Copyright © 2000, H-Net, all rights reserved. This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and the list.

H-Net Review.jpg (37078 bytes)

Kurt Flasch. Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Ein Versuch. Berlin: Alexander Fest Verlag, 2000. 447 S. . DM 68, ISBN 3-8286-0117-0.

Reviewed by Ruediger C. Graf, Institut fuer Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universitaet zu Berlin .
Published by H-Soz-u-Kult (November, 2000)


Mit seiner Analyse der Schriften deutscher Intellektueller ueber den Ersten Weltkrieg hat sich der emeritierte Philosophiehistoriker Kurt Flasch, der sich in seiner akademischen Laufbahn im wesentlichen mit der Philosophie des Mittelalters beschaeftigte, auf ein fuer ihn neues Terrain begeben. Als Historiker koennte man Flasch auf den ersten Blick vorwerfen, dass er bei seinem "Versuch" ueber die Rolle der Intellektuellen im Ersten Weltkrieg kaum an die reichhaltige historische Forschung zu diesem Gegenstand anschliesst [1], sondern sich nahezu ausschliesslich mit den Quellentexten beschaeftigt, die er extensiv zitiert. Ein solcher Vorwurf griffe jedoch zu kurz, weil Flaschs Forschungsinteresse ein explizit philosophiegeschichtliches ist. Er will keinen weiteren Beitrag zu der historischen Kontroverse ueber die Reichweite der Kriegsbegeisterung und des "Augusterlebnisses" oder ueber die Ueberzeugungskraft der "Ideen von 1914" leisten. [2] Vielmehr geht es ihm darum, ein in der Philosophiegeschichtsschreibung vernachlaessigtes Kapitel untersuchen, naemlich "das philosophische Denken des Ersten Weltkrieges" (8 und auch 369f) und dabei ein Buch zu schreiben, "das nach den Quellen schmeckt" (9).

Die im Verlauf des Buches immer wiederkehrende Absichtserklaerung, die Philosophie oder das Denken des Ersten Weltkrieges analysieren zu wollen, offenbart durch ihre Doppeldeutigkeit das der Studie zugrunde liegende methodische Problem. Denn unter "Philosophie des Weltkrieges" kann man einerseits das philosophische Denken verstehen, welches der Weltkrieg hervorgebracht hat, und andererseits die Summe der Reflexionen, mit denen relativ eigenstaendige Denker versuchten, den Weltkrieg zu erfassen oder auf den Begriff zu bringen. So existiert zum einen eine grosse Menge weitgehend stereotyper Texte, in denen der Krieg thematisiert wird, die immer wieder die gleichen Topoi aufweisen (Flaschs noch unveroeffentlichte Bibliographie der Philosophie des Weltkrieges, die er auf einer CD-ROM herauszugeben plant, umfasst mehr als 13.000 Titel.) Zum anderen wurde aber ein grosser Teil der Texte von individuellen Denkern produziert, die sich explizit als selbstaendige Philosophen begriffen und das Thema in je eigener Weise mit spezifischen Schattierungen behandelten. Flasch ventiliert das Problem, wie die stereotypen Textmassen mit den je individuellen Entstehungsbedingungen und Ausgestaltungsformen zu relationieren seien, in seiner Studie immer wieder, aber es gelingt ihm nicht, eine allgemeine Loesung zu finden. Daher entscheidet er sich dafuer, das Problem zu umgehen: In der ersten Haelfte seiner Untersuchung analysiert er in ausfuehrlichen Einzeldarstellungen individuelle Denker des Ersten Weltkrieges, um sich dann in der zweiten Haelfte, unabhaengig von diesen Einzelanalysen, den Textmassen und ihrer Ordnung zu widmen.

