wie bereits gesagt, legte er Wert auf Ordnung und Sauberkeit im Lager. Besonderen Wert legte er darauf, dass die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, stets sauber seien. Die Blockältesten erklärten ihm einmal, dass die Baracken nicht zu jeder Zeit sauber gehalten werden könnten, weil die Häftlinge von der Arbeit verdreckt, verschmutzt, übermüdet und hungrig zurückkämen und dann zunächst erst einmal Feuer in den Baracken machen wollten, um sich aufzuwärmen und sich etwas zu kochen. Hofmann erwiderte auf diese Vorstellungen hin jedoch nur, dann müssten eben die Häftlinge die ganze Nacht im Freien bleiben, wenn sie die Baracken nach dem Einrücken nicht sauber halten könnten. Im übrigen befahl er den Kapos und Blockältesten ständig, die Häftlinge anzutreiben und dazu anzuhalten, für die SS zu arbeiten. Einmal rief er die Blockältesten zusammen und rügte sie, dass sie die Häftlinge nicht genügend antrieben. Zur Strafe verabreichte er persönlich jedem Blockältesten 10 Schläge mit einem Stock auf das Gesäss. Täglich mussten die Blockältesten antreten und ihm besondere Vorkommnisse in ihrem Block melden. Dabei berichteten sie ihm auch über die Anzahl der an einem Tag in ihrem Block gestorbenen Häftlinge.

Als der Lagerabschnitt B I b noch mit Männern belegt war, diente der Block 7 als "Krankenblock". Die Häftlinge wurden in diesem Block aber überhaupt nicht ärztlich versorgt. Man sperrte die "Muselmänner" und die arbeitsunfähigen Häftlinge in den Block 7 ein, damit sie hier sterben sollten. (Das galt jedoch nicht für deutsche Häftlinge, die einen besonderen Krankenblock hatten.) Verpflegung bekamen die im Block 7 eingesperrten Häftlinge überhaupt nicht mehr. Das war auch so, als der Angeklagte Hofmann Schutzhaftlagerführer in Birkenau war. Jeden Tag starben etwa 300 bis 400 Menschen im Block 7. Der Blockälteste des Blockes 7 meldete dem Angeklagten Hofmann täglich die Zahl der Toten. Einmal starben an einem Tag 1184 Menschen. Hofmann rührte das jedoch nicht. Im Lager Birkenau wusste man genau, dass der Block 7 ein Todesblock war. Kranke Häftlinge meldeten sich daher nicht mehr krank. Sie versteckten sich in ihren Blocks, um dem Tod im Block 7 zu entgehen. Um das Lager von diesen Kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen zu "säubern", ordnete Hofmann wiederholt Lagerausräumungen an. Er liess durch SS-Männer die Baracken durchkämmen und versteckte Häftlinge heraustreiben. Dann liess er die Arbeitstauglichkeit dieser Häftlinge - meist durch einen Funktionshäftling - überprüfen. Wer arbeitsunfähig erschien - hierzu gehörten vor allem die sog. Muselmänner - wurde zur Vergasung ausgesondert. Die Ausgesonderten kamen zunächst unter strenger Bewachung auf den Block 7, wo sie isoliert und ohne Verpflegung eingesperrt wurden. Dann wurden sie mit LKWs zu den Gaskammern transportiert, wo sie durch Zyklon B getötet wurden. Hofmann führte stets bei diesen Lagerausräumungen die Aufsicht. Häufig fuhr er auch hinter den LKWs, die die Opfer zu den Gaskammern brachten her und beaufsichtigte das Hineinführen der Häftlinge in die Gaskammern und das Einwerfen des Zyklon B. Wiederholt äusserte Hofmann zu anderen SS-Männern, wenn ihm auffiel, dass zuviel "Muselmänner" im Lager in Erscheinung traten: "Wir müssen wieder einmal das Lager ausräumen!" Dann ordnete er eine Lagerselektion an, bei der die Schwachen und Arbeitsunfähigen für den Gastod ausgesondert und anschliessend in den Gaskammern getötet wurden.

Wieviel Häftlinge auf Anordnung des Angeklagten Hofmann und unter seiner Verantwortlichkeit getötet worden sind, konnte nicht mehr festgestellt werden. Auf jeden Fall waren es mehrere Tausend.

III. Einlassung des Angeklagten Hofmann, Beweismittel, Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen über den Lebenslauf des Angeklagten Hofmann beruhen auf seiner Einlassung und dem Kommandanturbefehl Nr.4/44 vom 18.5.1944 des KL Natzweiler, der in der Hauptverhandlung verlesen worden ist.

2. Zu II.1.

Die Feststellungen unter Ziff.II.1. beruhen auf dem Geständnis des Angeklagten Hofmann. Der Angeklagte hat nach anfänglichem Leugnen zugegeben, dass er als diensthabender Führer Rampendienst in der geschilderten Weise versehen habe und auch mit zur Gaskammer gefahren sei, wo er Überwachungsfunktionen ausgeübt und auch geholfen habe, Häftlinge in den Vergasungsraum "hineinzuschieben". Er selbst wusste allerdings nicht mehr, wie oft er an solchen Vernichtungsaktionen teilgenommen hat. Er hat jedoch eingeräumt, dass er mindestens an drei solcher Aktionen beteiligt gewesen sei. Die Zeugen, die den Angeklagten Hofmann bei solchen Aktionen gesehen haben, konnten ebenfalls keine Zahlenangaben mehr machen. Das Gericht konnte daher nur von der vom Angeklagten Hofmann selbst angegebenen Mindestzahl ausgehen, wenn auch anzunehmen ist, dass er viel häufiger zum Rampendienst eingeteilt gewesen ist. Denn die tatsächlichen Feststellungen konnten nicht auf unsichere Schätzungen gestützt werden.

Da während der Tätigkeit des Angeklagten Hofmann nicht nur grosse Transporte angekommen sind, sondern auch kleinere, deren Stärke zwischen 1000 und 3000 Personen schwankte, ist das Gericht davon ausgegangen, dass in den drei Fällen die Transporte nur 1000 Menschen umfasst haben. Hiervon mussten die "Arbeitsfähigen" abgezogen werden, die in das Lager aufgenommen worden sind. Es können höchstens 25% = 250 Menschen gewesen sein. So ergibt sich die Feststellung, dass von jedem Transport mindestens 750 Menschen getötet worden sind.

Die Feststellungen zur inneren Tatseite ergeben sich aus der Tatsache, dass der Angeklagte Hofmann wie alle anderen SS-Angehörigen über die Geheimhaltungsvorschriften belehrt worden ist und im übrigen die ganzen Vernichtungsaktionen von Anfang bis zum Ende miterlebt und alles mit angesehen hat. Er war auch - wie alle anderen SS-Angehörigen - darüber informiert, dass die jüdischen Menschen nur wegen ihrer Abstammung getötet wurden.

3. Zu II.2.

Der Angeklagte Hofmann räumt ein, zwei- bis dreimal bei Bunkerentleerungen und den anschliessenden Erschiessungen an der Schwarzen Wand anwesend gewesen zu sein. Der erste Schutzhaftlagerführer habe ihn - so hat er sich eingelassen - aufgefordert, daran teilzunehmen, damit er das auch einmal sehe. Bei den Bunkerentleerungen habe er nichts zu tun gehabt. Aumeier und Grabner hätten bestimmt, wer erschossen werden sollte. Während der Erschiessung sei er nur auf dem Hof herumgelaufen. Geschossen habe er nicht.

Diese Einlassung des Angeklagten Hofmann ist schon an sich unglaubhaft. Es erscheint unwahrscheinlich, dass er, der den Rang eines SS-Obersturmführers hatte, nur als Zuschauer die Bunkerentleerungen und Erschiessungen mit angesehen haben soll.

Seine Einlassung ist aber auch durch die Beweisaufnahme widerlegt worden. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen G. hat der Angeklagte Hofmann in einem Fall die Liste, auf der die Namen und Nummern der Arrestanten verzeichnet waren, geführt und jeweils ein Kreuz hinter die Namen bzw. Nummern der Häftlinge gemacht, die zum Tode bestimmt worden sind. Auch der Zeuge La. hat bekundet, dass der Angeklagte Hofmann zu der "Kommission" gehört habe, die über das Schicksal der Häftlinge beraten und entschieden habe. Der Angeklagte Broad hat in seinem mehrfach erwähnten Bericht bei der Schilderung des damaligen Strafverfahrens gegen den Untersturmführer Grabner die SS-Führer aufgezählt, die "massgeblich" an den Bunkeraktionen beteiligt gewesen seien. Dabei hat er neben Aumeier und Schwarz auch den Obersturmführer Hofmann aufgeführt. Aus diesem Bericht hat das Gericht in Verbindung mit den glaubhaften Aussagen der Zeugen G. und La. die Überzeugung gewonnen, dass Hofmann nicht nur Zuschauer bei den Bunkerentleerungen gewesen ist, sondern zusammen mit den anderen SS-Führern über die einzelnen Häftlinge beraten und jeweils zugestimmt hat, wenn man übereinkam, die Häftlinge zu erschiessen.

Der Angeklagte Hofmann ist mindestens dreimal an solchen Bunkerentleerungen beteiligt gewesen, auch wenn er selbst nur einräumt, dass es zwei- bis dreimal gewesen sei. Dass es mehr als zweimal gewesen sein muss, dafür spricht schon der Broad-Bericht, wonach er massgeblich an den Bunkerentleerungen beteiligt gewesen ist. Es steht aber auch auf Grund der Aussagen der Zeugen G. und F. fest. Denn der Zeuge G. hat nach seiner glaubhaften Aussage den Angeklagten Hofmann in der Zeit zwischen dem 12.9. und 21.9.1943 bei einer Bunkerentleerung erlebt. Der Zeuge F., der vom 24.9.1943 bis zum 11.10.1943 im Arrestbunker eingesessen hat, hat den Angeklagten Hofmann - wie er glaubhaft bekundet hat - bei zwei weiteren Bunkerentleerungen gesehen. Daraus ergibt sich bereits, dass Hofmann mindestens dreimal an solchen Aktionen beteiligt gewesen ist.

Dass der Angeklagte Hofmann gewusst hat, dass die Erschiessungen erst im Arrestbunker von den dort versammelten SS-Angehörigen beschlossen wurden und ihnen weder Todesurteile noch Befehle höherer Dienststellen zugrunde gelegen haben, kann nach der gesamten Sachlage nicht zweifelhaft sein. Er behauptet auch selbst nicht, dass er angenommen habe, die Erschiessungen erfolgten auf Grund von Urteilen oder sonstigen Befehlen. Vielmehr hat er eingeräumt, dass er bereits damals die Erschiessungen als unrechtmässig angesehen habe. Da er selbst zusammen mit den anderen SS-Führern an diesen Aktionen beteiligt war, kann auch kein Zweifel bestehen, dass er das Motiv für die Erschiessungen der Häftlinge, nämlich Platz für weitere Arrestanten zu schaffen, gekannt habe.

4. Zu II.3.

Der Angeklagte Hofmann bestreitet, einen Häftling durch einen Flaschenwurf getötet zu haben. Er gibt allerdings zu, dass er einmal bei der Überprüfung der Sauberkeit des Lagers eine herumliegende Flasche gefunden habe. Er habe - so hat er sich eingelassen - die Flasche aufgehoben und sie einer Gruppe von Häftlingen, bei denen ein SS-Mann gestanden habe, zugeworfen. Dabei habe er gerufen, sie sollten die Flasche wegschaffen. Die Häftlinge und der SS-Mann hätten jedoch seinen Zuruf überhört. Die Flasche sei deshalb dem SS-Mann an den Kopf geflogen. Dieser habe deswegen in das Lazarett eingeliefert werden müssen. Er sei jedoch wieder gesund geworden. Ein Häftling sei von der Flasche nicht getötet worden.

Der Angeklagte Hofmann wird jedoch durch die glaubhafte Aussage des Zeugen van V. überführt, einem Häftling in der geschilderten Weise eine Flasche an den Kopf geworfen zu haben.

Der Zeuge van V. ist glaubwürdig. Er hat - wie oben bereits erwähnt - auf das Gericht einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Das Gericht hält es für ausgeschlossen, dass der Zeuge den Vorfall erfunden hat. Er hat bereits im Jahre 1945 in einem schriftlichen Bericht geschildert, dass der Angeklagte Hofmann im Jahre 1943 einen Zigeuner tödlich verwundet habe, indem er ihm eine Flasche an den Kopf geworfen und dadurch einen Schädelbruch verursacht habe. Da er nach seiner glaubhaften Bekundung den Vorfall selbst als Augenzeuge miterlebt hat, hat das Gericht auch keinen Zweifel, dass sich der Vorfall so - wie es der Zeuge geschildert hat - abgespielt hat. Es besteht kein Anlass für die Annahme, dass der Zeuge den Angeklagten Hofmann mit einem anderen SS-Mann verwechselt haben könnte. Denn der Zeuge kannte als Blockältester den Angeklagten Hofmann, da er ihm täglich Bericht erstatten musste, genau.

Das Gericht ist auch überzeugt, dass der Angeklagte Hofmann den Häftling mit dem Flaschenwurf töten wollte. Hierfür spricht eindeutig, dass er zunächst - wie der Zeuge van V. glaubhaft geschildert hat - dem Häftling die Mütze abnahm und sie zu Boden warf. Dies geschah in der sicheren Erwartung, dass sich der Häftling nach der Mütze bücken und sie wieder aufheben werde. Denn es war strenge Vorschrift im KL Auschwitz, dass kein Häftling ohne Mütze herumlaufen durfte. Der Angeklagte Hofmann wollte nach der gesamten Sachlage den Häftling ablenken und verhindern, dass der Häftling dem beabsichtigten Wurf ausweichen könne. Für sich selbst schaffte Hofmann durch dieses Manöver eine Situation, in der er den Häftling mit Sicherheit treffen konnte. Für seine Tötungsabsicht spricht ferner, dass er die Flasche aus kurzer Entfernung mit voller Wucht gegen den Kopf des Häftlings geschleudert hat. Dass der Häftling bewusstlos zusammengebrochen und anschliessend in den HKB eingeliefert worden ist, hat der Zeuge van V. ebenfalls glaubhaft geschildert. In der Hauptverhandlung konnte er sich allerdings nicht mehr daran erinnern, was mit dem Häftling nach der Einlieferung in den HKB geschehen ist.

Darüber hat jedoch der Zeuge Bra. Auskunft gegeben. Dieser Zeuge hat ebenfalls geschildert, dass der Angeklagte Hofmann einen Häftling aus kurzer Entfernung eine Flasche an den Kopf geworfen habe. Das habe er selbst beobachtet. Der Häftling sei daraufhin in das Revier getragen worden. Kurz danach sei er gestorben. Er selbst habe die Leiche gesehen. Wenn der Zeuge angegeben hat, der Flaschenwurf sei vor der Küche des Zigeunerlagers erfolgt, während der Zeuge van V. als Tatort den Platz vor der Kantine genannt hat, so ist das nach Auffassung des Gerichts nur eine unwesentliche Differenz, da man Küche und Kantine leicht verwechseln kann und sich möglicherweise der Zeuge Bra. in einem für ihn nebensächlichen Punkt geirrt bzw. die Kantine irrtümlich als Küche bezeichnet hat. Beide Zeugen meinen aber ersichtlich den gleichen Vorfall, da ihre Angaben über die Tat selbst übereinstimmen. Die Verteidigung hat gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen Bra. Bedenken erhoben. Das Schwurgericht teilt diese Bedenken jedoch nicht. Zwar konnte der Zeuge nicht mehr in der Hauptverhandlung vernommen werden, da er inzwischen verstorben ist. In der Hauptverhandlung wurde nur das Protokoll über seine frühere richterliche Vernehmung vom 28.12.1962 verlesen. Gleichwohl hat das Gericht keine Zweifel, dass die Angaben des Zeugen bei dieser Vernehmung, wie sie durch das verlesene Protokoll ausgewiesen werden, bezüglich des Flaschenwurfes richtig sind, da seine Darstellung mit der des Zeugen van V. übereinstimmt. Das Gericht glaubt daher auch dem Zeugen, dass der Häftling kurz nach dem Flaschenwurf gestorben ist und dass er selbst die Leiche des Häftlings gesehen hat. Da der verletzte Häftling vor dem Flaschenwurf gesund war und unmittelbar danach gestorben ist, ist das Gericht auch überzeugt, dass der Tod dieses Häftlings infolge der Verletzung, die er durch den Aufprall der mit Wucht geworfenen Flasche erlitten hat, gestorben ist.

Die Verteidigung hat die Glaubwürdigkeit des Zeugen vor allem auch deswegen in Zweifel gezogen, weil der Zeuge bei seiner Vernehmung behauptet hat, er habe infolge von Schlägen, die er vom Angeklagten Hofmann auf den Kopf erhalten habe, einen Hornhautriss am linken Auge davongetragen. Diese Angaben seien, so hat die Verteidigung vorgetragen, unwahr. Denn der Zeuge könne keinen Hornhautriss gehabt haben, weil ein Hornhautriss stets zur Erblindung auf dem betreffenden Auge führe. Der Zeuge habe aber nichts davon erwähnt, dass er an dem betreffenden Auge erblindet sei. Die Verteidigung hat für den Fall, dass das Gericht dem Zeugen trotzdem Glauben schenken sollte, hilfsweise beantragt, einen Sachverständigen darüber zu hören, dass ein Riss in der Hornhaut stets zur Erblindung führt. Dieser Hilfsbeweisantrag war gemäss §244 StPO abzulehnen, da es als wahr unterstellt werden kann, dass ein Hornhautriss zur Erblindung führt. Trotz dieser Wahrunterstellung wird die Glaubwürdigkeit des Zeugen jedoch nicht erschüttert. Denn es ist durchaus möglich, dass der Zeuge auf Grund einer falschen Diagnose im Lager irrig angenommen hat, er habe infolge der Schläge Hofmanns einen Hornhautriss erlitten, während er in Wirklichkeit vielleicht nur eine sonstige Augenverletzung gehabt hat. Seine Behauptung über den Hornhautriss bei seiner richterlichen Vernehmung kann er, auch wenn sie nicht den Tatsachen entsprechen sollte, guten Glaubens aufgestellt haben, ohne dass deswegen seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wäre.

Im übrigen steht keineswegs fest, dass der Zeuge nicht am linken Auge erblindet gewesen ist. Dies lässt sich, da der Zeuge inzwischen verstorben ist, nachträglich auch nicht mehr feststellen. Aus der Tatsache allein, dass der Zeuge nicht von einer Erblindung auf einem Auge gesprochen hat, kann noch nicht der sichere Schluss gezogen werden, dass der Zeuge noch mit beiden Augen hat sehen können. Es ist denkbar, dass der Zeuge tatsächlich einen Hornhautriss erlitten hat und anschliessend auf dem linken Auge auch erblindet ist.

Auch der weitere bezüglich der Zuverlässigkeit des Zeugen Bra. gestellte Hilfsbeweisantrag, Seite 94 des Auschwitzheftes Nr.2 zu verlesen, war abzulehnen.

Dort soll sich eine Eintragung des Inhalts befinden, dass am 29.8.1940 100 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach dem Konzentrationslager Auschwitz verlegt wurden und die Häftlingsnummern 3188-3287 erhielten. Es kann nämlich zu Gunsten des Angeklagten Hofmann davon ausgegangen werden, dass diese Eintragung zutreffend ist und demzufolge der Zeuge Bra., der die Häftlings-Nr. 3287 trug, bereits am 29.8.1940 nach Auschwitz verlegt wurde, nicht aber erst im Frühjahr 1941, wie er in seiner Vernehmung durch den Untersuchungsrichter gesagt hat. Gleichwohl lässt sich hieraus nichts gegen die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses des Zeugen herleiten. Denn es ist leicht erklärlich, dass ehemalige Häftlinge nicht mehr auf den Monat genau wissen, wann sie von dem einen in das andere Konzentrationslager verlegt wurden, weil wesentliche Veränderungen für sie mit einer solchen Verlegung grundsätzlich nicht verbunden waren. Aus einer solchen Unsicherheit in der Erinnerung kann aber auch nicht der Schluss gezogen werden, der Zeuge Bra. hätte auch kein zuverlässiges Wissen mehr über ganz bestimmte, gravierende Vorkommnisse im Konzentrationslager Auschwitz, wie er sie geschildert hat.

Die Verteidigung hat ferner geltend gemacht, dass es unglaubhaft sei, dass der Zeuge Bra. - wie er bei seiner richterlichen Vernehmung angegeben hat - als Arrestant im Block 11 aus dem Arrestbunker heraus Erschiessungen an der Schwarzen Wand hätte beobachten können und dass er als Todesschützen den Rapportführer Palitzsch gesehen habe. Denn nach Auffassung der Verteidigung hätte eine solche Beobachtungsmöglichkeit nicht bestanden.

Zwar wurden in der Regel bei Erschiessungen an der Schwarzen Wand Decken vor die Zellenfenster gehängt. Das haben viele Zeugen bekundet. Es erscheint jedoch möglich, dass das Fenster der Zelle, in der der Zeuge Bra. eingesessen hat, aus irgendwelchen Gründen nicht immer verhängt worden ist. Vielleicht ist es vergessen worden oder man hat sich nicht immer die Zeit genommen, die Zellenfenster zu verhängen. Es erscheint daher durchaus möglich, dass der Zeuge bei gewissen Erschiessungen einen Teil des Hofes überblicken konnte. Die Fenster der Arrestzellen lagen zu ebener Erde und gaben den Insassen der Zellen, wenn diese sich einen günstigen Standpunkt wählten, die Möglichkeit, einen Teil des Hofes zu überblicken. Dass solche Beobachtungsmöglichkeiten bestanden haben, ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass die Fenster in der Regel mit Decken verhängt worden sind. Hätte keine Sicht- oder Beobachtungsmöglichkeit durch die Zellenfenster bestanden, so hätte es dieser Massnahme nicht bedurft.

5. Zu II.4.

Die Feststellungen unter II.4. beruhen auf der glaubhaften Aussage des Zeugen van V. Der Angeklagte Hofmann bestreitet, dass solche Lagerausräumungen unter seiner Verantwortung und Leitung stattgefunden hätten. Er wird jedoch durch die glaubhafte Bekundung des Zeugen van V., der als Blockältester sämtliche Lagerausräumungen und Selektionen mitmachen musste und als Funktionshäftling einen Überblick über die Lagerverhältnisse gehabt hat, überführt. Das Gericht hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben dieses Zeugen.

IV. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1.

Es bedarf keiner näheren Begründung, dass der Angeklagte Hofmann im Rahmen seines Rampendienstes durch die geschilderten Tätigkeiten einen kausalen Tatbeitrag zu den Massentötungen jüdischer Menschen geleistet hat. Als diensthabender SS-Führer hat er eine wichtige Funktion im gesamten Vernichtungsapparat ausgeübt.

Auch er hat den Rampendienst auf Befehl seiner Vorgesetzten geleistet. Seine strafrechtliche Verantwortlichkeit ist daher ebenfalls, da er Angehöriger der Waffen-SS gewesen ist, im Rahmen des §47 MStGB zu prüfen.

Er hat - wie alle anderen SS-Angehörigen - klar erkannt, dass die Tötungen der unschuldigen jüdischen Menschen verbrecherisch waren und die auf diese Tötungen hinzielenden Befehle der Übergeordneten Dienststellen bis hinauf zum "Führer" allgemeine Verbrechen zum Gegenstand hatten. Er hat bei seiner Vernehmung zur Sache selbst eingeräumt, dass er bereits damals die Vergasungen als Unrecht angesehen habe. Im übrigen gilt auch für den Angeklagten Hofmann, was bereits unter A.V.2. ausgeführt worden ist. Ihn trifft daher die Strafe des Teilnehmers.

Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte Hofmann die Massentötung der jüdischen Menschen innerlich bejaht und sie zu seiner eigenen Sache gemacht. Er hat die Vernichtung der Juden in Übereinstimmung mit den Zielen der NS-Machthaber für notwendig gehalten und hat, indem er alle rechtlichen, sittlichen und moralischen Bedenken unterdrückt und sein Gewissen zum Schweigen gebracht hat, hierbei bereitwillig mitgewirkt. Er wollte nicht nur die Taten der Haupttäter fördern, sondern im Zusammenwirken mit den NS-Machthabern und anderen SS-Führern, -Unterführern und -Männern selbst die Juden vernichten, weil er
es im Interesse des NS-Staates für erforderlich hielt. Er hat somit nach der Überzeugung des Gerichts mit Täterwillen gehandelt.

Diese Überzeugung des Gerichts stützt sich auf folgendes: Der Angeklagte Hofmann war ein überzeugter und fanatischer Nationalsozialist und ein eifriger SS-Mann, der sich ganz dem in der SS herrschenden Geist verschrieben hatte. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass er bereits vor der sog. Machtergreifung in die NSDAP und die SS eingetreten ist, sondern folgt vor allem daraus, dass er bereits im Jahre 1933 als Bewacher im KL Dachau eingesetzt wurde und in den folgenden Jahren bis zum Kriegsende stets nur im KZ-Dienst Verwendung fand. Im Jahre 1933 nahm man zu solchen Aufgaben nur "bewährte Kämpfer" und überzeugte Anhänger der NS-Weltanschauung.

Im KZ-Dienst hat sich der Angeklagte Hofmann von 1933 bis 1945 bewährt. Er stieg von Stufe zu Stufe, bis er stellvertretender Schutzhaftlagerführer im KL Dachau wurde. Seit 1936 wurde er laufend jeweils nach relativ kurzer Zeit befördert. Das zeigt, dass er sich im Sinne Eickes durch Härte und Brutalität gegen die sog. Staatsfeinde ausgezeichnet und diese ganz im Sinne des in der SS herrschenden Geistes behandelt haben muss. Es spricht eindeutig dafür, dass er sich ganz der NS-Weltanschauung verschrieben und mit ihren Grundsätzen übereingestimmt haben muss. Dass auch die höhere KL-Führung ihn als einen pflichteifrigen und zuverlässigen SS-Führer, der besonders geeignet für die Durchführung des NS-Vernichtungsprogrammes im Rahmen der sog. Endlösung der Judenfrage erschien, angesehen hat, zeigt sich dahin, dass man ihn am 1.12.1942 zum KL Auschwitz, das als die grösste Vernichtungsstätte für die europäischen Juden ausersehen war, versetzt hat.

Auch im KL Auschwitz hat er sich bewährt. Im Frühjahr 1943 wurde er bereits erster Schutzhaftlagerführer in Birkenau. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen van V. erschien der bisherige Lagerführer Schwarzhuber der höheren SS-Führung zu weich. Aus diesem Grunde wurde er durch den härteren SS-Führer, nämlich den Angeklagten Hofmann abgelöst, dem man den im ganzen Lager gefürchteten und berüchtigten Rapportführer Palitzsch zur Seite gab. In der Funktion als erster Schutzhaftlagerführer hat sich Hofmann rücksichtslos mit dem Vernichtungsprogramm der NS-Machthaber identifiziert und erbarmungslos alle Menschen vernichtet, die im Sinne der NS-Führung nicht mehr nützlich erschienen, indem er - wie oben unter II.4. festgestellt worden ist - Tausende von Häftlingen, die schwach und arbeitsunfähig waren, töten liess. Vor allem seine Tätigkeit in Birkenau gibt nach Auffassung des Schwurgerichts klaren Aufschluss darüber, dass er nicht nur befehlsgemäss handelte, sondern aus eigenem Antrieb danach trachtete, alle sog. Staatsfeinde, die nicht mehr nützlich erschienen, auszurotten. Denn er hätte es als erster Schutzhaftlagerführer in der Hand gehabt, für die ärztliche Betreuung der kranken und schwachen Häftlinge zu sorgen. Er hätte den in Block 7 untergebrachten Kranken Verpflegung zukommen lassen können und er hätte die Lagerausräumungen, die er anordnete, unterlassen können. Wenn er aber im Lager die arbeitsunfähigen und schwachen Häftlinge, die zum grössten Teil aus Juden bestanden, aus eigenem Antrieb vernichtete, so spricht das eindeutig dafür, dass er auch in innerer Übereinstimmung mit der Rassenlehre und den Zielen der NS-Machthaber bezüglich der Vernichtung der mit RSHA-Transporten angekommenen Juden war und deren Tötung aus eigenem inneren Antrieb wollte.

Das Schwurgericht hat daher keinen Zweifel, dass der Angeklagte Hofmann die Tötung der jüdischen Menschen in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit den Haupttätern und einer Vielzahl anderer SS-Männer als eigene Taten wollte, weil er ihnen wegen ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse kein Lebensrecht mehr zuerkannte.

Daraus folgt, dass er selbst - wie die Haupttäter - auch aus niedrigen Beweggründen handelte. Im übrigen kannte er die Beweggründe der Haupttäter, da er nach den getroffenen Feststellungen wusste, dass die RSHA-Juden nur wegen ihrer Abstammung getötet wurden.

