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Eberhard Sauermann. Literarische Kriegsfuersorge. Oesterreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. Literaturgeschichte in Studien und Quellen 4. Wien-Koeln-Weimar: Boehlau Verlag, 2000. 403 S. Illustrations. DM 88.00 (gebunden), ISBN 3-205-99210-5.

Reviewed by Antonio Ribeiro, Institut fuer Germanistik der Universitaet Coimbra. Published by HABSBURG (March, 2001)

Der Krieg der Literaten

Eberhard Sauermann, langjaehriger Mitarbeiter des Innsbrucker Brenner-Archivs und insbesondere als verdienter Trakl-Forscher und -Herausgeber bekannt, legt mit diesem Buch einen wichtigen, originellen Beitrag zum dunklen Kapitel der intellektuellen Geschichte des Ersten Weltkriegs vor.

Methode und Perspektive der Untersuchung werden gleich im Vorwort unmissverstaendlich klargemacht: "Im Brennpunkt der Arbeit steht Karl Kraus: Er ist quasi Untersuchungsgegenstand, Kronzeuge und Untersuchungsrichter in einem" (S. 14). In der Tat bilden Die letzten Tage der Menschheit und die Jahrgaenge der von Kraus selbst nachtraeglich so bezeichneten "Kriegsfackel" im Wesentlichen den Leitfaden dieser detaillierten Bestandsaufnahme. Die Fackel bietet nicht nur eine unerschoepfliche Fundgrube, hat Kraus doch die ganze Kakophonie der Diskurse jener "grossen Zeit", die er noch gekannt hat, wie sie so klein war, in seiner Zeitschrift akribisch aufgenommen; auch Kraus's Methode des entlarvenden Zitats wird von Sauermann wirkungsvoll eingesetzt. Der Gestus der Anklage, der - angesichts des behandelten Materials mit vollkommener Berechtigung - die Untersuchung durchzieht (ohne den sachlichen Inhalt der Darstellung allerdings in irgendeiner Weise zu beeintraechtigen) versteht sich also ausdruecklich im Sinne der Kraus'schen Satire.

An Untersuchungen zum Thema "Intellektuelle (bzw. Schrifteller) und Erster Weltkrieg" herrscht inzwischen kein Mangel. [1] Das vorliegende Buch zeichnet sich jedoch durch zwei Ansaetze aus, die ihm einen eigenen Platz in der bisherigen Forschung zuweisen: zum einen die spezifische Fokussierung der noch ungenuegend untersuchten oesterreichischen Situation; zum anderen das genaue Aufzeigen der engen Verschraenkung zwischen dem Militaer und den Kriegsfuersorgeorganisationen und der wichtigen Rolle, die die Publikationen solcher Organisationen im Krieg gespielt haben - ein Zusammenhang, der, wie der Verfasser richtig hervorhebt, bisher nur in den allgemeinen Umrissen bekannt war. So gelingt es, das Bild einer "geistigen Mobilmachung" zu zeichnen, die nicht nur von der Mitarbeit der grossen Namen der Zeit gepraegt war, sondern sich zu einem wesentlichen Teil von Initiativen und Beitraegen einer unerschoepflichen Menge heute zu Recht Vergessener - darunter auch vieler schreibenden Frauen - naehrte.

Wenn man vom Vorwort (1. Kapitel) und von der Endzusammenfassung (8. Kapitel) absieht, gliedert sich die Arbeit in sechs unterschiedlich lange Abschnitte. Die ersten zwei (2. Kapitel: "Der Krieg und seine Vasallen"; 3. Kapitel: "Der Erste Weltkrieg bei Kraus, Trakl, 'Brenner'-Mitarbeitern und Tiroler Kriegsdichtern") sind kontrastiv angelegt. Nach einer kurzen historischen Einleitung wird - mit besonderem Augenmerk auf Hofmannsthal - die Arbeit der sogenannten "Literarischen Gruppe" im Kriegsarchiv knapp untersucht. Das nachfolgende Kapitel widmet sich dann der Einstellung zum Krieg im "Brenner"-Kreis - wobei Trakl (als "Warner vor dem Krieg") und die Reaktionen zu Trakls Tod einen wichtigen Platz einnehmen - und konzentriert sich dann auf Karl Kraus, mit besonderer Beruecksichtigung der Letzten Tage der Menschheit und mit einem ausfuehrlichen Exkurs zu den Zusammenhaengen um Kraus's Innsbrucker Lesung aus seinem Kriegsdrama 1920.

Die nachfolgenden Kapitel bilden gewissermassen den Mittelpunkt der Arbeit. Hier wird zum Teil Neuland betreten, indem eine Fuelle empirischer Beobachtungen zur uebermaessigen Produktion von Kriegsliteratur im Habsburger Reich angeboten wird. So widmet sich das vierte Kapitel den Aktivitaeten des k.k. oesterreichischen Militaer-Witwen- und Waisenfonds und insbesondere den von dieser maechtigen Kriegsfuersorgeorganisation herausgegebenen Jahrbuechern, die im Detail untersucht und nach den wichtigsten Motiven abgefragt werden. Mit Kapitel 5 wird diese Analyse fortgesetzt und in einen groesseren Zusammenhang gestellt, indem Publikationen - Almanache, Jahrbuecher - auch anderer Provenienz unter die Lupe genommen werden. Im 6. Kapitel wird das Funktionieren der Kriegsfuersorge selbst dargestellt. Auch hier dient eine zentrale Szene aus den Letzten Tagen der Menschheit als Einstieg in das Thema - die genaue Bilanz, die anhand einschlaegiger statistischer Zahlen gezogen wird, faellt hoechst ernuechternd aus, was die praktische Bedeutung der Kriegsfuersorgeorganisationen fuer die Notleidenden selbst betrifft, und bestaetigt vollkommen die satirische Sicht von Karl Kraus. Der durchgehende Widerspruch zwischen der nationalen Rhetorik und der Wirklichkeit der Kriegswirtschaft erscheint unter diesem Blickpunkt um so eklatanter.

