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Andreas Herberg-Rothe. Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit. München: Wilhelm Fink, 2001. 254 S. Bibliographie. EUR 30, ISBN 3-7705-3612-6.

Reviewed by Christian Th. Müller, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Published by H-Soz-u-Kult (June, 2002)


Carl von Clausewitz' theoretisches Hauptwerk blieb unvollendet. Vor Fertigstellung der 1827 angekündigten Überarbeitung raffte ihn im November 1831 die Cholera hinweg. Das überlieferte Manuskript "Vom Kriege" gibt daher eher Aufschluß über die unterschiedlichen Reflexionsstufen der Clausewitzschen Theoriebildung als über seine schlußendlichen Positionen. Folgerichtig sah er voraus, daß die noch "unförmliche Gedankenmasse" seiner Aufzeichnungen "unaufhörlichen Mißverständnissen ausgesetzt, zu einer Menge unreifer Kritiken Veranlassung geben wird; denn in diesen Dingen glaubt jeder das, was ihm einfällt, indem er die Feder ergreift, eben gut genug, um gesagt und gedruckt zu werden, und hält es für ebenso unbezweifelhaft, als daß zwei mal zwei vier ist." [1]

Trotz erheblicher Fortschritte in der Clausewitzforschung seit dem Zweiten Weltkrieg polarisiert sein Werk bis heute. Für Verwirrung sorgte dabei vor allem seine gleichsam dialektische Methode, den Dingen durch Gegenüberstellung von These und Antithese auf den Grund zu gehen und ein Spannungsfeld denkmöglicher Faktoren aufzuzeigen. Seine Interpreten neigten und neigen demgegenüber sehr häufig zu einseitigen Sichtweisen, die der Komplexität seiner Gedankengänge nicht gerecht werden. Während beispielsweise John Keegan ihn zum Theoretiker des entgrenzten Krieges seit 1789, wenn nicht gar zum Vordenker des totalen Krieges stilisiert, hält Martin van Creveld Clausewitz gerade deshalb für überholt, weil er eine zweckrationale begrenzte Kriegführung propagiert habe (S. 12). Dabei wird die Theorie von Clausewitz als "Steinbruch" verwendet, aus dem unter Berufung auf seinen großen Namen schlimmstenfalls vermeintlich eindeutige Anleitungen für das Handeln im Kriege abgeleitet werden.

Die Uneindeutigkeit der Lehren des Meisters hat nun Andreas Herberg-Rothe in den Mittelpunkt seines Buches mit dem bezeichnenden Titel "Das Rätsel Clausewitz" gestellt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei ein Prolog über die Veränderung des Krieges in der heutigen Welt und die damit einhergehenden Versuche eines Paradigmenwechsels der politischen Theorie des Krieges. So unterschiedlich die dabei vorgetragenen Ansätze - etwa Keegans oder van Crevelds - sein mögen, so ist ihnen doch die Ablösung der zweckorientierten instrumentellen durch neue Formen der existentiellen Kriegsauffassung gemeinsam, ganz gleich, ob letztere sich durch Propagierung eines quasiaristokratischen Kriegerkultes oder die Betonung des Primats des gewaltsamen Kampfes äußert (S. 8). Diese von den Protagonisten als Kritik an Clausewitz formulierten Auffassungen bewegen sich jedoch auf dem von ihm in den verschiedenen Phasen seiner Theorieentwicklung selbst abgesteckten Feld, wie Herberg-Rothe in den folgenden neun Kapiteln deutlich macht.

Im ersten Kapitel zeichnet er anhand von "Jena", "Moskau" und "Waterloo" die Bedeutung der Napoleonischen Kriege in Clausewitz' Theorie nach. Während nach Herberg-Rothe "Jena" für Entgrenzung des Krieges, Primat der Offensive und Streben nach der Entscheidungsschlacht steht, in deren Gefolge Clausewitz eine existentielle Kriegsauffassung entwickelte, verwies ihn die Erfahrung von "Moskau" auf die Überlegenheit der Defensive, den Wert der Vermeidung der Entscheidungsschlacht sowie die auf Grenzen des militärisch Machbaren, was ihm wiederum den Primat der Politik nahe legte. "Waterloo" verdeutlichte darüber hinaus die bis zur Selbstvernichtung führenden Folgen der Entgrenzung des Krieges, was für seine Theorie dazu geführt habe, die "Strategie der Begrenzung von Kriegen nunmehr mit denen der napoleonischen Entgrenzung gleichgewichtig zu behandeln (S. 48)." Danach betrachtet der Autor eingehend die jeweils drei eskalierenden und moderierenden Wechselwirkungen im Krieg.