Der Angeklagte Hofmann kannte die gesamten Umstände, die die Tötung der Juden als heimtückisch und grausam kennzeichnen. Denn - wie oben festgestellt - wusste er, dass die gesamten Vernichtungsaktionen unter strengster Geheimhaltung und unter Tarnbezeichnungen erfolgten und dass die jüdischen Menschen bis zuletzt über ihr bevorstehendes Schicksal getäuscht wurden. Auch erlebte er, da er selbst dabei war, die Art ihrer Tötung und ihren Todeskampf, nahm somit Kenntnis von allen Umständen, die die Tötung als grausam erscheinen lassen. Er handelte somit vorsätzlich.

Der Angeklagte Hofmann hatte auch das Bewusstsein, Unrecht zu tun. Er hat - wie oben ausgeführt - erkannt, dass die massenweise Tötung jüdischer unschuldiger Menschen ein allgemeines Verbrechen war. Er selbst hat nicht behauptet, dass er die Tötung der Juden für rechtmässig gehalten hätte. Vielmehr hat er eingeräumt, bereits damals die Vergasung der Juden als Unrecht angesehen zu haben. Im übrigen kann hierzu auf die Ausführung unter A.V.2., die auch für den Angeklagten Hofmann gelten, Bezug genommen werden.

Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Hofmann war daher wegen seiner Mitwirkung an der Massenvernichtung jüdischer Menschen, wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens drei Fällen (§§47, 211, 74 StGB) jeweils begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB) an jeweils mindestens 750 Menschen zu dreimal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

2. Zu II.2.

Der Angeklagte Hofmann hat in den festgestellten mindestens drei Fällen, in denen jeweils zehn Häftlinge, insgesamt also 30 Häftlinge, getötet wurden, einen kausalen Tatbeitrag zu dem Tode dieser Häftlinge geleistet, indem er zu den Bunkerentleerungen mit in den Arrestbunker ging und dort bei der Auswahl der zu erschiessenden Häftlinge mitberaten und sein Einverständnis zu der Tötung der ausgewählten Häftlinge gegeben hat. Er hat ferner, da er SS-Führer war, durch seine Anwesenheit bei den Bunkerentleerungen und während der Erschiessungen auf dem Hof zumindest einige SS-Unterführer und SS-Männer psychisch gestärkt, an den Tötungsaktionen mitzuwirken, und dazu beigetragen, dass diese ihre rechtlichen, sittlichen und moralischen Hemmungen verdrängten und ihr Gewissen zum Schweigen brachten. Auch hat er durch seine Anwesenheit im Zusammenwirken mit den anderen SS-Angehörigen den zum Tode bestimmten Häftlingen vor Augen geführt, dass ein Widerstand gegen ihr Schicksal sinnlos sei. Das war dem Angeklagten Hofmann nach der Überzeugung des Gerichts auch bewusst. Denn es ergibt sich aus der gesamten Situation.

Im Falle des Angeklagten Hofmann ist nach Auffassung des Gerichts für die Anwendung des §47 MStGB kein Raum. Nach der gesamten Sachlage ist seine Mitwirkung nicht auf Grund des Befehls eines Vorgesetzten erfolgt. Er hatte selbst den Rang eines SS-Obersturmführers. Dem SS-Untersturmführer Grabner, der massgeblichen Anteil an den Aktionen hatte, unterstand er nicht. Noch weniger brauchte er sich Befehlen des Angeklagten Boger zu beugen, der ebenfalls entscheidenden Einfluss auf die Auswahl der zu erschiessenden Häftlinge nahm. Zwar unterstand er rangmässig und in seiner Funktion als dritter Schutzhaftlagerführer dem ersten Schutzhaftlagerführer, Hauptsturmführer Aumeier. Zwischen beiden bestand aber nach der gesamten Sachlage und der inneren Einstellung des Angeklagten Hofmann zu den sog. Staatsfeinden im Lager, wie sie oben unter IV.1. dargestellt ist und wie sie insbesondere bei Lagerausräumungen in Birkenau offenbar geworden ist, das Einverständnis von Komplizen, die sich aus freien Stücken zu Verbrechen zusammenfinden und diese gemeinsam ausführen. Eines Befehls des ersten Schutzhaftlagerführers bedurfte es daher nicht.

Der Angeklagte Hofmann hat nach der Überzeugung des Gerichts aus freien Stücken die Tötung der Häftlinge innerlich bejaht und als eigene Taten gewollt. Hierfür spricht nicht nur, dass der Angeklagte Broad bereits im Jahre 1945 in seinen Aufzeichnungen ausgeführt hat, dass der Obersturmführer Hofmann "massgeblich" an den Aktionen im Arrestbunker beteiligt gewesen sei, sondern es gelten auch alle oben unter IV.1. angeführten Gesichtspunkte für seinen Täterwillen bei den Judenvernichtungen. Dass für den Angeklagten Hofmann das Leben eines Häftlings kaum einen Wert besass und er kaltblütig das Leben von Häftlingen vernichtete, wenn er es für zweckmässig hielt, ergibt sich weiter daraus, dass er in Birkenau einen Zigeuner aus nichtigem Anlass durch einen Flaschenwurf getötet hat.

Der Angeklagte Hofmann hat somit nicht auf Befehl, sondern in bewussten und gewollten Zusammenwirken mit anderen SS-Führern und Unterführern an den Bunkerentleerungen und nachfolgenden Erschiessungen mitgewirkt und den Tod der 30 Häftlinge als eigene Taten gewollt, um im Arrestbunker Platz für weitere Arrestanten zu schaffen. Er hat somit auch selbst aus niedrigen Beweggründen gehandelt.

Er kannte nach den getroffenen Feststellungen auch die gesamten Umstände, die die Tötungen als grausam kennzeichnen, da er selbst die gesamten Aktionen von Anfang bis zum Ende miterlebt hat.

Dem Angeklagten Hofmann fehlte auch nicht das Bewusstsein, Unrecht zu tun. Er hat sich selbst nicht darauf berufen, dass er die Erschiessungen für rechtmässig gehalten hätte. Vielmehr hat er eingeräumt, dass er sie schon damals als unrechtmässig angesehen habe. Daran könnten, auch wenn er dies nicht zugegeben hätte, auch gar keine Zweifel bestehen. Denn selbstherrlich angeordnete Erschiessungen der Häftlinge waren - wie schon ausgeführt - auch nach der damaligen Auffassung der SS-Führung nicht erlaubt. Alle SS-Angehörigen waren darüber belehrt worden, dass es im KL Auschwitz verboten war, eigenmächtig Häftlinge zu misshandeln oder gar zu töten. Auch der Angeklagte Hofmann kannte dieses Verbot. Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Hofmann war daher wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens dreissig Fällen (§§47, 211, 74 StGB) zu dreissigmal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Dass die Erschiessung eines jeden Häftlings, an der der Angeklagte Hofmann beteiligt war, eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB darstellt, ist oben bereits ausgeführt worden.

3. Zu II.3.

Die Tötung des Zigeuners erfüllt den Tatbestand des §211 StGB. Denn der Angeklagte Hofmann hat den Tod des Häftlings vorsätzlich und heimtückisch herbeigeführt. Nach den getroffenen Feststellungen hat er dem Zigeuner in Tötungsabsicht die Flasche an den Kopf geworfen, und der Tod des Zigeuners ist infolge der durch den Aufprall der Flasche erlittenen Verletzungen eingetreten.

Die Tötung erfolgte heimtückisch. Denn der Zigeuner war, als er sich nach der Mütze bückte, arg- und wehrlos. Er brauchte in diesem Moment nicht mit einem tödlichen Angriff des Angeklagten Hofmann zu rechnen. Damit hat er auch nicht gerechnet, sonst hätte er den Angeklagten Hofmann beobachtet und wäre dem Wurf ausgewichen oder schnell weggelaufen. In seiner Arglosigkeit war er auch gleichzeitig wehrlos, da er keine Möglichkeit hatte, sich gegen den unerwarteten Angriff zu wehren.

Der Angeklagte Hofmann hat diese Arg- und Wehrlosigkeit bewusst ausgenutzt. Denn, wie sich aus dem gesamten Ablauf des Geschehens ergibt, hat er auch durch das Manöver mit der Mütze bewusst die Situation herbeigeführt, in der er ungehindert den tödlichen Wurf anbringen konnte und hat die Flasche genau in dem Augenblick geworfen, in dem der Häftling infolge des Bückens dem Angriff nicht ausweichen konnte. Dass dem Angeklagten Hofmann dabei auch nicht das Unrechtsbewusstsein gefehlt hat, bedarf kaum einer näheren Begründung. Jedermann ist das in §211 enthaltene Tötungsverbot bekannt. Es galt auch im KL Auschwitz gegenüber sog. "Staatsfeinden". Nicht einmal die NS-Machthaber und die höhere SS-Führung hatten den SS-Führern und Unterführern im KL Auschwitz die Befugnis eingeräumt (wozu sie allerdings auch gar nicht berechtigt gewesen wären), eigenmächtig Häftlinge zu töten. Das war dem Angeklagten Hofmann bekannt. Denn er war wie alle anderen SS-Angehörigen darüber belehrt worden. Misshandlungen und eigenmächtige Tötungen von Häftlingen waren nach diesen Belehrungen streng verboten.

Er war daher wegen der Tötung des Zigeuners nach §211 StGB wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

4. Zu II.4.

Wegen der unter II.4. getroffenen Feststellungen ist der Angeklagte Hofmann nicht angeklagt. Die dort aufgeführten Taten werden ihm in dem Eröffnungsbeschluss nicht zur Last gelegt.

Der Einbeziehung der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Nachtragsanklage hat der Angeklagte Hofmann nicht zugestimmt. Sie ist daher in das Hauptverfahren nicht einbezogen worden. Einer rechtlichen Beurteilung der unter II.4. getroffenen Feststellungen bedurfte es daher nicht, da der Angeklagte Hofmann insoweit nicht verurteilt werden konnte. Sein Verhalten im Lager Birkenau als erster Schutzhaftlagerführer gibt aber - wie schon ausgeführt - Aufschluss über seine innere Einstellung zu den Massentötungen der jüdischen Menschen und den Tötungen von Häftlingen nach sog. Bunkerentleerungen.

V. Hilfsbeweisanträge

1. Die Verteidigung des Angeklagten Hofmann beantragt hilfsweise die Verlesung von Blatt 56 des Auschwitzheftes Nr.6, woraus sich ergeben soll, dass der erste Schutzhaftlagerführer, SS-Hauptsturmführer Aumeier, am 16.8.1943 durch den SS-Hauptsturmführer Schwarz ersetzt worden ist.

Diese Tatsache kann zu Gunsten des Angeklagten als wahr unterstellt werden, der Antrag war daher abzulehnen.

2. Zurückzuweisen waren auch die Anträge auf Verlesung von Blatt 93 des Auschwitzheftes Nr.7 und Blatt 22 des Auschwitzheftes Nr.1.

Mit der Verlesung der ersten Eintragung soll bewiesen werden, dass der Lagerkommandant Liebehenschel am 11.5.1944 abgelöst wurde, während auf Blatt 22 des Auschwitzheftes Nr.1 geschildert sein soll, dass Ende 1943 mit dem Wechsel des Lagerkommandanten die Massenerschiessungen auf Block 11 aufgehört hätten und die Todeswand auseinandergenommen worden sei.

Diese Tatsachen hat das Gericht bereits als erwiesen angesehen.

3. Die Verteidigung beantragt weiterhin die Verlesung des Kalendariums der Ereignisse in Auschwitz vom 23.11.1943 (Bl.79 des Auschwitzheftes Nr.6), aus dem sich ergeben soll, dass der neue Lagerkommandant Liebehenschel an diesem Tage den Bunker von Block 11 besichtigte und 56 Häftlinge in das Lager entliess.

Der Antrag war abzulehnen, da diese unter Beweis gestellten Tatsachen für die Würdigung des Verhaltens des Angeklagten Hofmann im Konzentrationslager Auschwitz ohne Bedeutung sind; er hat selbst nicht behauptet, auf diese Entscheidung von Liebehenschel irgendeinen Einfluss genommen zu haben.

4. Aus den gleichen Gründen war der Hilfsantrag auf Beiziehung der Akten 2 Ks 8/61 der StA München, auf Verlesung des dort gefassten Beschlusses vom 11.3.1964 über die Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens und auf Verlesung der Aussage eines Zeugen Lippold zurückzuweisen. Die Tatsache der Verurteilung des Angeklagten Hofmann durch das Schwurgericht in München ist für die Entscheidung in dieser Sache ohne Bedeutung; damit ist auch ebenso ohne Bedeutung, was in der dortigen Sache ein Zeuge Lippold gesagt und ob mit Beschluss vom 11.3.1964 die Wiederaufnahme des Verfahrens zugelassen worden ist.

5. Die weiteren Hilfsbeweisanträge, Bl.52 des Auschwitzheftes Nr.3, Bl.82-87 des Heftes Nr.6, Bl.72-93 des Heftes Nr.7 und Bl.75 des Auschwitzheftes Nr.7 zu verlesen, waren nicht zu bescheiden, da sie nur für den Fall gestellt waren, dass das Schwurgericht in den Punkten 7 und 9 des Eröffnungsbeschlusses nicht auf Freispruch erkennen würde.

6. Abzulehnen waren die hilfsweise gestellten Anträge auf Verlesung von Bl.85 des Auschwitzheftes Nr.4 und des Kalendariums vom 1.3.1943 - 30.9.1943 in den Auschwitzheften Nr.4 und 6. Durch die beantragte Verlesung soll bewiesen werden, dass im Zigeunerlager in der Zeit vom 1.3. bis 30.9.1943 keine der üblichen Lagerselektionen stattgefunden haben; hiervon geht das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bereits aus; die unter Beweis gestellten Tatsachen sind erwiesen.

7. Zurückzuweisen war weiterhin der Antrag auf Verlesung von Seite 73 und 120 der Aufzeichnungen von Höss "Kommandant in Auschwitz".

Mit dem Antrag wird unter Beweis gestellt, dass in den ersten Kriegstagen ein SS-Führer und Gestapo-Beamter auf Befehl des Reichsführers-SS erschossen worden ist, weil er nach Erzählungen des Begleitkommandos einem kommunistischen Funktionär bei seiner Festnahme aus Gutmütigkeit die Flucht ermöglicht hatte und dass eine Aufseherin in einem Frauenkonzentrationslager, die sich mit männlichen Häftlingen in geschlechtliche Beziehungen eingelassen und dafür mit wertvollem Schmuck hatte bezahlen lassen, ihrerseits auf Befehl des Reichsführers-SS auf Lebenszeit in ein Konzentrationslager eingewiesen worden ist.

Diese Tatsachen sind für die Entscheidung in dieser Sache ohne Bedeutung.

8. Schliesslich war auch noch der Antrag auf Vernehmung der Ehefrau des Angeklagten Hofmann abzulehnen.

In deren Wissen wird gestellt,
a. dass der Angeklagte Hofmann im Jahre 1941/1942 um Frontversetzung bat, sein Gesuch in Berlin aber mit der Begründung schriftlich abgelehnt wurde, er habe seinen Dienst dort zu tun, wo er hingestellt sei, und
b. dass sie nach Kriegsende mehrere Schreiben ehemaliger Häftlinge erhalten hat, die sich für anständige Behandlung durch den Angeklagten bedankten.

Die unter Beweis gestellten Tatsachen können so behandelt werden, als wären sie wahr.

Die innere Einstellung des Angeklagten zu dem Geschehen in Auschwitz und zu seinen Taten wird durch diese Tatsache nicht berührt; es hat sich in der Beweisaufnahme im übrigen immer wieder ergeben, dass praktisch jeder SS-Mann in Auschwitz gleichsam im Schatten der von ihm begangenen Verbrechen dem einen oder anderen Häftling aus irgendwelchen Gründen Vorteile verschaffte, die für diesen oft lebensentscheidend waren.

J. Die Straftaten des Angeklagten Kaduk

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Kaduk

Der Angeklagte wurde am 26.8.1906 als Sohn eines Schmiedes in Königshütte/Oberschlesien geboren. Er hatte noch fünf Brüder. Diese sind während des zweiten Weltkrieges gefallen. Vom 6. bis zum 14. Lebensjahr besuchte der Angeklagte die Volksschule in Königshütte. Er wurde regelmässig versetzt. Nach der Schulentlassung erlernte er drei Jahre das Fleischerhandwerk. Im Herbst 1924 legte er die Gesellenprüfung ab. Anschliessend arbeitete er etwa 1 1/2 Jahre als Metzger im Städtischen Schlachthof in Königshütte. Nachdem er kurze Zeit arbeitslos gewesen war, wurde er 1927 in die Städtische Berufsfeuerwehr in Königshütte übernommen. Nach 5 bis 6 Dienstjahren nahm er an einem Sonderlehrgang teil und wurde dann in die Betriebsfeuerwehr der Stickstoff-Werke in Königshütte überstellt.

Der Angeklagte trat Ende 1939 freiwillig in die allgemeine SS ein. Dann meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS. Er wurde im Frühjahr 1940 zur 15. Totenkopfstandarte nach Oranienburg bei Berlin eingezogen. Dort blieb er nur wenige Tage. Dann wurde er nach Plock versetzt. Hier erhielt er seine militärische Grundausbildung. Im Herbst 1940 nahm er an einem Unterführerlehrgang in Lublinitz in Oberschlesien teil. Im Frühjahr 1941 wurde er zum SS-Sturmmann (Gefreiter) befördert. Er kehrte nun wieder nach Plock zurück. Als seine Einheit nach Finnland verlegt wurde, bekam er eine Blinddarm- und Bauchfellentzündung. Nach längerem Lazarettaufenthalt in Danzig und Glatz/Schlesien wurde er von Plock nach Debica zum 9. SS-Regiment versetzt. Von dort kam er 1941 nach Auschwitz, und zwar zunächst zur 4. Kompanie des Wachsturmbannes. Angeblich hat er bei seiner Versetzung nach Auschwitz seinen Chef gebeten, ihn zu seiner Einheit zu schicken, da er - wie er sich einlässt - gern den Osteinsatz hätte mitmachen wollen. Sein Chef habe ihm seinen Wunsch jedoch abgeschlagen, mit der Bemerkung, er - Kaduk - habe dahin zu fahren, wohin er versetzt werde. Er habe damals - so behauptet der Angeklagte weiter - nichts von Auschwitz gewusst. Ihm sei nicht einmal die geographische Lage von Auschwitz bekannt gewesen.

Nachdem der Angeklagte Kaduk einige Zeit in der 4. Wachkompanie Dienst getan hatte, wurde er zum Kommandanturstab versetzt. Er wurde zunächst als Blockführer, später auch als Rapportführer eingesetzt. Im Februar 1943 wurde er zum Unterscharführer befördert. Eine weitere Beförderung (zum Oberscharführer) bestreitet der Angeklagte. Er will bis zuletzt Unterscharführer geblieben sein.

Der Angeklagte behauptet ferner, er habe vom 28.10.1942 bis zum 21.8.1943 im Krankenhaus Glatz wegen Malaria gelegen. Von Mitte August 1943 bis zum 28.9.1943 will er wegen eines Nervenzusammenbruchs von Auschwitz abwesend gewesen sein. Nach der schriftlichen Auskunft der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt.) vom 29.1.1963 war er jedoch nur vom 25.10.1942 bis zum 20.11.1942 wegen Magenbeschwerden und vom 21.8.1943 bis zum 28.9.1943 wegen einer Malariaerkrankung im Lazarett Königshütte. Kaduk blieb in Auschwitz bis zur Auflösung des Lagers im Januar 1945.

Nach dem Zusammenbruch arbeitete der Angeklagte in Löbau in einer Zuckerfabrik. Am 8.Dezember 1945 wurde er von einer sowjetischen Militärstreife festgenommen. Er war von einem ehemaligen Häftling des Konzentrationslagers Auschwitz wiedererkannt worden.

Am 25.8.1947 wurde der Angeklagte durch das "Militärtribunal der Sowjetischen Militärverwaltung des Landes Sachsen" in Bautzen gemäss Artikel 319, 320 der Strafprozessordnung und Art.4 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderativen Sowjetrepublik wegen seiner Tätigkeit als Blockführer und Rapportführer im KZ Auschwitz, unter anderem wegen aktiver Teilnahme an der Vernichtung der Häftlinge, wegen Teilnahme an einer Massenerschiessung in der Nacht zum 1.1.1942, wegen einer von ihm befohlenen Erhängung von 6 Häftlingen, wegen persönlicher Teilnahme an Selektionen von Häftlingen, von denen 1500 zur Vernichtung in die Gaskammern ausgewählt wurden, wegen Erschiessung von ungefähr 8000 Personen auf dem Evakuierungsmarsch "zur Inhaftierung in den Besserungs-Arbeitslagern auf die Dauer von 25 Jahren unter Beschlagnahme der bei seiner Verhaftung abgenommenen Wertgegenstände" verurteilt.

Der Beginn der Strafe wurde vom Militärtribunal auf den 29.4.1947 festgesetzt. Die Strafverbüssung wurde von diesem Datum an gerechnet. Das Urteil unterlag keinem Rechtsmittel.

Der Angeklagte Kaduk verbüsste einen Teil seiner Strafe in der Strafanstalt Bautzen. Dann wurde er begnadigt und am 26.4.1956 aus der Haft entlassen. Von Bautzen ging er nach Westberlin, wo er zuletzt Krankenpfleger war. Während der Strafverbüssung in Bautzen hatte sich der Angeklagte eine Tbc-Erkrankung zugezogen. Die erkrankten Teile der Lunge sind heute verkapselt.

Der Angeklagte Kaduk hat im Jahre 1931 geheiratet. Aus der Ehe ist ein Sohn, der bereits volljährig ist, hervorgegangen. Die Familie des Angeklagten kam im Jahre 1957 im Wege der Familienzusammenführung nach Westberlin. Der Angeklagte befindet sich seit dem 21.7.1959 wegen dieser Sache in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

Der Angeklagte Kaduk war einer der grausamsten, brutalsten und ordinärsten SS-Männer im KL Auschwitz. Fast alle Häftlinge hatten Angst vor ihm. Wo er im Lager oder bei Arbeitskommandos auftauchte, verbreitete er Furcht und Schrecken. Wer ihn von weitem ins Lager kommen sah, flüchtete mit dem Ruf: "Kaduk kommt!" Dieser Ruf verbreitete sich jeweils in Windeseile. Alle Häftlinge, die ihn hörten, flüchteten in ihre Blocks und versteckten sich, um von Kaduk nicht gesehen zu werden. Für die Häftlinge war es gefährlich, dem Angeklagten Kaduk zu begegnen. Jeder musste damit rechnen, von ihm geschlagen, misshandelt oder aus nichtigem Anlass getötet zu werden. Oft erschien Kaduk angetrunken oder betrunken im Lager. Dann war er völlig unberechenbar. Er schrie Häftlinge, die ihm begegneten, an, fuchtelte wild mit den Armen umher und schoss mit einer Pistole in der Gegend herum.

Bei den Appellen misshandelte der Angeklagte Kaduk die Häftlinge oft aus den geringsten Anlässen (z.B. wenn ein Häftling vergessen hatte, seinen obersten Knopf an der Jacke zu schliessen) schwer. Er schlug und trat sie, bis sie zu Boden fielen. Oft waren sie bewusstlos und mussten weggetragen werden. Wiederholt wurden Häftlinge mit inneren Verletzungen, die sie durch Stiefeltritte des Angeklagten Kaduk erlitten hatten, bewusstlos in den HKB eingeliefert. Inwieweit solche Häftlinge gestorben sind, konnte nicht festgestellt werden mit Ausnahme der noch zu schildernden Fälle. Besondere Freude bereitete es dem Angeklagten Kaduk, die Häftlinge beim Einrücken in das Lager nach der Arbeit zu kontrollieren. Er durchsuchte die Häftlinge nach Lebens- und Genussmitteln. Fand er etwas bei einem Häftling, so schlug er diesen häufig bis zur Bewusstlosigkeit.

Oft durchsuchte der Angeklagte Kaduk auch die Blocks nach zurückgebliebenen Häftlingen. Wenn er einen Häftling erwischte, der nicht mit seinem Arbeitskommando ausgerückt war, schlug er wie wild auf ihn ein.

Am 18.8.1843 fand eine Selektion auf Block 19 statt. Der Lagerarzt sonderte einen grossen Teil der Häftlinge für den Gastod aus. Am nächsten Tag sollten die Ausgesonderten von SS-Männern zu den LKWs gebracht werden. Kaduk führte die SS-Männer an. Ein junger 17-18jähriger Häftling, ein Franzose, warf sich im Mittelgang des Blockes 19 dem Angeklagten Kaduk zu Füssen und flehte um sein Leben. Kaduk trat ihm jedoch mit seinem Stiefel ins Gesicht und in andere Körperteile. Der junge Häftling brach zusammen. Er wurde in einer Decke weggetragen. Ob er gestorben ist, konnte nicht festgestellt werden.

Folgende Straftaten des Angeklagten Kaduk sind erwiesen:

1. Die Auswahl kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge im Stammlager zur Vergasung durch den Angeklagten Kaduk (Eröffnungsbeschluss 1 a)

Wie im zweiten Abschnitt unter VII.4.d. ausgeführt worden ist, fanden im KL Auschwitz von Zeit zu Zeit sog. Lagerselektionen statt, bei denen die Häftlinge durch die Lagerärzte, aber auch ohne Anwesenheit von Ärzten, durch andere SS-Angehörige auf ihre Arbeitstauglichkeit geprüft und arbeitsunfähige Häftlinge zur Vergasung ausgesondert und anschliessend in den Gaskammern durch Zyklon B getötet wurden. Der Angeklagte Kaduk nahm in einer unbestimmten Anzahl von Fällen als Block- und Rapportführer an solchen Lagerselektionen teil. Darüber hinaus führte er solche Ausmusterungen auch ohne Anwesenheit eines Lagerarztes durch:

a. Eines Abends - der genaue Zeitpunkt konnte nicht festgestellt werden, es war entweder im Jahre 1943 oder im Jahre 1944 - wurde nach Einbruch der Dunkelheit der Befehl im Stammlager durchgegeben: "Alle Juden antreten! Alle Juden raus!" Die jüdischen Häftlinge traten daraufhin auf der Lagerstrasse an. Sie mussten sich völlig entkleiden und dann hintereinander durch das Badehaus zwischen Block 1 und 2 hindurchgehen. Im Badehaus sass der Angeklagte Kaduk auf einem Schemel. Bei ihm war noch ein anderer SS-Angehöriger, dessen Name nicht bekannt ist. Neben Kaduk stand ferner ein Häftlingsschreiber. Kaduk musterte die an ihm vorbeigehenden Häftlinge. Die nach seiner Meinung schwachen und arbeitsunfähigen Häftlinge nahm er beiseite. Dann liess er ihre Nummern von dem Häftlingsschreiber notieren. Nach der Musterung durften die Häftlinge wieder in ihre Blocks zurückgehen. Noch in der gleichen Nacht wurden die Häftlinge, deren Nummern notiert worden waren, aufgerufen. Sie wurden aus ihren Blocks herausgeholt. Am nächsten Morgen kamen LKWs, mit denen die ausgesuchten Häftlinge zu einer der Gaskammern gebracht wurden. Dort wurden sie mit Zyklon B getötet. Der Angeklagte Kaduk hat im Badehaus eine unbestimmte Anzahl von Häftlingen für den Tod ausgewählt. Die genaue Anzahl konnte nicht festgestellt werden. Mit Sicherheit hat er zwei Häftlinge, nämlich einen Juden namens Hess und einen jüdischen Häftling namens Grünfeld oder Grünberg selektiert. Beide sind anschliessend durch Zyklon B in einer Gaskammer getötet worden.

Der Angeklagte Kaduk wusste, dass er im Badehaus die Häftlinge für den Gastod aussonderte, und dass die Tötung der schwachen und arbeitsunfähigen Häftlinge in der Gaskammer nur deswegen erfolgte, weil sie als überflüssige Esser und unnötige Belastung des Lagers angesehen wurden. Die Art und Weise, wie die Opfer in der Gaskammer den Tod erlitten, war ihm ebenfalls bekannt.

b. Im Spätherbst 1944 war die Anzahl der sog. "Muselmänner" im Stammlager sehr hoch. Von Berlin kam daher der Befehl, dass die Arbeitsunfähigen auszusondern und zu töten seien, da ihr Bestand zu hoch sei. Der Lagerführer Hössler gab den Befehl weiter mit der Devise: "Die Muselmänner müssen weg!" Die Häftlinge des Lagers mussten daher eines Tages vor der alten Wäscherei antreten. Dort wurden sie von den drei Rapportführern auf ihre Arbeitstauglichkeit gemustert. Einer der drei Rapportführer war der Angeklagte Kaduk. Er sonderte zusammen mit den anderen beiden Rapportführern mindestens 1000 Häftlinge aus, die nach ihrer Meinung nicht mehr arbeitstauglich waren. Kaduk war dabei sehr eifrig. Anschliessend wurden die ausgesonderten Häftlinge mit LKWs zu einer der vier Gaskammern nach Birkenau gefahren. Dort wurden sie durch Zyklon B getötet.

