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MR. ALDERMAN: Hoher Gerichtshof! Bevor ich mit der Vorlage des Beweismaterials über den Angriff gegen die Sowjetunion fortfahre, will ich etwa fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen, um zwei weitere Urkunden, die sich auf den Angriff gegen Österreich beziehen, zu behandeln. Diese beiden Dokumente sind in einem ergänzenden Buch, Ergänzung zum Dokumentenbuch N, zusammengestellt. Beide Dokumente enthalten den Briefwechsel des Britischen Auswärtigen Amtes; sie sind uns freundlicherweise von unseren britischen Kollegen zur Verfügung gestellt worden. Zuerst möchte ich als Beweisstück 3045-PS, US-127, vorlegen. Dies enthält zwei Teile. Der erste ist ein Brief vom 12. März 1938 vom Botschafter Nevile Henderson von der Britischen Botschaft, Berlin, an Lord Halifax. Er lautet:

»My Lord! Mit Bezug auf Ihr Telegramm Nr. 79 vom 11. März habe ich die Ehre, hiermit Euerer Lordschaft eine Abschrift eines Briefes zu übermitteln, den ich an Baron von Neurath in Übereinstimmung mit den darin enthaltenen Anweisungen gerichtet habe und der am selben Abend überreicht wurde. Der Französische Botschafter richtete zu gleicher Zeit einen ähnlichen Brief an Baron von Neurath.«

Die Anlage ist die Note vom 11. März der Britischen Botschaft an den Allgeklagten von Neurath, die folgendermaßen lautet:

»Sehr verehrter Herr Reichsminister! Meine Regierung ist davon unterrichtet, daß am heutigen Nachmittag in Wien ein deutsches Ultimatum überreicht worden ist, das unter anderem den Rücktritt des Kanzlers und seine Ersetzung durch den Innenminister, eine neue Regierung, deren Mitglieder zu zwei Drittel Nationalsozialisten sein sollen, und die Erlaubnis der Rückkehr der österreichischen Legion zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung in Wien verlangte. Meine Regierung hat mich beauftragt, sofort bei der Deutschen Regierung vorstellig zu werden, daß, falls dieser Bericht zutreffend ist, die Regierung Seiner Majestät sich verpflichtet fühle, schärfsten Protest einzulegen gegen eine derartige, auf Gewalt gestützte Zwangsanwendung gegen einen unabhängigen Staat, um eine Situation zu schaffen, die mit seiner internationalen Unabhängigkeit unvereinbar ist.

Wie bereits der deutsche Außenminister in London unterrichtet wurde, würde eine solche Handlungsweise notwendigerweise die größte Reaktion hervorrufen, deren Folgen unabsehbar sind.«

Ich überreiche jetzt Dokument 3287-PS als Beweisstück US-128. Dies enthält ein Antwortschreiben des Angeklagten von Neurath vom 12. März 1938, das von der Britischen Botschaft in Berlin dem Außenministerium in London überreicht wurde. Der Brief ist in der Urkunde mit dem Buchstaben L bezeichnet worden. Zunächst erhob der Angeklagte von Neurath Einspruch gegen die Tatsache, daß die Britische Regierung die Rolle eines Beschützers der österreichischen Unabhängigkeit übernahm. Ich zitiere den zweiten Absatz seines Briefes:

»Namens der Deutschen Regierung muß ich demgegenüber darauf hinweisen, daß der Königlich Britischen Regierung nicht das Recht zusteht, die Rolle eines Beschützers der Unabhängigkeit Österreichs für sich in Anspruch zu nehmen. Die Deutsche Regierung hat die Königlich Britische Regierung im Laufe der diplomati schen Unterhaltungen über die österreichische Frage niemals darüber im Zweifel gelassen, daß die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Reich und Österreich lediglich als eine dritte Mächte nicht berührende innere Angelegenheit des deutschen Volkes angesehen werden kann.«

In Erwiderung der Beschuldigung bezüglich Deutschlands Ultimatum versuchte von Neurath einen, wie er behauptete, wahrheitsgetreuen Bericht der Ereignisse zu geben. Ich zitiere die beiden letzten langen Absätze des Briefes. In der englischen Übersetzung beginne ich unten auf der ersten Seite des Briefes:

