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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

LEUTNANT LAMBERT: Der Gerichtshof wird sich erinnern, daß ich zum Schluß der Vormittagssitzung eine Reihe von Anordnungen des Angeklagten Bormann vorlegte, in denen er eine immer schärfere Behandlung der alliierten Kriegsgefangenen forderte. Diese Anordnungen erreichten ihren Höhepunkt in seinem Rundschreiben vom 30. September 1944. Ich verweise den Gerichtshof auf Dokument 058-PS, das als Beweisstück US-456 bereits vorgelegt wurde. Es wird dem Gerichtshof sicher noch in Erinnerung sein, daß der Angeklagte Bormann mit dieser Anordnung die Befehlsgewalt über alle Kriegsgefangenen von dem Nazi-Oberkommando auf Himmler übertrug. Diese Anordnung bestimmte weiterhin, daß alle Kommandanten der Kriegsgefangenenlager unter die Befehlsgewalt der örtlichen SS-Kommandeure gestellt würden. Auf Grund dieser Anordnung des Angeklagten Bormann wurde Hitler in die Lage versetzt, sein Programm der unmenschlichen Behandlung und sogar Vernichtung der alliierten Kriegsgefangenen weiterhin durchzuführen.

Wir beginnen nunmehr, Beweismaterial zu unterbreiten, von dem die Anklagevertretung der Auffassung ist, daß es von außerordentlicher Bedeutung und besonderer Belastung für Bormann und seine Mitverschwörer ist. Es handelt sich um die Verantwortlichkeit des Angeklagten Bormann für die organisierten Lynchmaßnahmen gegen alliierte Flieger. Ich lege zum Beweis Dokument 062-PS, US-696 vor und bitte den Gerichtshof ergebenst, sich diesem Dokument zuzuwenden. Nach seinem Äußeren ist es eine Anordnung des Angeklagten Heß vom 13. März 1940, die an die Reichsleiter, Gauleiter und andere Parteifunktionäre und Organisationen gerichtet ist. In dieser Anordnung erhalten diese Parteifunktionäre vom Angeklagten Heß die Weisung, die gesamte deutsche Zivilbevölkerung dahin zu unterrichten, daß notgelandete alliierte Flieger festzunehmen oder unschädlich zu machen seien. Ich verweise den Gerichtshof auf den dritten Absatz der ersten Seite der englischen Übersetzung des Dokuments 062-PS, in dem Heß verfügt, daß diese Richtlinien, die ich sogleich verlesen werde, nur mündlich weiterzugeben seien an alle – und ich möchte den Gerichtshof besonders darauf aufmerksam machen – an alle Kreisleiter, Ortsgruppenleiter, Zellenleiter und selbst Blockleiter. Das heißt, diese Anordnung mußte von allen Amtsträgern des Korps der Politischen Leiter an die Hoheitsträger, also vom Reichsleiter bis hinunter zum Blockleiter, weitergegeben werden.

Wenn wir uns nun wieder dem Dokument 062-PS zuwenden, so wird der Gerichtshof die Richtlinien finden, von denen Heß verlangte, daß sie durch das Korps der Politischen Leiter mündlich verbreitet werden sollten: Es waren die Anweisungen zum Lynchen alliierter Flieger. Sie trugen die Überschrift: »Anweisung über das Verhalten bei Landungen feindlicher Flugzeuge oder Fallschirmabspringer.« Die drei ersten Anweisungen lasse ich aus, da sie für die Sache nicht wesentlich sind. Die vierte Weisung lautet, und ich zitiere:

»Ebenso sollen feindliche Fallschirmjäger sofort festgenommen oder unschädlich gemacht werden.«

Dies spricht für sich selbst und bedarf keines weiteren Kommentars seitens der Anklagevertretung.

Um diesem vom Angeklagten Heß angeordneten System den Erfolg zu sichern, sandte der Angeklagte Bormann am 30. Mai 1944 ein Geheimschreiben an die Amtsträger des Korps der Politischen Leiter der Nazi-Partei, was ich den Gerichtshof bitte, besonders zu vermerken, in dem jedes polizeiliche Einschreiten sowie jede Eröffnung eines Strafverfahrens gegen deutsche Zivilisten untersagt wurde, wenn diese alliierte Flieger gelyncht oder ermordet hatten. Dieses Dokument, 057-PS, ist bereits vorgelegt und vom Gerichtshof als Beweis für das Vorbringen der Anklagevertretung gegen das Korps der Politischen Leiter, von dem wir behaupten, daß es eine verbrecherische Organisation war, angenommen worden.

Hoher Gerichtshof! Die Tatsache, daß Lynchmorde, die durch den Angeklagten Bormann organisiert, veranlaßt und gutgeheißen wurden, auch tatsächlich stattfanden, ist seither in einer Reihe von Verhandlungen vor amerikanischen Militärkommissionen einwandfrei bewiesen worden, die sämtlich zur Verurteilung deutscher Zivilisten wegen Mordes an alliierten Fliegern geführt haben. Ich bitte den Gerichtshof, den Befehl Nummer 2 der Militärkommission des Hauptquartiers der 15. amerikanischen Armee vom 23. Juni 1945 amtlich zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Befehl ist unser Dokument 2559-PS. In diesem Befehl wird die Todesstrafe über einen deutschen Zivilisten wegen Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche verhängt, weil er einen amerikanischen Flieger ermordet hatte, der über deutschem Boden abgesprungen und unbewaffnet notgelandet war.

Der Gerichtshof wird bemerken, daß dieser Befehl der amerikanischen Militärkommission als Zeitpunkt der Begehung des Verbrechens den 15. August 1944 nennt, während Bormanns Befehl vom Mai 1944 datiert ist.

Ich bitte den Gerichtshof weiterhin, den Befehl Nummer 5 der Militärkommission des Hauptquartiers der 3. amerikanischen Armee und des Militärbezirks Ost vom 18. Oktober 1945 amtlich zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Befehl ist in Dokument 2560-PS wiedergegeben. In diesem Befehl wird die Todesstrafe über einen Deutschen wegen Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche verhängt, weil er am oder um den 12. Dezember 1944 einen amerikanischen Flieger, der auf deutschem Gebiet notgelandet war, ermordet hatte.