Auch in diesem Falle wusste der Angeklagte Kaduk, dass die Häftlinge als "unnütze Esser" zur Tötung ausgesucht und anschliessend in der Gaskammer vergast worden sind.

2. Die Tötung eines Häftlings durch den Angeklagten Kaduk (Eröffnungsbeschluss 7)

Im Spätsommer 1944 fehlte bei einem Abendappell ein Häftling. Die angetretenen Häftlinge mussten daher stehen bleiben. Die Blockführer durchsuchten die Blocks nach dem fehlenden Mann. Sie fanden ihn im Block 15 und schleppten ihn zum Appellplatz. Dort schlugen der Angeklagte Kaduk und der Rapportführer Clausen auf den Häftling ein. Der Häftling fiel mehrfach zu Boden. Kaduk schüttete immer wieder Wasser über den Häftling. Jedesmal, wenn sich der Häftling erhob, schlugen beide erneut auf ihn ein. Schliesslich blieb der Häftling auf dem Rücken liegen. Er lebte noch. Kaduk und Clausen stellten sich rechts und links von dem liegenden Mann hin und traten mit voller Kraft mit ihren Stiefelabsätzen auf den Brustkorb des Häftlings ein, so dass die Rippen desselben krachten. Sie hörten mit dem Treten erst auf, als der Häftling kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Der Häftling starb infolge dieser Misshandlungen auf der Stelle.

3. Die Tötung eines Häftlings im September oder Oktober 1943 (Eröffnungsbeschluss 18)

Ende September oder in der ersten Hälfte des Oktober 1943 kontrollierte der Angeklagte Kaduk ein Häftlingskommando, das Steine von der Eisenbahnstation zum Lager auf einem Weg von etwa 2 km Länge schleppen musste. Die Häftlinge des Kommandos hatten zum grössten Teil kein Schuhwerk. Sie mussten barfuss gehen. Infolgedessen hatten viele Häftlinge erhebliche Fussbeschwerden und konnten sich nur noch mühsam fortbewegen. Als der Angeklagte Kaduk dies sah, schimpfte er mit ihnen und warf ihnen vor, dass sie zu langsam arbeiteten. Er verlangte, dass sie die Steine im Laufschritt tragen sollten. Als viele Häftlinge dieser Aufforderung aus Erschöpfung und wegen ihrer Fussbeschwerden nicht nachkommen konnten, machte der Angeklagte Kaduk "Sport" mit ihnen. Die Häftlinge mussten auf Kaduks Befehl im Kreise im Laufschritt herumlaufen, springen, hüpfen, sich niederfallen lassen und wieder aufstehen, wie Frösche springen usw., bis schliesslich drei Häftlinge aus Erschöpfung den "Sport" nicht mehr mitmachen konnten. Kaduk schlug nun auf die erschöpften drei Häftlinge längere Zeit ein und trat sie mit seinen Stiefeln wahllos in den Körper. Einer der drei Häftlinge war im Alter von etwa 50 Jahren. Er war krank und schwach. Er starb kurz danach an den Folgen der von Kaduk erhaltenen Schläge und Fusstritte. Der Angeklagte Kaduk rechnete während der Misshandlungen dieses schwachen und kranken Häftlings damit, dass dieser durch die Misshandlung oder an deren Folgen sterben könnte. Er nahm dies jedoch bewusst in Kauf und billigte es.

4. Die Tötung von drei Häftlingen im September oder Oktober 1943 im Quarantänelager in Birkenau (Eröffnungsbeschluss Ziffer 19)

Um die gleiche Zeit fehlte bei einem Mittagsappell im Quarantänelager (B II a) in Birkenau ein Häftling aus Block 4. Die Blockführer durchsuchten deswegen das Quarantänelager, ohne den Häftling zu finden. Daraufhin wurden weitere SS-Angehörige von ausserhalb des Quarantänelagers zu der Suchaktion hinzugezogen. Auch der Angeklagte Kaduk war unter ihnen. Aus jedem Block - es waren insgesamt sechs Blocks - wurden nun je drei Häftlinge als sog. "Geiseln" ausgesondert und neben ihren Blocks gesondert aufgestellt. Man sagte ihnen, dass sie erschossen würden, wenn der fehlende Häftling nicht gefunden würde. Nach einer Suchaktion von etwa zwei bis drei Stunden fand man den fehlenden Häftling tot in einem Holzhaufen. Er hatte sich in den Holzhaufen verkrochen und war in seinem Versteck verstorben.

Obwohl der Häftling gefunden worden war, ging der Angeklagte Kaduk zu den drei aus dem Block vier ausgewählten "Geiseln" hin, zog seine Pistole und erschoss sie nacheinander. Zu einem Blockältesten sagte er sinngemäss: "Verrecken kann man im Lager nur bei der Arbeit und nicht wie ein Schwein in der Ecke."

5. Die Tötung eines Häftlings im Spätsommer oder Herbst 1943 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 20)

Im Spätsommer oder Herbst 1943, der genaue Zeitpunkt war nicht mehr festzustellen, mussten die Häftlinge im Quarantänelager in Birkenau (B II a) einmal aus irgend einem Grunde einen ganzen Tag über Appell stehen. Niemand durfte die Reihe, in der er stand, verlassen. Ein Häftling, der seine Notdurft nicht mehr halten konnte, schlich sich trotzdem aus seiner Reihe und lief hinter eine Baracke. Dort wurde er, während er seine Notdurft verrichtete, von einem Blockältesten des Blockes 5 erwischt. Der Blockälteste führte ihn vor die angetretenen Häftlinge und schlug ihn. Während des Schlagens kamen zufällig der Angeklagte Kaduk und der SS-Mann Kurpanek am Lager vorbei. Sie kamen in das Lager herein und fragten den Blockältesten, was los sei. Der Blockälteste erklärte ihnen irgend etwas. Daraufhin gab Kurpanek dem Häftling eine Ohrfeige. Der Häftling schwankte etwas und berührte dabei wahrscheinlich den Angeklagten Kaduk. Nun fing dieser an, den Häftling zu schlagen und mit seinen Stiefeln zu treten. Er schlug und trat ihn eine ganze Zeit. Dann riss er plötzlich dem Häftling die Mütze vom Kopf und warf sie in Richtung des Stacheldrahtes und zwar über die Linie hinaus, die kein Häftling überschreiten durfte. Der Häftling lief, um sich die Mütze wiederzuholen. Dabei geriet er in die Zone, deren Betreten für die Häftlinge verboten war. Ein Wachtposten, der in der Nähe in der kleinen Postenkette Wachdienst verrichtete, erschoss den Häftling. Der Angeklagte Kaduk hatte die Mütze des Häftlings nur deswegen in die Verbotszone geworfen, damit der Häftling beim Holen der Mütze in diese Zone geriete und von dem Wachtposten erschossen würde. Er wusste, dass die Wachtposten angewiesen waren, alle Häftlinge nach dem Überschreiten der Grenzlinie und dem Betreten der verbotenen Zone zu erschiessen. Der Häftling, der erst kurz zuvor in das Lager gekommen war, und mit den Gepflogenheiten im Lager, insbesondere dem sog. "Mützenwerfen" nicht vertraut war, ahnte nicht, dass er beim Holen der Mütze erschossen werden könnte.

6. Die Tötung eines Zigeuners im Sommer 1944 im Stammlager (Eröffnungsbeschluss Ziffer 21)

Im Sommer 1944 wurden kurz vor der Vernichtung der Insassen des Zigeunerlagers (B II e) ein Teil der Zigeuner in das Stammlager verbracht. Sie wurden in einem Block untergebracht, der durch einen besonderen Drahtzaun gesichert und besonders bewacht wurde.

An einem Sonntagnachmittag gingen die Häftlinge des Lagers auf der Lagerstrasse auf und ab. Plötzlich gab es Unruhe. Es hiess, dass der Angeklagte Kaduk komme. Alle Häftlinge flüchteten in ihre Blocks, weil sie Angst vor dem unberechenbaren Kaduk hatten. Kaduk begab sich von dem Lagereingang zum Block, in dem die Zigeuner untergebracht waren, zog seine Pistole aus der Pistolentasche und gab beim Zigeunerblock mehrere Schüsse auf die dort befindlichen Zigeuner ab. Durch einen oder mehrere Schüsse wurde ein Zigeuner tödlich getroffen, was der Angeklagte Kaduk beabsichtigt hatte. Die Leiche wurde von anderen Häftlingen zum HKB geschleift und dort bei den Leichen der an diesem Tag verstorbenen Häftlingen abgelegt.

7. Die Tötung von drei Häftlingen auf dem Evakuierungsmarsch (Eröffnungsbeschluss Ziffer 24)

Am 18.1.1945 wurde das KL Auschwitz evakuiert. Die Häftlinge wurden unter strenger Bewachung durch SS-Angehörige des Lagers zu Fuss tagelang vom Lager weggeführt. Viele waren infolge der schlechten Ernährung den Strapazen des Fussmarsches nicht gewachsen. Sie waren bald so erschöpft, dass sie nicht mehr weitermarschieren konnten. Wer zurückblieb, wurde von den begleitenden SS-Posten erschossen.

Der Angeklagte Kaduk begleitete die Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch ebenfalls ein Stück. Er erschoss eigenhändig mehrere Häftlinge, die den Anschluss an die marschierende Kolonne nicht mehr hatten halten können und zurückgeblieben waren. Die Anzahl der von ihm getöteten Häftlinge konnte nicht mehr festgestellt werden. Mit Sicherheit hat er mindestens drei erschöpfte Häftlinge getötet.

Nach einem Befehl aus Berlin war es verboten, Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch, die aus Erschöpfung nicht mehr weiter marschieren konnten und zurückblieben, zu töten.

III. Einlassung des Angeklagten Kaduk, Beweismittel, Beweiswürdigung

Die Feststellungen über das allgemeine Verhalten und die Persönlichkeit des Angeklagten Kaduk im KL Auschwitz und seinen Ruf bei den Häftlingen im Lager beruhen auf den glaubhaften Bekundungen der Zeuginnen Dr. Lin., Her. und Cou. sowie den glaubhaften Aussagen der Zeugen Law., Kl., F., Dr. D., Kru., Kor., Lak., E., Sk., Ch. und Kle. Der Angeklagte Kaduk hat zunächst jede Einlassung zur Sache verweigert. Im Verlaufe der Hauptverhandlung hat er sich zu einzelnen Belastungen und auch zu allgemeinen Fragen geäussert. Er hat eingeräumt; dass er Häftlinge geschlagen habe. Er hat ferner zugegeben, dass das Schlagen von Häftlingen auf Grund einer Anordnung des Reichsführers SS verboten gewesen sei. Ihnen sei das auch öfters gesagt worden. Er habe aber schon damals die Auffassung vertreten, dass es ohne Schlagen der Häftlinge nicht ginge.

Die Feststellungen über die Misshandlung des jungen Häftlings in Block 19 beruhen auf der glaubhaften Aussage des Zeugen Led. Der Angeklagte Kaduk hat zu diesem Fall keine Stellung genommen.

Im übrigen hat sich der Angeklagte wie folgt eingelassen:

1. Zu II.1.

Er hat eingeräumt, dass er bei Lagerselektionen dabeigewesen sei. Er habe aber bei den Selektionen - so hat er behauptet - keine "Entscheidungsfreiheit" und keine "Tatherrschaft" gehabt. Die Ärzte hätten die Häftlinge in die Gaskammern geschickt. Auch andere SS-Führer hätten das getan. Er hätte als kleiner SS-Unterführer hierzu keine Befugnis gehabt. Der Angeklagte Kaduk ist jedoch durch die glaubhafte Aussage des Zeugen Lak. überführt worden, dass er in dem unter II.1.a. geschilderten Fall die schwachen und arbeitsunfähigen Häftlinge selbst ausgemustert hat. Dieser Zeuge hat den Angeklagten Kaduk gekannt. Er hat glaubhaft geschildert, dass Kaduk auf einem Schemel sitzend die schwachen Häftlinge ausgesondert habe und durch den Häftlingsschreiber habe notieren lassen. Die Zahl der ausgesonderten Häftlinge konnte der Zeuge nicht mehr angeben. Der Zeuge wusste aber noch mit Bestimmtheit, dass zwei ihm dem Namen nach bekannte Häftlinge, nämlich ein Jude namens Hess und ein anderer Jude namens Grünfeld oder Grünberg auf Veranlassung des Angeklagten Kaduk notiert worden sind. Der Zeuge hat auch gesehen, dass die Häftlinge am nächsten Morgen nach Birkenau mit LKWs abtransportiert worden sind.

Aus der Tatsache, dass nur Juden auf ihre Arbeitstauglichkeit gemustert worden sind und dass Kaduk nur schwache und arbeitsunfähige Häftlinge mit ihren Nummern hat aufschreiben lassen und dass diese am nächsten Morgen nach Birkenau transportiert worden sind, hat das Gericht den Schluss gezogen, dass diese Häftlinge nicht etwa zu einem Transport in ein anderes Lager, sondern zur Vergasung ausgesucht und anschliessend auch durch Zyklon B getötet worden sind. Es bestehen auch keine Zweifel, dass Kaduk genau gewusst hat, dass die von ihm ausgemusterten Häftlinge getötet werden sollten, weil sie als unnütze Esser nicht mehr nützlich erschienen. Das ergibt sich schon daraus, dass ihm - wie er selbst eingeräumt hat - Lagerselektionen geläufig waren und dass er nach seiner eigenen Einlassung wusste, dass die SS-Ärzte bei Selektionen Häftlinge ins Gas schickten und dass er in diesem Fall zielstrebig nur kranke und schwache Häftlinge aussuchte.

Der Angeklagte Kaduk wusste auch genau, auf welche Weise die Häftlinge umkamen. Denn er ist selbst wiederholt bei den Gaskammern gewesen, wenn Menschen darin durch Zyklon B getötet wurden und hat selbst den Todeskampf der Opfer miterlebt. Er war nämlich oft bei der Ankunft von RSHA-Transporten auf der Rampe und war auch wiederholt bei den anschliessenden Vergasungen der jüdischen Menschen dabei. Deswegen ist er allerdings nicht angeklagt worden, auch wird ihm dies im Eröffnungsbeschluss nicht zur Last gelegt. Hieraus folgt aber, dass er die Tötungsart genau gekannt hat.

Dass der Angeklagte Kaduk bei der Abwicklung von RSHA-Transporten dabeigewesen ist, hat er selbst eingeräumt. Bei den Gaskammern ist er von dem Zeugen Buk. gesehen worden. Der Zeuge hat glaubhaft geschildert, dass Kaduk oft bei den Gaskammern in den umgebauten Bauernhäusern bei Vergasungen von jüdischen Menschen gewesen sei. Er habe dort die SS-Männer kommandiert. Alte und kranke Leute, die sich nicht mehr hätten selbst ausziehen können, habe er unauffällig erschossen. Der Zeuge Buk. hat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass er den Angeklagten Kaduk gekannt und seine Tätigkeit bei den Gaskammern zutreffend geschildert hat. In der Hauptverhandlung hat der Zeuge den Angeklagten wiedererkannt, jedoch hinzugefügt, dass Kaduk damals schmaler gewesen sei, was richtig ist.

Die Aussage des Zeugen Buk. wird zumindest mittelbar durch die Aussage des Zeugen Dr. Sk. bestätigt. Der Zeuge hat einmal - wie er glaubhaft bekundet hat - ein Gespräch zwischen dem Angeklagten Kaduk und dem Rapportführer Hartwig im Badehaus, in dem Zigeunerfrauen gebadet und neu eingekleidet wurden, mit angehört. Der Zeuge war zu der damaligen Zeit in der Bekleidungskammer tätig und musste in dieser Funktion bei der Einkleidung der Frauen dabeisein, um ihnen die Kleider auszuhändigen. Kaduk und Hartwig, die dem Duschen der Frauen zusahen, unterhielten sich anzüglich über die Figur einer Frau, die ihren Büstenhalter nicht ausziehen wollte, von Kaduk und Hartwig hierzu jedoch gezwungen wurde. Bei diesem Gespräch erzählte Kaduk dem Hartwig unter anderem, wie angenehm es sei, wenn man nackte Frauen in die Gaskammern hineinschieben könne. Auch aus dieser Bemerkung, die der Zeuge Dr. Sk. selbst mitangehört hat, hat das Schwurgericht gefolgert, dass der Angeklagte Kaduk die Opfer mit in die Gaskammern hineingeführt und anschliessend ihren Todeskampf miterlebt hat.

Aus diesem Grund ist das Gericht überzeugt, dass der Angeklagte Kaduk die gesamten Umstände, unter denen die von ihm im Badehaus ausgesonderten Häftlinge den Tod erleiden mussten, genau gekannt hat, wenn er auch in diesem Fall nicht selbst bei der Tötung der von ihm für den Tod bestimmten Häftlinge dabeigewesen ist.

Über den unter II.1.b. geschilderten Fall hat der Zeuge Dr. D. berichtet. Der Zeuge, der von Beruf Rechtsanwalt in Wien ist, war damals Lagerältester im Stammlager. Das Gericht hat dem Zeugen, der einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat, vollen Glauben geschenkt. Als Lagerältester konnte der Zeuge auch die Anzahl der zum Tode ausgesonderten Häftlinge feststellen. Für ihn war es auch nicht schwer, auf Grund seiner Beziehungen festzustellen, dass die ausgesonderten Häftlinge in der Gaskammer tatsächlich auch getötet worden sind.

Daran kann im übrigen auf Grund des von Berlin gegebenen Befehls und auf Grund der Tatsache, dass nur "Muselmänner" selektiert worden sind, kein Zweifel bestehen.

Auch hier musste dem Angeklagten nach den gesamten Umständen, nämlich, dass von Berlin der Befehl gegeben worden war, die "Muselmänner" zu beseitigen, und dass bei der Selektion nur Arbeitsunfähige ausgesondert worden sind, klar sein und war ihm nach der Überzeugung des Gerichts auch klar, dass die Häftlinge als überflüssige Esser getötet werden sollten und dass sie anschliessend auch in der Gaskammer getötet worden sind.

Die Zeugen Heinz Her., Stein., Fri., Wö., Kl., Sew., Toc. und Kru. und andere haben ebenfalls von Selektionen durch den Angeklagten Kaduk berichtet. Insoweit konnte jedoch, soweit es sich um andere als die unter II.1.a. und b. geschilderten Selektionen handelt, nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass die ausgesonderten Häftlinge anschliessend auch tatsächlich vergast worden sind. So hat der Zeuge Heinz Her. eine Selektion geschildert, die im Winter 1943/1944 in der alten Wäscherei stattgefunden hat. Der Zeuge wusste jedoch nicht, ob die Selektierten anschliessend auch tatsächlich getötet worden sind. Er gab an, dass damals ein Gerücht umgegangen sei, dass diese Leute nicht vergast worden seien. Die Ausgesonderten seien noch drei oder vier Tage im Lager geblieben. Was dann mit ihnen geschehen sei, wisse er nicht. Auch der Zeuge Stei. hat von einer Selektion durch den Angeklagten Kaduk in der alten Wäscherei berichtet. Er wusste jedoch nicht, ob die ausgesonderten Häftlinge auch getötet worden sind. Nach seiner Darstellung liefen damals widersprechende Gerüchte im Lager herum. Einmal hiess es, dass der Lagerkommandant Liebehenschel die Vergasung verhindert habe, ein anderes Mal, es sei nur ein Teil der Selektierten vergast worden, andere Häftlinge wiederum hätten behauptet, dass alle ausgesonderten Häftlinge vergast worden seien.

Der Zeuge Fri. hat ebenfalls eine Selektion in der alten Wäscherei geschildert, bei der der Angeklagte Kaduk mit einem Stöckchen auf bestimmte Häftlinge gezeigt habe, die dann mit ihren Nummern aufgeschrieben worden seien. Kaduk habe schwache, aber auch kräftige Männer ausgesucht. Der Zeuge meint zwar, dass die ausgesonderten Häftlinge getötet worden seien, weil sehr viele "Muselmänner" unter ihnen gewesen seien. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist die Auffassung des Zeugen auch zutreffend. Da jedoch auch kräftige Männer unter den Selektierten gewesen sind, konnte das Gericht nicht mit letzter Sicherheit die Überzeugung davon gewinnen. Im Hinblick auf die Tatsache, dass auch kräftige Männer ausgesucht worden sind, besteht immerhin die geringe Möglichkeit, dass ein Transport zusammengestellt werden musste und Kaduk diese Gelegenheit benutzt hat, um zusammen mit anderen SS-Männern einen Teil der schwächsten Häftlinge aus dem Lager abzuschieben.

Bei den von den weiteren Zeugen geschilderten Selektionen durch Kaduk konnte nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sie entweder mit der unter II.1.a. oder mit der unter II.1.b. festgestellten Selektionen identisch sind.

Über die unter II.1.a. und b. getroffenen Feststellungen hinaus konnte dem Angeklagten Kaduk daher nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass er noch in weiteren Fällen selbst die Auswahl von kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen vorgenommen hat.

Soweit der Angeklagte Kaduk eingeräumt hat, bei Selektionen durch Ärzte dabeigewesen zu sein, konnten keine sicheren, konkreten Feststellungen getroffen werden. Kaduk hat nach der Aussage verschiedener Zeugen (z.B. P. und Led.) insbesondere auch nach den Selektionen durch die Lagerärzte mitgeholfen, die ausgesonderten Menschen auf LKWs zu verladen. Diese - wenn auch strafbare - Tätigkeit wird von dem Eröffnungsbeschluss jedoch nicht erfasst. Denn dem Angeklagten Kaduk wird unter Ziffer 1 des Eröffnungsbeschlusses zur Last gelegt, an den Selektionen durch Hinweise auf einzelne Häftlinge teilgenommen und mit anderen SS-Angehörigen oder allein eigenmächtig Selektionen durchgeführt zu haben.

Dem Urteil konnte daher nur die unter Ziffer I.1.a. und b. geschilderten Selektionen durch Kaduk zugrunde gelegt werden, wenn auch ein erheblicher Verdacht besteht, dass der Angeklagte Kaduk in einer Vielzahl von Fällen durch Hinweise auf einzelne Häftlinge an Selektionen teilgenommen und darüber hinaus auch noch selbst eigenmächtig Selektionen durchgeführt hat.

Im Falle 1.a. hat der Angeklagte Kaduk eine unbestimmte Anzahl von Häftlingen für den Tod ausgesucht. Da die Feststellung der Anzahl der auf Grund dieser Selektion getöteten Menschen nicht auf unsichere Schätzungen gestützt werden konnte, hat sich das Schwurgericht darauf beschränkt, in diesem Falle nur eine Mindestzahl festzustellen. Nach der Aussage des Zeugen Lak. sind auf jeden Fall zwei Häftlinge, nämlich Hess und Grünfeld oder Grünberg von Kaduk ausgesondert und anschliessend getötet worden. Es konnte daher mit Sicherheit festgestellt werden, dass Kaduk bei dieser Selektion mindestens zwei Häftlinge für den Tod ausgesucht hat, die anschliessend durch Zyklon B getötet worden sind.

Im Falle 1.b. ergibt sich die Mindestzahl der von Kaduk im Zusammenwirken mit anderen SS-Unterführern ausgesonderten und anschliessend getöteten Häftlingen aus der glaubhaften Aussage des Zeugen Dr. D.

2. Zu II.2.

Der Angeklagte Kaduk hat in Abrede gestellt, einen Häftling beim Appell zusammen mit Clausen totgetrampelt zu haben. Er ist jedoch durch die glaubhafte Aussage des Zeugen Dr. Sk. überführt worden, der den Fall so wie er unter II.2. dargestellt worden ist, geschildert hat.

Der Zeuge Dr. Sk., Rechtsanwalt von Beruf, hat einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Er hat den Fall klar, ruhig, sachlich und leidenschaftslos geschildert. Bei seiner früheren Vernehmung hat er den Fall schon genau so dargestellt wie in der Hauptverhandlung. Der Zeuge hat erklärt, dass dieser Fall eine der schrecklichsten Erinnerungen an das KL Auschwitz sei. Er hat den Angeklagten Kaduk gut gekannt. Irgendeine Verwechslungsmöglichkeit scheidet aus.

3. Zu II.3., 4. und 5.

Der Angeklagte Kaduk hat in Abrede gestellt, jemals Häftlinge in Auschwitz getötet zu haben. Im Quarantänelager in Birkenau habe er - so hat er sich eingelassen - nie dienstlich etwas zu tun gehabt. Er sei nur im Stammlager eingesetzt gewesen. Im übrigen sei er um die fragliche Zeit malariakrank gewesen.

Der Angeklagte Kaduk ist jedoch durch die glaubhafte Aussage des Zeugen Dö. überführt worden, in den unter II.3., 4. und 5. geschilderten Fällen
namentlich nicht bekannte Häftlinge getötet zu haben. Das Gericht hat dem Zeugen, der einen ausgezeichneten Eindruck gemacht und die einzelnen Fälle so wie sie oben nach der äusseren Tatseite hin geschildert worden sind, klar, ruhig und widerspruchsfrei dargestellt hat, vollen Glauben geschenkt. Der Zeuge war vom 25.8.1943 bis etwa Mitte Oktober 1943 im Quarantänelager untergebracht. Tagsüber musste er mit den anderen Häftlingen zur Arbeit ausrücken. Er kannte - wie er glaubhaft versichert hat - den Angeklagten Kaduk. Daran zu zweifeln, hatte das Gericht keinen Anlass. Denn der Angeklagte Kaduk war den meisten Häftlingen im KL Auschwitz wegen seiner Brutalität und Grausamkeit bekannt. Sie warnten sich gegenseitig vor ihm. Wie oben schon ausgeführt, gingen ihm die Häftlinge wegen seines schlechten Rufes, soweit möglich, aus dem Wege.

Der Angeklagte Kaduk war nach der schriftlichen Auskunft der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt.) vom 29.1.1963, die in der Hauptverhandlung verlesen worden ist, im Jahre 1943 nur vom 21.8.1943 bis 28.9.1943 erkrankt und befand sich während dieser Zeit im Lazarett. Am 28.9.1943 wurde er wieder als k.v. zum SS-Kommandanturstab in Auschwitz entlassen. Da der Zeuge Dö. bis etwa Mitte Oktober 1943 im Quarantänelager gewesen ist, können sich die Vorfälle in der Zeit zwischen dem 28.9.1943 und Mitte Oktober 1943 abgespielt haben. Der Zeuge Dö. konnte einen genauen Zeitpunkt für die geschilderten Taten nicht mehr angeben. Er wusste nur noch, dass sie während seines Aufenthaltes im Quarantänelager, also in der Zeit zwischen dem 25.8. und etwa Mitte Oktober geschehen sind. Der Zeuge Dö. hat nie behauptet, dass Kaduk im Quarantänelager dienstlich eingesetzt gewesen sei. Im Fälle II.4. wurde Kaduk nach der Aussage des Zeugen erst, nachdem das Fehlen des Häftlings festgestellt worden war, mit anderen SS-Männern von ausserhalb herbeigeholt. Im Falle II.5. kam der Angeklagte nach der Darstellung des Zeugen zufällig am Lager vorbei.

Der Zeuge Sz. hat glaubhaft bekundet, dass der Angeklagte Kaduk auch in das Lager Birkenau gekommen sei. Er habe dort bei einem Oberkapo Arnold eine geheime Küche gehabt, wo ein Koch aus Warschau für Kaduk und andere gutes Essen zubereitet habe. Es erscheint daher durchaus möglich, dass Kaduk, auch wenn er nicht in Birkenau dienstlich eingesetzt war, zufällig an dem Quarantänelager vorbeigekommen oder in dem unter II.4. geschilderten Fall als Verstärkung zur Suche eines Häftlings herangezogen worden ist. Da Kaduk es liebte, den Häftlingen Angst und Schrecken einzujagen und die Häftlinge bei jedem geringsten Anlass schlug und misshandelte, erscheint es keineswegs unwahrscheinlich, dass er die Gelegenheit, die sich ihm zufällig im Quarantänelager bot, ausnutzte, um sich "auszutoben", auch wenn er dienstlich nicht zuständig war.

