H-NET BOOK REVIEW
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(April, 2000)
Gabriele Lotfi. KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im
Dritten
Reich. Stuttgart/Muenchen: Deutsche Verlagsanstalt,
2000. 452 S.
DM 56,00 (gebunden), ISBN 3-421-05342-1.
Reviewed for H-Soz-u-Kult by Mark Spoerer
<spoerer@uni-hohenheim.de>,
Universitaet Hohenheim
Dass historische Themen lange unbearbeitet bleiben, laesst sich auf
verschiedene Ursachen zurueckfuehren. Entweder ist das Thema trocken
und kompliziert, etwa bei so laestigen Zumutungen des taeglichen
Lebens wie Steuern oder Versicherungen, oder es ist politisch
unkorrekt, wie etwa die Leiden der deutschen Zivilbevoelkerung durch
Luftkrieg und Vertreibung, oder es gibt einfach keine Quellen. Die
Arbeitserziehungslager im Dritten Reich gehoeren eindeutig zur
letzteren Gruppe. Auf lokaler Ebene sind fast alle schriftlichen
Dokumente von der Gestapo vernichtet worden, so dass direkt zum
Thema lediglich zentrale Erlasse und versprengte lokale Bestaende
vorhanden sind. Will man das Thema nicht nur von der Makro- sondern
auch von der Mikroebene angehen, so muss man sich der Muehe
unterziehen, das Bild aus anderen Quellen und somit indirekt zu
rekonstruieren: Schriftverkehr der Gestapo mit anderen Behoerden,
Sterbebuecher der Standesaemter, Prozessakten, Zeitzeugenberichte.
Dies hat nun Gabriele Lotfi in ihrer Bochumer Dissertation versucht.
Sie hat sich nicht weniger vorgenommen, als eine umfassende
Darstellung der Entstehung, Funktion und Bedeutung der
Arbeitserziehungslager (AEL) im nationalsozialistischen
Herrschaftsalltag zu schreiben. Die Darstellung der Mikroebene
beschraenkt sich dabei weitgehend auf den Raum Rheinland und
Westfalen, fuer den die Quellenlage befriedigend und der natuerlich
wegen der dort ansaessigen Schwerindustrie interessant ist, und auf
Nordwestdeutschland, fuer das bereits etliche Lokalstudien
vorliegen.
Die Entstehung und Ausweitung der AEL ist untrennbar mit dem
zunehmenden Zwang verbunden, der den Arbeitsmarkt nach Erreichen der
Vollbeschaeftigung 1936/37 charakterisierte. In besonderer Weise
spuerbar war dieser fuer die Arbeiter am Westwall, die zumeist fern
ihrer Heimat in Baracken untergebracht waren und sich selbst am
Wochenende quasi-militaerischen Drill gefallen lassen mussten. Der
zunehmenden Resistenz der Arbeiter war mit den ueblichen Mitteln -
Verwarnung, kurzzeitige Polizeihaft - nicht mehr beizukommen, so
dass Ende 1939 das SS-Sonderlager Hinzert errichtet wurde, in dem
die widerspenstigen Arbeiter “erzogen” werden sollten. Die
Einweisung erfolgte auf Antrag der Stapostellen ohne Einschaltung
der Justiz und hatte keine rechtliche Grundlagen. Die Eingewiesenen
waren daher weder Justizgefangene noch Schutzhaeftlinge, sondern
einfach Polizeigefangene, denen die Haft nicht als Vorstrafe
eingetragen wurde. Im SS-Sonderlager wurden die Haeftlinge hart
angefasst und zu besonders schweren Arbeiten eingeteilt. Neben dem
Brechen des Widerstandswillens des Haeftlings war eine ganz
wesentliche Funktion die Einschuechterung und Disziplinierung der
anderen Arbeiter.
Aus Sicht der beteiligten Institutionen hatte die Haft im
Sonderlager zwei Vorteile, die unter den Bedingungen der sich
herausbildenden Kriegswirtschaft als ungemein wuenschenswert galten:
sie war effektiv und unkompliziert. Hinzert sollte daher zum Modell
der polizeilichen Sonderlager, AEL und betrieblichen Erziehungslager
werden, die ab dem Fruehjahr 1940 von lokalen Stapostellen
gegruendet wurden. Nun ging es um die Disziplinierung unwilliger
Ruestungsarbeiter. Viele Unternehmen klagten ueber mangelnde
Arbeitsdisziplin vor allem der auslaendischen Zwangsarbeiter, aber
auch der zunehmend eingesetzten deutschen Frauen. “Schutzhaft” im KZ
hatte aus Sicht der Unternehmen den Nachteil, dass sie die Arbeiter
nicht wiedersahen - Himmler bastelte an seinem Wirtschaftsimperium
und brauchte Arbeitskraefte. Die normale Verfolgung von
”Arbeitsvertragsbruechigen” durch die Justiz war viel zu langwierig.
Somit buendelten sich in der Einrichtung lokaler AEL, spaeter auch
betrieblicher Erziehungslager die Interessen lokaler Gestapostellen
und betrieblicher bzw. kommunaler Einsatztraeger.
