Es ist ein Glück für Regierungen,
dass die Menschen nicht selbst denken
Adolf Hitler
(Zitat zurückübersetzt aus Dänisch)
Die Normalität des Bösen
Wie konnte es geschehen? Wie konnte es einen einzigen Mann, Adolf Hitler, gelingen, eine ganze Welt nach seiner privaten Weltanschauung zu inszenieren mit Tod und Zerstörung als Folge? Wie und warum liessen sich so viele Millionen sich von seinem göttlichen Status überzeugen, dass sie bereit waren, sowohl ihr eigenes Leben als auch das Leben anderer Menschen für diese Glaube zu opfern?
Der Führer beging Selbstmord am 30. April 1945 damit, seine Religion - der Führer-Mythus - weiterleben konnte. Zu diesem Zeitpunkt war es ihm gelungen, sein privates Kriegstrauma zu einem kollektiven Trauma der ganzen Welt zu verwandeln. Er hatte die Schattenseite der modernen, industrialisierten Massengesellschaft demonstriert und ein Erbe hinterlassen, das gar das Mensch-Sein und die Menschenwürde innerhalb unserer kulturellen Tradition und Zivilisation in Frage stellte. Das Erbe war das Erkenntnis und das Bewusstsein darüber, dass es möglich gewesen war, den systematischen Völkermord an das europäische Judentum zu begehen.
In einem Versuch dieses Trauma zu bearbeiten beschloss die Weltöffentlichkeit in 1948 eine Konvention mit dem Ziel, neue Völkermord zu verhindern. Dennoch wird noch heute Krieg gegen Bevölkerungsgruppen geführt, die aus der Sicht der jeweiligen Machthabern nicht zu ihrer Gesellschaft gehören. Diese Kriege haben oft den Charakter von Völkermord, weil das 20. Jahrhundert sich zum Jahrhundert des Völkermordes und des totalen Krieges entwickelt hat, wo Kriege nicht länger zwischen professionellen Soldaten allein ausgetragen werden, aber sich immer mehr gegen die zivile Bevölkerung richten, die von den Machthabern als den Feind bezeichnet wird.
Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der Medien genannt worden. Es ist besonders das Jahrhundert der visuellen Medien - das Jahrhundert der Augen. Mit unseren eigenen Augen können wir das sehen und folgen, was andere sehen. Wir können die selben Bilder sehen, die andere sehen - oder wünschen, dass wir sehen. Die Bilder können beim Einzelnen Freude oder Angst auslösen, weil unsere Seheindrücke entscheidenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Welt ausüben, in der wir leben und handeln.
Dies ist der Schlüssel zum Erkenntnis dazu, wie es Adolf Hitler gelang, seinen persönlichen, traumatischen Hass zu Juden in einem systematischen Massenmord zu transferieren, der von anderen begangen wurde. Es war mit seinen Augen, dass der Führer seine Nächsten zum Glauben an seine selbstaufgetragene Rolle als Erlöser einer Nation faszinierte - und es war mit seinen Augen, dass er von der Aussenwelt Bestätigung auf Bestätigung darauf erlebte, dass er Recht in seiner Weltanschauung haben müsste. Und es war das Wiedererleben durch Fotos und Film, das den Führer-Mythus bei Hitler zusammenzimmerte - und bei denjenigen, die ihm folgten.
Es war insbesondere die Fähigkeit des Filmmediums, die Welt der Wirklichkeit zu produzieren und zu reproduzieren, die dazu führte, dass sein privater Hass zu Juden von seinem inneren Bewusstsein zu aktiver Massenvernichtung im Dritten Reich überführt wurde. Es war die "wirklichkeitsnahe" Reproduktion seines privaten Feindbildes von Juden, die Holocaust gerechtfertigte und Auschwitz zu einer Notwendigkeit machte, falls sein Reich als sein Gesamtkunstwerk überleben sollte. Und es war die Kombination von Führer-Mythus und diese Produktion von "Wirklichkeit", die die genozide Mentalität schuf, die den Henker und anderen ermöglichten, daran zu glauben, dass sie etwas Gutes täten, wenn sie töten.