Wir könnten weitere Befehle amerikanischer und alliierter Militärkommissionen aufzählen, die deutsche Zivilisten zum Tode verurteilten wegen Lynchjustiz an alliierten Fliegern, die abgesprungen und unbewaffnet auf deutschem Gebiet notgelandet waren. Wir glauben, daß wir mit der Erwähnung dieser beiden Befehle unserer Beweispflicht nachgekommen sind und die Zeit des Gerichtshofs insoweit nicht weiter in Anspruch zu nehmen gezwungen sind.

Wie bereits in dem Vortrag der Anklage erwähnt wurde, übernahm Bormann am 20. Oktober 1944 in einem Augenblick, als die Niederlage der Nazis schon (feststand, die politische und organisatorische Führung des neugeschaffenen Volkssturms, der Volksarmee. Dadurch, daß Bormann durch seine Befehle den Volkssturm zum fortgesetzten Widerstand aufforderte, trägt er eine erhebliche Verantwortung für diesen Widerstand, der den Angriffskrieg um Monate verlängerte.

Wir kommen nun zur Vorlage der Beweise dafür, daß der Angeklagte Bormann zur Unterstützung der Verschwörung zahlreiche Verbrechen verschiedenster Art gegen die Menschlichkeit guthieß, beging und an ihnen teilnahm. Bormann spielte eine bedeutende Rolle bei der Durchführung des Zwangsarbeitsprogramms. Ich biete unser Dokument D-226, US-697, zum Beweis an. Es ist dies ein Rundschreiben des Angeklagten Speer vom 10. November 1944, mit dem Anordnungen Himmlers weitergegeben werden, die sich auf ein gemeinsames Vorgehen der Partei und der Gestapo zur Sicherung einer größeren Arbeitsleistung von Millionen ausländischer Zwangsarbeiter in Deutschland beziehen. Ich zitiere den mit 2) bezeichneten Absatz auf Seite 2 der englischen Übersetzung des Dokuments D-226, der wie folgt lautet:

»Alle in Betrieben tätigen Männer und Frauen der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände, werden nach Weisung der Kreisleiter durch die Ortsgruppenleiter ermahnt und verpflichtet,

a) auch ihrerseits die Ausländer auf das sorgfältigste zu beobachten und die geringsten Wahrnehmungen unverzüglich dem Betriebsobmann zur Weitergabe an den Abwehrbeauftragten bzw. sofern ein solcher nicht eingesetzt ist, an die zuständige Polizeidienststelle unter gleichzeitiger Unterrichtung von Betriebsführer und Ortsgruppenleiter zu melden,

b) unermüdlich und fortlaufend in Wort und Tat auf die Ausländer im Sinne der deutschen Siegesgewißheit, des deutschen Widerstandswillens, der Leistungssteigerung und der Ordnung im Betrieb einzuwirken.

Mehr denn je muß gerade von den Parteigenossen und Parteigenossinnen sowie Angehörigen der Gliederungen und angeschlossenen Verbände erwartet werden, daß sie selbst eine vorbildliche Haltung an den Tag legen.«

Nun ein Wort über die Bedeutung dieser Verfügung: Zugegeben, es handelt sich um ein Rundschreiben von Speer, das ein Abkommen zwischen ihm und Himmler wiedergibt; aber das Ergebnis dieses Abkommens war, die Last und die fortlaufende Aufgabe der Sorge um die Fremdarbeiter den Mitgliedern der Partei aufzuerlegen, einer Partei, deren Exekutivchef Bormann war.

Nach der Verordnung vom 24. Januar 1942 konnte keine derartige Anweisung ohne Bormanns Teilnahme, sowohl an deren Vorbereitung als auch an deren Durchführung erlassen werden.

Ich lege nun Dokument 025-PS als Beweisstück US-698 vor. Dies ist ein vom 4. September 1942 datierter Bericht über eine Sitzung, in der bestimmt wurde, daß die Anwerbung, Einziehung und der Einsatz von 500000 weiblichen hauswirtschaftlichen Arbeiterinnen aus dem Osten sowie die dabei notwendigen Verwaltungsmaßnahmen ausschließlich durch die Angeklagten Sauckel, Himmler und den Angeklagten Bormann zu erledigen seien. Ich zitiere die ersten beiden Sätze des dritten Absatzes der englischen Übersetzung des Dokuments 025-PS, die wie folgt lauten:

»Als diesen Weg hat der Führer die sofortige Hereinnahme von 400000 bis 500000 hauswirtschaftlichen Ostarbeiterinnen aus der Ukraine im Alter von 15-35 Jahren angeordnet und den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz mit der Durchführung dieser Aktion, die in etwa 3 Monaten abgeschlossen sein soll, beauftragt. Im Zusammenhang hiermit soll, was auch Reichsleiter Bormann billigt, die illegale Hereinholung von Hausgehilfinnen in das Reich durch Angehörige der Wehrmacht oder sonstige Dienststellen nachträglich genehmigt und auch unabhängig von der offiziellen Werbeaktion weiterhin nicht verwehrt werden.«

Ich zitiere nun vom ersten Satz des letzten Absatzes auf Seite 4 der englischen Übersetzung vom Dokument 025-PS. Es ist die Stelle, die die Teilnahme Bormanns an dem Plan zeigt:

»Allgemein gewann man aus der Besprechung den Eindruck, daß sowohl die Fragen der Anwerbung und des Einsatzes als auch die der Behandlung der hauswirtschaftlichen Ostarbeterinnen zwischen dem GBA, dem RFSS u. Ch.d.Dtsch.Pol. und der Parteikanzlei ausgehandelt werden und daß das RMf.d.b.O. in diesen Fragen als nicht oder nur bedingt zuständig angesehen wird.«

Die Parteikanzlei ist hier ausdrücklich erwähnt, und Bormann stand an deren Spitze, wie dem Gerichtshof bekannt ist.