Im Falle II.5. erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass ein Wachtposten den Häftling erschossen hat. Zwar wurde in der Regel tagsüber die kleine Postenkette eingezogen, nachdem die grosse Postenkette aufmarschiert war. Die Grenzzäune des Lagers waren somit tagsüber in der Regel nicht besetzt. Hiervon gab es jedoch Ausnahmen (vgl. 2. Abschnitt II.2.). Bei schlechtem Wetter, Nebel oder starkem Regen, wenn die Arbeitskommandos nicht ausrückten, blieb die kleine Postenkette stehen. Auch aus sonstigen besonderen Anlässen konnte tagsüber die Bewachung des Lagers durch die kleine Postenkette befohlen werden. Hier deutet der Umstand, dass die Häftlinge stundenlang Appell stehen mussten daraufhin, dass ein solcher besonderer Anlass gegeben war. Die Überzeugung des Gerichts, dass Kaduk im Falle II.5. die Mütze des Häftlings nur deswegen in die verbotene Zone geworfen hat, damit dieser erschossen werde, beruht auf der Tatsache, dass es im KL Auschwitz ein "beliebtes Spiel" war, Häftlinge durch das sog. Mützewerfen zu Tode zu bringen (vgl. oben 2. Abschnitt V.8.). Der Angeklagte Kaduk, der bereits im Dezember 1941 nach Auschwitz gekommen war, kannte dieses "Spiel" im Jahre 1943 sehr gut. Als ehemaligem Angehörigen des Wachsturmbannes waren ihm auch die Anweisungen für die Posten auf Wache geläufig. Er wusste daher, dass der Posten schiessen musste, wenn der Häftling die verbotene Zone betreten würde. Welchen anderen Grund das Werfen der Mütze in die Verbotszone sonst gehabt haben sollte, ist nicht ersichtlich.

Dass der Häftling sich auch die Mütze holen würde, damit konnte der Angeklagte Kaduk rechnen. Denn im KL Auschwitz durfte kein Häftling ohne Kopfbedeckung herumlaufen. Nach der Überzeugung des Gerichts ist der Angeklagte Kaduk davon ausgegangen, dass der Häftling als Neuling im Quarantänelager das "Mützewerfen" nicht kannte und zum Holen der Mütze die verbotene Zone betreten würde.

Die Überzeugung des Gerichts, dass der Häftling die Gepflogenheit des "Mützewerfens" nicht kannte und beim Holen der Mütze nicht ahnte, dass er erschossen werden könnte, beruht darauf, dass der Häftling noch ein Neuling im Lager war, was sich daraus ergibt, dass er noch im Quarantänelager untergebracht war. Sie stützt sich ferner auf die Tatsache, dass der Häftling überhaupt nach der Mütze lief, obwohl diese in der verbotenen Zone lag. Denn ältere Häftlinge, die das "Mützewerfen" kannten, liessen ihre Mützen eher liegen, ehe sie ihr Leben riskierten. Sie besorgten sich lieber eine andere Mütze von einem Verstorbenen, was bei der Vielzahl der Todesfälle oft sehr schnell möglich war.

4. Zu II.6.

In diesem Fall hat es der Angeklagte Kaduk abgelehnt, eine Erklärung abzugeben. Die Feststellungen des Gerichts beruhen auf der glaubhaften Aussage des Zeugen E. Der Zeuge war zunächst Soldat in der deutschen Wehrmacht von 1939 bis 1940. Im Juli 1943 wurde er verhaftet, weil man annahm, er sei "Mischling ersten Grades". Im September oder Oktober 1943 kam er nach Auschwitz. Dort blieb er bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945. Der Zeuge war im Stammlager im Block 16 untergebracht. Er arbeitete im Kommando "Trecker/Garagen" und wurde später Unterkapo und Kommandoschreiber. Es ist daher glaubhaft, dass er den Angeklagten Kaduk, der 1944 Rapportführer war, gut gekannt hat. Der Zeuge, der einen guten und glaubwürdigen Eindruck gemacht hat, verdient vollen Glauben. Er hat nach seiner Bekundung selbst miterlebt, wie der Angeklagte Kaduk an dem betreffenden Tag in das Lager hereinkam und Unruhe im Lager verbreitete. Er hat auch gesehen, wie Kaduk seine Pistole aus der Tasche gezogen und geschossen hat. Er hat auch den Schuss gehört. Dann hat er gesehen, wie ein Häftling zum HKB geschleift worden ist. Von anderen Häftlingen hat der Zeuge dann erfahren, dass der Häftling von Kaduk totgeschossen worden sei. Daraus und aus der Tatsache, dass der Häftling beim HKB bei den Toten abgelegt worden ist, was der Zeuge E. noch gesehen hat, hat das Gericht die sichere Überzeugung gewonnen, dass Kaduk den Häftling durch den Pistolenschuss getötet hat.

Die Aussage des Zeugen E. wird zudem noch mittelbar durch die Bekundung des glaubwürdigen Zeugen Dr. Sk. bestätigt. Dieser Zeuge hat den Vorfall zwar nicht selbst miterlebt, er hat aber bereits im Sommer 1944 von anderen Häftlingen erfahren, dass der Angeklagte Kaduk in der Zeit, in der die Zigeuner kurze Zeit im Stammlager untergebracht gewesen sind, in dem für die Zigeuner abgegrenzten Teil des Stammlagers mit der Pistole geschossen und einen Zigeuner in den Bauch getroffen habe.

5. Zu II.7.

Der Angeklagte Kaduk bestreitet, auf dem Evakuierungsmarsch Menschen getötet zu haben. Er hat sich dahin eingelassen, dass er den Evakuierungsmarsch überhaupt nicht mitgemacht habe. Bereits am 17.1.1945 hätten die SS-Führer ihre Frauen weggebracht. Er habe an diesem Tag den Lagerführer Hössler um Urlaub gebeten, den dieser auch bewilligt habe. Er sei dann nach Hause gefahren. Erst am 19.1.1945 sei er nach Auschwitz zurückgekommen. Da sei das Lager bereits leer gewesen. Es mag sein, dass Kaduk kurz vor der Evakuierung des Lagers noch Urlaub bekommen hat und auch noch nach Hause gefahren ist. Auch wenn er erst am 19.1.1945 nach Auschwitz zurückkam, kann er die Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch begleitet haben. Denn die Häftlinge sind erst am 18.1.1945 von dem Lager losmarschiert. Sie konnten an einem Tage, da sie zum grössten Teil ausgezehrt und geschwächt waren, nur relativ kurze Strecken zurücklegen. Der Angeklagte Kaduk konnte daher mit einem Motorrad oder PKW die Marschkolonne innerhalb kurzer Zeit einholen. Der Zeuge Her. hat glaubhaft bekundet, dass der Angeklagte Kaduk mit einem Motorrad oder Wagen hinter der Marschkolonne hergefahren sei. Der Zeuge hat jedoch nicht behauptet, dass Kaduk die ganze Zeit den Evakuierungsmarsch begleitet habe.

Er hat nach seiner glaubhaften Bekundung mit eigenen Augen gesehen, dass Kaduk Häftlinge, die nicht mehr weiter marschieren konnten und zurückgeblieben waren, erschossen hat. Der Zeuge ist in der letzten Kolonne marschiert. Er war nach seinen Angaben in guter körperlicher Verfassung. Das erscheint glaubhaft. Denn er war bis zur Evakuierung des Lagers im Installationskommando und bei verschiedenen Bauarbeiten eingesetzt. So hatte er die Möglichkeit, sich zusätzlich Lebensmittel zu besorgen, zumal er die Funktionen eines Unterkapos und Kommandoschreibers gehabt hat. Somit war der Zeuge in der Lage, die Vorgänge hinter der Marschkolonne gut zu beobachten. Der Zeuge hat mit Bestimmtheit ausgesagt, dass Kaduk mehr als zwei Häftlinge erschossen habe. Somit hat Kaduk mindestens drei Opfer getötet. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass die Angaben des glaubwürdigen Zeugen der Wahrheit entsprechen.

Der Zeuge Dr. C., der Leiter der landwirtschaftlichen Betriebe in Auschwitz gewesen war und zuletzt (seit Januar 1944) den Rang eines Obersturmbannführers gehabt hatte, hat mit aller Bestimmtheit erklärt, dass es laut eines Befehls von Berlin verboten gewesen sei, Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch zu töten. Höss sei aus Berlin gekommen und er - der Zeuge - habe zu ihm gesagt, er solle sich endlich darum kümmern, dass die Häftlinge, die zurückblieben, lt. dem Befehl von Berlin nicht erschossen würden.

IV. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1.a. und b.

Die Tötung der arbeitsunfähigen und schwachen Häftlinge, die der Angeklagte Kaduk für den Gastod ausgesucht hatte, war Mord (§211 StGB). Denn sie erfolgte aus niedrigen Beweggründen. Die Häftlinge, die der besonderen Pflege und Fürsorge bedurft hätten, wurden beseitigt, weil sie als Arbeitskräfte ausfielen und daher nicht mehr nützlich erschienen. Sie galten als unnütze Esser und wurden als Belastung für das Lager angesehen. Irgendein anderer Grund für ihre Tötung bestand nicht. Sie wurden somit aus reinen Zweckmässigkeitsgründen und Nützlichkeitserwägungen getötet. Ein solches Motiv ist sittlich verachtenswert und steht auf tiefster Stufe. Ausserdem sind die Häftlinge auch grausam getötet worden. Die Opfer wussten auf Grund der Selektion, dass ihnen der Gastod bevorstand. Das hat ihnen während der Nacht und in den Stunden vor dem Tod, vor allem auch in der Gaskammer selbst, erhebliche seelische Qualen bereitet.

Der Angeklagte Kaduk hat durch die Auswahl der zu tötenden Opfer einen entscheidenden Tatbeitrag zu deren Tod geleistet. Das bedarf keiner näheren Begründung.

Er hat auch die Selektionen - wie das Schwurgericht zu seinen Gunsten angenommen hat - auf Befehl eines Vorgesetzten durchgeführt. Da er Angehöriger der Waffen-SS war, kommt §47 MStGB zur Anwendung. Der Angeklagte Kaduk hat erkannt, dass der gegebene Befehl ein allgemeines Verbrechen, nämlich die Tötung unschuldiger Menschen, bezweckte. Die Tötung unschuldiger Menschen aus dem angegebenen Motiv ist ein so krasser Verstoss gegen die auch dem primitivsten Menschen bewussten Grundsätze über das Recht eines jeden Menschen auf sein Leben, dass der Angeklagte Kaduk keine Zweifel daran haben konnte, dass die befohlenen Tötungen arbeitsunfähiger und schwacher Häftlinge verbrecherisch seien. Er hat diese Zweifel nach der Überzeugung des Gerichts auch nicht gehabt. Er selbst hat auch nie behauptet, dass er Zweifel an dem verbrecherischen Charakter dieser Vernichtungsaktionen gehabt habe.

Der Angeklagte Kaduk ist als Mittäter zu bestrafen. Er hat die Tötung der Opfer innerlich bejaht und zu seiner eigenen Sache gemacht, somit mit Täterwillen gehandelt. Wenn er auch die Selektionen auf Befehl durchgeführt hat, so hatte er im Falle 1.a. doch die letzte Entscheidung über Leben und Tod der an ihm vorbeimarschierenden Häftlinge. Er war es, der im Falle 1.a. die ihm als arbeitsuntauglich erscheinenden Häftlinge aussonderte und damit ihren Tod besiegelte. Niemand hatte ihm befohlen, bestimmte Häftlinge auszumustern. Ihm blieb vielmehr ein erheblicher Ermessensspielraum. Er beherrschte somit im wesentlichen das ganze Geschehen. Wenn er nun seinen Ermessensspielraum und seine Tatherrschaft dahin ausnutzte, um eine unbestimmte Vielzahl von Häftlingen auszumustern, so ist das bereits ein starkes Beweisanzeichen dafür, dass er mit Täterwillen gehandelt hat. Auch im Falle 1.b. hat er zusammen mit den anderen Rapportführern einen Ermessensspielraum und Tatherrschaft gehabt. Bei dem Aussuchen der Opfer war er nach den getroffenen Feststellungen besonders eifrig. Auch das ist ein Indiz über seinen Täterwillen in diesem Fall. Vor allem aber sprechen sein sonstiges Verhalten im KL Auschwitz gegenüber den Häftlingen, wie es eingangs geschildert worden ist, ferner die Tatsache, dass er den Häftlingen im Lager Furcht und Schrecken einflösste und bei diesen zu den gefürchtetsten SS-Männern zählte und schliesslich die unter II.2.-6. geschilderten Taten, die zeigen, dass der Angeklagte Kaduk bedenken- und hemmungslos Häftlinge aus nichtigen Anlässen tötete, was ihm - wie sich aus diesen Taten ergibt - offensichtlich Freude bereitete, eindeutig dafür, dass er in den Fällen 1.a. und b. aus Hass gegen die Häftlinge und aus innerer Freude an der Vernichtung von Menschenleben die Opfer ausgesucht und zum Tode bestimmt hat und die Tötung dieser Opfer als eigene Taten gewollt hat.

Dass der Angeklagte Kaduk auch vorsätzlich gehandelt hat, bedarf kaum einer näheren Begründung. Er hat den Tod der ausgesonderten Opfer bewusst gewollt und kannte nach den getroffenen Feststellungen die gesamten Umstände, die den Beweggrund für diese Tötungen als niedrig und die Art ihrer Tötung als grausam kennzeichnen. Dass er selbst auch das Bewusstsein gehabt hat, durch seine Tätigkeit bei den Selektionen einen kausalen Tatbeitrag für den Tod der Opfer zu leisten, liegt auf der Hand. Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich. Die beiden festgestellten Aktionen, an denen Kaduk in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen mitgewirkt hat, sind jeweils als eine selbständige Handlung anzusehen, durch die jeweils mehrere Menschen getötet worden sind, da letztlich durch eine einzige Willensbetätigung, nämlich das Einwerfen des Zyklon B, eine Gruppe von Menschen gleichzeitig getötet worden ist.

Der Angeklagte Kaduk war daher wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen (§§47, 211, 74 StGB) jeweils begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB), einmal an mindestens zwei und im zweiten Fall an mindestens tausend Menschen zu zweimal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

2. Zu II.2.

Die Tötung des Häftlings war Mord. Die Art, wie der Häftling von Kaduk und Clausen getötet worden ist, war grausam. Der Häftling hat vor seinem Tod durch die länger dauernden und wiederholten Misshandlungen und das Eintreten des Brustkorbes ohne Zweifel erhebliche körperliche Schmerzen erlitten. Kaduk und Clausen haben dem Häftling - wie die ganze Art der Behandlung des Häftlings zeigt - aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus diese Schmerzen zugefügt und ihn aus dieser Gesinnung heraus zu Tode gebracht. Dem Häftling hat es darüberhinaus nach der Überzeugung des Gerichts erhebliche seelische Qualen bereitet, dass er auf diese entwürdigende Art und Weise umgebracht worden ist. Kaduk hat ausserdem aus Mordlust gehandelt. Ihm hat es unnatürliche Freude bereitet, ein Menschenleben zu vernichten. Das zeigt nicht nur dieser Fall, in dem er den Häftling aus nichtigem Anlass zusammen mit Clausen getötet hat, sondern es geht auch aus den unter II.4. - 6. geschilderten Fällen hervor. In allen diesen Fällen war kein Grund für die Handlungsweise des Angeklagten Kaduk gegeben. In den Fällen II.4. und II.6. fehlte jeder äussere Anlass für die Tötung der Häftlinge. Die herausgestellten sog. "Geiseln" waren völlig unschuldig. Sie hatten dem Angeklagten Kaduk nicht den geringsten, auch nicht einen scheinbaren, Anlass für eine Verärgerung gegeben. Auch der äussere Grund für ihre Absonderung als "Geiseln" und für ihre evtl. Erschiessung war weggefallen. Denn der fehlende Häftling war gefunden worden. Damit war sogar nach den in Auschwitz herrschenden Gepflogenheiten der Grund für ihre Geiselhaftung entfallen. Wenn Kaduk sie trotzdem getötet hat, so kann der Grund hierfür nach der Überzeugung des Gerichts nur darin liegen, dass es ihm unnatürliche Freude bereitet hat, Menschenleben zu vernichten.

Das gleiche gilt für die Tötung des Zigeuners, den der Angeklagte Kaduk ohne jeden äusseren Anlass erschossen hat.

Im Falle II.5. war zwar möglicherweise insofern, ein äusserer Anlass gegeben, als der Häftling wahrscheinlich den Angeklagten Kaduk unabsichtlich berührt hat. Dem Angeklagten Kaduk musste aber klar sein, und nach der Überzeugung des Gerichts wusste er auch genau, dass der Häftling ihn nur auf Grund der Schläge des Kurpanek unabsichtlich berührt haben konnte. Wenn er dies trotzdem als Anlass nahm, um den Häftling zu schlagen und zu misshandeln und schliesslich durch das "Mützewerfen" zu Tode zu bringen, so diente der scheinbare Grund nur als Vorwand, um seine niederen Instinkte beim Quälen eines Menschen zu befriedigen und sich durch die Tötung dieses Menschen eine unnatürliche Freude zu bereiten.

Der Angeklagte Kaduk wollte den Häftling - wie die gesamten Umstände der Tat zeigen - in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit dem Rapportführer Clausen töten. Dass er auch diese Umstände, die die Tat als grausam kennzeichnen, in sein Bewusstsein aufgenommen hat, versteht sich von selbst. Nicht erforderlich ist, dass er selbst die Art der Tötung als grausam gewertet hat.

Der Angeklagte Kaduk hat somit vorsätzlich in Kenntnis der gesamten Tatumstände, die die Tat als grausam kennzeichnen gehandelt.

Er war daher in diesem Falle wegen gemeinschaftlichen Mordes (§§47, 211 StGB) zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

3. Zu II.3.

Dieser Fall erfüllt ebenfalls den Tatbestand des Mordes. Der Tod des Häftlings ist infolge der Misshandlung durch den Angeklagten Kaduk eingetreten. Der Angeklagte Kaduk hat den Häftling grausam getötet. Der erschöpfte Häftling wurde zunächst durch das "Sportmachen" gequält. Dann bereitete ihm Kaduk durch die Schläge und Tritte mit den Stiefeln erhebliche Schmerzen während eines längeren Zeitraums. Der Häftling musste auf Grund dieser Behandlung bis zu seinem Tode, der nicht sofort eintrat, starke körperliche Schmerzen erdulden. Der erschöpfte und kranke Häftling hat auch seelische Qualen erleiden müssen. Denn die langdauernden und intensiven Misshandlungen durch den Angeklagten Kaduk mussten in ihm die Befürchtung hervorrufen, dass er zu Tode gebracht werden sollte, zumal in Auschwitz ein Menschenleben nichts galt. Er schwebte somit auch längere Zeit in Todesangst.

Auch hier kann nach der gesamten Sachlage kein Zweifel bestehen, dass Kaduk aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus dem Häftling diese besonderen Schmerzen zugefügt und ihn zu Tode gebracht hat.

Der Angeklagte Kaduk hat mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Denn nach den getroffenen Feststellungen hat er damit gerechnet, dass der Tod des Häftlings infolge der schweren Misshandlungen eintreten könnte und hat dies billigend in seinen Willen aufgenommen. Dies genügt.

Dass er auch die gesamten Umstände gekannt hat, die die Tötung als grausam kennzeichnen, liegt auf der Hand.

Der Angeklagte Kaduk war daher in diesem Falle wegen Mordes (§211 StGB) zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

4. Zu II.4.

Die Tötung eines jeden der drei Häftlinge war ebenfalls Mord. Der Angeklagte Kaduk hat alle drei Häftlinge bewusst und gewollt erschossen. Das Motiv für seine Tat war Mordlust. Hierzu kann auf die obigen Ausführungen unter IV.2. verwiesen werden. Dessen war sich der Angeklagte Kaduk nach der Überzeugung des Gerichts bewusst. Er hat somit vorsätzlich gehandelt.

Die Tötung eines jeden der drei Häftlinge ist als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB anzusehen. Denn jede Tötung erforderte eine besondere Willensbetätigung des Angeklagten Kaduk, die sich jeweils gegen das Leben eines Menschen richtete.

Der Angeklagte Kaduk war daher wegen der Erschiessung der drei Häftlinge wegen Mordes in drei Fällen (§§211, 74 StGB) zu dreimal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

5. Zu II.5.

Auch dieser Fall erfüllt den Tatbestand des Mordes. Der Angeklagte Kaduk hat den Tod des Häftlings bewusst herbeigeführt. Nach den getroffenen Feststellungen wusste er, dass der Wachtposten den Häftling erschiessen würde, wenn der Häftling die verbotene Zone betreten würde. Er hat die Mütze geworfen, um dieses Ergebnis herbeizuführen.

Kaduk hat somit den Häftling zwar nicht selbst getötet, er hat aber den Wachtposten als Werkzeug benutzt und den Häftling als mittelbarer Täter getötet.

Die Tötung erfolgte heimtückisch; denn der Häftling war ahnungslos. Nach den getroffenen Feststellungen rechnete er beim Holen der Mütze nicht mit einem tödlichen Angriff. Er war somit auch wehrlos.

Der Angeklagte Kaduk hat diese Ahnungslosigkeit und Wehrlosigkeit bewusst ausgenutzt. Gleichzeitig hat er durch dieses Manöver gegenüber seinen Vorgesetzten und der Aussenwelt einen scheinbaren Rechtfertigungsgrund für die Tötung eines Häftlings geschaffen, da dieser durch das Überschreiten der Grenzlinie nach der Auslegung der SS einen "Fluchtversuch" unternommen hatte. Auch in diesem Fall hat der Angeklagte Kaduk nach der Überzeugung des Gerichts aus Mordlust gehandelt. Hierzu kann auf die Ausführung unter IV.2. verwiesen werden.

Da der Angeklagte Kaduk den Tod des Häftlings bewusst gewollt und auch die gesamten Umstände, die die Tat als heimtückisch kennzeichnen, gekannt hat und sich auch seines Motivs (unnatürliche Freude an der Tötung des Häftlings) nach der Überzeugung des Gerichts bewusst gewesen ist, hat er auch vorsätzlich gehandelt.

Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Kaduk war daher in diesem Fall ebenfalls wegen Mordes (§211 StGB) zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

6. Zu II.6.

Die Tötung des Zigeuners erfüllt ebenfalls den Tatbestand des Mordes.

Der Angeklagte Kaduk hat den Zigeuner nicht nur zufällig getroffen. Aus der Tatsache, dass er Schüsse auf die Zigeuner abgegeben hat, ergibt sich, dass er einen Zigeuner tödlich treffen wollte. Er hat aus Mordlust gehandelt. Denn irgendein Anlass für die Tötung des Zigeuners bestand nicht. Ihm hat es unnatürliche Freude bereitet, aus irgendeiner Laune heraus das Leben des Zigeuners zu vernichten. Hierzu kann im übrigen auf die Ausführungen unter IV.2. verwiesen werden.

Da der Angeklagte Kaduk bewusst und gewollt den Zigeuner getötet und sich auch seines Motivs für die Tötung (Mordlust) bewusst gewesen ist, war er in diesem Fall wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus (§211 StGB) zu verurteilen.

7. Zu II.7.

Die Tötung jedes der drei Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch erfüllt ebenfalls den Tatbestand des Mordes. Der Angeklagte Kaduk hat die drei Häftlinge bewusst und gewollt getötet. Der Beweggrund für diese Erschiessungen war niedrig im Sinne des §211 StGB. Denn die drei der besonderen Hilfe und Fürsorge bedürftigen erschöpften Häftlinge, die mit der Marschkolonne der anderen nicht mehr Schritt halten konnten, wurden von Kaduk - ebenso wie andere erschöpfte Häftlinge von anderen SS-Männern - nur deswegen getötet, weil die SS-Begleitmannschaft die Willkür- und Machtherrschaft über die auf dem Evakuierungsmarsch befindlichen Häftlinge aufrecht erhalten wollte. Denn entweder hätte man die zurückbleibenden Häftlinge ihrem Schicksal überlassen und sie somit freigeben müssen, so dass sie die Chance gehabt hätten, von hilfsbereiten Menschen gerettet zu werden, oder man hätte immer mehr SS-Posten für die erschöpften Menschen abstellen müssen, da nicht genügend Fahrzeuge vorhanden waren, um sie mitnehmen zu können, so dass die Bewachung der noch marschfähigen Häftlinge immer schwächer geworden wäre mit der Gefahr, dass sie ihre Bewacher hätten überwältigen oder zumindestens leichter hätten fliehen können. Um dies zu verhindern, wurden die nicht mehr marschfähigen Häftlinge einfach erschossen. Nach der gesamten Sachlage war sich dessen der Angeklagte nach der Überzeugung des Gerichts auch bewusst. Das angegebene Motiv für die Tötung der erschöpften Häftlinge steht auf tiefster sittlicher Stufe und ist als verachtenswert anzusehen.

Die Tötung eines jeden der drei Häftlinge ist als eine selbständige Handlung im Sinne des §74 StGB anzusehen, da Kaduk jeden der drei Menschen durch besondere Willensbetätigungen nacheinander getötet hat.

Da der Angeklagte Kaduk die drei Häftlinge bewusst und gewollt erschossen hat und sich auch des Beweggrundes für die Tötungen bewusst gewesen ist, hat er auch vorsätzlich gehandelt. Er hat auch das Bewusstsein gehabt, Unrecht zu tun. Abgesehen davon, dass es jedem - auch dem primitivsten Menschen - klar sein muss und auch klar ist, dass die Tötung unschuldiger, erschöpfter Menschen, nur um sie loszuwerden, weil sie als Belastung empfunden werden, ein Verbrechen ist, war die Tötung von Häftlingen auf dem Evakuierungsmarsch durch Befehl von Berlin ausdrücklich verboten worden, was auch dem Angeklagten Kaduk nicht verborgen geblieben sein kann. Der Angeklagte hat somit bewusst gegen den Befehl der höheren SS-Führung verstossen und sich somit auch nach der Rechtsauffassung der SS-Führung strafbar gemacht.

Der Angeklagte Kaduk war daher wegen der Erschiessung der drei Häftlinge auf dem Evakuierungsmarsch wegen Mordes in drei Fällen (§§211, 74 StGB) zu dreimal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

K. Die Straftaten des Angeklagten Baretzki

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Baretzki

Der Angeklagte Baretzki wurde am 24.3.1919 als Sohn eines Telefonmechanikers in Czernowitz/Rumänien geboren. Er hat noch eine Schwester und zwei Brüder. Der Vater starb im Jahre 1938. Über das Schicksal der übrigen Familienmitglieder nach Kriegsende ist dem Angeklagten Baretzki angeblich nichts bekannt. Während dieses Verfahrens hat er Kontakt mit einem Bruder aufgenommen.

Baretzki besuchte in Czernowitz 6 Jahre lang die Volksschule. Nach der Schulentlassung wollte der Angeklagte Wasserinstallateur werden. Der Vater erlaubte dies jedoch nicht. Der Angeklagte begann zunächst eine Friseurlehre, gab diese jedoch nach einer Woche wieder auf. Dann lernte er 2 1/2 Jahre lang als Nagelrichter und Strumpfwirker. Nach bestandener Prüfung arbeitete er bis zum Kriegsbeginn als Maschinenführer. Im November 1940 wurde er mit seiner Schwester nach Oberschlesien umgesiedelt. Er war in verschiedenen Umsiedlungslagern. Zuletzt arbeitete er bei einer Speditionsfirma, die im Auftrag der Reichsbahn tätig war. Der Angeklagte hatte bereits in Rumänien eine militärische Ausbildung gehabt und war zum Korporal ernannt worden. Im Frühjahr 1942 wurde er zusammen mit anderen Volksdeutschen aus Rumänien und Ungarn zur Waffen-SS nach Auschwitz eingezogen. Er kam zunächst als Wachmann zum Wachsturmbann. Dann wurde er Läufer im Lager und gehörte damit zur Kommandantur. Schliesslich wurde er als Blockführer in das Lager Birkenau versetzt. Dort blieb er bis zur Auflösung des Lagers im Januar 1945. Sein Dienstgrad in Auschwitz was SS-Sturmmann.

Nach der Evakuierung des Lagers kam der Angeklagte zur SS-Division "30.Januar", mit der er in der Gegend von Frankfurt/Oder an der Front eingesetzt wurde. Am 20.4.1945 wurde er zum SS-Rottenführer befördert. Am 25.4.1945 wurde er verwundet und kam in ein Lazarett. Gegen Kriegsende (6.5.1945) geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde aber bereits am 17.8.1945 aus der Gefangenschaft nach Berlin entlassen. Er begab sich nach Plaidt. Dort arbeitete er bei verschiedenen Firmen der Kohlen- und Bimsbranche. Zuletzt war er bis zu seiner Verhaftung bei der Firma Marci, Kohlen- und Bimshandlung, als Arbeiter beschäftigt. Sein Tagesverdienst betrug bis zu 35.- DM.

Der Angeklagte ist ledig.

Er ist durch Urteil des Schöffengerichts in Mayen (7 Ms 50/55) vom 27.4.1955 wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt - Vergehen gegen §113 StGB - zu einer Geldstrafe von 75.- DM verurteilt worden. Am 27.6.1956 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung - Vergehen gegen §223a StGB - durch Urteil des Schöffengerichts in Mayen (2 Ds 97/56) zu einer Geldstrafe von 300.- DM verurteilt.