»Statt dessen hat der frühere österreichische Bundeskanzler am Abend des 9. März überraschend den eigenmächtig von ihm gefaßten Beschluß bekanntgegeben, mit einer Frist von wenigen Tagen eine Abstimmung zu veranstalten, die nach den obwaltenden Umständen, insbesondere nach den für die Durchführung der Abstimmung geplanten Einzelheiten, allein den Sinn haben konnte und sollte, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Österreichs politisch zu vergewaltigen. Dieses mit der Vereinbarung von Berchtesgaden in flagrantem Widerspruch stehende Vorgehen hat, wie vorauszusehen, zu einer äußersten Zuspitzung der inneren Lage in Österreich geführt. Es war nur natürlich, daß die an dem Abstimmungsbeschluß nicht beteiligten Mitglieder der damaligen österreichischen Regierung dagegen schärfsten Einspruch erhoben. Infolgedessen ist es in Wien zu einer Kabinettskrise gekommen, die im Laufe des 11. März zum Rücktritt des früheren Bundeskanzlers und zur Bildung einer neuen Regierung geführt hat. Daß vom Reich aus auf diese Entwicklung ein gewaltsamer Zwang ausgeübt worden wäre, ist unwahr. Insbesondere ist die vom früheren Bundeskanzler nachträglich verbreitete Behauptung völlig aus der Luft gegriffen, die Deutsche Regierung habe dem Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach dem dieser einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen und die Regierung nach den Vorschlägen der Deutschen Regierung zu bilden hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich in Aussicht genommen werde. In Wahrheit ist die Frage der Entsendung militärischer und polizeilicher Kräfte aus dem Reich erst dadurch aufgeworfen worden, daß die neu gebildete österreichische Regierung in einem in der Presse bereits veröffentlichten Telegramm die dringende Bitte an die Reichsregierung gerichtet hat, zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von Blutvergießen baldmöglichst deutsche Truppen zu entsenden. Angesichts der unmittelbar drohenden Gefahr eines blutigen Bürgerkrieges in Österreich hat sich die Reichsregierung entschlossen, diesem an sie gerichteten Appell Folge zu geben.

Bei diesem Sachverhalt ist es völlig ausgeschlossen, daß das Verhalten der Deutschen Regierung, wie in Ihrem Schreiben behauptet wird, zu unübersehbaren Rückwirkungen führen könnte. Das Gesamtbild der politischen Lage ist in der Proklamation gekennzeichnet, die der Deutsche Reichskanzler heute mittag an das deutsche Volk gerichtet hat. Gefährliche Rückwirkungen könnten in dieser Lage nur dann eintreten, wenn etwa von dritter Seite versucht würde, im Gegensatz zu den friedlichen Absichten und legitimen Zielen der Reichsregierung, auf die Gestaltung der Verhältnisse in Österreich einen Einfluß zu nehmen, der mit dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes unvereinbar wäre.«

Damit endet das Zitat.

Nunmehr, angesichts des Beweismaterials, das bereits dem Gerichtshof überreicht worden ist, stellt diese Darstellung der Ereignisse, die vom Angeklagten von Neurath gegeben wurde, eine leere Verhöhnung der Wahrheit dar.

Aus einer Eintragung in Jodls Tagebuch, 1780-PS, US-72, vom 10. März 1938, haben wir festgestellt, daß von Neurath die Pflichten des Auswärtigen Amtes übernahm, während Ribbentrop in London zurückgehalten wurde, daß der Führer ein Ultimatum an das österreichische Kabinett senden wollte, daß er einen Brief an Mussolini mit den Gründen für seine Maßnahmen richtete, und daß Mobilmachungsbefehle an das Heer erteilt worden waren.

Wir haben die wahren Tatsachen hinsichtlich des Ultimatums aus zwei verschiedenen Urkunden kennengelernt. Ich verweise auf 812-PS, US-61, den Bericht des Gauleiters Rainer an den Reichskommissar Bürckel vom 6. Juli 1939, der dem Angeklagten Seyß-Inquart am 22. August 1939 übermittelt wurde. Der Teil, der über die Ereignisse des 11. März berichtet, ist dem Gerichtshof bereits vorgelesen worden.