Der Angeklagte Bormann zwang der Verwaltung der deutschbesetzten Gebiete seinen Willen auf und bestand auf der rücksichtslosen Ausbeutung der Bewohner des besetzten Ostens. Ich bitte den Gerichtshof ergebenst, dem Dokument R-36 seine Aufmerksamkeit zu schenken, das als Beweisstück US-699 vorgelegt worden ist. Dem Gerichtshof ist dieses Dokument geläufig, da es schon mehrmals in diesem Prozeß erwähnt worden ist. Der Gerichtshof weiß, daß es sich um eine amtliche Denkschrift des Ministeriums für die besetzten Ostgebiete vom 19. August 1942 handelt, in der erklärt wird, daß die Vorstellungen des Angeklagten Bormann über die Unterdrückung der Einwohner der Ostgebiete tatsächlich die deutsche Besatzungspolitik im Osten bestimmten. Der Gerichtshof wird sich noch des nunmehr schon nahezu berüchtigten Zitats aus diesem Dokument R-36 erinnern, das die Einstellung Bormanns zu der deutschen Besatzungspolitik im Osten umschreibt. Es wurde schon so oft zitiert, daß ich der Versuchung, es zu wiederholen, widerstehen will, obwohl es im wesentlichen doch dazu kommen wird.

Im Endergebnis sagt Bormann folgendes:

»Die Slaven sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Impfzwang und deutsche Gesundheitsfürsorge sind daher überflüssig. Die slavische Fruchtbarkeit ist unerwünscht. Sie mögen Präservative benutzen oder abtreiben, je mehr desto besser. Bildung ist gefährlich. Es genügt, wenn sie bis 100 zählen können. Höchstens die Bildung, die uns brauch bare Handlanger schafft, ist zulässig. Die Religion lassen wir ihnen als Ablenkungsmittel. An Verpflegung bekommen sie nur das Notwendige. Wir sind die Herren, wir kommen zuerst.«

Wir behaupten ergebenst, daß dies eine genaue Beschreibung und Zusammenfassung des Inhalts des Dokuments R-36 ist.

Wir bitten den Gerichtshof ergebenst, nunmehr Dokument 654-PS zur Hand zu nehmen, das bereits früher als Beweisstück US-218 vorgelegt worden ist. Der Gerichtshof wird sich noch erinnern, daß es sich um das Protokoll über eine Sitzung vom 18. November 1942 handelt und ein auf Bormanns Vorschlag getroffenes Abkommen zwischen dem Justizminister und Himmler enthält, demzufolge alle Einwohner der besetzten Ostgebiete einem brutalen Polizeiregime an Stelle eines ordentlichen Rechtssystems unterworfen wurden. Weiterhin überträgt das Übereinkommen Bormann die Schlichtung aller Streitfragen zwischen der Partei, dem Reichsjustizminister und Himmler.

Wir behaupten, daß Bormann mit der Ausgabe dieser und ähnlicher Befehle in hohem Maße die Verantwortung an der unterschiedlichen Behandlung und Liquidation einer großen Anzahl von Leuten in den von Deutschland besetzten Ostgebieten trägt.

Ich möchte nunmehr mit Erlaubnis des Gerichtshofs den Inhalt meines Vortrages in wenigen Worten zusammenfassen. Wir haben bewiesen, daß Bormann, der zur Zeit der Niederlage Deutschlands erst 45 Jahre alt war, sein ganzes Leben der Förderung der Verschwörung gewidmet hat. Sein Hauptbeitrag zur Ausführung der Verschwörung lag darin, daß er den Riesenapparat der Nazi-Partei dazu benutzte, die zahlreichen Ziele der Verschwörung voranzutreiben. Zuerst als Stabschef des Angeklagten Heß und dann als Leiter der Partei-Kanzlei selbst gebrauchte und lenkte er, nur Hitlers höchster Autorität unterstellt, die gesamte Macht der Partei und ihrer Ämter auf die Durchführung der Verschwörerpläne. Er bediente sich seiner großen Machtstellung, um die christliche Kirche und Geistlichkeit zu verfolgen und war ein unversöhnlicher Gegner der Grundsätze des Christentums, mit denen er sich in Konflikt befand.

Er veranlaßte und nahm selbst aktiv handelnd an Maßnahmen zur Verfolgung der Juden teil, und mit starker Hand setzte er dem jüdischen Volk in Deutschland und in den von den Deutschen besetzten Gebieten Europas die Dornenkrone des Elends auf.

Als Leiter der Partei-Kanzlei und Sekretär des Führers billigte, leitete und nahm Bormann teil an zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen jeder Art gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechen umfaßten, ohne sie damit begrenzen zu wollen, die Lynchjustiz an alliierten Fliegern, die Versklavung und unmenschliche Behandlung der Bewohner der von Deutschland besetzten Gebiete Europas, die Grausamkeit der Zwangsarbeit, die Zerstörung von Häusern entgegen den klaren Bestimmungen der Haager Konvention und die planvolle Verfolgung und Ausrottung der Zivilbevölkerung des europäischen Ostens.

Hoher Gerichtshof, jedes Kind weiß, daß Hitler ein böser Mensch war. Die Anklagebehörde möchte aber ergebenst hervorheben, daß Hitler ohne Helfershelfer wie Bormann niemals imstande gewesen wäre, die totale Macht in Deutschland an sich zu reißen und zu halten, sondern allein durch die Wüste hätte wandern müssen.

Bormann war in der Tat ein böser Erzengel an der Seite des Teufels Hitler, und obwohl er noch immer der Gerichtsbarkeit dieses Gerichtshofs entgangen und sein Platz auf der Anklagebank leer ist, so kann er der Verantwortung für seine Verbrechen nicht entgehen.

Ich schließe nun mit einem, wie mir scheint, sehr wichtigen Punkte. Wenn auch Bormann nicht hier ist, so ist doch wegen des letzten Satzes von Artikel VI des Statuts jeder Angeklagte auf dieser Anklagebank, von dem wir bewiesen haben, daß er Führer, Organisator, Anstifter und Mittäter an der Verschwörung gewesen ist, für die Taten aller derjenigen verantwortlich, die die allgemeinen Ziele der Verschwörung gefördert haben. Und indem wir fest auf unserem Antrag verharren, sind wir der Auffassung, daß, obwohl Bormann nicht hier ist, doch jeder Mann auf der Anklagebank an der Verantwortung für seine Verbrechen teil hat. Und damit schließen wir. Der Name Bormann wird nicht in Vergessenheit geraten solange das Protokoll über den Prozeß dieses Gerichtshofs erhalten bleibt.