In dieser Sache befindet sich der Angeklagte seit dem 12.4.1960 in Untersuchungshaft.

II. Tatsächliche Feststellungen

1. Die Mitwirkung des Angeklagten Baretzki an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Baretzki hat als Blockführer im Lager Birkenau bei der massenweisen Tötung der sog. RSHA-Juden (vgl. oben 2. Abschnitt VII.5.; 3. Abschnitt A.II.) mitgewirkt.

Er war etwa im August 1943 in das Lager B II e in Birkenau versetzt und dort als Blockführer eingesetzt worden. Wie alle anderen Blockführer wurde er ebenfalls zum sog. "Rampendienst" eingeteilt. Seine Aufgabe war, das Häftlingskommando (Kanada-Kommando) auf die Rampe zu führen, wenn ein RSHA-Transport angekündigt und der Einsatz der zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen befohlen war. Der Angeklagte Baretzki führte in einer unbestimmten Anzahl von Fällen das Kanada-Kommando zur Rampe, wenn RSHA-Transporte angekommen waren. Das Kommando übergab er einem SS-Angehörigen der Abteilung der Verwaltung, die für die Effekten der angekommenen Menschen zuständig war. Danach half er beim Aufstellen und der Einteilung der aus den Eisenbahnwaggons ausgestiegenen Menschen. Er sorgte in Zusammenarbeit mit anderen SS-Männern dafür, dass die Frauen mit Kindern unter 16 Jahren, alte Menschen, Krüppel, Kranke und Kinder unter 16 Jahren sofort getrennt von den anderen Männern und Frauen Aufstellung nahmen, da sie nicht mehr auf ihre Arbeitstauglichkeit geprüft, sondern ohne Selektion in die Gaskammern gebracht wurden. Meist hatte er einen Stock in der Hand, mit dem er gelegentlich auf Menschen einschlug, wenn sie seinen Anweisungen nicht nachkamen oder - nach seiner Meinung - keine Ordnung hielten.

Nach den Selektionen durch die Ärzte führte der Angeklagte Baretzki wiederholt zusammen mit anderen SS-Männern die für den Gastod bestimmten Menschen zu den Gaskammern.

Wie oft der Angeklagte Baretzki auf diese Weise Rampendienst versehen hat, konnte nicht festgestellt werden. Er war mit Sicherheit mindestens fünfmal zum Rampendienst eingeteilt. Er hat sich mindestens fünfmal in der geschilderten Weise nach der Ankunft von RSHA-Transporten betätigt.

Die Anzahl der aus diesen fünf verschiedenen RSHA-Transporten getöteten Menschen betrug mindestens je 1000, insgesamt also 5000.

Der Angeklagte Baretzki wusste, dass die jüdischen Menschen nur wegen ihrer Abstammung als Angehörige einer sog. "minderwertigen Rasse" ohne Gerichtsurteile unschuldig getötet wurden. Ihm war auch bekannt, dass diese Vernichtungsaktionen unter strengster Geheimhaltung und unter der Verwendung von Tarnbezeichnungen erfolgten und dass die deportierten Juden nichts von ihrem bevorstehenden Tode ahnten und bis zuletzt über ihr Schicksal getäuscht wurden. Er wusste auch, auf welche Weise sie in den Gaskammern umgebracht wurden. Ihm war ferner klar, dass er selbst ein Glied in dem Vernichtungsapparat war und die Vernichtungsaktionen durch seine - oben geschilderten - Tätigkeiten förderte.

2. Die Mitwirkung des Angeklagten Baretzki bei den sog. Lagerselektionen (Eröffnungsbeschluss Ziffer 1)

Der Angeklagte Baretzki nahm als Blockführer in einer unbestimmten Anzahl von Fällen auch an sog. Lagerselektionen (vgl. oben 2. Abschnitt VII.4.) im Lager Birkenau teil. So fand z.B. am 15.4.1944 im Quarantänelager (B II a) eine Lagerselektion statt, die durch den Lagerarzt Dr. Thilo durchgeführt wurde. Bei dieser Selektion wurden durch Dr. Thilo schwache und arbeitsunfähige Häftlinge für den Gastod ausgesucht. Der Angeklagte Baretzki war bei dieser Selektion anwesend. Er hatte zuvor unter der Leitung seiner SS-Vorgesetzten zusammen mit anderen Blockführern die Häftlinge des Quarantänelagers antreten lassen. Nach der Selektion wurden die ausgesonderten Häftlinge in einen besonderen Block eingesperrt. Sie bekamen zwei Tage nichts zu essen. Dann kamen LKWs, mit denen sie zur Vergasung weggebracht werden sollten. Die Häftlinge wussten, was ihnen bevorstand. Sie verliessen aber nicht den Block, als die LKWs vorgefahren waren. Manche waren auch schon so schwach, dass sie nicht mehr laufen konnten. Da trieben die Blockführer, unter denen sich auch der Angeklagte Baretzki befand, die Menschen mit Stockhieben auf die LKWs. Baretzki und ein anderer SS-Mann namens Dragelis schrien die Opfer an und riefen ständig, indem sie auf sie einschlugen: "Geh! Geh! Geh!". Einige Häftlinge liefen in ihrer Todesangst weg. Dragelis und Baretzki schossen hinter ihnen her. Dabei wurde mindestens ein Häftling tödlich getroffen. Die anderen wurden auf die LKWs getrieben und anschliessend zur Gaskammer gefahren, wo sie durch Zyklon B getötet wurden. Es waren mindestens 50 Menschen.

Der Angeklagte Baretzki hat noch an weiteren Lagerselektionen teilgenommen. Dabei hat er jeweils mit anderen SS-Angehörigen die Häftlinge antreten lassen. Wenn der Lagerarzt die schwachen und arbeitsunfähigen Häftlinge aussonderte, machte er wiederholt den Arzt auf bestimmte Häftlinge, die nach seiner Meinung für den Gastod "reif" waren, aufmerksam. Die vom Arzt ausgesonderten Häftlinge stellte er dann mit anderen SS-Männern gesondert auf und achtete darauf, dass sie nicht mehr zur Gruppe der anderen zurückschlichen und so ihrem Tode entgingen.

Beim Verladen der Opfer auf die LKWs, die die ausgesonderten Häftlinge zu den Gaskammern bringen sollten, half er ebenfalls mit. Wenn Häftlinge nicht freiwillig auf die LKWs stiegen, trieb er sie mit Gewalt hinauf. Er hat - ausser dem bereits geschilderten Fall - noch in mindestens weiteren vier Fällen auf diese Weise an Lagerselektionen mitgewirkt. Auch in diesen vier Fällen wurden jeweils mindestens 50 Menschen für den Gastod ausgesucht und anschliessend in einer der Gaskammern durch Zyklon B getötet.

Der Angeklagte Baretzki wusste, dass die ausgemusterten Häftlinge unschuldig nur deswegen durch Gas getötet werden sollten, weil sie nicht mehr arbeitsfähig erschienen und damit - nach Auffassung der SS - als überflüssige Esser nur eine Belastung für das Lager bedeuteten. Ihm war auch klar, dass er durch die geschilderten Handlungen bei den Selektionen und dem Abtransport der ausgesonderten Häftlinge die Vernichtungsaktionen förderte. Er wusste ferner, dass die ausgesonderten Häftlinge nach ihrem Abtransport in einer der Gaskammern durch Zyklon B getötet wurden.

3. Die Tötung des Häftlings Lischka durch den Angeklagten Baretzki (Eröffnungsbeschluss Ziffer 6)

Am 19.4.1944 befand sich der Angeklagte Baretzki im Quarantänelager (B II a). Als er auf der Lagerstrasse ging, begegnete ihm ein Häftling namens Lischka. Dieser war ein sog. "Muselmann". Er bestand nur aus Haut und Knochen. Seine Bewegungen waren langsam. Plötzlich schlug Baretzki mit einem Knüppel auf Lischka ein. Er führte die Schläge nicht gegen einen bestimmten Körperteil des Häftlings, sondern schlug Lischka wahllos mit voller Wucht, wohin er ihn gerade traf. Der Häftling erhielt auch einige Schläge in die Nierengegend. Die Nieren wurden hierdurch verletzt. Sie bluteten. Das Blut wurde durch den Urin ausgeschieden. Der Häftling konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er musste in den HKB eingeliefert werden. Dort verstarb er am gleichen oder nächsten Tag an den Folgen der durch die Schläge erlittenen Verletzungen. Der Angeklagte Baretzki hat beim Schlagen des Häftlings damit gerechnet, dass dieser infolge der Misshandlungen sterben könnte. Das nahm er bewusst billigend in Kauf.

Warum der Angeklagte Baretzki den Häftling Lischka geschlagen hat, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Wahrscheinlich hat er Anstoss daran genommen, dass sich der Häftling nur langsam bewegte und möglicherweise ihn nicht schnell genug durch Abnehmen der Mütze gegrüsst hat.

4. Die Beteiligung des Angeklagten Baretzki an der Vernichtung der im sog. Theresienstädter Lager (B II b) untergebrachten jüdischen Häftlinge im März 1944 (Eröffnungsbeschluss Ziffer 9)

Am 6. und 7.9.1943 wurden 5700 jüdische Menschen (Männer, Frauen und Kinder) aus dem KL Theresienstadt in das KL Auschwitz transportiert. Sie wurden im Lagerabschnitt B II b familienweise untergebracht.

Am 20.12.1943 kamen zwei weitere Transporte aus dem KL Theresienstadt nach Auschwitz mit insgesamt rund 5000 Menschen, die ebenfalls im Lagerabschnitt B II b untergebracht wurden. Die Juden waren im Ungewissen darüber, was mit ihnen geschehen solle. Viele glaubten, sie kämen mit dem Leben davon, weil sie nicht - wie die RSHA-Transporte, von denen sie alsbald erfuhren - unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz getötet worden waren.

Von der NS-Führung wurde jedoch zu einem nicht mehr festzustellenden Zeitpunkt beschlossen, die jüdischen Menschen ein halbes Jahr nach der Ankunft zu "liquidieren". Anfang März 1944 sickerte bei den Häftlingen durch, dass für die Juden im Theresienstädter Lager "SB" (Sonderbehandlung d.h. "Liquidierung") vorgesehen sei. Die Insassen des Theresienstädter Lagers wurden daher gewarnt. Eine Gruppe entschlossener Juden beschloss, sich gegen eine "Liquidierung" zu wehren und einen Aufstand zu wagen. Man besorgte sich Benzin, um für den Fall eines Abtransportes die Strohsäcke in den Baracken und diese selbst anzünden zu können.

Einige Tage vor der beschlossenen "Liquidierung" der ersten Transporte (vom 6. und 7.9.1943) erklärte der Lagerführer Schwarzhuber den jüdischen Menschen im Theresienstädter Lager, dass die ersten Transporte in ein neues Lager namens Heidebrock gebracht werden sollten. Am 6.3.1944 mussten die Insassen des Theresienstädter Lagers Karten an ihre Verwandten schreiben. Als Datum mussten sie den 25.3.1944 auf die Karten setzen. Die Karten wurden nach diesem Zeitpunkt auch abgeschickt. Am 7.3.1944 wurden alle Juden aus den ersten (September) Transporten anhand von Listen, die in der Schreibstube aufgestellt worden waren, aufgerufen. Der Angeklagte Boger kontrollierte anhand der Liste, dass alle Häftlinge der Septembertransporte antraten. Sie sollten alle, so wurde ihnen vom Lagerführer Schwarzhuber erneut versichert, in das Lager Heidebrock kommen. Auch die Blockführer, die beim Aufruf und dem Antreten der Menschen dabei waren, erklärten das gleiche. Die kranken jüdischen Menschen machten nun geltend, dass sie nicht arbeiten könnten. Der Lagerarzt Dr. Mengele erklärte ihnen daraufhin, sie könnten zurückbleiben, nach ihrer Genesung könnten sie ja nach Heidebrock nachkommen. Die Kranken und einige Kinder durften daraufhin in den mittleren Blocks des Theresienstädter Lagers zurückbleiben. Die übrigen jüdischen Menschen aus den ersten Septembertransporten - es waren noch mindestens 3000 - wurden dann aus dem Lager hinausgeführt. Man sagte ihnen, sie würden zunächst in der Sauna gebadet. Als sie in Richtung der neu gebauten Krematorien III und IV geführt wurden, glaubten viele, dass sie tatsächlich gebadet würden. Andere wieder, die von der beschlossenen "Sonderbehandlung" gehört hatten und insbesondere die Häftlinge, die schon länger im Lager waren und nicht zu den Theresienstädtertransporten gehörten, warnten jedoch vor einer "Liquidierung". Als die gesunden jüdischen Menschen dann aber tatsächlich in der Sauna gebadet und anschliessend in das Quarantänelager (B II a) geführt wurden, glaubten die meisten nicht mehr an eine "Liquidierung".

Am 8.3.1944 kamen gegen Abend einige SS-Männer in das Theresienstädter Lager und riefen die Namen und Nummern einiger zurückgebliebener Kranker aus den ersten Septembertransporten auf und führten diese in das Quarantänelager zu den anderen Juden. Gegen 20 Uhr wurde für das Theresienstädter Lager Lagersperre angeordnet. Die restlichen Insassen des Lagers durften ihre Blocks nicht mehr verlassen. Etwa um die gleiche Zeit fuhren LKWs in das Quarantänelager hinein. Ferner kam eine grosse Anzahl von SS-Führern, Unterführern und Männern, sowie Kapos und Blockältesten zum Quarantänelager. Der Angeklagte Baretzki war auch unter ihnen. Den jüdischen Menschen im Quarantänelager wurde nun befohlen, die LKWs zu besteigen. Viele kamen dieser Aufforderung auch ohne weiteres nach. Andere jedoch, die misstrauisch waren und befürchteten, sie könnten in das Gas gebracht werden, weigerten sich, die LKWs zu besteigen. Einige wurden auch von einem Blockältesten namens Bondi vor der bevorstehenden "Liquidierung" gewarnt. Bondi forderte sie auf, die LKWs nicht zu besteigen. Alle, die nicht freiwillig auf die LKWs gingen, wurden von den SS-Männern, den Kapos und Blockältesten - ausser Bondi - mit Gewalt auf die LKWs getrieben.

Der Angeklagte Baretzki half beim Antreten der jüdischen Menschen vor den LKWs mit. Er stellte zusammen mit anderen SS-Männern die einzelnen Menschengruppen für die LKWs zusammen. Wenn sich jüdische Häftlinge weigerten, auf die LKWs zu steigen, bedrohte er sie mit der Pistole und zwang sie so mit Gewalt, aufzusteigen. Anschliessend wurden die LKWs mit den jüdischen Menschen in Richtung der Rampe im Lager Birkenau gefahren. Man wollte damit den Zurückbleibenden vortäuschen, dass die auf den LKWs befindlichen Menschen auf Transport kämen. In Wirklichkeit fuhren die LKWs dann aber weiter zu den Gaskammern. Alle auf den LKWs befindlichen Menschen wurden dann in eine oder in mehrere Gaskammern geführt und dort durch Zyklon B getötet. Es waren mindestens 3000.

Der Angeklagte Baretzki, der auf Befehl seiner Vorgesetzten beim Abtransport der Juden mithalf, wusste, dass sie nur deswegen getötet werden sollten, weil sie Juden waren. Ihm war auch bekannt, dass sie nach dem Abtransport durch Zyklon B getötet wurden. Ihm war klar, dass er durch seine geschilderte Tätigkeit beim Abtransport der Opfer die Vernichtungsaktion förderte.

5. Die Ertränkung von vier Häftlingen durch den Angeklagten Baretzki in einem Feuerlöschteich (Nachtragsanklage)

Im Lager Birkenau bestand ein sog. "Kommando Zerlegerbetriebe". Zu ihm gehörten ca. 1300 Häftlinge, unter denen 200 russische Kriegsgefangene waren. Aufgabe des Kommandos war es, Flugzeugwracks zu zerlegen.

Im Sommer 1944 - der genaue Zeitpunkt konnte nicht festgestellt werden, es war jedenfalls nach dem 21.6.1944 - versteckte sich eines Tages ein russischer Kriegsgefangener dieses Kommandos während der Arbeit. Er schlief in seinem Versteck ein. Während der Mittagszeit musste sich das ganze Kommando auf einem Platz versammeln. Dabei wurde das Fehlen des russischen Kriegsgefangenen entdeckt. Während die Kapos den fehlenden Häftling suchten, wurde der russische Kriegsgefangene wach und lief zu den auf dem Platz angetretenen Häftlingen hin. Dort wurde er von drei Kapos in Empfang genommen, mit Stöcken geschlagen und zu Boden geworfen. Während die Kapos noch schlugen, fingen die russischen Kriegsgefangenen an zu schreien. Der Kommandoführer schlug daraufhin zusammen mit anderen Kapos auf die Kriegsgefangenen ein. Zur Begründung gab man an, dass die Kriegsgefangenen einen Aufstand gemacht hätten. Danach war die Sache erledigt und die Häftlinge gingen wieder zur Arbeit.

Nach Beendigung der Arbeitszeit wurden die Häftlinge - wie immer - zum Lagerabschnitt B II d zurückgeführt. Wegen des Vorfalls am Mittag wurden jedoch nicht alle in das Lager und ihre Blocks entlassen. Ein Teil musste zur Strafe bei der Küchenbaracke, die sich - vom Eingang des Lagers aus gesehen - vor den Blockreihen auf einem freien Platz befand, antreten und dort in strammer Haltung mehrere Stunden stehen. SS-Männer führten die Aufsicht und achteten darauf, dass die Häftlinge sich nicht bewegten. Auch der Angeklagte Baretzki gehörte zu dem Aufsichtspersonal. Nach etwa 2 Stunden konnten einige Häftlinge nicht mehr stehen. Sie setzten sich in Hockstellung, um sich etwas auszuruhen. Da schlugen der Angeklagte Baretzki und andere SS-Männer auf diese Häftlinge ein. Baretzki trieb dann einige Häftlinge zu einem in der Nähe befindlichen Feuerlöschteich und warf sie hinein. Der Teich befand sich in einem mit Beton ausgegossenen rechteckigen Bassin, das schräge Wände hatte. Die Häftlinge versuchten nun schwimmend aus dem Wasser herauszukommen. Sie krochen an den Wänden des Bassins hoch. Baretzki, der am Rande des Bassins stand, stiess sie jedoch einmal mit den Füssen zurück, wenn sie hochkamen, so dass sie wieder ins Wasser zurückfielen. Wenn sich die Häftlinge mit ihren Händen am Rande des Bassins festklammerten, trat Baretzki sie mit den Füssen auf die Hände, so dass sie vor Schmerzen den Beckenrand losliessen. Die Häftlinge schwammen längere Zeit im Wasser umher und versuchten immer wieder, herauszukommen. Doch jedesmal wurden sie von Baretzki zurückgestossen. Auch andere SS-Männer warfen die Häftlinge in das Wasser. Auch sie verhinderten auf die gleiche Weise, dass die Häftlinge herauskommen konnten. Die Kräfte der im Wasser herumschwimmenden Häftlinge erlahmten schliesslich. Die Häftlinge gingen unter und ertranken. Baretzki hat mindestens vier Häftlinge in das Wasser geworfen und hat bei ihnen verhindert, dass sie herauskommen konnten. Alle vier sind ertrunken.

Die Lagerfeuerwehr holte später die Leichen mit Haken aus dem Feuerlöschteich heraus.

6. Weitere Taten des Angeklagten Baretzki, die nicht angeklagt und nicht im Eröffnungsbeschluss enthalten sind

a. Der Angeklagte Baretzki liebte es, die Häftlinge, die aus dem Lagerabschnitt B II d zum Frauenlager jenseits der neuen Rampe hinüberwinkten - was verboten war -, mit "Sport" zu bestrafen (vgl. oben 2. Abschnitt V.8.). Oft machte er mit Häftlingen, die er beim Winken erwischte, "Sport", indem er sie in schnellem Tempo niederwerfen, aufstehen, hüpfen, laufen, wieder hinwerfen usw. liess, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Wenn Häftlinge nach einem solchen "Sport" am Boden lagen, trampelte er auf ihnen herum und schrie sie an, sie sollten aufstehen. Wenn sie dann nicht dieser Aufforderung nachkamen, zog er seine Pistole und erschoss sie. Auf diese Weise hatte Baretzki mindestens fünf Häftlinge getötet.

b. Im Jahre 1944 durchsuchte der Angeklagte Baretzki eines Tages ein Häftlingskommando, das gerade von der Arbeit zurückgekehrt war. Bei einem Juden fand er ein paar Päckchen Zigaretten. Er nahm dem Juden die Zigaretten ab und rief: "Deinetwegen ist Krieg, durch Dich bin ich im Lager." Er warf die Zigaretten unter die anderen Häftlinge, wobei er ihnen zurief, sie sollten sich das nehmen. Den Juden schlug er bis zur Bewusstlosigkeit zusammen. Zum Appell wurde der jüdische Häftling bewusstlos bei seinem Block niedergelegt. Nach dem Appell wurde er von Kameraden in die Baracke getragen. Dort starb er an einem der nächsten Tage.

c. Ende Juni 1944 wurde eines Morgens nach dem Ausrücken der Arbeitskommandos eine Suchaktion nach versteckten Häftlingen, die im Sprachgebrauch der SS "Arbeitsscheue" genannt wurden, befohlen. Alle Häftlinge, die in den Baracken gefunden wurden, mussten auf einem bestimmten Platz antreten. Einen Häftling fand man auf der Latrine. Er wurde vom Blockältesten zu einer Gruppe von zwei bis drei SS-Männern gebracht, unter denen sich auch der Angeklagte Baretzki befand. Baretzki schlug dem Häftling mit einem Stock, den er meist bei sich hatte, mit voller Wucht auf den kahlen Kopf. Der Häftling brach zusammen und blieb liegen. Blut floss ihm vom Kopf herunter. Als der Häftling wieder zu sich kam und sich wieder etwas erholt hatte, sollte er 50 Stockschläge erhalten. Er musste selbst zählen. Nach einigen Schlägen, die er von namentlich nicht bekannten SS-Männern erhielt, wurde er jedoch wieder bewusstlos. Man liess ihn liegen. Später starb er.

d. Im Jahre 1944, der genaue Zeitpunkt konnte nicht festgestellt werden, begegnete eines Tages ein Häftling dem Angeklagten Baretzki auf der Lagerstrasse und zwar in der Nähe des Lebensmittelmagazins. Baretzki rief den Häftling zu sich und gab ihm eine Ohrfeige. Der Grund hierfür ist nicht bekannt. Der Häftling wollte sein Gesicht vor der Misshandlung mit seinen Händen schützen, indem er sie vor das Gesicht hielt. Baretzki sagte daraufhin zu ihm: "Was, Du willst einen SS-Mann schlagen?" Er schlug weiter auf den Häftling ein, bis Blut floss und der Häftling hinfiel. Dann trat der Angeklagte Baretzki auf den liegenden Häftling ein. Schliesslich legte er ihm einen Schaufelstiel auf den Hals und stellte sich auf die beiden Enden des Stiels, bis der Häftling tot war.

III. Einlassung des Angeklagten Baretzki, Beweismittel, Beweiswürdigung

1.

Die Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten Baretzki beruhen auf seiner eigenen Einlassung.

2. Zu II.1.

Der Angeklagte Baretzki hat eingeräumt, als Blockführer zum Rampendienst eingeteilt worden zu sein. Er hat sich jedoch dahin eingelassen, dass er nur das Kanada-Kommando auf die Rampe geführt habe. Dort habe er es sofort einem Angehörigen der Abteilung Verwaltung (Effektenkammer) übergeben. Damit sei sein Dienst beendet gewesen. Mit den Vernichtungsaktionen habe er nichts zu tun gehabt. Insbesondere habe er die jüdischen Menschen nicht zu den Gaskammern begleitet. Wenn er nach der Übergabe des Häftlingskommandos noch länger auf der Rampe geblieben sei, dann nur deswegen, weil er sich Zigaretten und Lebensmittel "organisiert" habe. Nach den Selektionen habe er in der Regel auf Befehl des Arbeitsdienstführers die arbeitsfähigen Häftlinge zur Aufnahme in das Lager Kanada geführt. Dabei sei er auch an den Gaskammern vorbeigekommen. Diese Einlassung des Angeklagten Baretzki ist schon an sich unglaubhaft. Denn es gehörte zu den Aufgaben der Blockführer, die angekommenen jüdischen Menschen nach dem Aussteigen aus den Eisenbahnwaggons aufzustellen und schon vor der eigentlichen Selektion durch die Ärzte die Menschen nach bestimmten Gesichtspunkten zu trennen (vgl. oben A.II.).

Seine Einlassung ist aber auch durch die Beweisaufnahme widerlegt worden. Der Angeklagte Baretzki ist durch die Aussage einiger Zeugen überführt worden, in der oben geschilderten Weise an den Vernichtungsaktionen mitgewirkt zu haben.

So hat der Zeuge Dow K. glaubhaft bekundet, dass er im Frühjahr 1944 und im Juli und August 1944 den Angeklagten Baretzki wiederholt auf der Rampe in Birkenau gesehen habe, wenn er die angekommenen Menschen eingeteilt habe. Damals sei Hochbetrieb auf der Rampe gewesen. Baretzki habe einige Male einen Stock in der Hand gehabt. Der Zeuge Dow K. ist glaubwürdig. Er kannte den Angeklagten Baretzki bereits im Lager B II b, weil Baretzki als Blockführer öfters in dieses Lager B II b hineingekommen ist. Später hat der Zeuge den Angeklagten Baretzki im Lager B II d fast täglich gesehen. Der Zeuge kam nach der Vernichtung der ersten Theresienstädtertransporte (nach dem 8./9.3.1944) in den Lagerabschnitt B II d, wo Baretzki als Blockführer tätig war. Der intelligente Zeuge, der jetzt als wissenschaftlicher Assistent an der Universität in Jerusalem tätig ist, war damals erst 11 Jahre alt. Er hat alles mit wachen Augen beobachtet. In der Nähe der Rampe - nur durch den Drahtzaun getrennt - war im Lager B II d ein Kinderspielplatz. Von hier aus hat der Zeuge seine Beobachtungen gemacht und den Angeklagten Baretzki gesehen.

Die Aussage des Zeugen Dow K. wird durch die Aussage des Zeugen Erich K. bestätigt. Der bereits mehrfach erwähnte Zeuge Erich K. arbeitete - wie ebenfalls schon ausgeführt - als Schlosser in der Schlosserwerkstatt. Diese lag in unmittelbarer Nähe der Rampe in Birkenau. Der Zeuge konnte sich als Schlosser frei in den verschiedenen Lagerabschnitten, auch im FKL bewegen. Er hatte somit Gelegenheit, die Vorgänge auf der Rampe zu beobachten. Nach seiner glaubhaften Aussage hat er den Angeklagten Baretzki, den er gut kannte, wiederholt dabei beobachtet, wenn er beim Aufstellen und Einteilen der angekommenen jüdischen Menschen mithalf.

Schliesslich hat auch der Zeuge Bac. den Angeklagten Baretzki beim Rampendienst beobachtet. Dieser Zeuge war damals 15 Jahre alt. Er war im Dezember 1943 mit einem Transport jüdischer Menschen aus dem KL Theresienstadt nach Auschwitz gekommen und in dem Lagerabschnitt B II b untergebracht worden. Bei der Vernichtung dieser Transporte im Juli 1944 war er mit dem Leben davongekommen. Er war dann in den Lagerabschnitt B II d überführt worden. Hier lernte er den Angeklagten Baretzki als Blockführer kennen. Der Zeuge hat persönlich nur gute Erfahrungen mit dem Angeklagten Baretzki gemacht. Baretzki sei - so hat er erklärt - zu den Kindern sehr milde gewesen. Er habe mit ihnen sogar Ping-Pong und Fussball gespielt. Einmal habe er ihnen sogar Zahnbürsten besorgt. An Weihnachten 1944 habe Baretzki neun Jugendlichen, darunter auch ihm, je ein Stück Wurst geschenkt. Der Zeuge hat somit keinen Anlass, den Angeklagten Baretzki zu Unrecht zu belasten. Irgendwelche Hass- oder Rachegefühle scheiden aus. Seine Aussage verdient daher vollen Glauben. Der Zeuge hat einmal beobachtet, wie der Angeklagte Baretzki während seines Rampendienstes einem Häftling eine Flasche auf den Kopf schlug, so dass dieser zusammenbrach. Auch das spricht dafür, dass Baretzki nicht nur das Häftlingskommando zur Rampe geführt, sondern während der Vernichtungsaktion auch weitere Funktionen gehabt hat.