Ich weise ferner auf Dokument 2949-PS, US-76, die Niederschriften von Telephongesprächen Görings hin, von denen ich einen erheblichen Teil bereits dem Gerichtshof vorgelegt habe.

Diese Urkunden zeigen nachdrücklich und mit unmißverständlicher Klarheit, daß die Nazis tatsächlich ein Ultimatum an die österreichische Regierung gerichtet hatten, daß sie Truppen über die Grenze schicken würden, falls Schuschnigg nicht zurücktrete und der Angeklagte Seyß-Inquart nicht zum Kanzler ernannt würde.

Diese Dokumente zeigen auch, daß der Antrieb zu dem berühmten Telegramm von Berlin, und nicht von Wien kam, daß Göring das Telegramm zusammenstellte und daß Seyß-Inquart es nicht einmal zu senden brauchte, sondern einfach sagte »einverstanden«.

Die Niederschrift von Görings Telephonanruf an Ribbentrop ist als Teil W dieses Dokuments bezeichnet. Hierin wird eine für das englische Publikum berechnete Auslegung entwickelt, dahingehend, daß kein Ultimatum gestellt worden war und daß die deutschen Truppen die Grenze nur infolge des Telegramms überschritten hatten.

Und nun finden wir in dieser Urkunde, aus der ich gerade vorgelesen habe, dieselbe gefälschte Darstellung, diesmal aus der Feder des Angeklagten von Neurath. Er war bei der Sitzung am 5. November 1937 zugegen, über die wir das Hoßbach-Protokoll, US-25, haben. Daraus ergibt sich, daß er die unverändert aufrechterhaltenen Nazi-Ideen in Bezug auf Österreich und die Tschechoslowakei sehr gut kannte. Und doch spielt er in der Zeit nach dem 10. März 1938, als er die auswärtigen Angelegenheiten für diese Verschwörung leitete, und besonders nach dem Einfall in Österreich seine Rolle durch falsche Angaben weiter. Er gab Herrn Mastny eine Versicherung bezüglich der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Österreichs. Ich weise auf die Urkunde hin, die von Sir David Maxwell-Fyfe, TC-27, GB-21, vorgelegt wurde. Und wir sehen ihn hier, wie er noch immer auswärtige Angelegenheiten leitet, obgleich er, wie das Beweisstück zeigt, die Briefbogen des Geheimen Kabinettrats benutzte, wie er das diplomatische Märchen hinsichtlich der österreichischen Lage erzählt, eine Geschichte, der wir auch in der Niederschrift des Telephongesprächs zwischen Göring und Ribbentrop begegneten, alles in Förderung der Ziele der Tätigkeit, die wir Verschwörung nennen.

Hoher Gerichtshof! Es erscheint mir jetzt angebracht und passend, den Fall der Zusammenarbeit mit Japan und den Angriff auf die Vereinigten Staaten heute am 7. Dezember 1945, dem vierten Jahrestag des Angriffs auf Pearl Harbor, vorzutragen. Unser Plan war jedoch, chronologisch vorzugehen, so daß dieser Teil des Falles bis zur nächsten Woche warten muß.

Wir kommen jetzt zum Höhepunkt dieser erstaunlichen Geschichte der Angriffskriege, vielleicht einer der größten Fehlrechnungen der Weltgeschichte, als Hitlers Intuition ihn und seine Verbündeten veranlaßte, einen Angriffskrieg gegen Bußland zu entfachen.

Als ich zuletzt hier stand, beschrieb ich den Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei. Seither haben meine britischen Kollegen den Beweis für die Angriffspläne gegen Polen und die Vorbereitungen und den Beginn der tatsächlichen Angriffskriege vorgelegt. Außerdem haben sie dem Gerichtshof die Geschichte der Ausdehnung des Krieges zu einem allgemeinen Angriffskrieg unterbreitet, einschließlich der Vorbereitung und Durchführung der Angriffe gegen Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Jugoslawien und Griechenland; und dabei hat die britische Anklagevertretung auch die verschiedenen internationalen Verträge, Abkommen und Zusicherungen und das Beweismaterial, das die Verletzung dieser Verträge und Zusicherungen feststellt, geordnet und dem Gerichtshof vorgelegt.