Ich habe nun die Ehre, Leutnant Henry Atherton einzuführen, der für die Anklagevertretung den Fall gegen den Angeklagten Seyß-Inquart vortragen wird.

LEUTNANT HENRY K. ATHERTON, HILFSANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Die Anklagebehörde hat einen vorbereitenden Schriftsatz zum besseren Verständnis für den Gerichtshof verfaßt, der die persönliche Verantwortung des Angeklagten Seyß-Inquart aufzeigt. Ich überreiche dem Hohen Gerichtshof hiermit Abschriften dieses Schriftsatzes, sowie das Dokumentenbuch »KK«, das Übersetzungen des Beweismaterials enthält, auf das in diesem Schriftsatz verwiesen, beziehungsweise das von mir nunmehr in die Verhandlung eingeführt werden wird. Eingangs möchte ich betonen, daß ich beabsichtige, im Augenblick lediglich die persönliche Verantwortlichkeit des Angeklagten Seyß-Inquart für die Verbrechen, deren er in Punkt 1 und 2 der Anklageschrift beschuldigt wird, zu behandeln. Beweise für seine Schuld gegenüber den Verbrechen gemäß Punkt 3 und 4 der Anklageschrift, das heißt Beweise, die sich besonders auf diese Punkte beziehen, werden später durch die Ankläger der Französischen Republik und der Sowjetunion vorgelegt werden.

Seyß-Inquart hat zugegeben, daß er die folgenden Staatsstellen und Parteiämter innehatte, wobei ich mich auf Dokument 2910-PS, US-17, beziehe:

Er war österreichischer Staatsrat von Mai 1937 bis 12. Februar 1938, er war österreichischer Minister des Innern und des Sicherheitswesens vom 16. Februar 1938 bis 11. März 1938, österreichischer Bundeskanzler vom 11. bis 15. März 1938, Reichsstatthalter für Österreich vom 15. März 1938 bis 1. Mai 1939, Reichsminister ohne Geschäftsbereich vom 1. Mai 1939 bis September des gleichen Jahres, Mitglied des Reichskabinetts vom 1. Mai 1939 bis Kriegsende, Chef der Zivilverwaltung für Südpolen von Anfang September 1939 bis 12. Oktober 1939, stellvertretender Generalgouverneur von Polen unter dem Angeklagten Frank vom 12. Oktober 1939 bis zum Mai 1940 und schließlich Reichskommissar für die besetzten Gebiete Hollands vom 29. Mai 1940 bis zum Ende des Krieges. Er hat auch zugegeben, daß er am 13. März 1938 der NSDAP beigetreten ist, und daß er zwei Tage später zum General der SS ernannt wurde.

Hoher Gerichtshof, diese Liste der Stellungen, die Seyß-Inquart nach seinem eigenen Zugeständnis innehatte, läßt die Rolle erkennen, die er in dem gemeinsamen Plan beziehungsweise der Verschwörung der Nazis spielte. Sie zeigt seinen stetigen Aufstieg zu immer größerem Einfluß und immer größerer Macht und hebt besonders seine außerordentliche Begabung und Geschicklichkeit. In der Versklavung der kleinen Völker rings um Deutschland zum Vorteile von, wie er es nennt, Großdeutschland, hervor.

Der Angeklagte Seyß-Inquart trat der Nazi-Verschwörung in Verbindung mit dem Nazi-Angriff auf Österreich bei. Herr Alderman hat schon dargetan, wie die Nazis ihre diplomatischen und militärischen Maßnahmen für diesen Schlag durch angestrengte politische Vorbereitungen innerhalb Österreichs unterstützten.

Das letzte Ziel dieser Vorbereitung bestand in der Berufung von Nazis oder nazifreundlichen Personen in Schlüsselstellungen innerhalb der Österreichischen Regierung, insbesondere in das Amt des Ministers des Innern und des Sicherheitswesens, der über die Polizei gebot und so jede Opposition gegen die Nazis rasch unterdrücken konnte, wenn die Zeit dazu gekommen wäre. Seyß-Inquart war für dieses Ziel ein besonders wirksames Werkzeug. Er war der erste der sogenannten Quislinge oder Verräter, die von den Nazis benutzt wurden, um ihre Angriffspläne zu fördern und ihre Herrschaft über ihre Opfer zu befestigen. Seyß-Inquart hat seine Mitgliedschaft in der Partei erst ab 13. März 1938 zugegeben. Ich möchte jedoch beweisen, daß er mit den Nazis schon viel früher in engster Verbindung stand. Zu diesem Zweck lege ich jetzt Dokument 3271-PS als Beweisstück US-700 vor. Ich lese von Seite 9 der Übersetzung. Der Angeklagte erklärt in diesem an Himmler gerichteten Brief vom 19. August 1939:

»Was meine Parteizugehörigkeit betrifft, so bemerke ich, daß ich niemals aufgefordert wurde, der Partei beizutreten, aber ich habe im Dezember 1931 Dr. Kier gebeten, mein Verhältnis zur Partei in Ordnung zu bringen, da ich in der Partei die Grundlage für die Lösung der österreichischen Frage sehe... Ich habe daraufhin meine Beiträge bezahlt, und zwar, wie ich glaube, unmittelbar an den Gau Wien. Die Überweisungen erfolgten noch über die Verbotszeit hinaus. Dann später kam ich in unmittelbare Verbindung mit der Ortsgruppe in Dornbach. Die Beiträge zahlte meine Frau, doch war sich im Hinblick auf die Höhe der Beiträge, S. 40. – im Monate, der Blockwart« – ich glaube, daß dies ein anderes Wort für Blockleiter ist – »niemals im Zweifel darüber, daß dies eine Leistung für meine Frau und mich war, und ich wurde in jeder Beziehung als Parteigenosse behandelt.«

Seyß-Inquart sagt dann im letzten Satz dieses Absatzes:

