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Till van Rahden. Juden und andere Breslauer.
Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer
deutschen Grossstadt von 1860 bis 1925. Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft, 139. Goettingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, 2000. 382 S. 47 Tab. DM 78, ISBN 3-525-35732-X.
Reviewed by Johannes
Mikuteit, Europa-Universitaet Viadrina Frankfurt (Oder) .
Auf fast dreihundert Seiten stellt van Rahden die beeindruckenden Ergebnisse seiner umfangreichen, muehsam-akribischen Forschungsarbeit dar, die er in gut lesbarer Sprache trotz mancher Redundanzen und Laengen praesentiert. Eindrucksvoll beweist er, welchen vielfaeltigen Gewinn eine mikrohistorische Studie von dieser Qualitaet erbringen kann, ohne sich notwendig in Details verlieren und die Makrohistorie vernachlaessigen zu muessen. Seine Entscheidung, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevoelkerungsgruppen am Beispiel des bislang wenig erforschten Breslau zu ergruenden, erhoeht noch den Wert der vorgelegten Arbeit. In jeweils unterschiedlicher Ausfuehrlichkeit untersucht der Autor zahlreiche Aspekte der staedtischen Sozial- und Kulturgeschichte mit Hilfe des erprobten Methodeninstrumentariums. Dabei gelangt er zu oftmals ebenso neuen wie ueberraschenden Ergebnissen und beweist wiederholt einen sicheren Blick fuer aufschlussreiche Details. Die Uebertragbarkeit seiner Ergebnisse auf die Verhaeltnisse in anderen Staedten muss spaeteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Anhand von fast fuenfzig Tabellen im Text veranschaulicht der Autor seine differenzierten Untersuchungsergebnisse zum Teil auch visuell und schliesst jedes Hauptkapitel mit einer knappen Zusammenfassung der jeweils wichtigsten Ergebnisse ab. Dabei handelt es sich weniger um die Zwischenergebnisse einer von Kapitel zu Kapitel fortschreitenden Untersuchung. Vielmehr stellen die einzelnen Hauptkapitel jeweils in sich abgeschlossene Untersuchungseinheiten dar, die sich zwischen Einleitung und Epilog auch in anderer Folge haetten anordnen lassen. Es ueberwiegt insgesamt der sozialhistorische Untersuchungsanteil, der mit der kulturhistorischen Perspektive vom Autor nicht durchgaengig in ueberzeugender Weise verbunden wird. Methodisch dominiert weniger das vom Autor postulierte "multikulturalistische Paradigma" (S. 17) als vielmehr das der sozialhistorischen Geschichtsschreibung in der Tradition der Bielefelder Schule. Die kulturhistorische Oeffnung dieses Ansatzes, die in der vorliegenden Arbeit versucht wird, reflektiert van Rahden methodisch nicht explizit. Es ist aber auffaellig, dass beispielsweise die Konzepte und Begriffe Pierre Bourdieus keine Anwendung finden. In seiner Einleitung verklammert der Autor die einzelnen Kapitel unter dem leitenden Gesichtspunkt der juedischen Integration in die staedtische Gesellschaft Breslaus vorrangig politisch-ideologisch. Er deklariert seine Arbeit explizit als Beispiel fuer eine "Geschichtsschreibung im Zeichen des Multikulturalismus" (S. 16). Vor dem Hintergrund der gegenwaertigen Kontroversen will van Rahden ausdruecklich historische Orientierung bieten, um "den Wandel des deutschen Selbstverstaendnisses, von einer homogenen, womoeglich sogar voelkisch begruendeten Nation zu einer multikulturellen Gesellschaft" und "liberalen Staatsbuergernation" zu unterstuetzen (S. 16). Ausdruecklich verwirft er die Praemisse, "dass