Ich möchte nun dem Gerichtshof die Geschichte des vorletzten Angriffsaktes der Angeklagten unterbreiten, die Invasion der USSR. Der Teil der Anklageschrift, in dem dieses Verbrechen angeführt ist, befindet sich in Punkt 1, Abschnitt IV (F), Absatz 6, mit der Überschrift:

»Die deutsche Invasion des Gebietes der USSR am 22. Juni 1941, in Verletzung des Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939.« Der erste Satz dieses Absatzes ist derjenige, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen. Er lautet:

»Am 22. Juni 1941 kündigten die Nazi-Verschwörer hinterhältig den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der USSR und fielen ohne jede Kriegserklärung in das Sowjetgebiet ein und begannen dadurch einen Angriffskrieg gegen die USSR.«

Die Urkunden, die sich mit diesem Teil des Falles befassen, befinden sich im Dokumentenbuch »P«, das wir jetzt dem Gerichtshof überreichen. Lassen Sie mich zunächst feststellen, wie der Plan begonnen wurde. Als Ausgangspunkt für die Geschichte des Angriffs auf die Sowjetunion möchte ich das Datum des 23. August 1939 nehmen. An diesem Tage, genau eine Woche vor dem Angriff auf Polen, veranlaßten die Nazi-Verschwörer Deutschland, einen Nichtangriffspakt mit Rußland abzuschließen, der in dem Teil der Anklageschrift erwähnt ist, den ich soeben angeführt habe. Dieser Vertrag ist Dokument TC-25 und wird von meinen britischen Kollegen als Beweismaterial vorgelegt werden. Es enthält jedoch zwei Absätze, auf die ich den Gerichtshof besonders hinweisen möchte:

Artikel I lautet:

»Die beiden vertragschließenden Teile verpflichten sich, sich jedes Gewaltaktes, jeder aggressiven Handlung und jedes Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten.«

Artikel V sagt:

»Falls Streitigkeiten oder Konflikte zwischen den vertragschließenden Teilen über Fragen dieser oder jener Art entstehen sollten, werden beide Teile diese Streitigkeiten oder Konflikte ausschließlich auf dem Wege freundschaftlichen Meinungsaustausches oder nötigenfalls durch Einsetzung von Schlichtungskommissionen bereinigen.«

Man muß sich dieser feierlichen Versprechen erinnern, wenn man die kommende Geschichte anhört. Dieser Vertrag wurde für die Deutsche Regierung von dem Angeklagten Ribbentrop unterzeichnet. Seine Veröffentlichung bildete eine Überraschung für die Welt, da er eine vollkommene Umkehrung der früheren Nazi-Außenpolitik zu bilden schien. Die Erklärung für diesen vollständigen Richtungsumschwung wurde durch keinen geringeren Zeugen als den Angeklagten Ribbentrop selbst in einer Unterredung mit dem Japanischen Botschafter Oshima in Fuschl am 23. Februar 1941 gegeben. Einen Bericht über diese Besprechung sandte von Ribbentrop an einige deutsche zuständige Diplomaten zur streng vertraulichen und rein persönlichen Kenntnisnahme.

Diesen Bericht besitzen wir. Es ist 1834-PS, US- 129, die deutsche Originalurkunde. Auf Seite 2 der englischen Übersetzung teilt der Angeklagte Ribbentrop Oshima die Gründe für das Abkommen mit Rußland mit. Es ist Seite 2 des deutschen Textes. Ich zitiere:

»Als es dann zum Kriege kam, entschloß sich der Führer zum Ausgleich mit Rußland; einer Notwendigkeit zur Vermeidung eines Zweifrontenkrieges.«

Da nur ihr Opportunismus die Nazis veranlaßte, dieses feierliche Schieds- und Nicht-Angriffsversprechen einzugehen, ist es nicht weiter überraschend, daß sie es genau, wie alle Verträge und Zusicherungen nur solange hielten, als es ihren Zwecken diente. Daß dies der Fall war, ergibt sich daraus, daß sie, während der Feldzug im Westen noch in vollem Gange war, bereits anfingen, die Möglichkeit eines Angriffskrieges gegen Rußland zu erwägen.