»Ich habe mich also in jeder Beziehung als Parteigenosse gefühlt und als der Partei zugehörig angesehen und zwar, wie gesagt, schon vom Dezember 1931 an.«

Bevor ich nun, Hoher Gerichtshof, diesen Brief weglege, möchte ich auf einen oder zwei Sätze aufmerksam machen, die der Gerichtshof in Absatz 3 auf Seite 7 der Übersetzung findet. Seyß-Inquart nimmt auf eine Besprechung mit Hitler Bezug und sagt:

»Ich bin aus dieser Besprechung als ein sehr aufrechter Mann herausgegangen mit dem nicht auszudrückenden Glücksgefühl, ein Werkzeug des Führers sein zu dürfen.«

In Wahrheit war Seyß-Inquart also ein aktiver Förderer der Nazis seit dem Jahre 1931. Als aber die Nazi-Partei in Österreich im Juli 1934 für illegal erklärt wurde, da vermied er eine zu auffällige Verbindung mit der Nazi-Organisation, um, wie die Nazis es nannten, seine gute legale Position zu sichern. Unter diesem Deckmantel war er besser imstande, seine Verbindungen mit Katholiken und anderen für die Untergrabungsarbeit im Interesse seiner Nazi-Vorgesetzten zu verwenden.

Der Gerichtshof wird Dokument 2219-PS, US-62, noch in Erinnerung haben, und zwar den Brief Seyß- Inquarts an Göring vom 14. Juli 1939, in dem Seyß- Inquart dies absolut klarstellte. Gerade in diesem Brief sagte er unter anderem auch:

»Ich weiß aber, daß ich mit einer unüberwindlichen Zä higkeit an den Zielen festhalte, die mein Glauben sind: Das ist Großdeutschland und der Führer.«

Durch das von Herrn Alderman vorgelegte Beweismaterial ist in allen Einzelheiten dargelegt worden, auf welche Weise die Nazi-Verschwörer ihren Angriff auf Österreich durchgeführt haben. Ich beabsichtige nicht, irgendeinen Teil dieses Beweismaterials noch einmal zu wiederholen. Ich möchte den Gerichtshof jedoch auf zwei Dokumente verweisen, die von besonderer Bedeutung sind, weil sie zeigen, welche Rolle dieser Angeklagte gespielt hat. Ich verweise auf den Bericht von Rainer an Gauleiter Bürckel vom 6. Juli 1939, der die Rolle schildert, die die österreichische Nazi-Partei, der Angeklagte Seyß-Inquart und andere, in der Zeit vom Juli 1934 bis März 1938 gespielt haben. Dieser Bericht macht weiterhin Mitteilung von den erstaunlichen Aufzeichnungen über die Telefongespräche, die am 11. März 1938 zwischen dem Angeklagten Göring, beziehungsweise seinem Vertreter in Berlin, einerseits, und Seyß-Inquart und anderen in Wien, andererseits, geführt wurden. Der Rainer-Bericht ist Dokument 812-PS, US-61; er wurde bereits in das Sitzungsprotokoll Band II, Seite 410 verlesen. Die Aufzeichnungen über die Telefongespräche sind Dokument 2949-PS, US-6. Sie wurden erstmalig in die Verhandlungsniederschrift, Band II, Seite 458 ff, eingeführt.

Zur Ergänzung meines Vorbringens und zur weiteren Beleuchtung der Rolle, die Seyß-Inquart spielte, möchte ich nun als Beweismittel die Erklärung vorlegen, die Seyß-Inquart freiwillig auf Anraten seines Verteidigers am 10. Dezember 1945 unterschrieben hat. Es ist dies Dokument 3425-PS, das ich als Beweisstück US-701 vorlege.

In dieser Erklärung gibt Seyß-Inquart eine Erklärung über seine Beteiligung an den Ereignissen, die zum Anschluß führten, wie sie sich von seinem Standpunkt aus darstellen. Ich möchte zunächst einige wenige Sätze aus dem zweiten Absatz der ersten Seite verlesen. Es heißt dort:

»Im Jahre 1918 wandte sich mein Interesse der Anschlußfrage Österreichs an Deutschland zu. Von diesem Jahre an bemühte, plante und arbeitete ich zusammen mit anderen, die gleicher Ansicht waren, um einen Anschluß Österreichs mit Deutschland zustande zu bringen. Es war mein Wunsch, diesen Zusammenschluß der zwei Staaten in evolutionärer Art und mit legalen Mitteln zu schaffen.«

Ich überspringe jetzt einen oder zwei Sätze:

»Ich unterstützte auch die nat.-soz. Partei, solange sie legal war, weil diese mit besonderer Entschiedenheit für den Anschluß eintrat. Vom Jahre 1932 ab machte ich der Partei geldliche Zuwendungen, hörte aber mit dieser finanziellen Unterstützung auf, als sie im Jahre 1934 verboten wurde.«

Dann einige Sätze weiter:

»Vom Juli 1936 an bemühte ich mich, den Nationalso zialisten zu einer legalen Betätigungsmöglichkeit zu verhelfen, und schließlich, ihnen eine Teilnahme an der Regierung zu verschaffen. Ich wußte, daß vor allem in der Zeit des Parteiverbots bis Juli 1934 das radikale Element in der illegalen Partei terroristische Akte ausführte, z.B. auf Eisenbahnen, Brücken, Telefonanlagen usw. Ich wußte, daß die Regierung beider Kanzler, Dollfuß und Schuschnigg, obwohl sie grundsätzlich auf gesamtdeutschem Standpunkt standen, im Hinblick auf das nat.-soz. Regime im Reich damals gegen den Anschluß waren. Ich sympathisierte mit den Anstrengungen der österr. Nationalsozialisten, zu politischer Betätigung und entsprechendem Einfluß zu kommen, weil sie für den Anschluß waren.«

Um kurz zusammenzufassen: Der Hohe Gerichtshof wird bemerken, daß der Angeklagte Mitteilung macht, wie seine Ernennung zum Staatsrat im Mai 1937 als Ergebnis eines Abkommens zwischen Deutschland und Österreich vom Juli 1936 zustande kam, des Abkommens, an dessen Zustandekommen, wie Rainer zugab, Seyß-Inquart mitgewirkt hat; er sagt weiter, daß seine Ernennung zum Minister für Inneres und Sicherheitswesen das Ergebnis eines Abkommens zwischen Schuschnigg und Hitler in Berchtesgaden vom 12. Februar 1938 war. Er gibt weiterhin zu, daß nach dieser Ernennung und nach diesem Abkommen die österreichischen Nationalsozialisten sich auf immer weitergehende Demonstrationen einließen. Er erzählt, wie er unmittelbar nach seiner Ernennung zum Minister für Inneres und Sicherheitswesen nach Berlin gereist sei und eine Besprechung mit Hitler und Himmler gehabt habe. Schließlich beschreibt er die Ereignisse jenes Tages, des 11. März 1938, an dem er mit Unterstützung der gesamten deutschen Militärmacht Kanzler wurde.

