Copyright © 2001, H-Net, all rights reserved. This
work may be copied for non-profit educational use if proper credit is
given to the author and the list.
Vejas Gabriel Liulevicius. War Land on the
Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World
War I. Studies in the Social and
Cultural History of Modern Warfare, 9. Cambridge: Cambridge University
Press, 2000. viii+309 S. 5 Karten. BRP 37,50 (gebunden), ISBN
0-521-66157-9.
Reviewed by Bert Hoppe,
Institut fuer Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universitaet Berlin. Der Erste Weltkrieg erscheint in der Forschung bislang als ein weitgehend "westliches" Phaenomen: An der Westfront materialisierte zum einen das industrielle Toeten in der bis dahin ungekannten Form des jahrelangen Stellungskrieges, der in Romanen wie Juengers "In Stahlgewittern" und Remarques "Im Westen nichts Neues" seinen literarischen Niederschlag fand. Zum anderen wurde mit der Propagierung des "Geistes von 1914" der vermeintliche Gegensatz zwischen der rein technokratischen "Zivilisation" des Westens und der durchgeistigten deutschen "Kultur" thematisiert. Diese Blickrichtung brachte es mit sich, dass das Geschehen im Westen von Historikern mehr Aufmerksamkeit erfuhr, als der scheinbar "konventionellere" Krieg an der Ostfront [1]. Doch die Erfahrungen, die die Deutschen waehrend des Krieges im Osten machten, so Vejas Gabriel Liulevicius in seinem Buch "War Land on the Eastern Front", waren auf ihre Weise ebenso bedeutsam, wie die Erfahrungen an der Westfront. Denn waehrend vor Verdun der Mythos eines in den Schuetzengraeben gehaerteten Neuen Menschen entstand und das Bild des Erzfeindes Frankreich lediglich neue Facetten erhielt [2], stiessen die deutschen Armeen im Osten in ein Land vor, das den meisten Soldaten vollkommen unbekannt war und ueber das bestenfalls vage Vorurteile bestanden. Die in den Jahren des Krieges gewonnenen Eindruecke konnten sich daher besonders tief einpraegen und bestimmten auch langfristig das Bild, das sich die Deutschen vom Osten machten. In diesen Fronterfahrungen sieht Liulevicius das "verborgene Vermaechtnis" (S. 1) des Ersten Weltkrieges, das sich die Nationalsozialisten nutzbar machten und radikalisierten. Den deutschen Soldaten an der Ostfront erschienen die nach der Wende durch die Schlacht von Tannenberg eroberten Gebiete nicht nur unbekannt und fremd, sondern auch befremdlich. Liulevicius beschreibt, wie verstoert die Eroberer auf die unendlich scheinende Weite der Landschaft und die undurchdringlichen Urwaelder reagierten. Mehr noch als ueber die ueberwaeltigende Natur wunderten sich die Deutschen jedoch darueber, dass die Bevoelkerung in der Region offensichtlich gar nicht daran dachte, das sumpfige Brachland trockenzulegen und die Waelder wirtschaftlich zu nutzen. Hierin liegt fuer Liulevicius bereits ein wesentlicher Unterschied der Erfahrungen an West- und Ostfront: Waehrend die Konfrontation mit Frankreich und England durch das Gegensatzpaar "westliche Zivilisation" gegen vermeintlich ueberlegene idealistische "deutsche Kultur" ausgedrueckt wurde, schien es fuer die Deutschen in den eroberten Randgebieten des Russischen Reiches nicht einmal eine Zivilisation zu geben: Die Region war in ihren Augen ein "Unland", das erst kultiviert werden musste. General Erich Ludendorff, Stabschef des Oberbefehlshaber Ost Paul von Hindenburg, sah darin eine Chance: Die deutsche Armee konnte nun beweisen, dass sie nicht nur in der Lage war, ein besetztes Gebiet zu kontrollieren, sondern auch ihr kreatives Potential vorfuehren, indem