naemlich die moderne Gesellschaft dem Fernziel eines homogenen Nationalstaats zustrebe" (S. 14). Seine Studie basiert vielmehr "auf der Annahme, dass ethnische und religioese Differenzen nicht aufhebbar sind, kulturelle Pluralitaet nicht nur wuenschenswert, sondern unvermeidbar ist" (S. 14). Im Anschluss an den multikulturalistischen Liberalismus haelt van Rahden den Universalismus des traditionellen Menschen- und Buergerrechtekatalogs fuer erweiterbar "um ein individualistisch begruendetes Recht auf Anderssein" (S. 15). Dadurch sieht er aber keinen "neuen Fruehling der Voelker und ethnischen Gruppen" (S. 17) heraufziehen. Vielmehr schliesst der Begriff des Multikulturalismus, so van Rahden, "den Konflikt gerade mit ein, weil er eine Gesellschaft bezeichnet, in der eine Pluralitaet von ethnischen und religioesen Gruppen die Bedingungen ihres Zusammenlebens staendig neu verhandelt und in der das Individuum eine Vielzahl von partikularen und situativen Identitaeten ausbalancieren muss. Die multikulturelle Gesellschaft beendet Konflikte nicht, sondern hegt sie ein und entschaerft sie, institutionell durch den auf den Menschen- und Buergerrechten beruhenden Rechtsstaat, ideell durch die wechselseitige Anerkennung von Differenz." (S. 17). Paradigmatisch will van Rahden dies an der Geschichte der Breslauer Juden zwischen der Mitte der sechziger Jahre des 19. und der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in ihrer Beziehung zu Protestanten und Katholiken aufzeigen. Die Zeit des Ersten Weltkriegs und die Nachkriegszeit behandelt er nur kursorisch im Epilog. Warum er den Untersuchungszeitraum 1925 vor Beginn der Weltwirtschaftskrise mit ihren einschneidenden Folgen enden laesst und die Jahre zwischen 1925 und 1933 kaum mehr am Rande streift, bleibt ohne Erklaerung. Indem aber die spaeteren Jahre des angegebenen Untersuchungszeitraums kaum beleuchtet werden, ohne dass van Rahden die sich dramatisch verschlechternden Beziehungen zwischen Juden und "anderen Breslauern" waehrend des Ersten Weltkriegs und danach verschweigt, geraet seine Studie in eine bedenkliche Schieflage. Da die Jahre bis 1914 weitaus eingehender untersucht und die Ergebnisse mit einer idealisierenden Tendenz praesentiert werden, entsteht in Hinblick auf die ethnische und religioese Vielfalt und Differenz - van Rahdens zentralen Untersuchungskategorien - der Eindruck einer historischen Idealsituation der "Vielheit in der Einheit der Stadt" (S. 28), die nur partiell durch Diskriminierung und Exklusion beschraenkt gewesen zu sein scheint. Vor dem Hintergrund des preussischen Dreiklassenwahlrechts, das auch auf kommunaler Ebene galt, fuehrt van Rahden die spezifischen Voraussetzungen fuer das vergleichsweise hohe Ausmass der juedischen Integration in Breslau an: "ein hoher juedischer Bevoelkerungsanteil, ein seit den vierziger und fuenfziger Jahren des 19. Jahrhunderts etabliertes juedisches Buergertum, selbstbewusst auftretende juedische Gemeindeorgane und einzelne Vertreter juedischer Interessen, eine stabile linksliberale Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung sowie schliesslich eine nichtjuedische Bevoelkerung, die zumindest in Teilen bereit war, spezifisch juedische Forderungen als legitimen Ausdruck juedischer Partikulariaet anzuerkennen" (S. 27 f.). Auch in einigen anderen deutschen Grossstaedten, wie Berlin, Frankfurt oder Koenigsberg, mag es fern der teilweise stark antisemitisch gepraegten Zentren