Ich will diese Schilderung nicht in aller Ausführlichkeit verlesen, da der Gerichtshof ohnehin schon weiß, wie sich die Ereignisse damals abgespielt haben. Ich will nur von der dritten Seite ungefähr auf der Mitte verlesen, wo der Angeklagte sagt:

»Um 10 Uhr vormittags begaben sich Glaise-Horstenau und ich ins Bundeskanzleramt und konferierten etwa 2 Stunden mit Dr. Schuschnigg. Wir machten ihm von allem, was wir wußten, rückhaltslos Mitteilung, insbesondere auch von der Möglichkeit von Unruhen und den Vorbereitungen im Reich. Der Kanzler sagte seine Entscheidung bis 14 Uhr zu; als ich mit Glaise-Horstenau um diese Zeit bei Dr. Schuschnigg war, wurde ich wiederholt ans Telefon gerufen, um mit Göring zu sprechen.«

VORSITZENDER: Ist dies nicht schon verlesen worden?

LEUTNANT ATHERTON: Nein, dieses Dokument ist noch nicht vorgelegt worden.

VORSITZENDER: Gut.

LEUTNANT ATHERTON:

»Dieser... teilte mir mit, daß das Reich vom Übereinkommen vom 12. 2. zurücktrete, den Rücktritt Schuschniggs verlange und meine Ernennung zum Bundeskanzler.«

Der Gerichtshof kennt die Geschichte auch von der anderen Seite und hat das Telefongespräch gehört, wie es tatsächlich stattgefunden hat. In den nächsten zwei Absätzen erzählt er schließlich, wie Keppler wiederholt von ihm verlangt habe, ein Telegramm nach Deutschland mit der Bitte um Entsendung von Truppen zu senden, und daß er dies zuerst nicht tun wollte, schließlich aber doch zugestimmt habe. Ich verlese jetzt vom vorletzten Absatz:

»Wie ich aus den vorliegenden Urkunden entnehme, wurde ich etwa um 10 Uhr abends nochmals aufgefordert, einem etwas geänderten Telegrammwortlaut meine Zustimmung zu geben, wovon ich Präsident Miklas und Dr. Schuschnigg Mitteilung machte. Schließlich hat Präsident Miklas mich zum Bundeskanzler ernannt und einige Zeit später die von mir vorgeschlagene Ministerliste genehmigt.«

Wie der Gerichtshof noch in Erinnerung haben wird, wurde Hitler in dem fraglichen Telegramm im Namen der provisorischen Österreichischen Regierung gebeten, so schnell wie möglich deutsche Truppen zu senden, um die Regierung in ihrer Aufgabe zu unterstützen und unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Der Text des Telegramms, das in Band 6 der Sammlung »Dokumente der Deutschen Politik« abgedruckt ist, stellt Dokument 2463-PS unseres Dokumentenbuchs dar. Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß der Text dieses Telegramms im großen und ganzen derselbe ist, den Göring über das Telefon Keppler am Abend des 11. März diktiert hat, und der sich im Gerichtsprotokoll, Band II, Seite 464, befindet.

Am nächsten Morgen, um wieder auf die Aussage des Angeklagten zurückzukommen, gibt er zu, Hitler angerufen zu haben.

MR. BIDDLE: Verlesen Sie?

LEUTNANT ATHERTON: Nein, ich fasse zusammen.

MR. BIDDLE: Wenn Sie es nicht verlesen, dann ist es nicht als Beweismaterial eingeführt.

LEUTNANT ATHERTON: In diesem Fall werde ich ein wenig weiter verlesen. Zunächst den letzten Absatz auf Seite 3:

»Am 12. März vormittags führte ich ein Telefongespräch mit Hitler, in dem ich vorschlug, daß, während deutsche Truppen in Österreich einzogen, österreichische Truppen ins Reich als Symbol marschieren sollten. Hitler stimmte diesem Vorschlag zu und wir kamen überein, uns später an diesem Tag in Linz, Oberöster reich, zu treffen. Ich flog dann mit Himmler nach Linz, der von Berlin nach Wien gekommen war. In Linz begrüßte ich Hitler auf dem Balkon des Rathauses und sagte, daß der Art. 88 des Vertrages von St. Germain unwirksam sei.«

Ich habe dargestellt, in welch unterwürfiger Art Seyß-Inquart, wie die Beweisaufnahme ergeben hat, in seinen Verhandlungen mit dem Kanzler Schuschnigg und Präsident Miklas die Befehle ausgeführt hat, die ihm am 11. März 1938 von Göring telefonisch gegeben worden waren. In Wirklichkeit hatte dieses Verhältnis zwischen ihnen schon seit längerer Zeit bestanden. Schon seit Anfang Januar 1938 hatte sich Seyß-Inquart, obwohl er damals eine wichtige Stellung in der Österreichischen Regierung innehatte, bei seinen Verhandlungen mit seiner eigenen Regierung als Beauftragter der Nazi-Verschwörer in Berlin betrachtet. Zum Beweis für die Art, wie dies geschah, lege ich Dokument 3473-PS als Beweisstück US-581 vor. Es handelt sich hierbei um einen Brief Kepplers an Göring vom 6. Januar 1938, in dem er, ich zitiere, erklärt:

»Hochverehrter Herr Generaloberst!

