Bericht über die am 18. Oktober 1945 um 10. 30 Uhr in Berlin abgehaltene Eröffnungssitzung des Internationalen Militärgerichtshofes
Vorsitzender General Nikitschenko1
Anwesend: Alle Mitglieder des Gerichtshofes und ihre Stellvertreter.
Der Internationale Militärgerichtshof hielt seine erste öffentliche Sitzung in Berlin nach Vorschrift des Artikels 22 des Statuts, und zwar im Großen Sitzungssaal des Gebäudes der Alliierten Kontrollbehörde ab.
Der Vorsitzende erklärte:
»Im Sinne der zwischen der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, der Provisorischen Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Regierung des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland für die Strafverfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse in London am 8. August 1945 getroffenen Vereinbarung und im Sinne des Artikels 22 des dort beigefügten Statuts, durch das dieser Internationale Militärgerichtshof errichtet worden ist, wird diese Sitzung zum Zwecke der Entgegennahme der Anklageschrift, gemäß dem Abkommen und dem Statut, in Berlin abgehalten.«
Diese Erklärung wurde mündlich ins Französische, Englische und Deutsche übersetzt.
Die Mitglieder des Gerichtshofes und ihre Stellvertreter gaben dann folgende Erklärung ab, ein jeder in seiner eigenen Sprache:
»Ich erkläre feierlich, daß ich alle meine Befugnisse und Pflichten als Mitglied des Internationalen Militärgerichtshofes ehrenhaft, unparteiisch und gewissenhaft ausüben werde.«
Der Vorsitzende erklärte dann die Sitzung für eröffnet.
Der britische Hauptanklagevertreter, Mr Shawcross, stellte nacheinander vor: Den sowjetischen Hauptanklagevertreter General Rudenko; den französischen stellvertretenden Hauptanklagevertreter M. Dubost, und einen Vertreter der amerikanischen Anklagebehörde, Mr. Shea. Gelegentlich seiner Vorstellung gab ein jeder eine kurze Erklärung ab, die mündlich in die anderen Sprachen übersetzt wurde, und übergab dem Vorsitzenden des Gerichtshofes ein in seiner eigenen Sprache verfaßtes Exemplar der Anklageschrift.
Der Vorsitzende erklärte:
»Eine Anklageschrift wurde jetzt von dem Kollegium der Hauptankläger beim Gerichtshof eingereicht, welche die Anklagen gegen die folgenden Angeklagten enthält:
Hermann Wilhelm Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Martin Bormann, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Constantin von Neurath und Hans Fritzsche.
Abschriften des Statuts, der Anklageschrift und der ihr beigefügten Dokumente werden den Angeklagten sofort in deutscher Sprache überreicht werden.
Es werden ihnen auch schriftliche Hinweise übergeben werden, die sie auf Artikel 16 und 23 des Statuts aufmerksam machen werden. Diese sehen vor, daß die Angeklagten entweder ihre Verteidigung selbst führen dürfen oder sich von einem Anwalt verteidigen lassen können, der die beruflichen Voraussetzungen besitzt, vor den Gerichten seines eigenen Landes aufzutreten; er kann sich auch einer anderen Person bedienen, die hierzu vom Gerichtshof besonders ermächtigt werden muß. Es ist ein Sonderbeamter des Gerichtshofes ernannt worden, um die Angeklagten von ihrem Recht in Kenntnis zu setzen, um von ihnen persönliche Wünsche über die Wahl ihrer Anwälte entgegenzunehmen und allgemein dafür zu sorgen, daß ihnen ihre Verteidigungsrechte zur Kenntnis gelangen.
Wenn ein Angeklagter wünscht, von einem Anwalt vertreten zu werden, aber die Dienste eines solchen nicht erlangen kann, so wird ihm der Gerichtshof einen Anwalt zu seiner Verteidigung bestellen.
Der Gerichtshof hat die Verfahrensvorschriften formuliert, die in Kürze veröffentlicht werden sollen; diese beziehen sich auf die Herbeischaffung von Zeugen und Dokumenten, damit ein gerechtes Prozeßverfahren gewährleistet ist, das auch den Angeklagten die Möglichkeit gibt, sich uneingeschränkt zu verteidigen.
Die einzelnen in Haft befindlichen Angeklagten werden verständigt, daß sie innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung der Anklageschrift sich für den Prozeß vorbereitet haben müssen. Unmittelbar danach wird der Gerichtshof die Eröffnung des Nürnberger Prozesses festlegen und verkünden; er soll nicht weniger als 30 Tagen nach Zustellung der Anklageschrift beginnen. Das entsprechende Datum wird den Angeklagten bekannt gegeben, sobald es festgelegt ist.
Es wird darauf hingewiesen, daß der Gerichtshof weder in der Vorbereitung der Verteidigung noch in dem Prozeß selbst eine Verzögerung gestatten wird, und zwar in Anbetracht der Anweisung im Statut, die Streitfragen, welche durch die Anklagepunkte entstehen, schnell zu klären.
Lord-Richter Lawrence wird bei dem Prozeß in Nürnberg den Vorsitz führen.
Im Hinblick auf Artikel 9 des Statuts wird auch bekannt gegeben, daß die Anklagebehörde dem Gerichtshof anheimstellen wird, die folgenden angeführten Organisationen oder Gruppen, in denen die Angeklagten oder einige von ihnen Mitglieder waren, zu verbrecherischen Organisationen zu erklären. Jedes Mitglied einer solchen Gruppe oder Organisation soll das Recht haben, beim Gerichtshof zu beantragen, über die Frage des verbrecherischen Charakters einer solchen Gruppe oder Organisation gehört zu werden. Die Organisationen, um die es sich handelt, sind die folgenden:
Die Reichsregierung (Reichskabinett); das Korps der Politischen Leiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Führerkorps der Nazipartei); die Schutzstaffeln der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (allgemein als »SS« bekannt), einschließlich des Sicherheitsdienstes (allgemein als »SD« bekannt); die Geheime Staatspolizei (allgemein als »Gestapo« bekannt); die Sturmabteilungen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (allgemein als »SA« bekannt); schließlich: Der Generalstab und Oberkommando der Deutschen Wehrmacht.
Nachdem die Anklageschrift im Einklang mit den Bestimmungen des Statuts von der Anklagebehörde ordnungsgemäß eingereicht wurde, ist der Gerichtshof verpflichtet, die notwendigen Anweisungen für die Veröffentlichung des Textes zu geben.
Der Gerichtshof würde gerne die sofortige Veröffentlichung anordnen, doch ist dies nicht möglich, da die Anklageschrift in Moskau, London, Washington und Paris gleichzeitig veröffentlicht werden muß.
Wie dem Gerichtshof mitgeteilt wurde, läßt sich dieses Ergebnis dadurch erreichen, daß der Presse die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Anklageschrift nicht vor heute, Donnerstag, den 18. Oktober, 8 Uhr abends Greenwicher Ortszeit, das heißt 20 Uhr, gegeben wird.«
Diese Erklärung wurde mündlich ins Französische, Englische und Deutsche übersetzt.
Die Sitzung wurde um 11.25 Uhr vertagt.
1 General Nikitschenko ist gemäß Artikel 4 (b) des Statuts zum Vorsitzenden der Berliner Sitzung, Lord- Richter Lawrence zum Gerichtsvorsitzenden des Prozesses in Nürnberg gewählt worden.