der Macht "am Hof, in der Regierung, den Spitzen der Buerokratie und selbst im Reichstag" (S. 26) staedtische Raeume gegeben haben, in denen mit aehnlichen "Modellen der Anerkennung von Differenz" (S. 27) zumindest teilweise erfolgreich experimentiert wurde. Es erscheint aber auf der Suche des Autors nach Fruehformen eines modellhaft praktizierten multikulturellen Liberalismus in der deutschen Geschichte fragwuerdig, inwieweit das Breslau der Vorkriegszeit als Projektionsraum fuer heutige politisch-ideologische Entwuerfe tatsaechlich dienen kann. Das gilt nicht allein, wenn man die bedrueckend hohen Breslauer Wahlerfolge der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren beruecksichtigt. Die noch waehrend des Ersten Weltkriegs in Breslau stark zunehmende judenfeindliche Stimmung laesst es nicht minder zweifelhaft erscheinen, ob dort vor 1914 in breiten Schichten der Bevoelkerung der Antisemitismus "allenfalls ein kultureller Code" (S. 326) war. Gleich zu Beginn seiner Einleitung erklaert van Rahden ueberdies, dass er der "Frage nach der Kontinuitaet der Beziehungen zwischen Juden und anderen Deutschen im Kaiserreich und dem nationalsozialistischen Antisemitismus" (S. 13) nicht ausweichen wolle. Anhand der Geschichte von Juden und anderen Breslauern vor 1914 schliesst er "eine direkte oder verschlungene Kontinuitaetslinie, die vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus und zum Holocaust fuehrt" (S. 329) aus. Da er aber die hierfuer entscheidende Zwischenphase der Weimarer Republik nur streift, kann der Leser die Richtigkeit dieser Behauptung nicht nachpruefen. Auch wenn van Rahden den ueberzeugenden Nachweis fuehrt, dass vor dem Ersten Weltkrieg "die Definition von 'buergerlicher Kultur' und 'Buergerlichkeit' [...] in der Odermetropole nicht das Monopol der protestantischen Mehrheitskultur, sondern der Gegenstand von Verhandlungen [war, J. M.], an denen sich das juedische Buergertum selbstbewusst und erfolgreich beteiligte" (S. 328) und "in den Auseinandersetzungen ueber das Ausmass und die Grenzen ihrer Integration" (S. 328) die Breslauer Juden "eine aktive Rolle" (S. 328) spielten, bleibt doch die starke Dominanz der Mehrheit der nichtjuedischen Breslauer, mithin die strukturell ungleiche Verhandlungsposition der verschiedenen Gruppen unverkennbar bestehen. Wie van Rahden in seiner Schlussbetrachtung ueberzeugend herausstreicht, konnte sich nicht einmal die "Mehrheit der christlichen Breslauer Linksliberalen" (S. 328) dem von ihm favorisierten Modell des "kulturellen Pluralismus" anschliessen, ohne deshalb aber notwendig einen Antisemitismus zu vertreten. Das gilt sicherlich noch in wesentlich hoeherem Masse fuer die Mehrheit der christlichen Breslauer insgesamt, die, laut Ausweis der Wahlergebnisse, zu einem betraechtlichen Teil keine geringeren Schwierigkeiten damit hatten, Formen des politischen Pluralismus zu akzeptieren. Da der Autor aus verstaendlichen Gruenden nicht exakt beziffern kann, wieviele Juden in Deutschland glaubten, dass in dem von ihm postulierten Sinne "Vielheit und Einheit, Universalitaet und Differenz, vereinbar seien" (S. 328), muessen van Rahdens einschlaegige Behauptungen notwendig vage und hypothetisch bleiben. Bezogen selbst nur auf die relativ kleine juedische Bevoelkerungsgruppe Breslaus, kann van Rahden jedenfalls nicht ueberzeugend widerlegen, dass deren Angehoerige sich ganz ueberwiegend moeglicherweise als Angehoerige einer