Vorwort

Wenn erst der Begriff
anders Wurzel gefasst hat,
wird all das Unfassbare möglich.

Slavenka Drakulic, Balkan Express, 1992


Dies ist die Geschichte von dem komplizierten Process, der zu einem Völkermord führte.

Sie handelt von Menschen, weil es Menschen sind, die andere Menschen umbringen - oder sie umbringen lassen. Und es sind Menschen, die verhindern sollen, dass Mord und Völkermord überhaupt stattfinden können.

Das Buch beschreibt die Faktoren und mentale Strukturen, die einen bestimmten Völkermord auslösten: Die Vernichtung der Juden Europas während des Zweiten Weltkrieges. Sein Thema ist damit sehr konkret, aber sein Ziel ist generell, weil viele der Verhältnisse, die es enthüllt, leider nicht als spezifisch für den Prozess, der zu Holocaust führte, gelten können.

Menschen handeln aus ihren Bildern von anderen Menschen heraus, und andere Völkermord in unserem Jahrhundert demonstrieren mit unbehaglicher Deutlichkeit, wie es für zynische Machthaber möglich ist, Feindbilder zu schaffen, die in der Lage sind, Menschen von der Notwendigkeit von Krieg und Mord zu überzeugen - nur weil die Ermorderten anders sind.

Es war Adolf Hitler, der die Entscheidung zum Mord an das europäischen Judentum traf, aber er hat nie selbst einen Juden erschossen. Er überliess es anderen, die wiederum es anderen überliessen. Das Verbrechen wurde mit der Religion gerechtfertigt, die mit Ausgangspunkt im Führer-Mythus geschaffen wurde.

Der Führer war Psychopat, aber dennoch gelang es ihm die Welt so zu inszenieren, dass die Wirklichkeit allmählich seiner eigenen Weltanschauung entsprach. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass dies möglich war, war die Verankerung des Antisemitismus in der europäischen Kultur; eine andere, ebenso wichtige Voraussetzung war das Trauma des verlorenen Ersten Weltkrieges, das er gemeinsam mit den übrigen Mitglieder der deutschen Gesellschaft hatte.

Eine dritte, zentrale Voraussetzung war der Charakter vom persönlichen Trauma Adolf Hitlers, das ihn zu glauben ermöglichte, dass die Vorsehung ihn dazu erwählt hatte, eine neue Gesellschaft auf den Ruinen derjenige zu gründen, die mit dem Fall des Kaiserreiches zusammengestürtzt worden war; eine vierte Voraussetzung war seine persönliche Fähigkeiten, andere mit seiner Botschaft zu faszinieren, damit schliesslich die ganze deutsche Bevölkerung daran glaubte.

Das Buch erhellt die Art und Weise, wie es Adolf Hitler gelang, seine eigene, innere Bilder zu inneren Bilder bei anderen zu übertragen. Es hebt insbesondere die Bedeutung von kulturellen Normen sowie die gesellschaftliche Kommunikation hervor, ebenso wie es erhellt die Produktion von Symbolen, Ritualen und Wirklichkeit, eine Kommunikation zwischen Menschen immer ausdrückt.

Das Verhältnis eines jeden Menschen zum Aussenwelt ist durch die Auffassung von dieser geschaffen worden, die durch frühere Erfahrungen im Leben gebildet worden sind - und jedes Mensch versucht laufend eine Bestätigung dieser Auffassung zu erzielen.

Genau dasselbe trifft für Adolf Hitler zu, der seine Weltanschauung aufgrund stark gefühlsorientierter - besonders visueller - Wahrnehmung der umgebenden Gesellschaft aufbaute. Sein Narszissimus war der Ausgangspunkt einer Traumwelt, deren Strukturen und Idealen aus der Welt der visuellen Kunst, der Oper und des Filmes herstammten - eine Traumwelt, die ihm ermöglichte, die Realitäten der Wirklichkeit zu verdrängen. Der Führer des Dritten Reiches betrachtete sich selbst als Künstler im Stile seiner beiden Vorbilder, Richard Wagner und Franz von Stuck, und er übernahm deren Gedanken zum Gesamtkunstwerk.