Nach Flaschs Auffassung ist die fachliche Ausbildung als Philosoph keine Bedingung dafuer, Kriegsphilosoph zu werden, sondern er meint, der Versuch, "das neue Geschehen und die neuen Pflichten mit den anerkannten Grundsaetzen der Zeit zusammenzubringen oder aus ihnen abzuleiten," habe viele Intellektuelle in Philosophen verwandelt. (373) Daher behandelt er nicht nur Fachphilosophen, sondern auch Gelehrte anderer Wissenschaften. In den Einzelstudien im ersten Teil seines Buches untersucht Flasch die Kriegsphilosophien Rudolf Euckens, Ernst Troeltschs, Friedrich Meineckes, Max Schelers, Rudolf Borchardts und Hugo Balls. Dabei legt er fuer Euckens Kriegsreden aus dem Jahr 1914 dar, dass sie kanon- und topoibildend wirkten und sozusagen die Paradigmen des entstehenden Typus der Kriegsrede deutscher Gelehrter bildeten. Der Typus der Kriegsrede, mit der viele deutsche Intellektuelle 1914 und 1915 versuchten, den Krieg mit den ihnen jeweils zur Verfuegung stehenden intellektuellen Mitteln zu begreifen und einen Beitrag zur "geistigen Mobilmachung" zu leisten, habe, so Flasch, seine volle Auspraegung bei Ernst Troeltsch gefunden (46f). Am Beispiel Troeltschs kann Flasch zudem die Wandlung einiger deutscher Gelehrter von "deutschnationalen Kriegsapologeten und Grossmachtdenkern" zu "Vernunftrepublikanern" verdeutlichen (170). Denn hier wie auch bei den anderen Analysen dehnt er den Untersuchungszeitraum in die Weimarer Republik aus, um so die Wandlungen der Kriegsphilosophien zeigen zu koennen. Ueberzeugen kann insbesondere Flaschs Analyse Schelers: Waehrend dessen Kriegsschriften in der Philosophiegeschichtsschreibung immer wieder als Entgleisungen angesehen werden, arbeitet Flasch die vielfaeltigen Verbindungen zwischen Schelers "Der Genius des Krieges" und der von ihm entwickelten materialen Wertethik heraus.

Bedeutsamer als die Einzelanalysen der bekannten und in der Forschung ausgiebig behandelten Autoren sind Kurt Flaschs Ueberlegungen zur Ordnung der Textmassen nach Autoren, Themen, Tendenzen, Wendepunkten und Adressaten. Bereits in der ersten Haelfte seines Buches entwickelt er anhand von Berliner Universitaetsreden aus dem Herbst 1914 die zentralen Elemente der Kriegsreden: Das Erlebnis von Kriegsbeginn und Mobilmachung war der Ausgangspunkt vieler Reden. Die Reden hatten das Ziel, die Gerechtigkeit der deutschen Sache zu beweisen, verstanden den Kriegsausbruch als eine Widerlegung des Pazifismus, wollten die deutsche Ueberlegenheit beweisen, versuchten eine geschichtliche Selbsteinordnung und setzten dazu religioese Effekte ein. In der zweiten Haelfte nun bestimmt Flasch im Anschluss an eine Gruppierung der Autoren nach Prestige und einen Ueberblick ueber das Themenspektrum der kriegsphilosophischen Texte die wesentlichen Veraenderungen des Rede- und Denkstils, welche durch die Kriegserfahrung erzeugt, bestaetigt oder modifiziert worden seien. Die Texte, erklaert Flasch, wiesen eine Tendenz zur Lyrisierung und Archaisierung bzw. Sentimentalisierung auf. Die vorherrschende Erklaerungsweise sei intentionalistisch, weil komplexe Prozesse auf einfache Intentionen von Agenten zurueckgefuehrt wuerden. Zudem sei eine extreme Nationalisierung und Polarisierung in den Texten festzustellen, in denen es haeufig um Sein oder Nichtsein der Nation gehe. Schliesslich zeigten sie eine Tendenz zur Maskulinisierung und zur intensiven Verwendung religioesen Vokabulars. (267-278) Abgesehen von diesen Tendenzen fuehrt Flasch in seiner zusammenfassenden Analyse der Texte noch ausfuehrliche Belege dafuer an, 1916/17 eine Ideenwende anzusetzen, weil zu diesem Zeitpunkt die Einheitsfront der Intellektuellen bruechig geworden sei und die Mobilmachungsideologie ihre Wirksamkeit verloren habe (279-289).