Die nazistische Propaganda aktivierte vorhandene Feindbilder und Traumen in der Bevölkerung - und die Angst vor den Wirkungen antisemitischer Propaganda ist immer noch vorhanden in der heutigen Bundesrepublik. Weder Der ewige Jude noch Jud Süss dürfen öffentlich gezeigt werden, und höchstens drei Minuten dürfen in Fernsehdokumentationen verwendet werden*.
Um ein Trauma bearbeiten zu können ist es aber notwendig, es in allen seinen unbehaglichen Schattierungen zu kennen und offen zu diskutieren, damit es möglich ist, eine Abwegung zwischen den menschlichen Strukturen allgemeiner Art und der konkreten, historischen Situation, die es auslöste, vornehmen zu können. Ansonsten lebt es weiter als ein Mythus, das wieder auftauchen wird, wenn zynische Politiker es als Mittel in ihrem Kampf und Macht einsetzen.
Die Parallelle zwischen Holocaust und dem Völkermord in Jugoslavien ist deprimeriend für alle diejenigen, die gehofft hatten, dass unsere Zivilisation aus dem nazistischen Völkermord gelernt hatte. Es waren die Medien im ehemaligen Jugoslawien, die die genozide Mentalität bei der dortigen Bevölkerungsgruppen schuf - oder wenigstens aktivierte. Insbesondere war es das Fernsehen, das die uralte ethnische Feindschaft zwischen den verschiedenen Seiten tematisierte - darunter speziell das unter Tito verdrängte Trauma der Grausamkeiten, die von den kroatischen Ustachis und den serbischen Tjetniks während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden.
In ähnlicher Weise war es in Deutschland der 20'er und 30'er Jahren das unbearbeitete Trauma des verlorenen Ersten Weltkrieges mit den vielen Gefallenen, die zusammen mit dem traditionellem Feindbild der Juden den Resonanzboden zu Hitlers privaten Krieg gegen die Juden bildete.
Es ist der Weltöffentlichkeit nicht gelungen, bewaffnete Konflikte abzuschaffen. Der Kampf um Ressourcen löst immer noch Kriege aus; Kriege neue persönliche und kollektive Traumen, die von Politikern zur Auslösung neuer Kriege aktiviert werden können. Wir haben mit anderen Worten nicht aus dem Holocaust gelernt - und können es möglicherweise auch nicht, weil persönliche Emotionen desöfteren stärker als Vernuft wirken.
Die moderne Kriegsführung ist industrialisiert geworden, und dieses Industrialisierung hilft bei der Entfernung der Verantwortung beim Töten bei dem einzelnen Soldat mit. Gleichzeitig hat das durch Medien geschaffene Bild vom Feind, mit dessen Tötung er beauftragt worden ist, an Bedeutung gewonnen, was wiederum auch dazu beiträgt, die Verantwortung beim Einzelnen zu vernebelen. Es ist ganz einfach leichter für denjenigen geworden, der abknallt.
Diese Kehrseite der modernen Massengesellschaft kommt ganz deutlich zum Ausdruck, wenn man den komplizierten Process betrachtet, der zu Holocaust führte. Der Verlauf deutet darauf hin, dass die eigentliche Verantwortung - falls man überhaupt davon sprechen kann - bei Joseph Goebbels liegt, der die Schwelle zum Völkermord am 16. Oktober 1939 überschritt, als er die Schlachtszenen ansah, die er für sein "Filmdokument" selbst befohlen hatte. Danach drängte der radikale Antisemit auf den Führer ein, damit dieser die Konsequenz seiner Weltanschauung ziehen sollte. Der Propagandaminister war nur Ratgeber, nicht Entcheidungsträger, obwohl er mit seinen Taten überhaupt sehr stark politische Entscheidungen auf dem Gebiet der Judenpolitik hervorprovozierte.