Es war Adolf Hitlers traumatisches Erlebnis in Pasewalk am 10. November 1918, das diese Elemente zu der Einheit zusammenzimmerte, die er in seiner privaten Bibel, Mein Kampf, formulierte. Es war das Drehbuch für das Gesamtkunstwerk, das er während des Rest seines Lebens zu gestalten versuchte. Es war ein Mythus, aber mit seinen eigenen Augen konnte der Führer die ganze Zeit erleben, wie der Mythos allmählich von der Welt der Wirklichkeit bestätigt wurde.

Das Buch beschreibt den Prozess, wo die Person Adolf Hitler langsam, aber sicher verschwindet und durch den Führer-Mythos ersetzt wurde, der im Bewusstsein bei denjenigen geschaffen wurde, die ihm folgten. Und es analysiert insbesondere, wie der Hitler-Mythos zwei aktive Körperteile in Joseph Goebbels und Heinrich Himmler bekam.

Es waren diese bei Männer, die zusammen mit Reinhard Heydrich die nazistische Mischung von Faszination und Terror schafften, die den Mord an Millionen von Menschen auslösten. Der Propagandaminister Joseph Goebbels produzierte den Film Der ewige Jude, der Adolf Hitler davon überzeugte, dass er eine Entscheidung treffen musste - und Heinrich Himmler bekam vom Führer die Verantwortung für die Ausführung der Entscheidung übertragen.

Holocaust ist zu einem Trauma für unsere Zivilisation geworden, wozu wir als Menschen gezwungen worden sind, uns zu verhalten. Um dies zu tun - und als ein Teil des Versuches zu verhindern, dass ähnliches noch einmal stattfindet - ist es aber von zwingender Notwendigkeit, den Prozess, der zu Holocaust führte, genau zu rekonstruieren.

Die hier durchgeführte Rekonstruktion führt zu zwei ganz bestimmten Tage als entscheidend für die Entschlussbildung:

Der 1. Juni 1940 als der Tag für Hitlers entgültige Entscheidung der Vernichtung der europäischen Juden

und

der 22. Juni 1940 als der Tag seines mündlichen Befehls an Heinrich Himmler.

Das Buch unterscheidet sich dadurch markant von den meisten anderen Darstellungen des Holocaustes. Aufgrund eines umfassenden schriftlichen Quellenmaterials weisen diese Werke in der Regel auf 1941 als das entscheidende Jahr hin, heben allerdings auch die grosse Unsicherheit hervor, die mit der Interpretation der überlieferten Quellenmaterial verbunden ist, weil viele Befehle

nur mündlich gegeben wurden und nie auf Papier festgehalten wurden. Hinzu kommt die bewusste Vernebelung der Sprache in zentralen Aktstücken, die es überhaupt schwierig macht, zu einer eindeutigen Interpretation zu kommen.

Das Hauptargument für die Aufstellung einer anderen Chronologie mit dem Sommer 1940 als Zeitpunkt eines klaren Hitler-Befehls ist der Propagandafilm Der ewige Jude, dessen Endversion in einem intimen Zusammenspiel zwischen Adolf Hitler und Joseph Goebbels festgelegt wurde. Der Film und seine Genesis können am besten als ein Röntgenbild der Entschlussbildung charakterisiert werden.

Die bewusste Gegenüberstellung im Ewigen Juden von rituellen jüdischen Schächtungen und Hitlers Prophezeihung vom 30. Januar 1939, dass ein neuer Krieg die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa bedeuten würde, kann nur als eine gezielte Aufforderung zu - und Legitimation von - Holocaust verstanden werdem. Deswegen muss der Film auch als die Veröffentlichung des Todesbefehls gesehen werden.

Sowohl Adolf Hitler als auch Joseph Goebbels waren nachweislich stark gefühlsmässig beeinflusst vom Filmmedium. Deswegen waren sich beide die Bedeutung dieses Massenmedium - sowie anderer Propagandamedien - ausserordentlich bewusst und verwendete es als politisches Instrument gegenüber der Gesellschaft.

Die schriftlichen Quellen zur Genesis des Propagandafilmes Der ewige Jude belegen eindeutig, dass dies nicht anders war bei diesem Kernpunkt ihrer Weltanschauung. Und die zur selben Zeit emotionale und zynische Art und Weise, womit sie ihr privates Feindbild im wirklichkeitsnahen Filmmedium produzierte, entspricht unheimlich genau der Art und Weise, wie der Völkermord im ehemaligen Jugoslawien mit Hilfe von Fernsehen und Video inszeniert wurde.

Deswegen kann das Unffassbare noch einmal passieren.