Die Feststellung, dass der Angeklagte Baretzki die für den Tod bestimmten jüdischen Menschen zusammen mit anderen SS-Männern zu den Gaskammern geführt hat, beruht auf den glaubhaften Aussagen der Zeugen Mir., Erich K. und der Zeugin Pal. Der Zeuge Mir. hat wiederholt persönlich gesehen, wie der Angeklagte Baretzki jüdische Menschen aus RSHA-Transporten zu den Krematorien geführt hat. Der Zeuge konnte sich noch erinnern, dass Baretzki meist, wenn er von den Gaskammern zurückkam, betrunken gewesen ist. Dann sei er, so hat der Zeuge ausgesagt, besonders gefährlich gewesen. Auch dieser Zeuge kannte den Angeklagten Baretzki, weil er in dem Lagerabschnitt B II d untergebracht war.

Die Zeugin Pal. hat von dem FKL aus beobachtet, wie der Angeklagte Baretzki RSHA-Transporte zu den Krematorien gebracht hat. Die glaubwürdige Zeugin, die oben bereits mehrfach erwähnt worden ist, kannte den Angeklagten Baretzki ebenfalls, weil er wiederholt in die Baracke, in der die Zeugin als Schreiberin tätig war, gekommen ist. Der Zeugin und anderen Frauen gegenüber hat sich der Angeklagte Baretzki anständig verhalten. Die Zeugin wusste mit Bestimmtheit, dass Baretzki die Menschen nicht etwa zur Sauna oder dem Lager Kanada - wie es der Angeklagte Baretzki behauptete -, sondern zu den Gaskammern geführt hat. Auch diese Zeugin hat keine Veranlassung, den Angeklagten Baretzki zu Unrecht zu belasten. Auch ihr hat das Gericht vollen Glauben geschenkt. Der Zeuge Mir. ist ebenfalls glaubwürdig. Er hat seine Aussage ruhig und sachlich gemacht. Er ist von dem Angeklagten Baretzki persönlich nicht misshandelt worden. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass er Baretzki zu Unrecht hätte belasten wollen. Zudem wird seine Bekundung durch die Aussage der Zeugin Pal. und des Zeugen Erich K. bestätigt.

Aus all diesen Zeugenaussagen ist zu entnehmen, dass Baretzki vor allem auch im Jahre 1944, nachdem die neue Rampe in Birkenau in Betrieb genommen worden war, am Rampendienst teilgenommen und bei den Vernichtungsaktionen in der geschilderten Weise mitgewirkt hat. Alle Zeugen haben den Angeklagten Baretzki unabhängig voneinander wiederholt beim Rampendienst gesehen und zwar in einem Zeitraum zwischen Frühjahr und August 1944. In der Zeit zwischen Mai und August 1944 kamen pausenlos die sog. Ungarn-Transporte an, die durchschnittlich 3000 Personen nach Auschwitz brachten. Das Schwurgericht ist daher überzeugt, dass der Angeklagte Baretzki laufend zum Rampendienst eingeteilt worden ist. Da aber unsichere Schätzungen dem Urteil nicht zugrunde gelegt werden durften, hat sich das Gericht darauf beschränkt - wie in anderen Fällen - Mindestzahlen festzustellen. Nach den Aussagen der Zeugen und der Einlassung des Angeklagten und den gesamten Umständen kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte Baretzki mindestens fünfmal den Rampendienst in der geschilderten Weise versehen hat und dass in diesen fünf Fällen bei durchschnittlichen Transportstärken von 3000 Menschen, von denen höchstens 25% in das Lager aufgenommen worden sind, mindestens jeweils 1000 Menschen durch Zyklon B getötet worden sind.

Die Überzeugung des Gerichts, dass der Angeklagte Baretzki den Beweggrund für die Tötung der jüdischen Menschen gekannt hat, stützt sich auf seine eigene Einlassung. Ihm und allen anderen SS-Angehörigen im KL Auschwitz ist in Vorträgen und Schulungsabenden immer wieder klar gemacht worden, dass die Juden ausgerottet werden müssten. Jeder im KL Auschwitz wusste, dass die Juden nur deshalb verfolgt und vernichtet wurden, weil man sie als Angehörige einer sog. "minderwertigen Rasse", die das deutsche Volk "verseuche" und ihm als Feind Nr.1 schade, ansah.

Da der Angeklagte Baretzki an mehreren Vernichtungsaktionen teilnahm und vorher - wie alle SS-Angehörigen - zur strengsten Geheimhaltung und Verschwiegenheit verpflichtet wurde, erfuhr er auch zwangsläufig die gesamten Begleitumstände, unter denen die jüdischen Menschen getötet wurden, so dass kein Zweifel bestehen kann, dass er auch von der strengen Geheimhaltung, der Tarnung, der Täuschung der Opfer und der Art ihres Todes Kenntnis nahm.

Dass er dabei auch das Bewusstsein gehabt haben muss und nach der Überzeugung des Gerichts auch gehabt hat, selbst einen Beitrag zu diesen Vernichtungsaktionen zu leisten, liegt auf der Hand. Es ergibt sich schon allein aus der Art seiner Beteiligung, die ihm dieses Bewusstsein aufdrängen musste.

3. Zu II.2.

Der Angeklagte Baretzki hat zu der Frage, ob er auch an Lagerselektionen teilgenommen hat, nicht Stellung genommen. Er hat in Abrede gestellt, jemals Häftlinge zu den Gaskammern begleitet zu haben.

Die Feststellungen des Gerichts unter II.2. beruhen auf den glaubhaften Aussagen der bereits oben erwähnten Zeugen Dow K., Erich K. und des Zeugen Cor. Diese Zeugen haben den Angeklagten Baretzki dabei beobachtet, wie er bei sog. Lagerselektionen mitgeholfen hat. Der Zeuge Erich K. konnte sehen, dass der Angeklagte Baretzki auf bestimmte Häftlinge gezeigt und den selektierenden Lagerarzt auf sie aufmerksam gemacht hat. Darüber hinaus hat der Zeuge Ka. bekundet, dass der Angeklagte Baretzki beim "Verladen" der
ausgesonderten Häftlinge auf die LKWs dabeigewesen sei und hierbei mitgeholfen habe. Ferner hat der Zeuge Dr. Wo. über die Selektion am 15.4.1944 berichtet, wobei sich der Angeklagte Baretzki nach der glaubhaften Aussage des Zeugen in der geschilderten Weise betätigt hat. Der Zeuge Dr. Wo. ist glaubwürdig. Er war als Häftlingsarzt im Quarantänelager eingesetzt. In dieser Funktion hatte er einen guten Überblick über die gesamten Lagerverhältnisse und kannte auch viele der im Lager Birkenau tätigen Blockführer. Auch den Angeklagten Baretzki kannte er gut. Er hat ihn in der Hauptverhandlung sofort wiedererkannt. Die Gefahr irgendeiner Verwechslung besteht nicht.

Der Zeuge Ka. schätzt die Anzahl der Lagerselektionen im Lagerabschnitt B II d, die er selbst miterlebt hat, auf acht bis zehn. Er meint, dass Baretzki immer dabeigewesen sei. Da auch die Zeugen Dow und Erich K., sowie der Zeuge Cor. Baretzki mehrfach bei Lagerselektionen gesehen haben und die vom Zeugen Dr. Wo. geschilderten Selektionen im Quarantänelager stattfanden, ist das Gericht überzeugt, dass der Angeklagte Baretzki mindestens an fünf Lagerselektionen in der geschilderten Weise teilgenommen hat. Da in allen Fällen die ausgesonderten Häftlinge durch LKWs weggefahren und durch Zyklon B in einer der Gaskammern getötet worden sind, konnte auch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass in jedem Fall mindestens fünfzig Häftlinge ausgesondert und anschliessend vergast worden sind. Denn bei Lagerselektionen wurde stets eine grössere Anzahl von Häftlingen ausgesondert und durch Gas in den Gaskammern wurden stets nur grössere Gruppen von Häftlingen getötet. Bei weniger als fünfzig Häftlingen "lohnte" sich nach damaliger Auffassung der Aufwand, der mit einer LKW-Verladung und Vergasung in einer Gaskammer verbunden war, nicht.

Dass der Angeklagte Baretzki auch den Grund für die Beseitigung der Häftlinge gekannt hat, liegt auf der Hand. Denn er war aus der Tatsache, dass nur arbeitsunfähige und schwache Häftlinge, gegen die sonst nichts vorlag, für den Gastod ausgesondert wurden, klar zu ersehen.

Dem Angeklagten Baretzki war nach der Überzeugung des Gerichts auch klar, dass er selbst die Vernichtungsaktionen förderte. Das ergibt sich auch aus der Art seiner Mitwirkung von selbst.

4. Zu II.3.

Der Angeklagte Baretzki hat in Abrede gestellt, jemals einen Häftling im KL Auschwitz totgeschlagen oder auf andere Weise getötet zu haben.

Im Falle Lischka wird er jedoch durch die glaubhafte Aussage Dr. Wo's überführt. Der Zeuge hat den Vorfall aus nächster Nähe beobachtet. Er hat den Häftling Lischka unmittelbar danach untersucht und festgestellt, dass seine Nieren verletzt waren. Nach der Bekundung des Zeugen, der als Arzt insoweit sachverständiger Zeuge ist, sind diese Nierenverletzungen durch die Stockschläge des Angeklagten Baretzki hervorgerufen worden und waren mit Sicherheit ursächlich für den Tod des Häftlings Lischka.

Aus der Tatsache, dass der Angeklagte Baretzki mit einem Stock wahllos mit voller Wucht auf den Häftling eingeschlagen hat, hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass der Angeklagte Baretzki den Häftling nicht nur schlagen wollte, sondern zumindest damit gerechnet hat, dass der Tod des Häftlings infolge dieser Stockschläge eintreten könnte und dass er dies billigend in Kauf genommen hat. Denn jeder vernünftige Mensch weiss, dass wuchtig geführte Stockschläge auf empfindliche Körperteile eines Menschen, zu denen das Rückgrat und die Nierengegend gehören, dessen Tod zur Folge haben können. Hier kam hinzu, dass es sich bei dem Häftling Lischka um einen "Muselmann" gehandelt hat, der bereits so schwach und hinfällig war, dass er sich nur langsam bewegen konnte. Das sah auch der Angeklagte Baretzki. Im übrigen zeigen die unter II.5. und II.6. festgestellten Taten, dass der Angeklagte Baretzki das Leben eines Häftlings nur gering geachtet und sich nicht gescheut hat, einen Menschen aus nichtigen Anlässen zu töten. Sein Verhalten in diesen Fällen gibt Aufschluss über seine innere Einstellung zu den Häftlingen. Es unterstützt die Überzeugung des Gerichts, dass der Angeklagte Baretzki im Falle Lischka den Tod des Häftlings billigend in Kauf genommen hat.

5. Zu II.4.

Der Angeklagte Baretzki hat bestritten, an der "Liquidierung" des Theresienstädter Lagers beteiligt gewesen zu sein. Er wisse zwar - so hat er sich eingelassen - dass die jüdischen Menschen aus dem Lagerabschnitt B II b damals mit Autos weggefahren und anschliessend durch das Gas getötet worden seien. Er selbst habe aber in jener Nacht Nachtdienst im Lagerabschnitt B II d gehabt. Mit dem Lagerabschnitt B II b habe er nichts zu tun gehabt. In diesem Lager seien nur zwei Blockführer gewesen.

Auf Grund der glaubhaften Aussage des oben bereits mehrfach erwähnten Zeugen Dow K. steht jedoch fest, dass der Angeklagte Baretzki bei der Räumung des Quarantänelagers (B II a), in das die jüdischen Menschen aus dem Lagerabschnitt B II b zunächst gebracht worden waren, dabeigewesen ist und bei der "Verladung" der Opfer auf die LKWs in der geschilderten Weise mitgeholfen hat. Der Zeuge Dow K. wurde selbst mit zwei anderen jüdischen Häftlingen, nachdem man ihn zunächst im Lagerabschnitt B II b als Kranken zurückgelassen hatte, noch gegen 21 Uhr in das Quarantänelager gebracht. Er hat dort den ihm bereits bekannten Blockführer Baretzki gesehen. Er konnte beobachten, wie er die Opfer bei der "Verladung" auf die LKWs mit seiner Pistole bedroht hat. Auch der Zeuge Doe. hat den Angeklagten Baretzki bei dieser Räumung des Quarantänelagers gesehen. Der Zeuge war im Lagerabschnitt B II d und hat - nach seiner glaubhaften Bekundung - aus dem Block 5 heraus, soweit es möglich war, die Vorgänge im Quarantänelager beobachtet. Dabei hat er unter den SS-Männern den ihm bekannten Baretzki erkannt. Einzelheiten über die Tätigkeit des Angeklagten Baretzki konnte er allerdings wegen der Entfernung zwischen seinem Beobachtungsstand und dem Quarantänelager nicht berichten. Er hat ihn gesehen, als die Gruppen der Häftlinge für den Abtransport zusammengestellt wurden. Damit hat er die Aussage des Zeugen Dow K. zumindest insoweit bestätigt, dass der Angeklagte Baretzki zu der Vernichtungsaktion hinzugezogen worden ist.

Die Angaben des Zeugen Dow. K. sind daher glaubhaft.

Dass die jüdischen Menschen des Theresienstädter Lagers am 8.3.1944 aus dem Quarantänelager nach den geschilderten Täuschungsmanövern zu den Gaskammern abtransportiert und dort durch Zyklon B getötet worden sind, hat keiner der Angeklagten, die damals im KL Auschwitz waren, in Abrede gestellt. Die Einzelheiten über die Gesamtaktion und die Mindestzahl der Opfer hat das Gericht auf Grund der glaubhaften Aussagen des Zeugen Erich K., der damals die gesamten Vorbereitungen der Vernichtungsaktion beobachten konnte und auf Grund seiner Beziehungen zur Schreibstube die Anzahl der Opfer hat erfahren können, festgestellt. Dieser Zeuge hat auch nach der durchgeführten Aktion von Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos erfahren, dass die jüdischen Menschen aus dem Theresienstädter Lager tatsächlich durch Gas getötet worden sind.

6. Zu II.5.

Der Angeklagte Baretzki hat bestritten, dass sich in Birkenau jemals ein solcher Vorfall abgespielt habe. Er hat behauptet, dass es gar nicht möglich gewesen sei, Häftlinge nicht zum Appell in das Lager zu führen. Wenn man einen Teil vor der Küchenbaracke hätte stehen lassen, dann hätte es beim Appell ein grosses Durcheinander gegeben. Dieser Einwand des Angeklagten Baretzki ist nicht überzeugend. Denn es bestand keine Schwierigkeit, die Gesamtzahl der vor der Küchenbaracke angetretenen Häftlinge zu der beim Appell im Lager festgestellten Stärke hinzuzuzählen, so dass sich ohne weiteres die Gesamtstärke der im Lager befindlichen Häftlinge errechnen liess.

Auf Grund der glaubhaften Aussage des Zeugen Doe. steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte Baretzki tatsächlich damals mindestens vier Häftlinge ertränkt hat. Der Zeuge hat widerspruchsfrei und in sich glaubhaft die damaligen Geschehnisse, so wie sie unter II.5. dargestellt worden sind, geschildert. Er war selbst in dem Kommando Zerlegerbetriebe und hat an dem Strafappell teilnehmen müssen. Dabei hat er mit eigenen Augen gesehen, wie Baretzki mindestens vier Häftlinge in das Wasser hineingeworfen und am Herauskommen gehindert hat, bis die Häftlinge im Wasser liegen blieben. Erst nach insgesamt vier Stunden gelang es dem Zeugen, sich in seinen Block zu schleichen.

Seine Aussage wird bestätigt durch die Aussage des Zeugen Laz. Auch dieser Zeuge war im Kommando Zerlegerbetriebe. Er hat den gleichen Vorgang geschildert wie der Zeuge Doe. Seine Aussage weicht nur in nebensächlichen Punkten von der Darstellung des Zeugen Doe. ab. So hat der Zeuge gemeint, dass sich der fehlende Häftling - so weit er sich erinnere - erst am Abend nach Beendigung der Arbeit eingefunden habe. Der Zeuge wusste auch nicht mehr genau die Einzelheiten, die dem Strafappell vorausgegangen waren. Dies ist jedoch nicht verwunderlich. Denn diese Dinge waren für den Zeugen von nebensächlicher Bedeutung. Sie wurden durch das furchtbare Geschehen am Löschteich in den Hintergrund gedrängt. Wenn der Zeuge diese Nebensächlichkeiten nach über zwanzig Jahren nicht mehr genau in Erinnerung hat, so beeinträchtigt das den Wert seiner Aussage in den wesentlichen und entscheidenden Punkten nicht, dass nämlich Baretzki mehrere Häftlinge in den Löschteich getrieben und am Herauskommen gehindert hat, bis sie ertranken. Darin stimmt seine Aussage mit der des Zeugen Doe. völlig überein. Der Zeuge weiss allerdings nicht mehr, wie viele Häftlinge ertränkt worden sind. Er meinte, dass es insgesamt mehr als zehn gewesen seien. Auch die anderen SS-Männer hätten Häftlinge ertränkt. Insoweit liegt kein Widerspruch zu der Aussage des Zeugen Doe. vor. Denn dieser Zeuge konnte nach etwa vier Stunden in seinen Block entkommen, während der Zeuge Laz. erheblich länger, nämlich bis zum Schluss des Strafappells stehen blieb. Es ist durchaus denkbar und wahrscheinlich, dass nach dem Weggang des Zeugen Doe. noch weitere Häftlinge ertränkt worden sind. Das Schwurgericht hat gleichwohl nur die vom Zeugen Doe. angegebene Mindestzahl seiner Feststellung zugrunde gelegt, weil der Zeuge Laz. bezüglich der Anzahl der ertränkten Menschen nicht mehr ganz sicher war.

Schliesslich hat auch der Zeuge Mir. von dem gleichen Vorfall berichtet. Der Zeuge war damals in der Schreibstube des Blockes zwei beschäftigt und hat den Angeklagten Baretzki gut gekannt. Der Zeuge hat aus der Schreibstube beobachtet, wie Häftlinge des Zerlegerkommandos vor der Küchenbaracke stehenbleiben mussten. Er hat dabei auch den Angeklagten Baretzki gesehen. Dann hat er weiter beobachtet, wie Häftlinge in den Wasserteich hineingetrieben worden sind. Er konnte auch sehen, wie der Angeklagte Baretzki die Häftlinge, die aus dem Wasser herauskommen wollten, auf die Hände getreten hat. Der Zeuge konnte sich ferner erinnern, dass später ein Feuerlöschauto gekommen ist und mit Haken nach den Leichen gesucht hat. Zwei Leichen wurden nach der Beobachtung des Zeugen von der Feuerwehr aus dem Wasser herausgeholt. Diese Darstellung steht nicht im Widerspruch zu den Angaben der Zeugen Doe. und Laz. Denn der Zeuge konnte die Vorgänge nicht ununterbrochen aus dem Block 2 beobachten. Der Zeuge hat nur das berichtet was er mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Es ist durchaus möglich, dass die Bergung weiterer Leichen erfolgte, ohne dass dies der Zeuge beobachten konnte.

Das Schwurgericht ist der Darstellung des Zeugen Doe. auch in den nebensächlichen Punkten gefolgt, weil sich dieser Zeuge unmittelbar nach dem Lageraufenthalt Aufzeichnungen über die Geschehnisse in Auschwitz gemacht hat. Seine Angaben erscheinen daher in jeder Beziehung am zuverlässigsten. Als Tatzeit hat der Zeuge Doe. die Mitte des Jahres 1944 angegeben. Auch insoweit erscheint seine Angabe aus dem genannten Grunde am zuverlässigsten, zumal auch der Zeuge Mir. gemeint hat, die Ertränkung der Häftlinge sei im Sommer oder Herbst 1944, jedoch nicht früher, gewesen. Nur der Zeuge Laz. will den Vorfall in der ersten Hälfte des Jahres 1944 miterlebt haben. Der Zeuge hat jedoch für diese Zeitangabe keine Gedächtnisstütze. Aus seiner Sicht war die Tatzeit von Anfang an nur von untergeordneter Bedeutung. An nebensächliche Dinge konnte sich der Zeuge nicht mehr zuverlässig erinnern. Seiner Zeitangabe hat das Schwurgericht daher keinen Beweiswert zuerkannt. Es ist vielmehr auch insoweit aus den genannten Gründen dem Zeugen Doe. gefolgt. Danach steht fest, dass der Vorfall erst nach dem 21.6.1944 geschehen ist.

7. Zu II.6.

Der Angeklagte Baretzki hat auch diese Taten geleugnet. Wie bereits ausgeführt, hat er sich dahin eingelassen, nie einen Häftling erschossen und totgeschlagen zu haben. Die Feststellung unter II.6.a. hat das Gericht auf Grund der glaubhaften Aussage des Zeugen Erich K. getroffen. Die Feststellung unter II.6.b. beruhen auf der Aussage des Zeugen Laz. Die Misshandlung des Häftlings durch den Stockschlag auf den kahlen Kopf (II.6.c.) hat der Zeuge Dow K. und die Tötung eines Häftlings durch das sog. "Krawattelegen" (II.6.d.) hat der Zeuge Had. geschildert.

Alle genannten Zeugen haben die geschilderten Vorfälle nach ihrer glaubhaften Aussage selbst miterlebt. Es besteht keine Veranlassung, an der Richtigkeit ihrer Angaben zu zweifeln. Die Zeugen haben den Angeklagten Baretzki gekannt. Der - bisher noch nicht erwähnte - Zeuge Had. war lange Zeit im Lagerabschnitt B.II.d. Er lernte daher den Angeklagten Baretzki als Blockführer kennen. Eine Verwechslungsgefahr scheidet daher aus. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugen die Vorfälle erfunden haben könnten, bestehen nicht. Das Schwurgericht ist daher von der Richtigkeit ihrer Angaben, die sie mit dem Eid bekräftigt haben, überzeugt.

IV. Rechtliche Würdigung

1. Zu II.1.

Der Angeklagte Baretzki hat durch die geschilderte Tätigkeit im Rahmen des geleisteten Rampendienstes die Vernichtung der RSHA-Transporte im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen gefördert, somit einen kausalen Beitrag zu dem Mord der Haupttäter in mindestens fünf Fällen an je tausend Menschen geleistet. Er war ein Rädchen im gesamten Vernichtungsapparat. Durch seine Mitwirkung beim Aufstellen, Einteilen und Trennen der angekommenen Menschen hat er die Voraussetzung für die weitere Abwicklung der RSHA-Transporte, d.h. für die Tötung des grössten Teils dieser Menschen mitgeschaffen. Ferner hat er dadurch zum Tod der Opfer beigetragen, dass er sie zusammen mit anderen SS-Angehörigen zu den Gaskammern hingeführt hat. Der Angeklagte Baretzki hat den Rampendienst auf Befehl seiner Vorgesetzten geleistet. Da er Angehöriger der Waffen-SS gewesen ist, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen des §47 MStGB zu beurteilen.

Er hat erkannt, dass die Befehle, die auf die Massentötung unschuldiger jüdischer Menschen hinzielten, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Wie oben unter A.V.2. bereits ausgeführt worden ist, hat Baretzki eingeräumt, dass er schon damals die Auffassung gehabt habe, dass die Judentötungen "hundertprozentiges Unrecht" seien. Ihm war es somit klar, dass die Massentötungen der Juden trotz der Befehle der höchsten Führung ein allgemeines Verbrechen waren und dass die Befehle, die seine Beteiligung an den Massentötungen anordneten, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Der Angeklagte Baretzki ist daher wegen seiner Mitwirkung an den Massentötungen als Teilnehmer zu bestrafen.

Bei ihm liegt der Verdacht nahe, dass er die Vernichtung der Juden als eigene Taten gewollt, also mit Täterwillen gehandelt hat. Denn - wie sich aus den Feststellungen unter II. ergibt - hat er im Lager als Blockführer zum Nachteil der Häftlinge erheblich mehr getan, als ihm befohlen war. Er hat sich nicht gescheut, eigenmächtig Menschenleben zu vernichten und Häftlinge trotz Verbotes brutal zu misshandeln. Bei den Lagerselektionen hat er durch Hinweise den selektierenden Lagerarzt auf bestimmte Häftlinge aufmerksam gemacht, was über seine befohlene Tätigkeit hinausging und somit zur Tötung bestimmter Häftlinge entscheidende Beiträge geleistet. Das kann als Beweisanzeichen dafür angesehen werden, dass er auch die Vernichtung der sog. RSHA-Juden innerlich bejaht und zu seiner eigenen Sache gemacht, also mit Täterwillen gehandelt hat.

Gleichwohl blieben Zweifel, ob sich der Angeklagte Baretzki ganz mit dem Judenvernichtungsprogramm der NS-Machthaber identifiziert hat. Der Angeklagte Baretzki ist nach dem Eindruck in der Hauptverhandlung ein primitiver Mensch von einfacher Denkungsart. Er kam erst nach Ausbruch des Krieges als Volksdeutscher nach Deutschland. Zur Waffen-SS wurde er - wie viele Volksdeutsche - eingezogen. Mit weltanschaulichen oder rassebiologischen Fragen hat er sich nach den getroffenen Feststellungen nicht befasst. Das hat ihn offenbar auch wenig interessiert. Dass er ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei, konnte nicht festgestellt werden.

Auch hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass er beim Rampendienst durch besonderen Eifer aufgefallen und über die gegebenen Befehle hinausgegangen wäre. Er ist allerdings den damaligen Parolen, dass die Juden an allem, insbesondere dem Ausbruch des Krieges schuld seien, erlegen. Das zeigt der unter II.6.b. geschilderte Fall, in welchem er einem Juden vorwarf, dass seinetwegen Krieg sei, und indem er den Juden aus nichtigem Anlass bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen hat. Andererseits hat er mit anderen SS-Männern gegenüber dem Schulungsleiter Knittel - was ihm geglaubt werden kann - die Frage aufgeworfen, was denn die jüdischen Kinder getan hätten.

Das zeigt, dass er die Vernichtung aller jüdischen Menschen nicht ohne weiteres für notwendig und richtig gehalten und innerlich bejaht hat. Nach der Überzeugung des Gerichts kann daher trotz seines Eifers und seines gefühllosen und unbarmherzigen Verhaltens gegenüber bestimmten Häftlingen im Lager mit Sicherheit nur festgestellt werden, dass er den Haupttätern bei der Ausführung des beschlossenen und befohlenen Mordplanes Beihilfe hat leisten wollen. Irgendwelche Rechtfertigungsgründe für die Handlungsweise des Angeklagten Baretzki sind nicht ersichtlich.

Der Angeklagte Baretzki hat auch vorsätzlich gehandelt. Er hat - wie sich aus den getroffenen Feststellungen unter II.1. ergibt - das Bewusstsein gehabt, dass er als Glied im gesamten Vernichtungsapparat die Haupttaten förderte, und er hat die gesamten Umstände, die die Beweggründe der Haupttäter für diese Taten als niedrig und die Art ihrer Ausführung als heimtückisch und grausam kennzeichnen, gekannt. Ihm hat auch nicht das Bewusstsein gefehlt, durch seine Mitwirkung bei den Massentötungen Unrecht zu tun. Das ergibt sich aus seiner eigenen Einlassung, wonach er die Massentötungen der unschuldigen jüdischen Menschen bereits damals trotz der gegebenen Befehle als Unrecht ansah. Er hat auch nicht irrig angenommen, dass er die verbrecherischen Befehle als bindend befolgen müsse. Hierzu kann auf die Ausführungen unter A.V.2. Bezug genommen werden.

Dem Angeklagten Baretzki ist die Mitwirkung bei den Massentötungen nicht abgenötigt worden. Darauf beruft er sich selbst nicht. Dagegen spricht auch sein sonstiges Verhalten im KL Auschwitz und seine bereitwillige Mithilfe bei den Lagerselektionen. Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte bei der Abwicklung der RSHA-Transporte bereitwillig mitgeholfen, zumal er den Rampendienst jeweils dazu ausgenutzt hat, sich verschiedene Dinge zu "organisieren". Nach seiner eigenen Einlassung hat er sich auf der Rampe Zigaretten und sonstige Gegenstände aus dem Gepäck der angekommenen Menschen besorgt.

Die Frage eines wirklichen oder vermeintlichen Befehlsnotstandes (§52 StGB) oder eines allgemeinen Notstandes (§54 StGB) stellt sich daher bei ihm überhaupt nicht.

Der Angeklagte Baretzki war daher wegen seiner Mithilfe an mindestens fünf Vernichtungsaktionen von sog. RSHA-Juden wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens fünf Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB), begangen in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB) an mindestens je tausend Menschen, zu verurteilen.