Adolf Hitler war der eigentliche Entscheidungsträger, weil er letztens derjenige war, der den Propagandafilm Der ewige Jude zur öffentlichen Vorführung freigab. Der Führer benötigte allerdings weitere Bestätigungen seiner eigenen Rolle als Führer, ehe er die bewusste Entscheidung tatsächlich traf. Als er die konkrete Ausführung des Völkermordes an Heinrich Himmler übertrug, vernebelte er sofort seine eigene Verantwortung allen anderen gegenüber. Nach aussen hin sollte es nicht so aussehen, als ob die Person Adolf Hitler die Entscheidung getroffen hatte. Die Realisierung des Völkermordes sollte dagegen als eine nochmalige Bestätigung der "Vorsehung" seines göttlichen Status aussehen.
Alles deutet darauf hin, dass Heinrich Himmler die Verantwortung für den gestellten Auftrag mit sehr gemischten Gefühlen entgegennahm. Der Reichsführer-SS sah es als "ungemanisch" an, ganze Völker zu vernichten, übernahm dennoch die Aufgabe, weil er seinen Eid an Hitler als Führer höher als seine innere, moralische Stimme wertete. Dafür war sein Preis, um es zu tun, so hoch, wie es im Dritten Reich überhaupt sein könnte: Heinrich Himmler bekam die Versprechung auf den staatstragenden Führer-Mythos nach dem Tod vom Führer.
Er verdrängte einen Teil seines nagenden Zweifel durch die Delegierung der organisatorischen Verantwortung an Reinhard Heydrich, der daran gewöhnt war, die dreckige Seite der Aufbauarbeit des Dritten Reiches zu bewerkstelligen. Der Chef vom Reichssicherheitshauptamt hatte erstens nicht die selben Skrupeln wie Himmler - und konnte zweitens behaupten, dass er nur den Befehl des Führer - delegiert durch Himmler - ausführte. Auf der anderen Seite nutzte er zynisch die Macht, die er dadurch bekam, im Machtkampf mit anderen. Weder er noch seine engsten Mitarbeiter in Berlin töteten selbst Juden. Dazu hatten sie Leute; und auch diese konnten nach dem Krieg darauf verweisen, dass sie nur nach einem Befehl gehandelt hatten, der vom Führer selbst herstammte.
Hannah Arendt fasste ihre Analyse des Prozesses gegen Adolf Eichmann - eine der Schlüsselfiguren der Bureaukratie, wo Menschen zu Zahlen reduziert worden war - im Buch Die Banalität des Bösen im Jahre 1961 mit den folgenden Worten zusammen:
"The trouble with Eichmann was precisely that so many were like him, and that the many were neither perverted nor sadistic, that they were, and still are, terribly and terrifying normal. From the point of view of our legal institutions and of our moral standards of judgment, this normality was much more terrifying than all the atrocities put together, for it implied ... that this new type of criminal, who is in fact hostis generis humani, commits his crimes under circumstances that makes it well-nigh impossible for him to know or to feel that he is doing wrong."
Hannah Arendt setzt mit dieser berühmten Charakteristik erbarmungslos ihren Finger auf den wunden Punkt unserer modernen Gesellschaft, wo die von Medien geschaffene "Realität" - und die von ihnen geschaffenen Wahrnehmungsmuster - mehr und mehr die Wirklichkeit ersetzt, die bei der persönlichen Begegnung zwischen Menschen entsteht. Die Geschichte über den Propagandafilm Der ewige Jude ist ein unheimliches Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die von Medien geschaffene "Realität" auch als die wirkliche Wirklichkeit aufgefasst wird und damit Bedingungen schaffen, die es dem Einzelnen unmöglich macht zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden.
Der Gebrauch von mediengeschaffener "Wirklichkeit" im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslavien belegt leider die Reichweite und die fortgesetzte Aktualität in der Analyse von Hannah Arendt, die vielleicht noch pointierter hätte heissen können:
Die Normalität des Bösen