Staatsrat Dr. Seyß-Inquart hat einen Kurier zu mir geschickt mit der Meldung, daß seine Verhandlungen mit Bundeskanzler Dr. Schuschnigg völlig festgefahren seien, sodaß er gezwungen sei, das ihm übertragene Mandat zurückzugeben.

Dr. Seyß-Inquart wünscht dieserhalb eine Aussprache mit mir, bevor er entsprechend handelt.

Darf ich Sie um Nachricht bitten, ob im Augenblick ein derartiger Schritt, der wohl automatisch auch den Rücktritt des Bundesministers Glaise von Horstenau zur Folge hätte, angebracht erscheint, oder ob ich mich bemühen soll, eine derartige Aktion noch hinauszuschieben.«

Der Brief ist von Keppler unterschrieben. Dem Originalbrief ist eine kurze Notiz angeheftet, offenbar von der Sekretärin des Angeklagten Göring, die datiert ist, Karinhall, den 6. Januar 1938 und folgendermaßen lautet:

»Keppler soll telefonisch mitgeteilt werden:

Er möchte alles daran setzen, um einen Rücktritt von Staatsrat Dr. Seyß-Inquart und Bundesminister Glaise von Horstenau zu verhindern. Sollte die Sache Schwierigkeiten machen, dann sollte Herr Seyß-Inquart zuerst zu ihm kommen.«

Als Folge dieser Keppler anscheinend telefonisch durchgegebenen Weisung schrieb Keppler am 8. Januar 1938 einen Brief an Seyß-Inquart. Ich lege diesen Brief, Dokument 3397-PS, als Beweisstück US- 702 vor. Keppler schreibt, wobei der Gerichtshof sich erinnern wird, daß Keppler damals Staatssekretär für die österreichischen Angelegenheiten bei der Reichsregierung war, das Folgende:

»Sehr geehrter Herr Staatsrat!

Dieser Tage hatte ich den Besuch des Herrn Pl., der uns über den Stand der Dinge Bericht gab, und darüber Mitteilung machte, daß Sie ernstlich vor der Frage stehen, ob Sie nicht gezwungen sind, das Ihnen übertragene Mandat zurückzugeben.

Ich habe Generaloberst Göring über die Situation schriftlich orientiert und G. hat mir soeben mitteilen lassen, daß ich unbedingt bemüht sein muß, zu verhindern, daß dieser Schritt nun Ihrerseits oder von anderer Seite erfolgt. Es ist dies in dem gleichen Sinne, wie auch G. vor Weihnachten mit Dr. J. gesprochen hat. Jedenfalls läßt G. Sie bitten, unter keinen Umständen etwas in diesem Sinne zu unternehmen, bevor er selbst Gelegenheit hatte, Sie nochmals zu sprechen.

Ich kann Ihnen ferner mitteilen, daß G. weiterhin bemüht ist, Ll., zu sprechen, um seinerseits für Abstellung gewisser Mißstände zu sorgen.«

Der Brief ist von Keppler unterschrieben.

Hoher Gerichtshof! Diese beiden Briefe zeigen deutlich genug, wie sehr dieser Angeklagte ein Werkzeug der Nazi-Verschwörer war, und in welchem Umfang diese ihn zur Ausführung ihrer Pläne zum Einfall in Österreich verwendeten. Nachdem die deutschen Truppen sich erst einmal in Österreich befanden, und Seyß-Inquart Bundeskanzler geworden war, verlor er keine Zeit, um die Pläne seiner Nazi-Mitverschwörer durchzuführen.

Ich lege als nächstes Beweisstück Dokument 3254-PS vor, eine Denkschrift, die von dem Angeklagten Seyß-Inquart unter dem Titel »Die österreichische Frage« geschrieben ist. Es ist Beweisstück US-704. Ich lege diese nur wegen der Beschreibung vor, die er darüber gibt, wie er es angestellt hat, daß das österreichische Gesetz, durch das Österreich an Deutschland angeschlossen wurde, durchging. Er berichtete, daß am 13. März deutsche Beamte ihm den Entwurf zur Vereinigung Österreichs mit Deutschland unterbreitet hätten. Sie berichteten, daß...

VORSITZENDER: Zitieren Sie?

LEUTNANT ATHERTON: Ich zitiere jetzt von der Mitte der Seite 20 des englischen Textes:

»Ich berief einen Ministerrat ein, nachdem mir Dr. Wolf mitgeteilt hatte, der Bundespräsident werde der Durchführung keine Schwierigkeiten bereiten, er fahre inzwischen nach Hause und sehe dort meinem Besuche entgegen. Der inzwischen zusammengetretene Ministerrat genehmigte auf meinen Antrag den Gesetzentwurf, der inzwischen durch meine Rechtssetzungsabteilung einige Formulierungsänderungen erhalten hatte. Die Abstimmung für 20. April war schon im ersten Entwurf vorgesehen. Nach der Staatsverfassung vom 1. Mai 1934 konnte jede auch staatsgrundgesetzliche Verfassungsänderung vom Ministerrat mit Zustimmung des Bundespräsidenten beschlossen werden. Eine Abstimmung oder Bestätigung durch das Volk war nirgends und in keinem Fall vorgesehen. Falls der Bundespräsident, aus welchem Anlaß immer, seine Funktion zurücklegt oder dauernd nicht ausüben kann, gehen seine Befugnisse auf den Bundeskanzler über. Ich begab mich mit Dr. Wolf zum Bundespräsidenten. Dieser erklärte mir, daß er nicht wisse, ob die Entwicklung zum Wohle des österreichischen Volkes ausschlagen werde, er wolle aber dieser Entwicklung nicht entgegenstehen und zurücktreten, worauf ja alle verfassungsmäßigen Rechte auf mich übergingen.«

Und dann übergehen wir einige Sätze, bis Anfang Seite 21:

»Hierauf begab ich mich im Wagen nach Linz. Dort traf ich etwa um Mitternacht ein und meldete dem Führer und Reichskanzler den Vollzug des Wiedervereinigungsgesetzes.«

Am selben Tage nahm Deutschland formell durch Gesetz Österreich in das Reich auf und erklärte es in Verletzung des Artikels 80 des Vertrags von Versailles als ein Land des Deutschen Reiches. Ich bitte den Gerichtshof, Dokument 2307-PS amtlich zur Kenntnis zu nehmen. Es ist dies das Gesetz, in dem der Anschluß legalisiert wurde. Es ist im Reichsgesetzblatt 1938, Teil I, Seite 237, veröffentlicht.

