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Helmut Maier, Hrsg. Rüstungsforschung im
Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der
Technikwissenschaften. Geschichte der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Göttingen:
Wallstein Verlag, 2002. 400 S. Bibliographische Angaben und Index. EUR
29, ISBN 3-89244-497-8.
Reviewed by Paul Erker,
Ludwig-Maximilian Universität München. In seiner luziden Einleitung entfaltet Helmut Maier den Untersuchungsrahmen und die Fragestellungen des Bandes: Ausgehend von den drei zentralen Themenkomplexen Wissenschaftspolitik und Forschungsplanung (Sektion 1), Industrieforschung und Rüstungstechnologie (Sektion 2) sowie Institute und Disziplinen (Sektion 3) steht vor allem die Frage nach den Ausmaß und den Folgen der Steuerungsprozesse, dem Verhältnis von Mobilisierung und Selbstmobilisierung im Bereich Rüstung, Forschung und Technikwissenschaften im Mittelpunkt. Im ersten Kapitel präsentiert zunächst Ulrich Marsch (Von der Syntheseindustrie zur Kriegswirtschaft. Brüche und Kontinuitäten in Wissenschaft und Politik) seine schon anderweitig ausführlich dargelegte These der Kontinuität des nationalen Innovationssystems unter dem Vorzeichen der Ersatzstoff- und Syntheseforschung. Rolf-Dieter Müller (Kriegsführung, Rüstung und Wissenschaft. Zur Rolle des Militärs bei der Steuerung der Kriegstechnik unter besonderer Berücksichtigung des Heereswaffenamtes 1935-1945) zieht den desolates Fazit der Art und Weise sowie der Effektivität der Initiativen zur Optimierung der Rüstungstechnik seitens des HWA. Interne Zersplitterung und Entmachtung bei anhaltendem Eigenleben und der Verselbständigung von Marine-, Luft- und Heeresrüstung prägten das Bild. Ruth Federspiel (Mobilisierung der Rüstungsforschung? Werner Osenberg und das Planungsamt im Reichsforschungsrat 1943 bis 1945) macht demgegenüber auf durchaus erfolgreiche, wenn auch letztlich aus Sicht des Regimes zu spät einsetzende Versuche der auf Interdisziplinarität angelegten Forschungssteuerung aufmerksam. Im zweiten Kapitel untersucht Burghard Weiss (Rüstungsforschung am Forschungsinstitut der AEG bis 1945) die--in einer langen unternehmenspolitischen Kontinuität stehende--starke Expansion der Rüstungsforschung in dem Elektrokonzern. Das zentrale Forschungslaboratorium der AEG unter Leitung von Carl Ramsauer war insbesondere im Bereich der Infrarot- und Lenkwaffen-Technik (optoelektronische und fernsteuerungstechnische F&E) führend. Die Fallstudie zeigt ein Beispiel von industrieller Selbstmobilisierung, von der aber der Konzern nach 1945 erheblich profitieren konnte. Lutz Budraß (Zwischen Unternehmen und Luftwaffe. Die Luftfahrtforschung im "Dritten Reich") legt dann ergänzend seine bereits ausführlich dargelegten Thesen zum spezifischen Verhältnis von Luftfahrtforschung und Flugzeugindustrie sowie zum Scheitern und Verfall der staatlichen Steuerung in diesem Bereich vor. Andreas Zilt (Rüstungsforschung in der westdeutschen Stahlindustrie. Das Beispiel der Vereinigten Stahlwerke AG und Kohle- und Eisenforschung GmbH) analysiert die rüstungsrelevante F&E in der Stahlindustrie und zeigt, wie sich die Forschungsinhalte und Ressourcen, in diesem Fall letztlich zum Nachteil des Unternehmens, im Untersuchungszeitraum veränderten. Anne Sudrow (Werkstoff-Forschung auf der "Schuhprüfstrecke" im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940-1945) untersucht ein bislang kaum beachtetes obwohl besonders von der "Entgrenzung" geprägtes Beispiel des rüstungswirtschaftlichen Zusammenwirkens von Wissenschaft und Industrie. Das KWI für Lederforschung und die Schuhindustrie organisierten eine besonders menschenverachtende und grausame Art der Werkstoffforschung, deren Ergebnisse in die weiteren Ersatzstoffuntersuchungen wie in die Schuhproduktion einflossen. Kai Handel (Die Arbeitsgemeinschaft Rotterdam und die Entwicklung von Halbleiterdetektoren. Hochfrequenzforschung in