2. Zu II.2.

Die Mithilfe des Angeklagten Baretzki an den Lagerselektionen ist rechtlich genau so zu beurteilen, wie seine Mitwirkung bei der Abwicklung der RSHA-Transporte. Dass die Tötung arbeitsunfähiger und schwacher Menschen Mord war, ist oben unter C.V.2. bereits ausgeführt worden. Der Angeklagte Baretzki hat zu diesen Mordtaten einen kausalen Beitrag durch die geschilderten Handlungen geleistet. Das bedarf keiner näheren Begründung. Auch in diesen Fällen hat der Angeklagte Baretzki - was zu seinen Gunsten unterstellt werden muss - auf Befehl seiner Vorgesetzten gehandelt, so dass auch hier der §47 MStGB zur Anwendung kommt. Nach der Überzeugung des Gerichts war dem Angeklagten Baretzki auch in diesen Fällen klar, dass die Tötung dieser unschuldigen Menschen nur wegen ihrer schlechten körperlichen Verfassung und Arbeitsunfähigkeit ein allgemeines Verbrechen war, und dass die Befehle, die die Mitwirkung von SS-Angehörigen an diesen Selektionen anordneten, ein allgemeines Verbrechen bezweckten. Er behauptet selbst nicht, dass er die Tötungen von Häftlingen nach sog. Lagerselektionen für rechtmässig gehalten habe. Im übrigen kann hierzu auf die Ausführungen unter C.V.2. und A.V.2. verwiesen werden.

Der Angeklagte Baretzki hat, ebenso wie in den unter II.1. geschilderten Fällen, nach der Überzeugung des Gerichts - aus den gleichen Gründen wie dort - auch nicht irrig angenommen, dass die ihm gegebenen Befehle, an diesen Lagerselektionen teilzunehmen, verbindlich gewesen seien.

Auch in diesen Fällen konnte nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden, dass der Angeklagte Baretzki mit Täterwillen gehandelt hat, wenn auch vieles dafür spricht, nämlich, dass er den Lagerarzt auf bestimmte Häftlinge aufmerksam gemacht hat, damit sie für den Gastod bestimmt würden und dass er in einem Fall auf flüchtende Häftlinge geschossen hat. Sein Eifer kann jedoch auch Ausfluss einer besonderen Beflissenheit und Befehlsergebenheit gegenüber seinen Vorgesetzten gewesen sein, um sich beliebt zu machen, so dass auch hier mit Sicherheit nur festgestellt werden kann, dass er die Mordtaten der Haupttäter als Gehilfe bereitwillig fördern und unterstützen wollte.

Jede der mindestens fünf Vernichtungsaktionen, durch die jeweils mindestens fünfzig Menschen getötet worden sind, ist als eine selbständige Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit anzusehen, da die Tötung der durch die fünf Lagerselektionen ausgewählten Häftlinge durch eine Willensbetätigung, nämlich das Einwerfen des Zyklon B durch die damit beauftragten SS-Männer erfolgt ist. Der Angeklagte Baretzki hat daher seine Beihilfehandlungen zu mindestens fünf verschiedenen Mordtaten, durch die jeweils mindestens fünfzig Menschen getötet worden sind, geleistet.

Er hat auch vorsätzlich gehandelt. Denn nach den getroffenen Feststellungen war ihm bewusst, dass er durch seine Handlungen bei den Selektionen und bei dem Abtransport der ausgesonderten Häftlinge die Vernichtungsaktionen förderte, somit einen kausalen Tatbeitrag zu dem Tode der Häftlinge leistete. Das wollte er auch. Er kannte nach den getroffenen Feststellungen auch die gesamten Umstände, die die Beweggründe für die Tötung der "selektierten" Menschen als niedrig und die Art ihrer Tötung als grausam kennzeichnen.

Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich. Auch hier liegen die Voraussetzungen für einen wirklichen und vermeintlichen Nötigungsnotstand oder allgemeinen Notstand nicht vor. Der Angeklagte Baretzki ist zu der Mithilfe nicht gezwungen worden. Das behauptet er selbst nicht. Dagegen spricht auch sein Eifer bei den Selektionen und dem Abtransport der Häftlinge.

Der Angeklagte Baretzki war daher wegen seiner Mithilfe an mindestens fünf Lagerselektionen wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens fünf Fällen (§§47, 49, 211, 74 StGB) begangen jeweils in gleichartiger Tateinheit (§73 StGB) an mindestens je fünfzig Menschen zu verurteilen.

3. Zu II.3.

Der Angeklagte Baretzki hat den Häftling Lischka mit bedingtem Vorsatz getötet. Denn die Stockschläge, die Baretzki dem Häftling Lischka verabreicht hat, waren ursächlich für dessen Tod, da Lischka an den durch die Stockschläge erlittenen Nierenverletzungen gestorben ist und Baretzki bei der Misshandlung Lischkas damit gerechnet hat, dass dieser infolge der Stockschläge sterben könnte, was er nach den getroffenen Feststellungen billigend in Kauf genommen hat. Damit sind die Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes erfüllt.

Die Tötung war grausam. Der Angeklagte Baretzki hat Lischka durch die wuchtigen Stockschläge auf empfindliche Körperstellen, insbesondere die Nierengegend, erhebliche Schmerzen zugefügt. Nach der Verletzung der Nieren musste Lischka bis zu seinem Tode, der erst nach längerer Zeit nach der Misshandlung eintrat, ohne Zweifel noch erhebliche körperliche Schmerzen, aber auch seelische Qualen (Todesangst) erleiden. Baretzki hat dem Häftling diese Schmerzen und Qualen - wie schon die Tat selbst zeigt, wofür aber auch sein Verhalten bei der Ertränkung der vier Häftlinge spricht - aus einer rohen und unbarmherzigen Gesinnung heraus zugefügt. Die Tötung war auch heimtückisch. Der Häftling brauchte, als er auf der Lagerstrasse entlang ging, nicht mit einem plötzlichen und unerwarteten Angriff auf sein Leben zu rechnen. Er war somit arglos. Er war auch wehrlos. Denn als "Muselmann" hatte er nicht mehr die Kraft, sich gegen den Angriff zu wehren. Er konnte sich wegen seines geschwächten körperlichen Zustandes, der ihm nur noch langsame Bewegungen ermöglichte, auch nicht mehr durch Flucht dem Angriff entziehen. Baretzki hat diese Situation für seinen unerwarteten Angriff bewusst ausgenutzt.

Da der Angeklagte Baretzki zwangsläufig auch die gesamten Umstände, die die Tötung als grausam und heimtückisch kennzeichnen, miterlebt und somit gekannt hat, ist der Tatbestand des §211 StGB erfüllt. Nicht erforderlich ist, dass Baretzki selbst die Art der Tötung als grausam und heimtückisch bewertet hat.

Der Angeklagte Baretzki war daher wegen der Tötung des Häftlings Lischka wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus (§211 StGB) zu verurteilen.

4. Zu II.4.

Die Massentötung der jüdischen Menschen aus dem KL Theresienstadt war ebenfalls Mord. Haupttäter dieser Vernichtungsaktion waren Hitler, Himmler und ihre Komplizen. Denn sie erfolgte im Rahmen der sog. "Endlösung der Judenfrage" aus den gleichen Gründen wie die Massentötung der mit RSHA-Transporten deportierten Menschen. Wenn die jüdischen Menschen aus dem KL Theresienstadt nicht sofort nach ihrer Ankunft im KL Auschwitz getötet worden sind, so geschah das nur aus Tarnungsgründen. Man wollte die Aussenwelt und die Angehörigen der deportierten Juden über deren Schicksal täuschen. Hierfür spricht eindeutig, dass die Juden aus Theresienstadt an ihre Verwandten vordatierte Karten schicken mussten, die erst nach der Vernichtungsaktion abgeschickt wurden.

Die Tötung der jüdischen Menschen aus dem KL Theresienstadt erfolgte daher ebenfalls aus niedrigen Beweggründen. Hierzu kann auf die Ausführung unter A.V.1. Bezug genommen werden. Die Tötungsart war grausam. Hier gilt das gleiche, was oben unter A.V.1. zu der Massentötung der RSHA-Juden in den Gaskammern durch Zyklon B ausgeführt worden ist.

Die ganze Vernichtungsaktion ist als eine einzige selbständige Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit anzusehen. Es war allerdings nicht zu klären, ob alle dreitausend Menschen in einer einzigen Gaskammer gleichzeitig getötet worden sind oder ob sie auf verschiedene Gaskammern verteilt oder in einer Gaskammer nacheinander getötet worden sind. Zu Gunsten des Angeklagte Baretzki musste davon ausgegangen werden, dass die Ermordung der Juden gleichzeitig in einer Gaskammer durch einmaliges Einwerfen von Zyklon B, also durch eine Willensbetätigung, erfolgt ist, weil dies die für den Angeklagten Baretzki rechtlich günstigste Möglichkeit ist. Es liegt somit Mord in einem Falle begangen in gleichartiger Tateinheit an mindestens dreitausend Menschen vor.

Der Angeklagte Baretzki hat zu diesem Mord an dreitausend Menschen im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen kausale Tatbeiträge geleistet, indem er beim Aufstellen und Formieren der für den Abtransport zu den Gaskammern bestimmten Menschen mithalf und widerstrebende Häftlinge zwang, die LKWs zu besteigen. Dadurch hat er zu dem reibungslosen Ablauf der gesamten Aktion beigetragen.

Auch in diesem Falle hat er auf Befehl seiner Vorgesetzten gehandelt, so dass §47 MStGB zur Anwendung kommt. Nach der Überzeugung des Gerichts hat er erkannt, dass die befohlene Tötung unschuldiger jüdischer Menschen verbrecherisch war und somit der ihm gegebene Befehl, dabei mitzuhelfen, ein allgemeines Verbrechen bezweckte. Denn hier war die gleiche Sachlage gegeben, wie bei der Tötung der mit RSHA-Transporten deportierten Juden.

Der Angeklagte Baretzki hat - wie sich aus der ganzen Art seiner Mithilfe von selbst ergibt - das Bewusstsein gehabt, durch seine Mitwirkung die Vernichtungsaktion zu fördern, somit einen kausalen Tatbeitrag zu dem Massenmord zu leisten. Das wollte er auch. Dies ergibt sich von selbst daraus, dass er widerstrebende Juden mit gezogener Pistole zwang, die LKWs zu besteigen. Ihn trifft daher die Strafe des Teilnehmers. Auch hier konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass er mit Täterwillen gehandelt hat. Nach den getroffenen Feststellungen hat er sich im Rahmen der gegebenen Befehle gehalten. Von irgendwelchen Exzessen gegenüber den jüdischen Menschen in diesem Falle ist nichts bekannt geworden. Im übrigen kann für die Frage seiner Willensrichtung (ob er mit Täter- oder nur mit Gehilfenwillen gehandelt hat) auf die obigen Ausführungen unter IV.1. verwiesen werden.

Somit war davon auszugehen, dass der Angeklagte Baretzki als Gehilfe die Vernichtungsaktionen fördern und unterstützen wollte. Da er gewusst hat, dass die jüdischen Menschen nur wegen ihrer Abstammung getötet werden sollten und getötet wurden, kannte er auch die Umstände, die die Beweggründe für die Tötungsaktionen als niedrig kennzeichnen. Ebenso kannte er die Umstände, die die Art ihrer Tötung als grausam kennzeichnen, da er über das Schicksal der Juden nach ihrem Abtransport Bescheid wusste. Er hat somit vorsätzlich in Kenntnis der gesamten Tatumstände in denen die Tatbestandsmerkmale des Mordes enthalten sind, Beihilfe zum Mord an dreitausend Menschen geleistet.

Irgendwelche Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe sind nicht ersichtlich. Für das Vorliegen eines wirklichen oder vermeintlichen Nötigungsnotstandes oder allgemeinen Notstandes liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Er selbst beruft sich auch nicht darauf, dass sein Wille gebeugt oder er zur Mithilfe unter Gefahr für Leib und Leben gezwungen worden sei. Hier gilt im übrigen das gleiche, was oben bereits ausgeführt worden ist.

5. Zu II.5.

Die Ertränkung der vier Häftlinge erfüllt den Tatbestand des Mordes.

Der Angeklagte Baretzki hat bewusst und gewollt den Tod dieser Häftlinge herbeigeführt. Durch das Hineinwerfen in das Wasser hat er sie zunächst in Lebensgefahr gebracht. Dann hat er sie daran gehindert, sich aus dieser Gefahr zu befreien, bis ihre Kräfte erlahmten und sie ertranken. Aus seiner Handlungsweise ergibt sich klar, dass er ihren Tod bewusst gewollt hat.

Die Tötung der vier Häftlinge war grausam. Dies bedarf kaum einer näheren Begründung. Die in das Wasser hineingeworfenen Häftlinge mussten längere Zeit um ihr Leben kämpfen. Dabei musste ihnen immer mehr klar werden, dass der Angeklagte Baretzki ihnen keine Chance zur Rettung ihres Lebens lassen wollte. Das hat sie nach der Überzeugung des Gerichts in verzweifelte Todesangst versetzt. Es bedarf keiner Frage, dass sie in dieser Situation schwere seelische Qualen auszustehen hatten. Das Bewusstsein, unschuldig auf eine solche unwürdige Art und Weise wie eine Ratte oder Maus ersäuft zu werden, hat ohne Zweifel diese Qualen erhöht.

Diese Qualen hat der Angeklagte Baretzki den Häftlingen - was sich aus der Tat selbst ergibt - aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus bereitet. Er hat sich an dem verzweifelten Kampf der Häftlinge um ihr Leben geweidet. Denn sonst wäre seine Handlungsweise nicht zu verstehen und zu erklären. Er hat nicht nur den einfachen Tod der Häftlinge gewollt, sondern hat ihnen aus unnatürlicher Freude an menschlichen Qualen einen qualvollen Tod bereiten wollen. Andernfalls hätte er sie mit der Pistole erschossen. Der Einwand der Verteidigung, dass sich der Angeklagte Baretzki "in einer heissen Wut"
oder in "wütender Erregung" befunden habe und deshalb seine Tat nicht als grausam empfunden habe, ist rechtlich unbeachtlich. Denn es kommt nicht darauf an, ob der Angeklagte Baretzki selbst die Tat als "grausam" bewertet hat. Entscheidend ist, dass er die gesamten Umstände gekannt hat, die die Art der Tötung eines Menschen als grausam kennzeichnen. Das ist nach der gesamten Sachlage der Fall. Im übrigen spricht auch die lange Dauer des Geschehens gegen eine Affekthandlung.

Da somit der Angeklagte Baretzki die vier Häftlinge vorsätzlich und grausam in Kenntnis der Tatumstände, die die Tat als grausam kennzeichnen, getötet hat, war er wegen Mordes in vier Fällen (§§211, 74 StGB) zu viermal lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

6. Zu II.6.

Die unter II.6. aufgeführten Taten des Angeklagten Baretzki sind nicht angeklagt und werden ihm durch den Eröffnungsbeschluss nicht zur Last gelegt. Nachtragsanklage ist insoweit nicht erhoben. Eine Verurteilung kann daher nicht erfolgen. Es erübrigt sich daher eine rechtliche Würdigung. Die Taten sind deswegen aufgeführt worden, weil sie Aufschluss über das allgemeine Verhalten des Angeklagten Baretzki im KL Auschwitz und seine innere Einstellung gegenüber den Häftlingen geben und zur Beurteilung seiner Persönlichkeit dienen können.

V. Hilfsbeweisanträge

Der Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Baretzki, den Josef Baretzki, den Bruder des Angeklagten Baretzki, darüber zu vernehmen, dass der Angeklagte Baretzki im November 1940 von Rumänien nach Deutschland und zwar mit seiner Schwester nach Oberschlesien umgesiedelt worden ist. war gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, da die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten Baretzki so behandelt werden können, als wären sie wahr. Das Gericht ist bei der Schilderung des Lebenslaufes des Angeklagten Baretzki von der behaupteten Tatsache ausgegangen. Der weitere Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Baretzki, den Zeugen Johann Mirbeth zum Beweise dafür zu vernehmen, dass im Frühjahr 1942 Volksdeutsche aus Rumänien und Ungarn zur Ausbildung nach Auschwitz gekommen sind und der Angeklagte Baretzki in eine Wachkompanie eingeteilt worden ist, für die der Zeuge bei der Aufstellung als Zugführer bestimmt worden war, war gemäss §244 Abs.III StPO ebenfalls abzulehnen, da die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten Baretzki so behandelt werden können, als wären sie wahr. Das Gericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte Baretzki erst im Frühjahr 1942 nach Auschwitz eingezogen und dort zunächst im Wachsturmbann eingesetzt worden ist. Der weitere Hilfsbeweisantrag des Angeklagten Baretzki, den Inhaber der Firma Michalek zum Beweis dafür zu vernehmen, dass der Angeklagte Baretzki bei der Firma Michalek bis zum Februar 1942 gearbeitet hat, war gemäss §244 Abs.III StPO ebenfalls abzulehnen, da die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen so behandelt werden können, als wären sie wahr.

Die weiteren Hilfsbeweisanträge des Angeklagten Baretzki, eine Auskunft des Einwohnermeldeamtes in Gross-Wartenberg einzuholen zum Beweis dafür, dass sich der Angeklagte Baretzki bis zum Jahre 1942 (gemeint ist offensichtlich bis zum Frühjahr 1942, da in dem obigen Hilfsbeweisantrag behauptet wird, dass Baretzki im Frühjahr 1942 nach Auschwitz gekommen sei) in Gross-Wartenberg befunden habe, und die zwei Beschuldigtenlisten der Staatsanwaltschaft (Bl.5128 und 14032 der Akten) zum Beweise dafür zu verlesen, dass ein früherer SS-Angehöriger namens Koretzky im Verdachte steht, im KL Auschwitz strafbare Handlungen begangen zu haben, sowie den Zeugen Rögner zum Beweise dafür zu vernehmen, dass dieser Zeuge nur einen SS-Mann Barecki, aber nicht den Angeklagten Baretzki gekannt habe, waren gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, da die unter Beweis gestellten Tatsachen so behandelt werden können, als wären sie wahr.

Der Hilfsbeweisantrag des Angeklagten Baretzki, den Zeugen See. zum Beweise dafür zu vernehmen, dass er in Auschwitz den Namen einer SS-Aufseherin (gemeint ist offensichtlich der Name Stiewitz) genannt bekam, jedoch bei seiner Gegenüberstellung im Jahre 1960 erklären musste, dass der ihm genannte Name nicht mit der Person identisch sei, die ihm von Auschwitz her bekannt gewesen sei, war gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, da die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen für die Entscheidung ohne Bedeutung sind. Dass allgemein die Möglichkeit von Verwechslungen bestehen kann, hat das Gericht bei der Beweiswürdigung stets berücksichtigt. Hierzu bedarf es nicht der Vernehmung des Zeugen See. Wie sich aus den Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung ergibt, hat das Gericht in einer Reihe von Fällen eine Verwechslung durch Zeugen als möglich angenommen und daher auf Grund der Aussagen dieser Zeugen, die bestimmte Angeklagte belastet haben, keine für diese Angeklagten nachteiligen Feststellungen getroffen. Soweit die Vernehmung des Zeugen See. beantragt worden sein sollte, um dessen Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen, bedurfte es seiner Vernehmung nicht, weil in der Hauptverhandlung allseits auf die Vernehmung des Zeugen verzichtet worden ist, nachdem er bereits vernommen worden war. Auf Grund seiner Aussage sind keine Feststellungen getroffen worden und das Urteil beruht in keiner Weise auf seiner Aussage.

Der weitere Hilfsbeweisantrag des Angeklagten Baretzki, ein Sachverständigengutachten darüber einzuholen, dass die auf der vom Zeugen K. überreichten Fotografie als Baretzki bezeichnete Person nicht der Angeklagte Baretzki sei, war gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, da das Beweismittel völlig ungeeignet ist. Die aufgeworfene Frage ist keine Sachverständigenfrage. Nur ein Zeuge, der damals Baretzki gekannt hat, kann beurteilen, ob die abgebildete Person identisch ist mit dem Angeklagten Baretzki im Zeitpunkt der Aufnahme der Fotografie.

Im übrigen ist es für die Entscheidung ohne Bedeutung, ob die vom Zeugen K. auf der Fotografie als Baretzki bezeichnete Person tatsächlich mit Baretzki identisch ist oder nicht. Die auf der Fotografie abgebildete Person ist nicht deutlich zu erkennen. Die Meinungen der Zeugen, die den Angeklagten Baretzki vor über 20 Jahren gekannt haben, gehen daher auseinander, ob die abgebildete Person Baretzki ist oder nicht. Auch wer heute den Angeklagten Baretzki kennt, kann nicht sicher beurteilen, ob er die auf der Fotografie abgebildete Person ist oder nicht. Wenn Zeugen behauptet haben, Baretzki sei mit der abgebildeten Person identisch, so mindert das den Wert ihrer Aussage nicht. Denn sie können sich guten Glaubens wegen der schlechten Erkennbarkeit der abgebildeten Person geirrt haben. Das schliesst jedoch nicht aus, dass sie trotzdem Baretzki damals im Lager Auschwitz gut gekannt haben.

Der weitere Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Baretzki, den Zeugen Christian Schleusinger darüber zu vernehmen, dass der Angeklagte Baretzki streng aber gerecht gewesen sei, war als unzulässig abzulehnen, weil in das Wissen des Zeugen keine Tatsachen gestellt worden sind, sondern weil der Zeuge in Wirklichkeit ein Werturteil über den Angeklagten Baretzki abgeben soll. Es ist nicht ersichtlich, auf welche Tatsachen dieses Werturteil gestützt werden soll.

Im übrigen wäre es für die Entscheidung ohne Bedeutung, wenn der Zeuge nach seiner subjektiven Auffassung den Angeklagten Baretzki als streng, aber gerecht beurteilt hat. Das schliesst nicht aus, dass der Angeklagte Baretzki - vielleicht ohne Wissen des Zeugen - die oben festgestellten Taten begangen hat.

Der Hilfsbeweisantrag des Verteidigers des Angeklagten Baretzki, ein Sachverständigengutachten zum Beweise dafür einzuholen, dass der Angeklagte auf Grund seiner heutigen Kenntnis der polnischen Sprache niemals in der Lage gewesen sein könne, die polnische Sprache so beherrscht zu haben, dass er sich in ganzen Sätzen ausdrücken konnte, die polnische Sprache also fliessend beherrschte und dadurch bei einem Polen den Eindruck erwecken konnte, dass er ein sehr gutes Polnisch sprach, war gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, weil das Beweismittel völlig ungeeignet ist. Denn ein Sachverständiger kann den Angeklagten Baretzki nicht zwingen, seine Kenntnisse der polnischen Sprache zu offenbaren. Der Angeklagte Baretzki könnte einen Sachverständigen bei einer Prüfung über seine heutigen Kenntnisse der polnischen Sprache täuschen. Eine solche Prüfung könnte daher nicht den Beweis erbringen, dass der Angeklagte Baretzki vor 20 Jahren nicht in der Lage gewesen ist, ganze Sätze in polnisch zu sprechen. Das beantragte Sachverständigengutachten könnte somit die Aussage des Zeugen Laz., dass er den Angeklagten Baretzki etliche Male gehört habe, wie er polnisch gesprochen habe, dass Baretzki wiederholt Häftlinge in der polnischen Sprache angesprochen, dass er ganze Sätze in Polnisch gesprochen und nach seiner - des Zeugen - Auffassung gut polnisch gesprochen habe, nicht widerlegen. Durch das beantragte Sachverständigengutachten kann daher die Glaubwürdigkeit des Zeugen Laz. nicht erschüttert werden. Im übrigen besagt die Aussage des Zeugen Laz. nicht, dass Baretzki die polnische Sprache in Wort und Schrift beherrscht und fliessend polnisch gesprochen hat. Es ist durchaus möglich, dass sich der Angeklagte Baretzki einige Redewendungen und Sätze in der polnischen Sprache angeeignet hatte, die er gut aussprechen konnte, so dass bei einem polnischen Zuhörer der Eindruck entstehen konnte, Baretzki spreche gut polnisch.

Schliesslich war auch der Hilfsbeweisantrag des Angeklagten Baretzki, ein Sachverständigengutachten zum Beweise dafür einzuholen, dass der Angeklagte Baretzki unter Berücksichtigung seines Herkommens, seines Charakters und seiner Stellung als Blockführer bei der Abnahme eines Appells durch das zu späte Erscheinen oder Nichterscheinen eines Häftlings derart erbost worden ist, dass er dadurch verärgert gewesen und in eine gewisse Erregung geraten ist, dass eine gewisse affektive Gemütsbewegung vorgelegen habe, gemäss §244 Abs.III StPO abzulehnen, da das angegebene Beweismittel völlig ungeeignet ist. Es war Aufgabe des Gerichts, in der Beweisaufnahme auf Grund der Zeugenaussage und der gegebenen Umstände festzustellen, ob bei dem Angeklagten Baretzki die behauptete Gemütslage gegeben war. Ein Sachverständiger, der die damaligen Vorgänge nicht miterlebt hat, kann darüber keine verbindlichen Angaben machen. Im übrigen kann es als wahr unterstellt werden, dass der Angeklagte Baretzki durch den angeordneten Strafappell, der seine Freizeit beschränkte, verärgert worden ist und in eine gewisse Erregung und gewisse affektive Gemütsbewegung geraten ist. Das hinderte den Angeklagten Baretzki nach der Überzeugung des Schwurgerichts jedoch nicht, die Tatumstände, die die Ertränkung der vier Häftlinge als "grausam" kennzeichnen, zu erkennen. Der Angeklagte Baretzki und sein Verteidiger behaupten nicht, dass seine Zurechnungsfähigkeit bei der Ertränkung der vier Häftlinge in irgendeiner Weise beeinträchtigt gewesen sei. Anhaltspunkte hierfür liegen auch nicht vor. Denn die Tötung der vier Häftlinge erfolgte erst nach zweistündigem Strafappell. Die Ertränkung selbst erstreckte sich über einen längeren Zeitraum. Die Verärgerung, "gewisse Erregung" und gewisse "affektive Gemütsbewegung" des Angeklagten Baretzki konnten daher wieder abklingen. Schliesslich spricht die Art der Tötung für eine wohlüberlegte, planmässig ausgeführte Tat. Anders wäre es, wenn Baretzki die Häftlinge erschossen hätte.

VI. Strafzumessung

Dem Angeklagten Baretzki konnte bei der Bemessung der wegen der 11 Beihilfehandlungen gegen ihn auszusprechenden zeitigen Zuchthausstrafen zugute gehalten werden, dass er zum Wachsturmbann des KL Auschwitz kommandiert worden ist, ohne entfernt zu wissen, was ihn dort erwartete und dass er bei seinen einfachen geistigen Anlagen zu einer gründlichen Beurteilung der Gesamtsituation in einer ihm völlig fremden Umgebung nicht in der Lage war und auf Befehl gehandelt hat. Zu seinen Gunsten wirkte sich auch aus, dass er sich bis zu seiner Aussiedlung in seiner Heimat unauffällig geführt hat. Zu seinen Ungunsten wurde aber gewertet, dass er die ihm im Lager übertragenen Aufgaben voller Eifer, unnachsichtig, roh und gefühllos den Häftlingen gegenüber ausgeführt hat. Er hat bei den Lagerselektionen von sich aus den Arzt auf schwache Häftlinge aufmerksam gemacht, die nach seiner Meinung ins Gas zu schicken seien. Deshalb erschien wegen der Mitwirkung bei den Lagerselektionen, wenn dabei auch die Zahl der Opfer 50 nicht überstieg, die gleiche Strafe angemessen, wie bezüglich seiner Beihilfe bei den Selektionen auf der Rampe, wo er zwar weniger Eifer zeigte, jeweils aber mit seiner Hilfe mindestens 1000 Menschen ermordet wurden. In diesen insgesamt 10 Fällen wurden Zuchthausstrafen von je 3 Jahren und 6 Monaten ausgesprochen. Bei der Vernichtung des Theresienstädter Lagers war der Tatbeitrag des Angeklagten nicht unerheblich, die Zahl der Opfer besonders hoch; es wurde deshalb für diese Tat eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren auferlegt.

Unter Berücksichtigung der angeführten Umstände wurde unter Erhöhung der Zuchthausstrafe von 5 Jahren eine Gesamtstrafe von 8 Jahren Zuchthaus gebildet.

L. Die Straftaten des Angeklagten Dr. L.

I. Der Lebenslauf des Angeklagten Dr. L.

Der Angeklagte Dr. L. ist am 15.9.1911 als Sohn eines Schlachtermeisters in Osnabrück geboren. Er besuchte vom 6. Lebensjahr an die Mittelschule in Osnabrück bis zur mittleren Reife. Dann kam er auf das humanistische Gymnasium Carolinum in Osnabrück, das er vier Jahre lang besuchte. Anschliessend wechselte er auf das Gymnasium in Meppen/Emsland über, wo ein Onkel von ihm als Schulrat tätig war. 1933 bestand er in Meppen das Abitur. Danach studierte er 4 Semester Philologie an der Universität Münster. Er gab dann das Philologie-Studium auf und begann mit dem Studium der Medizin. 1937 setzte er dieses Studium an der Universität Rostock und 1939 an der Universität in Danzig fort. 1942 legte er an der Universität in Danzig das medizinische Staatsexamen ab und promovierte im gleichen Jahr zum Doktor der Medizin.