In einer Rede an die Reichs- und Gauleiter in München im November 1943, die im Dokument L-172 angeführt ist, das schon als Beweisstück US-34 dem Gerichtshof vorliegt, gab der Angeklagte Jodl zu – ich lese jetzt von Seite 7 der englischen Übersetzung, Seite 15 des deutschen Textes:

»Hand in Hand mit dieser Entwicklung verdichtete sich die Erkenntnis der immer näherrückenden Gefahr des bolschewistischen Ostens, die in Deutschland nur wenig gesehen worden ist und aus diplomatischen Gründen zuletzt bewußt verschwiegen werden mußte. Der Führer selbst hat diese Gefahr jedoch ständig im Auge gehabt und mir bereits während des Westfeldzuges seinen grundlegenden Entschluß mitgeteilt, dieser Gefahr zu Leibe zu rücken, sobald es unsere militärische Lage irgendwie erlaube.«

Zu der Zeit, als diese Entscheidung getroffen wurde, war der Feldzug im Westen noch in vollem Gange und daher mußte jede Aktion im Osten notwendigerweise vorläufig verschoben werden. Am 22. Juni 1940 wurde jedoch der französisch-deutsche Waffenstillstand zu Compiegne abgeschlossen und der Feldzug im Westen, mit Ausnahme des Krieges gegen England, kam zum Abschluß. Die Ansicht, daß Deutschlands Schlüssel zur politischen und wirtschaftlichen Herrschaft in der Ausschaltung der Sowjetunion als politischen Faktors und in dem Erwerb von Lebensraum auf Kosten der Sowjetunion lag, war schon lange die Grundlage der Nazi-Ideologie. Wie wir gesehen haben, ist diese Idee niemals völlig aufgegeben worden, sogar nicht während der Krieg im Westen noch im Gange war. Angespornt durch die jüngsten Waffenerfolge, aber im vollen Bewußtsein, daß sie erstens England nicht besiegt hatten und zweitens, daß ihre Armeen Verpflegung und Rohstoffe dringend benötigten, begannen die Nazis ernstlich nach Mitteln zur Befriedigung ihres traditionellen Ehrgeizes zu suchen, um die Sowjetunion zu erobern.

Die Lage, in der sich Deutschland nun befand, ließ solche Maßnahmen wünschenswert und praktisch erscheinen. Schon im August 1940 erhielt General Thomas einen Wink von dem Angeklagten Göring, daß die Pläne für den Feldzug gegen Rußland bereits in Vorbereitung seien. Thomas war damals Chef des Wirtschafts-Rüstungs-Amtes im OKW, in den deutschen Urkunden jeweils mit »Wi Rü« abgekürzt.

General Thomas berichtet von dem Empfang der Information von Göring in dem Entwurf seines Werkes, betitelt: »Grundlagen für eine Geschichte der deutschen Kriegs- und Rüstungswirtschaft«, das er im Sommer 1944 vorbereitete. Ich spreche von Dokument 2353-PS, das bereits als US-35 vorliegt. Bisher war es so nur zu Identifizierungszwecken gekennzeichnet. Ich lege es jetzt als Beweisstück US-35 vor.

Auf den Seiten 313 bis 315 dieses Werkes bespricht Thomas das russisch-deutsche Handelsabkommen von 1939 und legt dar, daß die Sowjetunion dieses Abkommen schnell und gut erfüllt hat, wofür sie als Gegenleistung Kriegsmaterial verlangte. In Deutschland wurde bis Anfang 1940 ein starker Druck ausgeübt, um diese deutschen Lieferungen zu erhöhen. Auf Seite 315 hat er jedoch folgendes über die Sinnesänderung der deutschen Führer im August 1940 zu berichten, und ich verlese jetzt von Seite 9 der englischen Übersetzung:

»Am 14. August wurde dem Chef Wi Rü Amt bei einem Vortrag bei Reichsmarschall Göring allerdings bekanntgegeben, daß der Führer nur pünktliche Belieferungen der Russen bis zum Frühjahr 1941 wünsche. Später hätten wir an einer vollen Befriedigung der russischen Wünsche kein Interesse mehr. Diese Andeutung nahm der Chef des Wi Rü Amtes zum Anlaß, die Bearbeitung der wehrwirtschaftlichen Lage Rußlands stärker in den Vordergrund zu stellen.«

Ich werde auf diese Besprechung später zurückkommen, wenn ich die Vorbereitung für die wirtschaftliche Ausnützung des russischen Raumes bespreche, des Raumes, den die Deutschen erobern wollten. Zu diesem Zeitpunkt werde ich auch den Beweis erbringen, der zeigen wird, daß Göring im November 1940 Thomas darüber unterrichtete, daß ein Feldzug gegen die Sowjetunion geplant sei.