sie eine Ordnung nach den eigenen, militaerischen Vorstellungen schuf. Das Ergebnis war die Gruendung von "Ober Ost", eines streng abgeschotteten Militaerstaates auf dem Gebiet von Litauen, Kurland und eines Teiles von Weissrussland, der dem Zugriff ziviler Instanzen entzogen war. Ludendorffs "militaerische Utopie", so fuehrt Liulevicius aus, ging weit ueber traditionellen Konservatismus hinaus. Ober Ost sollte ein Beispiel fuer eine moderne Regierungsform sein - buerokratisch, technokratisch, rationalisiert und ideologisch. Unter dem Slogan der "Deutschen Arbeit" sollten "Land und Leute" kultiviert, d.h. vollstaendig umgestaltet und fuer die staendige Inbesitznahme vorbereitet werden. Liulevicius unterscheidet zwei Wege, auf denen die Militaerverwaltung auf dieses Fernziel hinarbeitete: Die "Verkehrspolitik", deren Aufgabe es vorrangig war, die Ressourcen und die Bevoelkerung des besetzten Gebietes rationell zu erfassen und zum Nutzen der Deutschen mobilisieren, wurde durch das "Kulturprogramm" ergaenzt, mit dem deutschen Soldaten und Einheimischen eine spezielle Form der Arbeitsteilung eingebleut werden sollte - die Deutschen als Organisatoren und die Einheimischen als blosse Ausfuehrende der "Deutschen Arbeit", d. h. der Umformung der besetzten Gebiete gemaess einer spezifischen deutschen Leitkultur. Diese Arbeitsteilung, die auf dem bereits lange vor 1914 konstatierten angeblichen "Kulturgefaelle" gegenueber Russland basierte, wurde schliesslich zur wesentlichen Legitimationbasis der Deutschen fuer ihre Anwesenheit im Osten. Wenn die Deutschen auch bei Kriegsende einen positiven "Ausbeutungssaldo" in Ober Ost verbuchen konnten und sich die Besetzung dieser Region somit vorteilhaft auf die deutsche Kriegswirtschaft ausgewirkt hatte, so scheiterte die deutsche Militaerverwaltung doch mit ihrem Ziel, das Gebiet auch langfristig an das Deutsche Reich zu binden. Liulevicius sieht die Ursache fuer dieses Scheitern nicht nur in der militaerischen Niederlage begruendet, sondern auch als Folge der inneren Widersprueche, an denen Ober Ost von Anfang an gelitten hatte. Sowohl in der Verkehrs-, wie auch in der Kulturpolitik verhinderten die hochfliegende Plaene der Militaerverwaltung einerseits und die Verachtung fuer die "primitive" einheimische Bevoelkerung und ihre ruecksichtslose Ausbeutung anderseits, dass sich die Deutschen an die Realitaeten in Ober Ost anpassten, und fuehrten dazu, dass sie systematisch die anfaenglichen Sympathien von Teilen der Bevoelkerung verspielten. Versuche der Militaerverwaltung, den Menschen das deutsche Verstaendnis von Disziplin, Buerokratie, Autoritaet aufzuzwingen, wurden von dieser als Schikane aufgefasst. Auch in der Frage des nationalen Bewusstseins machte sich ein bemerkenswerter Wandel bemerkbar. Hatten deutsche Soldaten zu Beginn des Krieges auf die Frage nach der Nationalitaet noch haeufig Antworten vernommen wie: "Ich bin Christ" oder "Ich bin von hier", so wurden schliesslich selbst Bauern fuer die nationale Frage sensibilisiert, wenn ihnen das letzte Pferd konfisziert wurde. Waehrend die Besetzten die ihnen zugewiesene Dienstbotenrolle also zurueckwiesen und stattdessen ein staerkeres nationales Selbstbewusstsein entwickelten, vollzog sich nach Meinung von Liulevicius auf der Seite der Deutschen eine umgekehrte Entwicklung: Die Begegnung mit dem ethnischen Flickenteppich, den sie in ihren gewohnten Kategorien nicht fassen konnten, verunsicherte die Besatzer in ihrem nationalen Selbstverstaendnis. Die Deutschen verwirrte nicht nur, dass die Frage der