Der darauffolgende Komplex von drei Kapiteln trägt den Titel "Gesichter des Krieges bei Clausewitz". Hier wird im Kapitel drei zunächst die Entwicklung des Kriegsbegriffes zwischen absolutem und wirklichem Krieg sondiert. Für Herberg-Rothe sind dabei die im ersten Kapitel des ersten Buches von Clausewitz anzutreffende zweckrationale Definition, die eskalierenden und moderierenden Wechselwirkungen sowie die "wunderliche Dreifaltigkeit" des Krieges - bestehend aus "ursprünglicher Gewaltsamkeit seines Elements", "Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls" sowie "untergeordneter Natur eines politischen Werkzeuges" [2] - nicht miteinander kompatibel. Stattdessen vertritt er die innovative Auffassung, "daß der eigentliche Begriff des Krieges Clausewitz' erst mit der »wunderlichen Dreifaltigkeit« formuliert wird."

Dem schließt sich eine Untersuchung des Zusammenhangs der Kategorien Ehre und Anerkennung mit der existentiellen Kriegsauffassung des frühen Clausewitz an. Dabei leitet Herberg-Rothe aus dem mit letzterer verbundenen Kampf zur Wiedererlangung von Anerkennung und Ehre - über die durch Einhaltung der Kriegskonventionen ausgedrückte Fortdauer der Anerkennung im Krieg - die instrumentelle Kriegsauffassung des späten Clausewitz ab (S. 104). Diese leider wenig stringente Argumentation geht einher mit zum Teil ermüdenden Exkursen über Anerkennungsformen oder die Ambivalenz des Herr-Knecht-Verhältnisses bei Hegel. Im Ergebnis kommt der Autor jedoch zu einer ebenso einfachen wie aktuellen Schlußfolgerung, dahingehend, daß die Verweigerung der Anerkennung "zur Eskalation und der existentiellen Kriegsauffassung, ihre Gewährung jedoch zur Begrenzung und der Instrumentalität des Krieges in Clausewitz' Denken" führen (S. 124).

War im vierten Kapitel die existentielle Kriegsauffassung der Ausgangspunkt der Überlegungen, so steht im fünften Kapitel die Zweckrationalität, mithin die instrumentelle Kriegsauffassung im Mittelpunkt. Dabei betrachtet Herberg-Rothe zunächst die verschiedenen Bedeutungsebenen von Zweck und Rationalität, um dann im zweiten Teil auf die inneren Widersprüche moderner Kriegführung zwischen geringerer Grausamkeit der "gebildeten Völker" und "machbarer Maßlosigkeit" (Herfried Münkler) in der Gewaltanwendung einzugehen (S. 138). Sein Fazit im Hinblick auf die "wunderliche Dreifaltigkeit" des Krieges lautet, daß sich die Theorie zwischen deren "drei Anziehungspunkten schwebend erhalten" und sie die jeweils unterschiedlichen Rationalitäten "zusammendenken" müsse (S. 145).

Die Kapitel sechs und sieben bilden gemeinsam einen "Mit Clausewitz über Clausewitz hinaus" überschriebenen Komplex. Zunächst wendet sich der Autor darin Clausewitz' sogenanntem "Testament", dem ersten Kapitel des ersten Buches: "Was ist der Krieg?", und dessen theoretischen Implikationen für das Gesamtwerk zu. Herberg-Rothe sieht darin vor allem den Versuch Clausewitz', seine gegensätzlichen Kriegserfahrungen in einer Synthese zusammenzufassen. Dabei bilden die anfängliche dreiteilige Kriegsdefinition und die am Ende stehende "wunderliche Dreifaltigkeit" gleichsam These und Antithese, deren Spannungsfeld den Krieg als Prozess bestimmt.

Das siebte Kapitel widmet sich demgegenüber der Polarität und Asymmetrie von Angriff und Verteidigung. Im Vordergrund steht dabei jedoch weniger das Verhältnis von Angriff und Verteidigung, sondern die Exegese der verschiedene Deutungen von Polarität im Verhältnis zum "wahren logischen Gegensatz" (S. 185), die den Leser in ihrer gewundenen Darstellung sophistisch anmuten und am Ende eher ratlos zurücklassen.

Im letzten Komplex "Krieg und Clausewitz im 21. Jahrhundert" geht Herberg-Rothe zunächst noch einmal dezidiert auf die Clausewitz-Kritiker und Verfechter einer Neuauflage der existentiellen Kriegsauffassung ein. Dabei charakterisiert er Keegans und van Crevelds Sicht auf Clausewitz' Theorie als eindimensional, wenn nicht gar verzerrend. Während er Keegan klar nachweist, daß die von ihm favorisierte Rückkehr zu quasi-aristokratischen Kriegerkulturen angesichts der modernen Waffentechnologie nicht zu einer Be-, sondern eher zu einer Entgrenzung der Gewalt führen würde, verdeutlicht er van Creveld, daß selbst Low-Intensity-Konflikte und entgrenzte Kriege durchaus "politisch, also zweckrational, bestimmt sein können" (S. 209). Überdies kann er unter Verweis auf die Entwicklung des Clausewitzschen Werkes nachweisen, daß selbst so vehemente Clausewitz-Kritiker wie Keegan und van Creveld mit ihren theoretischen Bemühungen nicht über das bereits von Clausewitz abgesteckte Feld hinaus gelangt sind. Damit verbindet Herberg-Rothe einerseits ein überzeugendes Plädoyer gegen allzu eindimensionale und kurzschlüssige Argumentationen. Andererseits liefert er aber auch nicht das theoretische Rüstzeug, um das Dickicht der komplex wirkenden Faktoren zu durchdringen, so daß der Leser auch weiterhin primär auf den "Takt seines Urteils" [3] zurückgeworfen bleibt.

