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Bericht des Gerichts-Psychologen über den Geisteszustand des Angeklagten Heß.1

17. August 1946.

Betrifft: Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten Heß.

An den Herrn Generalsekretär des

Internationalen Militärgerichtshofes.

1. Auf Ersuchen des Gerichtshofes werden hiermit die folgenden Tatsachen und wohlerwogenen Ansichten über die Zurechnungsfähigkeit Rudolf Heß' auf Grund meiner fortlaufenden Untersuchungen und Beobachtungen vom Oktober 1945 bis zum heutigen Tage, die ich in meiner Eigenschaft als Gefängnispsychologe angestellt habe, ergebenst unterbreitet:

2. Gedächtnisschwund bei Prozeßbeginn. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß bei Prozeßbeginn Heß sich in einem Zustand fast völligen Gedächtnisschwundes befand. Die Ansichten der psychiatrischen Kommissionen darüber, ebenso wie über seinen Gesundheitszustand, sind durch fortgesetzte spätere Beobachtung nur bestätigt worden.

3. Genesung. Am 30. November 1945, dem Tage, welcher der besonderen Behandlung seines Falles gewidmet war, erlangte Heß tatsächlich sein Gedächtnis wieder. Woher diese plötzliche Genesung kam, ist eine akademische Frage, aber folgendes hat dabei wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Unmittelbar vor der Sitzung – sozusagen als Herausforderung – erklärte ich Heß, daß er für unzurechnungsfähig erklärt und von den Verhandlungen ausgeschlossen werden würde, daß ich ihn aber von Zeit zu Zeit in seiner Zelle aufsuchen würde. Heß schien erschreckt und sagte, er sei zurechnungsfähig. Dann gab er vor dem Gerichtshof seine Erklärung ab, daß er simuliert habe, augenscheinlich, um das Gesicht zu wahren. Bei späteren Unterredungen gestand er mir, daß er nicht simuliert habe und daß er wisse, daß er zweimal in England sein Gedächtnis verloren habe. Während der Monate Dezember 1945 und Januar 1946 war sein Gedächtnis völlig in Ordnung.

4. Rückfall. Gegen Ende Januar 1946 fielen mir Anzeichen beginnenden Gedächtnisschwundes auf. Diese nahmen im Laufe des Monats Februar ständig zu, bis er sich ungefähr Anfang März wieder in einem Zustand fast völliger Gedächtnislosigkeit befand. Seitdem ist er in diesem Zustand verblieben. (Heß drückte bei Beginn des Rückfalles seine Besorgnis darüber aus, und fügte hinzu, daß niemand ihm diesmal Glauben schenken würde, nachdem er erklärt hätte, daß er das erstemal seinen Gedächtnisschwund nur simuliert habe.) Der Gedächtnisschwund ist fortschreitend, die Ereignisse jedes einzelnen. Tages werden schnell vergessen. Seine Gedächtnisspanne beträgt augenblicklich ungefähr einen halben Tag und sein Erinnerungsvermögen ist von siebenstelligen auf vierstellige Zahlen gesunken, wenn er sie sofort, nachdem er sie gehört hatte, genau wiederholen sollte.

Zurechnungsfähigkeit und allgemeiner Gesundheitszustand.

Ich habe Dr. Seidl's Antrag sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache gelesen und möchte dazu folgendes ausführen:

a) Die Erörterung von psychiatrischen Begriffen durch Laien können nicht zur Klärung dieses Falles beitragen, denn selbst Psychiater stimmen nicht über die Definition von Ausdrücken wie »psychopathische Anlage«, »hysterische Reaktion« usw. überein. Diese Ausdrücke haben einen völlig verschiedenen Sinn im englischen und deutschen Sprachgebrauch.

b) Die psychiatrischen Kommissionen stimmten darin überein, und meine eigenen späteren Beobachtun gen haben bestätigt, daß Heß nicht geisteskrank ist (im juristischen Sinne, d.h., daß er nicht Recht von Unrecht unterscheiden und die Folgen seiner Handlungen erkennen könnte).

c) Heß erlangte sein Erinnerungsvermögen lange genug (2 bis 3 Monate) zurück, um seinem Anwalt weitgehende Unterstützung in der Vorbereitung seiner Verteidigung gewähren zu können. Wenn er das versäumte, dann geschah das aus einer negativen persönlichen Eigentümlichkeit heraus, die ich auch bemerkt habe, und nicht auf Grund seiner Unzurechnungsfähigkeit.

d) In seinem Krankheitsverlauf oder augenblicklichen Verhalten deutet nichts darauf hin, daß er zur Zeit der Begehung der Handlungen, derentwegen er angeklagt ist, geisteskrank war. Auch sein Benehmen während des ganzen Verlaufes des Prozesses zeugte von genügend Einsicht und Verständnis, um alle Zweifel über seinen Gesundheitszustand zu zerstreuen. (Er mag eine psychotische Krise in England durchgemacht haben, aber das beeinträchtigt keineswegs die Richtigkeit der beiden vorhergehenden Erklärungen. Anzeichen von Verfolgungswahn sind auch hier bei ihm bemerkbar geworden, jedoch nicht in einem Ausmaße, das auf Geisteskrankheit schließen ließe).

e) Meiner Meinung nach würde eine erneute Untersu chung durch eine psychiatrische Kommission zu diesem Zeitpunkt nicht zur weiteren Klärung des Falles beitragen, weil das klinische Bild das gleiche ist und man darauf notwendigerweise auch die gleichen Schlußfolgerungen ziehen müßte wie die erste psychiatrische Kommission, nämlich: Heß ist nicht geisteskrank, sondern leidet an hysterischem Gedächtnisschwund. Ich habe diesen Fall auch mit dem augenblicklichen Gefängnispsychiater, Lt. Col. Dunn besprochen, der Heß vor kurzem untersucht hat und der ebenfalls der Ansicht ist, daß Heß' Geisteszustand der gleiche zu sein scheint, wie der in den früheren psychiatrischen Berichten beschriebene, welche er gelesen hat.

Unterschrift: G. M. GILBERT, Ph. D.

Gefängnispsychologe.

1 Dieser Bericht wurde dem Verteidiger des Angeklagten Heß auf Beschluß des Gerichtshofes vom 20. August 1946 In Beantwortung seines Antrags für den Angeklagten, datiert vom 2. August 1946, übergeben. Dieser Antrag, welcher eine ausführliche Übersicht über die vorangehenden Untersuchungen und die psychiatrische Geschichte des Angeklagten Heß gab, forderte, »den Angeklagten Heß erneut einer Untersuchung durch Psychiater zu unterziehen, hinsichtlich seiner Verhandlungsfähigkeit und hinsichtlich seiner Geistesgesundheit«.