Nationalitaet fuer die Einheimischen teilweise ohne Belang war, weil sie sich eher nach ihrer Religion definierten oder ihnen Ludendorffs Blick auf das "grosse Ganze" abging. Sonderbar war in deutschen Augen auch der Voluntarismus des Nationalitaetsbegriffes: Da gab es national gespaltene Familien oder Personen, die von den einen als Polen, von anderen aber als Litauer gesehen wurden. Dieses Durcheinander machte den Deutschen, Liulevicius zufolge, zu schaffen, da ihre eigene nationale Identitaet noch ein junges Konstrukt war. Liulevicius sieht daher in dem Konzept der "Deutschen Arbeit" auch eine integrierende Funktion: Die Deutschen sollten durch die Umgestaltung von Ober Ost eine neue Identitaet als ueberlegende Gestalter erhalten. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Verunsicherung tatsaechlich so beherrschend war, zumal Liulevicius selbst zahlreiche Belege dafuer anfuehrt, dass die Besatzer durch die Konfrontation mit der nach ihrer Ansicht niedriger stehenden Kultur in den besetzten Gebieten sich in ihrer nationalen Identitaet eher gestaerkt fuehlten. So notierte beispielsweise Viktor Klemperer nach einem Besuch in einem ostjuedischen Schtetl: "Nie war ich so froh, ein Deutscher zu sein." Bemerkenswert ist der Wandel des Bildes vom Osten, der sich vor dem Hintergrund der Beobachtungen in den besetzten Gebieten innerhalb der Militaerverwaltung vollzog. So wurde der praegende erste Eindruck von Gewalt, Chaos und Krankheit vielfach weniger als Folge des Krieges, denn als ein dauerhaftes Kennzeichen von "Land und Leuten" gesehen. Die 1916 vom deutschen Oberkommando publizierte "Voelkerverteilungskarte" suggerierte, dass Ober Ost ein Gebiet sei, das aufgrund seiner chaotischen ethnischen Struktur einer ordnenden - eben deutschen - Hand beduerfe. "Aus der ethnographischen Situation entstehen von ganz allein politische Probleme," hiess es im Vorwort zu der Karte, "Es bleibt dem Leser ueberlassen, die Schlussfolgerungen zu ziehen." (S. 94) Freiherr Wilhelm von Gayl, als Leiter der politischen Abteilung von Ober Ost die rechte Hand Ludendorffs, praesentierte der Reichsregierung in einem Memorandum 1917 seine Schlussfolgerungen. In seinem Bericht schlug er - mehr als zwanzig Jahre vor Theodor Schieder - die Verschiebung ganzer Bevoelkerungsgruppen und die Schaffung kompakter Siedlungsgebiete fuer deutsche Wehrbauern vor. Auf diese Weise wandelten sich die Kategorien, in denen der Osten gefasst wurde: Anstatt von "Land und Leuten", so Liulevicius, war nun von "Raum und Volk" die Rede, wobei Raum nun als etwas angesehen wurde, das tendenziell unendlich dehnbar war, sich also nicht mehr allein auf das engere Gebiet von Ober Ost beschraenkte. Insbesondere nach dem Scheitern des Experimentes Ober Ost infolge der Niederlage Deutschlands sollten diese Kategorien ihre Wirkung entfalten. Ueberzeugt davon, "im Felde unbesiegt" gewesen zu sein, machten die deutschen Militaers, neben den innenpolitischen Gegnern, die gegenueber den kulturellen Errungenschaften der Deutschen undankbaren "Voelkerschaften" in den besetzten Gebieten fuer ihre Niederlage verantwortlich und zogen daraus ihre Lehre, dass fuer ein "Volk ohne Raum" ein "Raum ohne Volk" vorteilhafter sei. Der Wert der Untersuchung von Liulevicius liegt insbesondere darin, dass er es schafft, die Ursachen fuer den Wandel des Bildes, das sich die Deutschen vom Osten machten, zu analysieren und die Verbindungslinien zwischen den Vorstellungen der Militaerverwaltung von Oberost und denen der spaeteren NS-Elite nachzuzeichnen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die