Minderheit betrachteten und einen "kulturellen Pluralismus" in dem von ihm behaupteten Sinne gar nicht erstrebten. Das schliesst trotz der weitreichenden Anpassungsbereitschaft an die dominierende Mehrheitskultur nicht aus, dass die Angehoerigen der juedischen Bevoelkerungsgruppe, wie vom Autor nachgewiesen, aktiv und selbstbewusst fuer ihre Rechte und Interessen stritten. Da van Rahden entschieden das "Paradigma nationaler Homogenitaet" (S. 17) ablehnt, haelt er auch die "in der deutsch-juedischen Geschichte gebraeuchlichen Kategorien Integration, Subkultur oder Milieu und schliesslich Assimilation oder Akkulturation" (S. 17) fuer seine Forschung jenseits der Scylla des Antisemitismus und der Charybdis der deutsch-juedischen Symbiose fuer weitgehend untauglich. Warum aber die von ihm ersatzweise vorgeschlagenen und in seiner Studie angewandten Begriffe der "Integration" (in einem uebergeordneten, politisch neutralen Sinn) und "Inklusion" einerseits, der "sozialen Schliessung" und "Exklusion" andererseits besser zur Beschreibung der zu untersuchenden Gegenstaende geeignet sein sollen, kann der Autor nicht ueberzeugend begruenden. Die von ihm eingefuehrte Begrifflichkeit wirkt artifiziell und kann ohne Verlust an Differenzierungsvermoegen fallengelassen oder durch bereits existierende Begriffe ersetzt werden: Wozu der Begriff der "Inklusion", wenn sich durchgaengig nach "Integrationsprozessen" in den gesellschaftlichen Teilbereichen und auf den verschiedenen sozialen Ebenen fragen laesst? Warum "soziale Schliessung" fuer die Bezeichnung einer Ausschliessung aufgrund von individuellen Kriterien, hingegen "Exklusion" fuer eine Ausschliessung aufgrund von kollektiven Kriterien? Weitaus anregender ist das vom Autor seiner Studie zugrunde gelegte "Konzept der situativen Ethnizitaet". Ausgehend von der Praemisse des konstruierten Charakters von Ethnizitaet als "gedachter Ordnung" betont van Rahden, dass speziell der Konstruktion von Grenzen fuer jede Ethnizitaet eine besondere Bedeutung zukomme. Diese ethnische Grenze muss "nicht notwendig rigide ausgebildet sein, sondern ist oft schwach entwickelt. Haeufig strukturiert Ethnizitaet gerade den die Gruppengrenze ueberschreitenden Sozialkontakt. Die Zugehoerigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft schliesst demnach die Loyalitaet gegenueber anderen Sozialformationen und Gruppen wie der Klasse, dem Geschlecht, der Konfession, der Berufsgruppe oder der Nation nicht aus." (S. 20). Ethnizitaet sei stark an die konkrete soziale Situation gebunden. Die Identitaet der Breslauer Juden als Juden, so van Rahden, sei nicht allumfassend exklusiv gewesen, "sondern situativ und Teil einer Pluralitaet von Identitaeten" (S. 328). Ihre Identitaetsbildung sowie die Formen ihrer Vergemeinschaftung seien vor allem gekennzeichnet gewesen von einem "Nebeneinander von Geschlossenheit und Offenheit" (S. 328). Hier bestehen interessante Anknuepfungspunkte zu Georg Simmels "Exkurs ueber den Fremden", in dem der deutsch-juedische Philosoph verallgemeinernd auf das komplizierte Mischungsverhaeltnis von "Naehe" und "Entferntheit" eingeht. Der folgenden Forschung zu diesem Thema wird es vorbehalten bleiben, diese Anregungen in neuen Studien aufzugreifen. Es bleibt zu hoffen, dass die dabei erzielten Forschungsleistungen das Niveau der Arbeit Till van Rahdens erreichen, der dafuer 1999 zu Recht mit dem "Fraenkel Prize in Contemporary History" ausgezeichnet wurde. |