Mit dem zunehmenden Anteil von Auslaendern in den AEL und der sich
verschaerfenden Kriegslage entfielen auf Seiten der zumeist tief in
Unterschlagung und Korruption verstrickten Bewacher immer mehr die
Hemmungen. Zudem delegierte das ueberlastete
Reichssicherheitshauptamt - die Kontrolle von Millionen
auslaendischer Zwangsarbeiter war mittlerweile Hauptbeschaeftigung
der Gestapo - immer mehr Verantwortlichkeit, insbesondere auch in
Hinblick auf Todesurteile, nach unten. Die Lebens- und
Arbeitsbedingungen wurden in den meisten AEL haerter und glichen
sich denen der deutschen KZ an. Der entscheidende Unterschied war
jedoch nach wie vor die meist auf acht Wochen beschraenkte
Haftdauer. Danach kamen die sichtlich erschoepften, ausgemergelten,
oft auch misshandelten Haeftlinge an ihre vorigen Arbeitsstaetten
zurueck. Insbesondere ab 1942, als immer mehr der ohnehin schon
stark diskriminierten “Ostarbeiter” eingewiesen wurden, entwickelten
sich viele AEL zu Todeslagern. Hunger und Fleckfieber liessen die
Sterblichkeit stark ansteigen. Wie in den KZ erhielten Wachleute,
die einen Haeftling “auf der Flucht” erschossen, eine Kopfpraemie
und Sonderurlaub. In den letzten Kriegswochen wurden die AEL zu
”erweiterten Polizeigefaengnissen” erklaert, so dass nun auch
Delinquenten aus politischen Gruenden eingewiesen werden konnten.
Tausende von Auslaendern, aber auch viele Deutsche wurden in der
Endphase des Krieges von der Gestapo in den AEL ermordet.
Lotfi arbeitet dabei zwei interessanteste Ergebnisse heraus. Erstens
bestaetigt sie auf breiter Quellengrundlage die These von Ruth
Bettina Birn, dass die AEL keineswegs von oben nach unten geplant
wurden, sondern vielmehr umgekehrt die lokalen Stapostellen
vorpreschten, so dass das RSHA haeufig nur noch nachtraeglich
absegnete. Zweitens betont Lotfi das starke Interesse von
Unternehmen an AEL. Zum einen boten die AEL Arbeitskraefte, eine
knappe Ressource, fuer die zudem die normalen Schutzbestimmungen
nicht eingehalten werden mussten. Entscheidend war jedoch zum
anderen, so Lotfi, dass die Unternehmen in den AEL ein sehr
wirksames und unbuerokratisches Instrument zur Disziplinierung ihrer
Arbeitskraefte sahen.
In diesem Punkte neigt Lotfi allerdings etwas zur Verallgemeinerung.
Die aktive Mitwirkung vieler Firmen bei der Einrichtung,
Finanzierung und Fuehrung von AEL bzw. betrieblichen Erziehungslager
kann Lotfi ueberzeugend belegen. Ob “die Industrie”, von der Lotfi
staendig spricht und worunter man wohl die Mehrheit der
Industriefirmen zu verstehen hat, in die AEL involviert war, ist
schwer zu beurteilen. Lotfi versucht jedenfalls noch nicht einmal
einen empirischen Beleg, etwa anhand einer Fallstudie. Angesichts
der schlechten Behandlung, die viele Industriefirmen den
auslaendischen Zwangsarbeitern zuteil kommen liessen, mag Lotfis
Urteil plausibel erscheinen. Ob und inwieweit aber “die Industrie”
den Terror, der ab 1942 in den AEL herrschte, gut hiess, waere noch
zu zeigen. Schliesslich zog sie die Einweisung unbotmaessiger
Arbeiter in die AEL der ins KZ vor, weil sie sie wiederhaben wollte,
und sei es nur zur Disziplinierung der anderen.
Absolutes Neuland betritt Lotfi in Hinsicht auf die mutmassliche
Anzahl der AEL-Haeftlinge. Hier haette sich der Rezensent etwas mehr
Transparenz gewuenscht. Die Autorin gibt nur ganz grob und ohne
Berechnung eine Groessenordnung von “mehreren hunderttausend
Menschen” (S. 323) an, die die AEL durchliefen; somit sei
”mindestens jeder zwanzigste auslaendische Zivilarbeiter im
Deutschen Reich von einer AEL- Haft betroffen” (S. 318) gewesen.
Beide Angaben erschienen dem Rezensenten zunaechst uebertrieben
hoch, doch ist zumindest die erste nach ueberschlaegigem Rechnen
keineswegs unplausibel: Gegen Kriegsende summierte sich die
Kapazitaet der seit 1942 stets ueberfuellten AEL nach Lotfi auf
40.000 Gefangene. Schon bei einer konservativen Schaetzung mit einer
durchschnittlichen Betriebsdauer von nur einem Jahr und einer
durchschnittlichen Haftdauer von sechs Wochen kommt man auf fast
350.000 AEL-Haeftlinge, davon zweifellos die meisten auslaendische
Zivilarbeiter. Von denen gab es ueber die gesamte Kriegsdauer
gerechnet knapp acht Millionen, jeder zwanzigste davon macht knapp
400.000, was sich nach geringfuegiger Aenderung der Ausgangsgroessen
ebenfalls plausibel aus der Kapazitaet errechnen laesst. Hier
haette Lotfi ruhig etwas offensiver und ausfuehrlicher spekulieren
koennen, schliesslich sind ihre geschaetzten Angaben die ersten
ueberhaupt fuer ein Frage, die im Rahmen der aktuellen Verhandlungen
um die Entschaedigung ehemaliger Zwangsarbeiter unverhofft auch
Interesse ausserhalb des akademischen Elfenbeinturms gefunden hat.
Dies sind jedoch Kleinigkeiten, die eher die Interessen des
Rezensenten widerspiegeln. Lotfis Studie ueber die
nationalsozialistischen Arbeitserziehungslager ist gut gegliedert,
inhaltlich ueberzeugend und auch sprachlich sehr gelungen. Ueber die
Arbeitserziehungslager war man bislang nur ueber Fallstudien
unterrichtet. Lotfi hat diese zusammen mit der Auswertung neu
erschlossener Quellen zu einer souveraenen Gesamtdarstellung
verdichtet und somit eine Forschungsluecke geschlossen.