der militärischen Krise 1943-1945) präsentiert demgegenüber am Beispiel eines Teilbereichs der Radarforschung das Zustandekommen einer effizienten Form der Forschungsorganisation. Unter der Leitung des langjährigen Telefunken-Forschers Leo Brandt gelang in kurzer Zeit die Etablierung eines interdisziplinär ausgerichteten und organisationsübergreifenden Kooperationsgremiums, das "zu einer Mobilisierung der zur Verfügung stehenden Kräfte für ein sehr konkretes Ziel führte und in diesem kleinen Teilbereich beachtliche wissenschaftliche Erfolge aufzuweisen hatte". Im dritten Kapitel zeichnet Dieter Hoffmann (Carl Ramsauer, die Deutsche Physikalische Gesellschaft und die Selbstmobilisierung der Physikerschaft im "Dritten Reich") ein vielfach neues Bild des lange als unpolitisch und wegen seiner berühmten Denkschrift von 1942 über den desolaten Zustand der deutschen Physik als regimeunabhängig geltenden Präsidenten der DPG. Hoffman macht deutlich, dass die Physiker vielmehr "über das Faustpfand einer beschleunigten Integration der Natur- und Technikwissenschaften in die Rüstungswirtschaft die eigene Rolle und die des Fachgebietes nachhaltig zu stärken [suchten]". Ramsauer, so die etwas weitgehend erscheinende These, begründete damit letztlich "ein enges Bündnis mit den Institutionen des militärisch-industriellen Komplexes". Moritz Epple (Rechnen, Messen, Führen. Kriegsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung 1937-1945) widmet sich in seiner mikrohistorischen Studie dem Nachweis der "weitgehenden Homogenität von Grundlagen- und Kriegsforschung" sowie der Interessenkonvergenz von Wissenschaft und Rüstungspolitik und kommt zu dem Schluß, dass das historisch Signifikante "an der NS-Periode einer Technowissenschaft wie der Strömungsforschung ist, dass es [...] gar keinen signifikanten Bruch mit der eingespielten Forschungspraxis gab." Helmut Maier (Ideologie, Rüstung und Ressourcen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung und die "Deutschen Metalle" 1933-1945) geht abschließend der innovativen Frage nach dem Zusammenhang von nationalsozialistischer Werkstoffideologie und wissenschaftlicher Werkstoffforschung nach. Tatsächlich wurde - hier aufgezeigt am Beispiel der Aluminium-Zink-Magnesium-Legierungen ("die Idealform einer ideologisch korrekten Legierung") als Ersatz für das Duralumin- versucht, die Ideologie der "Deutschen Metalle" systematisch in die technowissenschaftliche F&E einzubeziehen und damit in die Realität umzusetzen. Die Arbeiten des KWI für Metallforschung zeigen daher wiederum ein Beispiel, dass es "sehr wohl möglich war, technikwissenschaftliche Forschung und Entwicklung gezielt und effektiv zu organisieren". Die Ergebnisse sind insgesamt mithin überzeugend: Erstens sind "nach wie vor kaum generalisierende Aussagen über die Geschichte der Rüstungsforschung möglich. Vielmehr wird deutlich, dass je nach sektoraler Verortung und je nach zeitlichem Bezug ganz unterschiedliche Entwicklungen sichtbar werden". Zweitens bestätigt sich die Kontinuität des Ersatzstoff- und Synthesekonzeptes; drittens wird die These der Zurückdrängung des Militärs aus der Verantwortung für die Rüstungsforschung bestätigt. Viertens schließlich erwies sich Grundlagenforschung in vieler Hinsicht als Rüstungsforschung. Der Sammelband leistet insgesamt einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des Widerspruchs zwischen zahlreichen rüstungstechnologischen Innovationen und der offenkundigen Schwäche nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik und Forschungsplanung, vor allem aber auch der Diskrepanz von technisch-wissenschaftlichen Leistungen und gleichzeitigem Versagen und technologischen Rückschritten. Zu wünschen wäre allenfalls die Einordnung in die internationale Entwicklung durch einen Vergleich mit den entsprechenden politischen und industriellen Bemühungen der Rüstungsforschung in den USA, Großbritannien, aber auch Italien oder Japan. |