Das neunte und letzte Kapitel wendet sich schließlich dem Verhältnis von Politik und Krieg zu. Dabei erfährt der Leser nicht nur von den unterschiedlichen Politikbegriffen des Carl von Clausewitz, sondern auch Erhellendes über das Verhältnis von Logik und Grammatik.

Letzteres ist nur ein Beispiel für einen grundsätzlichen Vorzug des Buches. Herberg-Rothe geht den von Clausewitz verwendeten Begriffen auf den Grund und erklärt deren damalige Bedeutung mittels zeitgenössischer Schriften. So leistet er nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis des Clausewitzschen Werkes, sondern bietet auch Einblicke in den damaligen Zeitgeist.

Hinsichtlich der Clausewitz-Interpretation ist ihm vor allem seine intensive Auseinandersetzung mit der in der bisherigen Clausewitz-Forschung relativ wenig beachteten "wunderlichen Dreifaltigkeit" hoch anzurechnen. Ob sie aber tatsächlich als Versuch von Clausewitz bewertet werden kann, am Ende des ersten Kapitels des ersten Buches einen einheitlichen Begriff des Krieges zu entwickeln (S. 82), muß zumindest fragwürdig erscheinen.

Das eigentliche Verdienst Herberg-Rothes besteht jedoch darin, die Ambivalenz und die nach wie vor bestehenden Interpretationsprobleme der Clausewitzschen Theorie herausgearbeitet zu haben, ohne der Versuchung einer simplifizierten und tendenziell eindimensionalen Deutung zu erliegen. Dieser Vorzug birgt zugleich zwei entscheidende Probleme. Zum einen ist das Buch keine leichte Lektüre. Um den häufig gewundenen und keineswegs immer stringenten Argumentationen folgen zu können, benötigt der Leser neben Geduld auch ein gerüttelt' Maß an Vorkenntnissen zum Clausewitzschen Werk und seiner Interpretation. Zum anderen wirft es beim Leser eher Fragen auf, als es Antworten liefert.

Schließlich ist auf einige methodische und formale Defizite einzugehen. "Jena", Moskau" und "Waterloo" bilden für Herberg-Rothe entscheidende Punkte in der Clausewitzschen Theoriebildung. Der unbedarfte Leser würde nun annehmen, daß sich der Autor, wenn er von der "Zeit um Jena" (S. 93) oder von "nach Waterloo" (S. 97) schreibt, auf die Jahre 1806 bzw. 1815 bezieht. Doch weit gefehlt. Führt er "Jena", "Moskau" und "Waterloo" zunächst als historische Ereignisse ein, stellt sich eher nebenbei heraus, daß diese Termini in seiner Argumentation primär auf Clausewitz' entsprechenden Feldzugsstudien von 1823-24, 1824-25 und 1827-28 bezogen sind. Dies und der gleichzeitige Rekurs auf die Ereignisse selbst sind daher geeignet, beim Leser Verwirrung auszulösen.

Bei der starken Bedeutung, die diese drei Studien "höchstwahrscheinlich" (S. 49) für Clausewitz' theoretische Wende 1827-30 hatten, vermißt man neben einer näheren Begründung dieser These allgemein die anschauliche Verknüpfung der Theorieentwicklung mit den jeweiligen Feldzugsanalysen. So bleibt die Aussage, Clausewitz - der sich doch mit seiner Überzeugung von der größeren Stärke der Verteidigung den Unmut ganzer Generationen preußisch-deutscher Generalstabsoffiziere zugezogen hatte - sei "nach Jena Anhänger der Offensive um jeden Preis" (S. 38) gewesen, ohne jeden Quellenbeleg. Obschon Andreas Herberg-Rothe einige neue und bedenkenswerte Perspektiven der Clausewitz-Interpration entwickelt hat, bleibt insgesamt festzuhalten, daß "das Rätsel Clausewitz" weiterhin seiner Lösung harrt.

Anmerkungen:

[1] Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, 4. Aufl., Frankfurt/Main Berlin 1994, S. 9.

[2] Ebd., S. 36.

[3] Ebd., S. 54.

Document compiled by Dr S D Stein
Last update 17/09/02 08:53:45
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