Der Angeklagte trat im Jahre 1933 als Student der SA bei. Er machte drei Kurse auf der SA-Geländesportschule mit. Im September 1934 trat er wieder aus der SA aus. In einem am 15.2.1938 in Rostock geschriebenen handschriftlichen Lebenslauf gab der Angeklagte als Grund für diesen Austritt an, "dass der Geist vieler Angehöriger der SA-Studentenstürme in Münster" - wo Studenten nur in SA-Studentenstürmen eingegliedert wurden - "alles andere als "ideal" gewesen sei". In Rostock trat der Angeklagte am 15.11.1937 der SS bei. Im Jahre 1938 oder 1939 stellte er den Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wurde mit Wirkung vom 1.5.1937 in die Partei aufgenommen.

Nach dem Staatsexamen und der Promotion wurde der Angeklagte Dr. L. zum Sicherheitshilfsdienst (SHD) in Danzig eingezogen. Bei diesem machte der Angeklagte 6 oder 8 Wochen Dienst. Anschliessend kam er zur ärztlichen Akademie der Waffen-SS nach Graz. Dort absolvierte er einen zwei Monate dauernden Lehrgang, nach dessen Abschluss er zum SS-Hauptscharführer - was dem Unterarzt bei der Wehrmacht entspricht - befördert wurde. Gegen Ende des Jahres 1942 wurde er nach Nürnberg versetzt, wo er in einem SS-Lazarett und gleichzeitig als Truppenarzt bei einer Nachrichteneinheit der Waffen-SS eingesetzt wurde.

Der Angeklagte wurde am 20.4.1943 zum SS-Untersturmführer und am 9.11.1943 zum SS-Obersturmführer befördert.

Am 11.10.1943 wurde er von Nürnberg zu der Bewährungseinheit 500 nach Belgrad versetzt. Wie er sich einlässt, soll die Versetzung wegen defaitistischer Äusserungen, die er während eines Bierabends gemacht habe, erfolgt sein. Bei der Bewährungseinheit wurde der Angeklagte als Truppenarzt verwendet. Später sei er dann - so hat der Angeklagte weiter angegeben -, in das Nachbardorf zu einer Fallschirmjägereinheit gekommen, die sich aus der Bewährungseinheit 500 rekrutiert habe. Auch bei dieser Einheit habe er als Truppenarzt Dienst gemacht.

Am 15.12.1943 wurde der Angeklagte zum WVHA Amt D III versetzt und kam noch im Dezember 1943 in das KZ Auschwitz. In Auschwitz wurde der Angeklagte als SS-Lagerarzt in Birkenau (Zigeunerlager und Theresienstädter Lager) und als Truppenarzt im Stammlager eingesetzt. Im Verlaufe des Jahres 1944 wurde der Angeklagte nach dem KZ Mauthausen versetzt. Von dort kam er nach dem KZ Stutthof, dann nach dem Lager Ravensbrück und schliesslich in das KZ Sachsenhausen. Aus diesem entfloh er im März 1945. Er verbarg sich bei einem Norweger namens Hjort.

Nach Kriegsende gelangte der Angeklagte nach Elmshorn, wo er heute noch ansässig ist. Ein Entnazifizierungsverfahren wurde gegen den Angeklagten nicht durchgeführt. Nachdem der Angeklagte im Krankenhaus in Elmshorn zunächst als Assistenzarzt und dann als Oberarzt beschäftigt war, wurde er dort als leitender Arzt der geburtshilflichen-gynäkologischen Abteilung angestellt. Er verdiente etwa 30000 DM netto jährlich.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau besitzt der Angeklagte ein Einfamilienhaus im Werte von etwa 80000 DM. Da der Angeklagte bei seiner Einstellung an dem Stadtkrankenhaus in Elmshorn verschwiegen hatte, als SS-Lagerarzt im Konzentrationslager gewesen zu sein, wurde er nach Bekanntwerden der gegen ihn in diesem Verfahren erhobenen Anschuldigungen Anfang 1963 entlassen. Er betrieb zuletzt vor seiner Verhaftung eine Privatpraxis, ohne Zulassung für die AOK und die Ersatzkassen.

Der Angeklagte hat im Jahre 1950 geheiratet. Aus der Ehe sind 2 Kinder hervorgegangen, die noch minderjährig sind. Der Angeklagte ist im Verlauf der Hauptverhandlung am 24.3.1965 verhaftet worden. Seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft.

II. Mitwirkung des Angeklagten Dr. L. an der Massentötung jüdischer Menschen in Auschwitz (Tatsächliche Feststellungen)

Der Angeklagte Dr. L. hat als SS-Arzt bei der massenweisen Tötung der sog. RSHA-Juden (vgl. oben 2. Abschnitt VII.5. und 3. Abschnitt A.II.) mitgewirkt.

Er wurde - wie andere SS-Ärzte - vom SS-Standortarzt Dr. Wirths zum "ärztlichen Rampendienst" eingeteilt. Er hat diesen Rampendienst auch in einer unbestimmten Anzahl von Fällen versehen. Dabei hat er die Aufgaben erfüllt, die die SS-Ärzte befehlsgemäss bei der Abwicklung von RSHA-Transporten wahrzunehmen hatten: Er hat aus mindestens vier verschiedenen RSHA-Transporten, die zu verschiedenen Zeiten in Auschwitz ankamen, jeweils als einziger Arzt die jüdischen Männer und Frauen über 16 Jahren, die nicht schon vorher wegen Gebrechlichkeit und zu hohen Alters von niederen SS-Dienstgraden ausgesondert und in einer besonderen Marschkolonne aufgestellt worden waren, auf ihre Arbeitstauglichkeit gemustert und darüber entschieden, wer als arbeitsfähig in das Lager aufgenommen und wer in der Gaskammer getötet werden sollte. Bei diesen Selektionen hat er nicht mehr als 25% der angekommenen Menschen für die Aufnahme in das Lager bestimmt. Nach den Selektionen fuhr er zu einer der Gaskammern, in die die für den Tod bestimmten Menschen hineingeführt wurden. Dort gab er, nachdem die Gaskammer verriegelt worden war, den dafür eingeteilten SS-Männern des Vergasungskommandos das Zeichen zum Einschütten des Zyklon B. Während des Einschüttens überwachte er die Männer des Vergasungskommandos, um im Falle einer Vergiftung sofort eingreifen und ärztliche Hilfe geben zu können. Durch das Guckloch beobachtete er in den vier Fällen den Todeskampf der eingeschlossenen Opfer. Wenn nach seiner Meinung die Opfer tot waren, gab er das Zeichen zum Öffnen der Gaskammer. Er überzeugte sich dann von dem Tod der Opfer und gab ihre Leichen zur Verbrennung frei. Aus jedem der vier genannten RSHA-Transporte sind mindestens je tausend Menschen für den Tod bestimmt und in einer der Gaskammern getötet worden. Der Angeklagte Dr. L. wusste, dass die jüdischen Menschen nur wegen ihrer Abstammung als Angehörige einer sog. minderwertigen Rasse unschuldig getötet wurden. Er war sich auch darüber im klaren, dass er in den vier Fällen durch seine geschilderten Tätigkeiten selbst einen kausalen Beitrag zu den befohlenen Vernichtungsaktionen leistete.

III. Einlassung des Angeklagten Dr. L., Beweismittel, Beweiswürdigung

Die Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten Dr. L. beruhen auf seiner eigenen Einlassung, seinem am 15.2.1938 handschriftlich geschriebenen Lebenslauf und der für ihn ausgestellten SS-Führerkarte. Die beiden genannten Urkunden wurden durch Verlesung zum Gegenstand der Verhandlung gemacht.

Was den ihm gemachten Schuldvorwurf betrifft, hat der Angeklagte Dr. L. eingeräumt, dass er als Arzt zum Rampendienst eingeteilt worden sei. Er hat auch zugegeben, dass er während der Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe gewesen sei. Über seine Tätigkeit auf der Rampe hat jedoch seine Einlassung im Verlaufe der Hauptverhandlung gewechselt. Bei seiner ersten Einlassung zur Sache hat er angegeben, dass er ab Frühjahr 1944 nach einer von Dr. Wirths einberufenen Ärztebesprechung jeweils zusammen mit einem Zahnarzt oder Apotheker zum Rampendienst eingeteilt worden sei. Das sei durch schriftliche Dienstpläne, an deren äussere Form er sich nicht mehr erinnere, geschehen. Wenn er eingeteilt gewesen sei, habe er sich jeweils, wenn ihm die Ankunft eines RSHA-Transportes angekündigt worden sei, unter der Hand einen Kollegen als Vertreter gesucht, der dann für ihn selektiert habe. Er sei allerdings auch selbst zu der Rampe hingefahren, weil sonst der Kollege nicht hingekommen wäre. Auf der Rampe habe er jedoch nicht selektiert. Es sei dort kein Platz für zwei Personen zum Selektieren gewesen. Dr. Wirths habe dies jedoch alsbald bemerkt. Er sei "hellhörig" und "bösartig" geworden und habe ihm befohlen, allein auf die Rampe zu gehen. Allerdings habe er ihm nicht in krasser Form gedroht. Er - der Angeklagte - sei dann in vier Fällen als einziger Arzt zum Rampendienst und zur Abwicklung von RSHA-Transporten hingegangen. Aber auch in diesen vier Fällen habe er nicht selektiert. Er sei vielmehr sofort zu dem anwesenden Kommandanten des Lagers Birkenau, Kramer, hingegangen und habe ihm erklärt, er sei nicht in der Lage, Dienst zu machen, weil er Gallenkoliken habe und an einer Magen- und Darmgeschichte leide. Kramer habe sich damit zufrieden gegeben und habe für ihn die Ausmusterung der Arbeitsfähigen übernommen. Er - der Angeklagte - sei dann bei der ersten besten Gelegenheit von der Rampe verschwunden. Bei den Gaskammern sei er nie gewesen. Insgesamt sei er vielleicht zwanzigmal auf der Rampe gewesen, ohne jedoch ein einziges Mal selektiert zu haben.

In der Sitzung vom 11.3.1965 hat der Angeklagte Dr. L. seine Einlassung wie folgt geändert: Nachdem er nach Auschwitz gekommen sei und festgestellt habe, was dort vorgehe, habe er das als ein Verbrechen bezeichnet. Deswegen habe er sich mit Dr. Wirths "angelegt". Er habe sich mit Magen- und Darmkoliken zu drücken versucht. Als die Massentransporte eingesetzt hätten, sei er jedoch auch für den Rampendienst eingeteilt worden. Er habe jedoch stets erreicht, dass Kollegen für ihn den Rampendienst versehen hätten. Allerdings sei er selbst auch mit zur Rampe gegangen. Als Grund hierfür gab der Angeklagte Dr. L. nunmehr an, dass er sich davon überzeugen wollte, ob der Kollege auch tatsächlich auf die Rampe hingekommen sei. Sonst wäre "die Bombe sofort geplatzt". Auf der Rampe habe er sich jeweils nur wenige Minuten aufgehalten. Schliesslich sei Dr. Wirths "hellhörig" geworden. Er habe ihn zum Rampendienst befohlen. Auf der Rampe habe er sich dann an den Kommandanten Kramer gewandt und habe Magen- und Darmkoliken vorgeschützt, weswegen er nicht selbst selektieren könne. Kramer habe ihn aber angefahren. Er habe geäussert, er sei über ihn - Dr. L. - bestens orientiert. Er wisse, dass er - Dr. L. - schon ein Verfahren wegen Häftlingsbegünstigung gehabt habe. Er - Kramer - gebe ihm den Befehl, sich an den Selektionen zu beteiligen, andernfalls lasse er ihn sofort abführen. Er - Dr. L. - habe dann vier- bis fünfmal selbst die jüdischen Menschen auf ihre Arbeitstauglichkeit überprüft, Kramer habe währenddessen hinter ihm gestanden. Als er - Dr. L. - viele Häftlinge, die gar nicht mehr arbeitsfähig gewesen seien, zu den Arbeitsfähigen gestellt und so vor dem Tode bewahrt habe, habe Kramer "getobt" und habe sie wieder zurück zu den für den Tod bestimmten Menschen geschickt. In den vier bis fünf Fällen sei noch ein zweiter Arzt dabeigewesen. Er wisse jedoch nicht mehr, ob dieser auch selektiert habe. Zu den Gaskammern sei er in den vier bis fünf Fällen nicht hingefahren.

Wenn er sich zu Beginn des Prozesses anders eingelassen habe, so deswegen, weil er keine Zeugen für seine jetzige Darstellung gehabt habe und gefürchtet habe, in Untersuchungshaft genommen zu werden.

Das Schwurgericht hat dem Angeklagten Dr. L. nicht geglaubt, dass er stets von Kollegen den Selektionsdienst hat übernehmen lassen, wenn er zum Rampendienst eingeteilt worden ist. Es hat ihm auch nicht abgenommen, dass er von Kramer zum Selektieren in der geschilderten Weise gezwungen worden ist. Nach der Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte Dr. L. den angeblichen Zusammenstoss mit Kramer erfunden, um eine Notstandssituation zu konstruieren, weil er sich nach der durchgeführten Beweisaufnahme sagen musste, dass ihm seine ursprüngliche Einlassung, Kramer habe für ihn den Selektionsdienst übernommen, er selbst habe nie selektiert, vom Gericht nicht abgenommen werden würde.

Was die Übernahme des Selektionsdienstes durch Kollegen anbetrifft, so erscheint es zwar an sich nicht unglaubhaft, dass sich Arztkollegen gegenseitig im befohlenen Dienst vertreten haben oder, dass ein Arzt aus Gefälligkeit gegenüber einem Kollegen dessen Funktionen übernommen hat. Ein einleuchtender Grund dafür, dass Dr. L. es aber noch für notwendig gehalten haben soll, auch selbst zur Abwicklung von RSHA-Transporten auf die Rampe hinzugehen, wenn er - wie behauptet - schon vor dem Eintreffen eines RSHA-Transportes einen Kollegen für die Übernahme des Selektionsdienstes gewonnen hatte, ist jedoch nicht ersichtlich. Denn wenn sich tatsächlich ein Kollege vor Ankunft des Transportes aus Gefälligkeit für die Übernahme des Selektionsdienstes bereit erklärt und dem Angeklagten Dr. L. das Versprechen gegeben hatte, freiwillig seine Funktion zu übernehmen, hätte Dr. L. keine Veranlassung mehr gehabt, auch selbst noch zum Rampendienst hinzugehen.

Der Angeklagte Dr. L. hat auch keine überzeugende Begründung für die Notwendigkeit seines Erscheinens auf der Rampe trotz der angeblichen Übernahme des Selektionsdienstes durch einen Kollegen geben können. Er hat insoweit zu verschiedenen Zeiten zwei verschiedene Erklärungen gegeben. Bei seiner ersten Einlassung zur Sache hat er auf Befragen erklärt, dass er selbst auch zur Rampe hätte gehen müssen, "weil sonst der Kollege, der ihn vertreten sollte, auch nicht hingegangen wäre". Damit hat er die Notwendigkeit seines eigenen Erscheinens auf der Rampe mit einer erforderlichen psychischen Unterstützung des Kollegen begründet. Diese Begründung vermag jedoch nicht zu überzeugen. Denn es erscheint abwegig, dass ein Kollege für einen Selektionsdienst, den er freiwillig zu übernehmen bereit war, noch der psychischen Unterstützung dessen, den er vertreten wollte, bedurft hätte, zumal der Vertretene auf der Rampe selbst nichts getan haben will.

Diese Begründung hat der Angeklagte Dr. L. bei seiner Einlassung am 11.3.1965 auch nicht mehr wiederholt. In dieser Sitzung hat er auf die Frage, warum er überhaupt noch selbst auf die Rampe hingegangen sei, wenn ihm bereits vor der Ankunft eines RSHA-Transportes ein Kollege die Übernahme des Selektionsdienstes versprochen hatte, erklärt, dies sei geschehen, weil er sich davon habe überzeugen wollen, ob der Kollege auch tatsächlich auf die Rampe hingekommen sei. "Sonst wäre die Bombe gleich geplatzt." Auch diese Begründung, die von der bei der ersten Einlassung gegebenen Erklärung erheblich abweicht, vermag nicht zu überzeugen. Denn normalerweise wird man davon ausgehen können, dass sich ein Arzt darauf verlassen wird, dass ein Kollege ein gegebenes Versprechen hält und dass es einer Kontrolle insoweit nicht bedarf. Hiervon abgesehen, spricht aber schon allein die Tatsache, dass Dr. L. zu verschiedenen Zeiten zwei verschiedene Begründungen dafür gegeben hat, warum er trotz der Übernahme des Selektionsdienstes durch Kollegen noch selbst zur Rampe gegangen ist, eindeutig dafür, dass seine gesamte Einlassung insoweit eine Schutzbehauptung und unglaubhaft ist. Unterstützt wird diese Auffassung des Gerichts noch durch die Überlegung, dass damals, zur Zeit der Ungarn-Transporte, täglich mindestens ein Transport, manchmal auch zwei oder mehr, angekommen sind. Alle Ärzte waren durch den Selektionsdienst überlastet. Deswegen hatte der Standortarzt Dr. Wirths auch angeordnet, dass die Zahnärzte und Apotheker zum Rampendienst mit heranzuziehen seien. Bei dieser Überlastung der Ärzte durch Selektionsdienst erscheint es unwahrscheinlich, dass Dr. L. stets einen Kollegen gefunden haben soll, der trotz eigener Überlastung mit Selektionsdienst auch noch zusätzlich für einen anderen Dienst gemacht haben soll.

Schliesslich ist diese Einlassung des Angeklagten Dr. L. auch noch aus folgenden Gründen unglaubhaft: Der ehemalige Kollege des Angeklagten Dr. L., der SS-Obersturmführer Dr. Fritz Klein, der ebenfalls als SS-Lagerarzt im KL Auschwitz tätig gewesen ist, hat in dem gegen ihn durchgeführten sog. Bergen-Belsen-Prozess auch Angaben über seine und seiner Kollegen Tätigkeit in Auschwitz gemacht. Die Abschrift eines Auszuges aus dem Protokoll über seine Vernehmung in dem Bergen-Belsen-Prozess ist gemäss §251 StPO verlesen worden, da der Zeuge Dr. Klein inzwischen hingerichtet worden ist. Das Gericht hat keine Zweifel, dass die Abschrift mit der Urschrift des Vernehmungsprotokolls übereinstimmt. Dr. Klein hat bei seiner Vernehmung im Bergen-Belsen-Prozess - wie sich aus dem Auszug aus dem Protokoll ergibt - die in Auschwitz tätigen SS-Ärzte angeführt. Dabei hat er auch den Namen des Dr. L. genannt. Über die Selektionen der RSHA-Transporte hat sich Dr. Klein wie folgt geäussert:

Wenn Transporte in Auschwitz ankamen, war es Aufgabe der Ärzte, diejenigen herauszusuchen, die zur Arbeit ungeeignet oder unfähig waren. Das betraf auch Kinder, alte Leute und Kranke. Ich habe die Gaskammern und Krematorien in Auschwitz gesehen, habe gewusst, dass diejenigen, die ich aussortierte, in die Gaskammern mussten .... Alle Befehle wurden mir mündlich übermittelt. Alle Ärzte, die ich vorher erwähnt habe, haben an diesen Aussortierungen teilgenommen .... Nach den Angaben des Dr. Klein hat somit auch der Angeklagte Dr. L. an den Aussortierungen teilgenommen. Es ist nicht anzunehmen, dass Dr. Klein den Angeklagten Dr. L. belastet hätte, wenn dieser stets einen Kollegen für die Übernahme des Rampendienstes gewonnen und nur in vier bis fünf Fällen unter Zwang selektiert hätte. Die Aussage des Dr. Klein spricht vielmehr dafür, dass Dr. L. - wie alle anderen eingeteilten Ärzte - befehlsgemäss den Rampendienst versehen hat.

Ferner hat der Zeuge Dr. Loeb., der selbst als Häftlingsarzt in Auschwitz gewesen ist, in der Hauptverhandlung erklärt, er wisse zwar heute nicht mehr, ob er den Angeklagten Dr. L. im KL Auschwitz gekannt habe. Unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem Lager habe er jedoch den Namen des Dr. L. auf eine Liste der Hauptkriegsverbrecher gesetzt, die er im Jahre 1945 den Russen übergeben habe. Das ersehe er aus seinen Aufzeichnungen, die er sich unmittelbar nach der Befreiung angefertigt habe. Heute wisse er nicht mehr, warum er den Dr. L. auf die Hauptkriegsverbrecherliste gesetzt habe. Auch wenn Dr. Loeb. heute den Grund hierfür nicht mehr weiss, ist doch die Tatsache, dass er bereits 1945 den Dr. L. auf die Liste der Hauptkriegsverbrecher gesetzt hat, ein weiteres Indiz dafür, dass Dr. L. regelmässig an den befohlenen Selektionen teilgenommen haben muss. Denn auf Grund der Beweisaufnahme kann davon ausgegangen werden, dass sich Dr. L. im Lager den Häftlingen gegenüber anständig und hilfsbereit verhalten und alles getan hat, um ihr Los zu erleichtern, wie später noch auszuführen sein wird. Wegen irgendwelcher Vergehen oder Verbrechen im Lager kann Dr. Loeb. ihn daher nicht auf die Kriegsverbrecherliste gesetzt haben. Das kann sich vielmehr nur auf den Selektionsdienst nach der Ankunft von RSHA-Transporten beziehen. Andererseits wäre nicht zu verstehen, warum Dr. Loeb. den Angeklagten Dr. L. bereits im Jahre 1945 als Hauptkriegsverbrecher bezeichnet haben soll, wenn Dr. L. für den Selektionsdienst stets einen Vertreter bekommen hätte und allenfalls vier- bis fünfmal unter Zwang selektiert hätte.

Schliesslich hat der Angeklagte Baretzki im Anschluss an die Einlassung des Angeklagten Dr. L. am 11.3.1965 glaubhaft erklärt, dass Dr. L. während der ganzen Zeit der ungarischen Transporte im Sommer 1944 Dienst auf der Rampe gemacht hat. Er - Baretzki - habe nie bemerkt, dass Kramer ihn oder irgendeinen anderen Arzt zum Selektionsdienst gezwungen hätte.

Aus all diesen Gründen erscheint die Behauptung des Angeklagten Dr. L., er habe stets einen Vertreter für den Selektionsdienst gewonnen, wenn er zum Rampendienst eingeteilt gewesen sei, unglaubhaft. Das Gericht ist überzeugt, dass er, wenn er zum Rampendienst eingeteilt war, auch befehlsgemäss den Selektionsdienst gemacht hat.

Auch der angebliche Zusammenstoss zwischen dem Angeklagten Dr. L. und dem Lagerkommandanten von Birkenau, Kramer, auf der Rampe ist nicht glaubhaft. Auch hiergegen sprechen die Angaben des hingerichteten Dr. Klein, die Tatsache, dass Dr. Loeb. bereits im Jahre 1945 den Angeklagten Dr. L. auf die Liste der Hauptkriegsverbrecher gesetzt hat und schliesslich die Aussage des Angeklagten Baretzki, dass Dr. L. während der gesamten Zeit der Ungarn-Transporte Rampendienst gemacht hat.

Die von dem Angeklagten Dr. L. in der Sitzung vom 11.3.1965 gegebene Darstellung über den angeblichen Zusammenstoss mit Kramer, die in Widerspruch zu der ersten Darstellung des Angeklagten über das Verhalten Kramers auf der Rampe steht und diese ausschliesst und schon deswegen Misstrauen an der Wahrheitsliebe des Angeklagten Dr. L. wecken muss, erscheint aber noch aus folgenden Gründen unglaubhaft:

Der SS-Hauptsturmführer Kramer wurde gemäss Verfügung des Chefs des Personalamtes beim WVHA vom 9.5.1944 - wie sich aus dem verlesenen Kommandanturbefehl Nr.4/44 des KL Natzweiler vom 18.5.1944 ergibt - erst im Mai 1944 von dem KL Natzweiler zum KL Birkenau als Kommandant versetzt. Zu dieser Zeit war der Angeklagte Dr. L. - nach seiner eigenen Einlassung - nicht mehr als SS-Lagerarzt in Birkenau tätig. Er war bereits wieder nach Auschwitz zurückversetzt und dort als Truppenarzt eingesetzt worden. Mit Kramer hatte er also überhaupt nichts zu tun. Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass Kramer den Angeklagten Dr. L. überhaupt näher gekannt hat. Nach der letzten Einlassung des Angeklagten Dr. L. hat Kramer angeblich auf ein gegen ihn - Dr. L. - gerichtet gewesenes Verfahren wegen Häftlingsbegünstigung angespielt und dabei erklärt, er sei bestens über ihn orientiert. Dieses Verfahren lag jedoch nach der Einlassung des Angeklagten Dr. L. bereits einige Zeit zurück. Der ihm zugrunde liegende Vorfall hatte sich bereits lange vor der Versetzung des Kommandanten Kramer nach Birkenau abgespielt.

Nach der Darstellung des Angeklagten Dr. L. hatte er im März 1944 einen Kapo, der durch eine Misshandlung eine Netzhautablösung erhalten hatte, vom Lager Birkenau zum Stammlager in den HKB in einem PKW gebracht. Deswegen hatte ihn - so hat er angegeben - der damalige Lagerkommandant von Birkenau, Hartjenstein, gemeldet. Hartjenstein hatte beanstandet, dass er sich nicht von ihm abgemeldet habe. Der Standortarzt Dr. Wirths habe ihm deswegen - so hat Dr. L. weiter erklärt - Vorwürfe gemacht und ihn verwarnt. Er habe ihn wegen des Vorfalls als Lagerarzt in Birkenau abgelöst und ihn als Truppenarzt beim Stammlager eingesetzt.

Aus dieser Darstellung des Angeklagten Dr. L. ergibt sich, dass Dr. Wirths den Fall durch eine Versetzung unter der Hand erledigt hat. Er hat ihn aus dem Bereich des Lagerkommandanten Hartjenstein weggeholt, offensichtlich um die Möglichkeit weiterer Schwierigkeiten zwischen Hartjenstein und Dr. L. auszuschalten. Für ein kriegsgerichtliches Verfahren haben sich keine Anhaltspunkte ergeben. Weder der Angeklagte Höcker, der im Mai 1944 als Adjutant nach Auschwitz gekommen ist und gleichzeitig Personalsachbearbeiter wurde, noch ein anderer Angeklagter hat von einem solchen Verfahren irgendetwas gewusst. Nur der Angeklagte Boger hat erklärt, dass Dr. L. einmal wegen Häftlingsbegünstigung "angeschwärzt" worden sei. Von einem offiziellen Verfahren wegen Häftlingsbegünstigung wusste er jedoch nichts. Es entsprach auch der Einstellung des Standortarztes Dr. Wirths, was der Zeuge Dr. M. bestätigt hat, offizielle Verfahren gegen die ihm unterstehenden Ärzte "abzubiegen" und ohne Aufsehen zu erledigen.

Als Kramer nach Birkenau kam, war somit dieser Fall der angeblichen Häftlingsbegünstigung längst abgeschlossen. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Kramer dem Angeklagten Dr. L., den er bis dahin kaum gekannt haben kann, den etwa zwei Monate zurückliegenden Fall, mit dem er gar nichts zu tun hatte, vorgehalten haben soll. Es fragt sich, wer ihm hiervon überhaupt berichtet haben soll. Dass dies Dr. Wirths getan haben soll, erscheint unwahrscheinlich. Denn sein Bestreben war es gewesen - wie die Versetzung des Dr. L. zeigt -, den Fall ohne Aufsehen zu erledigen und weitere Reibereien zwischen dem ihm unterstellten Arzt und dem Kommandanten von Birkenau auszuschalten. Unwahrscheinlich erscheint auch, dass Kramer als Hauptsturmführer den im Rang nur geringfügig unter ihm stehenden Obersturmführer Dr. L. mit Verhaftung und Abführung gedroht haben soll. Denn Dr. L. unterstand ihm als Arzt weder sachlich noch disziplinär. Der unmittelbare Vorgesetzte des Angeklagten Dr. L., von dem er seine Weisungen und Befehle erhielt, war der Standortarzt Dr. Wirths. Dieser war vom Kommandanten in Birkenau völlig unabhängig. Er unterstand sachlich dem WVHA, Amt D III. Kramer musste befürchten, bei einer eigenmächtigen Verhaftung des Angeklagten Dr. L. in Konflikt mit Dr. Wirths und event. dem WVHA - Amt D III zu kommen, da er dadurch in dessen Kompetenzen eingegriffen hätte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er allenfalls eine Meldung an Dr. Wirths über den Angeklagten Dr. L. gemacht, wenn sich dieser - nach seiner Meinung - disziplinwidrig oder ungehorsam gegen Befehle des Standortarztes gezeigt hätte. Denn auch der frühere Kommandant Hartjenstein hatte den Angeklagten Dr. L. nicht unmittelbar wegen der angeblichen Häftlingsbegünstigung zur Rede gestellt, sondern hatte den Fall nur gemeldet und deren Erledigu