in den Erfahrungen waehrend des Ersten Weltkrieges liegende Grundlage fuer die waehrend des Zweiten Weltkrieges im "Generalplan Ost" gipfelnden Plaene aufzuzeigen, die in der Diskussion um die Rolle der Historiker als "Vordenker der Vernichtung" kaum erwaehnt wurden. Weniger gelungen erscheinen hingegen die Deutungen der Haltung und Sichtweisen der breiten Masse der deutschen Soldaten gegenueber dem Osten. So ist es beispielsweise zweifelhaft, ob das "going native" von deutschen Soldaten in abgeschiedenen Etappe im tiefen Litauen fuer die deutsche Militaerverwaltung tatsaechlich ein brennendes Problem war. Die Aufforderung an die Soldaten: "Bleibe deutsch! Wenn Du Dich erholen oder ausruhen willst, geh ins Soldatenheim." wird ihre Ursache kaum darin gehabt haben, dass Ludendorff fuerchtete, dereinst eine Siegesparade mit litauisch sprechenden Soldaten anfuehren zu muessen. "Deutsch bleiben" war in diesem Fall wohl kaum woertlich gemeint, sondern spielte eher auf die Freizeitalternativen der Soldaten an: Besuch im Bordell oder ein Abend im Lesezirkel. Lebenslaeufe wie die des Schriftstellers Viktor Jungfer, der aufgrund seiner Enttaeuschung ueber die Praxis der deutschen Besatzungspolitik in Ober Ost nach dem Krieg die litauische Staatsbuergerschaft annahm und seinen Namen in Viktoras Jungferis aenderte, duerften die absolute Ausnahme geblieben sein. Meistens lebten Besatzer und Besetzte weitgehend in parallelen Welten, die - wie Liulevicius selbst darlegt - kaum Beruehrungspunkte aufwiesen. Ein Problem des Buches stellt in dieser Hinsicht die einseitig ausgerichtete Quellengrundlage dar: Die von Liulevicius angefuehrten Tagebuecher und Memoiren stammen in der Regel von Militaers in hoeheren Raengen und Intellektuellen und geben somit in erster Linie Auskunft ueber den Elitendiskurs, waehrend Liulevicius beispielsweise kaum Feldpostbriefe einfacher Soldaten ausgewertet hat. Schwerer wiegen jedoch die konzeptionellen Maengel, da Liulevicius augenscheinlich mit der Gliederung seines Stoffes Probleme hatte. Seine Darstellung vermag zwar Stimmungen und Eindruecke der deutschen Soldaten vor dem Leser lebendig werden lassen, doch fehlt dem Buch der notwendige Spannungsbogen: Vor allem in der ersten Haelfte des Buches entwickelt Liulevicius seine Thesen nicht kontinuierlich weiter - stattdessen kommt es zu thematischen Ueberschneidungen, was sich in teilweise wortgleichen Wiederholungen von einzelnen Passagen oder Zitaten aeussert, die dem Leser so manches deja-vu-Erlebnis bescheren. Zudem werden Widersprueche - wie die zwischen Irritation und Bestaerkung der nationalen Identitaet der deutschen Soldaten durch ihre Erfahrungen im Osten - kaum thematisiert, geschweige denn diskutiert. Schliesslich finden sich eine Reihe ueberspitzter Interpretationen, bei denen Liulevicius ueber seine impressionistische Vorgehensweise stolpert, so beispielsweise, wenn er die Verwendung des Begriffes "Raum" in einen kausalen Zusammenhang mit dem Verb "aufraeumen" setzt. Ein kritischerer Lektor haette dem Buch gut getan. Anfaengliche Begeisterung weicht daher bald der Ernuechterung, so dass die Lektuere trotz einer Reihe von anregenden Thesen letztlich nicht befriedigt. Anmerkungen: [1]. Vgl. den als repraesentativen Querschnitt durch die Forschung angelegten Sammelband Wolfgang Michalka (Hg), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, Muenchen 1994. [2]. Vgl dazu: Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverstaendnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. |