Die Vorbereitungen für ein Unternehmen von solchem Ausmaß, wie eine Invasion der Sowjetunion, verlangten notwendigerweise selbst so viele Monate vor der Durchführung eine gewisse Tätigkeit im Osten in Form von Bauten und Verstärkung der Streitkräfte. Daß eine derartige Tätigkeit dem sowjetischen Spionagedienst nicht verborgen bleiben konnte, lag auf der Hand. Gegenspionage-Maßnahmen waren selbstverständlich notwendig. In einer Anweisung des OKW, die von dem Angeklagten Jodl unterzeichnet und dem Ausland/Abwehr-Dienst am 6. September 1940 unterbreitet wurde, wurden solche Maßnahmen angeordnet. Diese Weisung trägt unsere Nummer 1229-PS, und ich biete sie als Beweisstück US-130 an, das eine Photokopie der beschlagnahmten deutschen Urkunde darstellt Diese Weisung deutet darauf hin, daß die Tätigkeit im Osten in der Sowjetunion nicht den Eindruck erwecken dürfe, daß ein Angriff vorbereitet werde und gab den Agenten des Abwehrdienstes in großen Umrissen die Verhaltungsmaßregeln zur Verschleierung dieser Tatsache. Der Text dieser Weisung deutet auf das Ausmaß der Vorbereitungen hin, die bereits getroffen waren, und ich möchte sie dem Gerichtshof vorlesen:

»Der Ostraum wird in den kommenden Wochen stärker belegt werden. Bis Ende Oktober soll der aus anliegender Karte ersichtliche Stand erreicht sein. Aus diesen Umgruppierungen darf in Rußland nicht der Eindruck entstehen, daß wir eine Ostoffensive vorbereiten. Andererseits wird Rußland erkennen, daß starke und hochwertige deutsche Truppen im Gouvernement, in den Ostprovinzen sowie im Protektorat liegen und soll daraus den Schluß ziehen; daß wir unsere Interessen – namentlich auf dem Balkan – gegen russischen Zugriff jederzeit mit starken Kräften schützen können.

Für die Arbeit des eigenen Nachrichtendienstes sowie für die Beantwortung von Fragen des russischen Nachrichtendienstes gelten folgende Richtlinien:

1.) Die jeweilige Gesamtstärke der deutschen Truppen im Osten ist nach Möglichkeit dadurch zu verschleiern, daß Nachrichten über einen häufigen Wechsel der dortigen Heeresverbände gegeben werden. Dieser ist mit Verlegung in Ausbildungslager, Umformierungen usw. zu begründen.

2.) Es ist der Eindruck zu erwecken, daß der Schwerpunkt der Belegung im südlichen Gouvernement, im Protektorat und in der Ostmark liegt, und daß die Belegung im Norden verhältnismäßig gering sei.

3.) Bei Angaben über die Ausrüstungslage der Verbände, besonders der Panzer-Divisionen, ist erforderlichenfalls zu übertreiben.

4.) Durch geeignete Nachrichten ist der Eindruck zu erwecken, daß nach Beendigung des Westfeldzuges der Flakschutz im Osten wesentlich verstärkt worden ist und an allen wichtigen Objekten aus französischem Beutematerial dauernd weiter verstärkt wird.

5.) Über Verbesserungen an Bahnen, Straßen, Flugplätzen usw. ist anzugeben, daß die Arbeiten sich in normalen Grenzen halten, durch den Ausbau der neugewonnenen Ostgebiete bedingt sind und vor allem dem Wirtschaftsverkehr dienen. Inwieweit zutreffende Einzelangaben, z.B. über Regimentsnummern, Standortbelegung usw. der Abwehr für die Gegenspionage zur Verfügung gestellt werden, entscheidet OKH.

Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht

I. A. gez. Jodl.«

Anfang November 1940 wiederholte Hitler seine früheren Befehle und verlangte eine Fortsetzung der Vorbereitungen, wobei er weitere und genauere Anweisungen in Aussicht stellte, sobald diese Vorbereitungsarbeiten soweit gediehen seien, daß sie einen allgemeinen Umriß des Operationsplanes des Heeres zeigen würden.

Dieser Befehl war streng geheim und kam als Nummer 18 vom Hauptquartier des Führers, datiert vom 12. November 1940, unterzeichnet von Hitler und mit den Initialen Jodls versehen. Er hat die Nummer 444-PS in unserer Serie und liegt bereits als Beweisstück GB-116 vor.

Die Anweisung beginnt mit den Worten:

»Die vorbereitenden Maßnahmen der Oberkommandos für die Kriegführung der nächsten Zeit sind nach folgenden Richtlinien zu treffen:...«

Die Anweisung enthält dann Pläne für die verschiedenen Kriegsschauplätze und die Politik hinsichtlich der Beziehungen zu anderen Ländern und sagt mit Bezug auf die USSR – und ich lese jetzt von Seite 3, Absatz 5, der englischen Übersetzung vor:

»Politische Besprechungen mit dem Ziel, die Haltung Rußlands für die nächste Zeit zu klären, sind eingeleitet. Gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, sind alle schon mündlich befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen.

Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mir vorgetragen und von mir gebilligt sind.«

Am 5. Dezember 1940 erstattete der Chef des Generalstabs des Heeres, damals General Halder, dem Führer über den Fortschritt der Pläne für die kommende Operation gegen die Sowjetunion Bericht. Ein Bericht über diese Konferenz mit Hitler befindet sich in der erbeuteten Urkunde 1799-PS. Dies ist eine Mappe, die viele Urkunden enthält, die alle als Anlagen bezeichnet sind, und die sich alle auf den Fall »Barbarossa«, den Plan gegen die Sowjetunion, beziehen. Diese Mappe wurde im Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes entdeckt und war anscheinend eine Beilage zu diesem Tagebuch.

Der Bericht, auf den ich hier hinweise, ist Anlage 1 und ist vom Dezember 1940 datiert.

Ich überreiche nun zum Beweis die Urkunde 1799-PS, US-131. Ich möchte auch einige Sätze aus dem Bericht vom 5. Dezember 1940 zu Protokoll geben, da sie den Grad der Vorbereitung für diese Angriffshandlung, sechseinhalb Monate vor ihrem Beginn, zeigen:

»Vortrag beim Führer vom 5. Dezember 1940.

Der Chef des Generalstabs des Heeres hält sodann Vortrag über die geplante Ostoperation. Er verbreitet sich zunächst über die geographischen Grundlagen. Die wichtigsten Rüstungszentren lägen in der Ukraine, in Moskau und in Leningrad.« Ich überspringe jetzt:

»Der Führer erklärt sich mit den vorgetragenen operativen Absichten einverstanden und äußert hierzu noch folgendes:

Das wichtigste Ziel sei, zu verhindern, daß der Russe in geschlossener Front zurückgehe. Der Vormarsch müsse so weit nach Osten durchgeführt werden, daß die russische Luftwaffe das deutsche Reichsgebiet nicht mehr angreifen könne und für die deutsche Luftwaffe andererseits Raids zur Zerstörung der russischen Rüstungsgebiete möglich wären. Hierdurch müsse die Zerschlagung der russischen Wehrmacht erreicht und ihre Regeneration verhindert werden. Schon der erste Einsatz der Kräfte habe so zu erfolgen, daß starke Teile des Feindes vernichtet werden könnten.«

Ich überspringe jetzt wieder:

»Wesentlich sei, daß die Russen sich nicht rückwärts wieder setzten. Die für die Gesamtoperation vorgesehene Zahl von 130 bis 140 Divisionen sei ausreichend.«

VORSITZENDER: Wäre es an der Zeit, die Sitzung jetzt zu unterbrechen?

MR. ALDERMAN: Es wäre angebracht, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Dann werden wir morgen keine öffentliche Sitzung halten. Die nächste Sitzung wird am Montag um 10.00 Uhr stattfinden.