Flaschs detaillierte und ausgewogene Einzelanalysen der Kriegsphilosophen vollziehen sich nicht nur auf einem hohen intellektuellen Niveau, sondern sie sind gleichzeitig gut lesbar und auch dem philosophischen Laien verstaendlich. Stoerend wirken jedoch die immer wieder eingestreuten kritischen Bemerkungen des Philosophen Flasch ueber die behandelten Autoren, mit denen er nachzuweisen versucht, an welchen Punkten diese argumentative Fehler begehen oder Unrecht haben. Zwar erklaert Flasch zu Beginn seines Buches, er "zetere nicht mit" den Autoren und wenn er sie kritisiere, "dann nur indirekt und aufgrund ihrer eigenen Kriterien" (10), aber auch diese immanente Kritik hat nur einen begrenzten Wert fuer die historische Analyse. Indem er Eucken, Scheler, Troeltsch und Meinecke argumentative Schwaechen und logische Inkonsistenzen nachweist, zeigt er auf eindringliche Weise, dass auch zu differenziertem Denken faehige Autoren in ihren Kriegsschriften hinter die eigenen methodischen Standards zurueckfielen. Seine Analyse bricht aber leider immer mit diesen haeufig triumphierend vorgetragenen Beweisen ab, anstatt die eigentlich relevante historische Frage zu stellen, aus welchen Gruenden viele der Verfasser so weit hinter ihren geistigen Moeglichkeiten zurueckblieben.

Als weiterer Kritikpunkt muss angemerkt werden, dass Flasch bei seiner Behandlung der Kriegsphilosophie die genau umgrenzte Gruppe der Philosophen verlaesst und sich mit den deutschen Intellektuellen im allgemeinen beschaeftigt, ohne diese in irgendeiner Weise naeher zu bestimmen oder sich eine der diversen Definitionen des "Intellektuellen" zu eigen zu machen. [3] Dadurch bleiben die Kriterien der Textauswahl relativ unbestimmt, wenn man von Flaschs Anspruch absieht, die "relevanten" Texte ausgewaehlt zu haben, wobei er selbst zugestehen muss, man koenne auch anders entscheiden.

Alles in allem bietet Flaschs Studie ueber die "Philosophie des Weltkrieges" jedoch viele Anregungen und bedenkenswerte Ueberlegungen zu den einzelnen analysierten Autoren und zur Ordnung der Textmassen. Da Flasch ueber weite Strecken die Quellen sprechen laesst, stellt "Die geistige Mobilmachung" zudem quasi eine Anthologie der Kriegsschriften wichtiger deutscher Intellektueller dar und erzeugt beim Lesen Fremdheitserfahrungen, wie sie sonst vielleicht nur in ethnologischen Arbeiten zu finden sind.

Anmerkungen

[1]. Vgl. z.B. Mommsen, Wolfgang J. (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Kuenstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, Muenchen 1996; Fries, Helmut: Die grosse Katharsis, 2 Bde., Konstanz 1994 und 1995 sowie die entsprechenden Kapitel in den diversen Sammelbaenden zur Geschichte des Ersten Weltkrieges.

[2]. Siehe dazu als Einfuehrung: Kruse, Wolfgang/Verhey, Jeffrey: Zur Erfahrungs- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges, in: Eine Welt von Feinden. Der grosse Krieg 1914-1918, hg. v. Wolfgang Kruse, Frankfurt/Main 1997, 159-195 und ausfuehrlicher: Verhey, Jeffrey: The Myth of the Spirit of 1914 in Germany 1914-1915, (Diss.) Berkeley 1991.

[3]. Zu denken ist hier insbesondere an: Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Koelner Zeitschrift fuer Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), 207-216 und Bourdieu, Pierre: Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Doelling, Hamburg 1991, 41-65.

Document compiled by Dr S D Stein
Last update 21/03/2001
Stuart.Stein@uwe.ac.uk
©S D Stein

Reviews Index Page
Holocaust Index Page
Genocide Index Page
ESS Home Page