Im 7. Abschnitt bietet der Verfasser einen abschliessenden Ueberblick ueber die im Laufe der Arbeit untersuchten Beispiele von Kriegsdichtung und Kriegspublizistik und deren Hauptthemen an. Hier, sozusagen als Pendant und als Ergaenzung zur Behandlung von Hofmannsthal in frueheren Kapiteln als Repraesentant einer apologetischen Kriegspublizistik, wird der Fall Thomas Mann kurz beleuchtet. Im 8. Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit dann noch einmal knapp zusammengefasst. Ein Abkuerzungsverzeichnis, ein ausfuehrliches Literaturverzeichnis und ein Personenregister runden den Band ab.

Ein wesentlicher Ertrag des Buches ist, dass es - da von dem umfangreichen Korpus der Untersuchung viele Texte vollstaendig wiedergegeben oder deren zentrale Stellen mitgeteilt werden - zugleich eine ziemlich umfassende Anthologie anbietet, die einen guten Ueberblick ueber die in Oesterreich-Ungarn wie anderswo massenweise produzierte Kriegslyrik verschafft. [2] Nichtsdestoweniger wirkt die Anhaeufung der Textbelege zuweilen ermuedend, handelt es sich bei den angefuehrten und behandelten Beispiele doch um die ewige Wiederkehr immer derselben kitschigen Motive und Gedankengaenge. Es entsteht zwar das ausfuehrliche Bild einer "Widerwart" ganz im Sinne von Kraus' Anklage gegen seine Zeit, die Freude am Detail haette jedoch zugunsten eines durchsichtigeren Aufbaus der Arbeit vielleicht hier und da geopfert werden koennen - so waere manche Wiederholung sicher auch zu vermeiden gewesen.

Auch der motivanalytische Ansatz, der eine Auffaecherung des Korpus nach thematischen Gesichtspunkten erlaubt (siehe die entsprechende Statistik auf S. 347-349) haette durch eine im weiteren Sinne diskursanalytische Strategie ergaenzt werden koennen. In der Tat ist die einfache Sortierung nach Motiven nicht in der Lage, die Textsorte Kriegslyrik genuegend zu beleuchten. Die (manchmal subtilen) rhetorischen Mechanismen, die auf eine Aesthetisierung von Krieg und Gewalt hinarbeiten, haetten ueber das inhaltliche Referieren hinaus nach einer eingehenderen, an einigen zentralen Beispielen exemplarisch durchgefuehrten formalen Analyse verlangt - was allerdings die distanzierte, zuweilen satirische Behandlung beileibe nicht ausschliessen muesste.

In neueren Untersuchungen wird das hartnaeckig ueberlieferte Bild einer nationalen Begeisterung bei Ausbruch des Krieges ueber alle Klassen hinweg ueberzeugend in Frage gestellt.[3] Die Arbeit von Eberhard Sauermann geht nicht ausdruecklick auf dieses Thema ein, bietet aber durch das umfangreiche zur Verfuegung gestellte Material und durch den herausgestellten Kontrast zwischen der tatsaechlichen Kriegsfuersorge und der Rhetorik der Kriegsbegeisterung genuegend Anhaltspunkte zur notwendigen Unterscheidung zwischen dem die Szene beherrschenden patriotischen Enthusiasmus einer intellektuellen Elite und der viel nuechterneren, von der oeffentlichen Resonanz jenes Enthusiasmus ueberdeckten Verfassung der breiten Massen an. Auch dies ist ein wichtiger Ertrag einer Arbeit, die alles in allem durch ihre Gruendlichkeit ueberzeugt und die in der Forschungsliteratur zu ihrem Thema sicher einen bleibenden Platz einnehmen wird.

Anmerkungen:

[1]. Um nur einige der juengsten zu nennen: Helmut Fries, Die grosse Katharsis. 2 Bde. (Konstanz: Verlag am Hockgraben, 1994-1995); Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Kuenstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 34, Muenchen: Oldenbourg, 1995); Marcel van der Linden und Gottfried Mergner (Hrsg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinaere Studien (Beitraege zur politischen Wissenschaft 61, Berlin: Duncker & Humboldt, 1991); Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch (Berlin: Alexander Fest Verlag, 2000); Uwe Schneider und Andreas Schumann (Hrsg.), Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne (Wuerzburg: Koenigshausen & Neumann, 2000).

[2]. Laut einer vom Verfasser zitierten zeitgenoessischen Schaetzung sollen in Deutschland zeitweilig taeglich 50.000 Kriegsgedichte geschrieben worden sein.

[3]. Fuer das Gebiet des Deutschen Reiches, s. vor allem Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914: Militarism, Myth and Mobilization in Germany (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 10, Cambridge: Cambridge University Press, 2000), deutsch Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft (Hamburg: Hamburger Edition, 2000).

Document compiled by Dr S D Stein
Last update 28/10/01 17:06:49
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