Wenn der Angeklagte Seyß-Inquart auch allzu bescheiden zu sein scheint in Beurteilung der Rolle, die er bei dem Sturz der Regierung, der er Treue schuldete, spielte, so beeilten sich seine Mitverschwörer jedoch, die Bedeutung seiner Mitarbeit anzuerkennen. In einer Rede vom 26. März 1938 sagte der Angeklagte Göring das Folgende, wobei ich aus Dokument 3270-PS, US-703, einem Auszug aus der Sammlung »Dokumente der Deutschen Politik«, Band 6, Seite 183, verlese:

»Eine völlige Einmütigkeit bestand zwischen dem Führer und den nationalsozialistischen Vertrauensleuten innerhalb Österreichs...

Wenn die nationalsozialistische Erhebung so rasch, so durchgreifend und so unblutig zum Durchbruch kam, so ist dies vor allem auch das Verdienst der ruhigen, festen, klugen und entschlossenen Haltung des jetzigen Reichsstatthalters Seyß-Inquart und seiner Vertrauensmänner.«

Bevor ich mich von der Frage des Anschlusses abwende, möchte ich den ganzen Komplex noch einmal besonders hervorheben, weil diese ganze Zeit von besonderer Bedeutung ist, und weil gerade Seyß-Inquart es war, der die Schlüsselstellung bei diesem ersten offenen Angriff auf ein anderes Land innehatte. Wäre er nicht gewesen, dann hätten sich die Dinge vielleicht, wie sich aus der Beweisführung ergibt, ganz anders entwickelt, und selbst wenn es keine andere Verbindung zwischen ihm und den Angriffsplänen der Verschwörer gäbe, so wäre dies allein ausreichend, um ihn in die Reihe der Hauptverschwörer einzugliedern.

Herr Alderman hat bereits gezeigt, auf welche Weise Seyß-Inquart mit den Verschwörern zusammengearbeitet hat, um Österreich so vollkommen wie möglich in das Reich einzugliedern, wie er dem Reich alle Quellen des Landes, seine Reichtümer und seine Arbeitskräfte zur Verfügung stellte.

In weiterer Unterstützung der Pläne der Verschwörer stellte Reichsstatthalter Seyß-Inquart seine Begabung für die Judenverfolgung unter Beweis. Am 26. März 1938 hebt der Angeklagte Göring in einer Ansprache in Wien, die der Gerichtshof im Gerichtsprotokoll Band IV, Seite 613 findet, hervor, daß er den Angeklagten Seyß-Inquart als Reichsstatthalter ausdrücklich beauftragt habe, antisemitische Maßnahmen einzuführen.

Der Gerichtshof weiß aus der früheren Beweisaufnahme, welchen Massenraub dies in sich schloß. Seyß-Inquart führte seine Aufgabe so erfolgreich durch, daß gelegentlich einer am 12. November 1938 im Luftfahrtministerium unter dem Vorsitz des Angeklagten Göring stattgehabten Sitzung Fischböck, ein Beamter aus der engsten Umgebung Seyß-Inquarts, von der besonderen Wirksamkeit berichten konnte, mit der die Zivilverwaltung in Österreich die sogenannte »Judenfrage« behandelt hätte. Ich verweise auf Dokument 1816-PS, US-261, und verlese zunächst von Seite 14 der englischen Übersetzung, und zwar handelt es sich um den ganzen dritten Absatz unten auf Seite 14:

»Wir haben darüber in Österreich schon einen genauen Plan, Herr Generalfeldmarschall. In Wien gibt es 12000 jüdische Handwerksbetriebe und 5000 jüdische Einzelhandelsgeschäfte. Für diese zusammen 17000 offenen Läden lag die endgültige Planung für alle Gewerbetreibenden schon vor dem Umbruch vor. Von den 12000 Handwerksbetrieben sollten nahezu 10000 endgültig gesperrt und 2000 aufrechterhalten werden. Von den 5000 Einzelhandelsgeschäften sollten 1000 aufrechterhalten, d.h. arisiert, und 4000 geschlossen werden. Nach diesem Plan würden also 3000 bis 3500 von den im ganzen 17000 Geschäften offen bleiben, alle übrigen geschlossen werden. Das ist auf Grund von Untersuchungen für jede einzelne Branche nach den örtlichen Bedürfnissen abgestimmt, mit allen zuständigen Stellen erledigt und kann morgen hinausgehen, sobald wir das Gesetz bekommen, das wir im September erbeten haben, das uns ermächtigen soll, ganz allgemein ohne Zusammenhang mit der Judenfrage Gewerbeberechtigungen zu entziehen.«

Göring sagte darauf: »Die Verordung werde ich heute machen«.

Dann, Hoher Gerichtshof, möchte ich noch einen Satz von der Mitte der nächsten Seite verlesen, wo Fischböck weiterhin sagt:

»Dann wären von 17000 Geschäften 12000 oder 14000 geschlossen und der Rest arisiert oder an die Treuhandstelle übertragen, die dem Staat gehört.«

Und Göring erwidert:

»Ich muß sagen: der Vorschlag ist wunderbar. Dann würde in Wien, einer der Judenhauptstädte sozusagen, bis Weihnachten oder Ende des Jahres diese ganze Ge schichte wirklich ausgeräumt sein.«

Der Angeklagte Funk sagte darauf: »Das können wir auch hier machen.«

Mit anderen Worten, Seyß-Inquarts sogenannte Lösung wurde so bewundert, daß sie als Vorbild für das übrige Reich angesehen wurde.

Nachdem die Aufgabe der Einverleibung Österreichs in das Reich im wesentlichen vollendet war, konnten die Nazi-Verschwörer Seyß-Inquarts sachverständige Dienste bei der Unterjochung anderer Völker einsetzen. Zur Illustration dieser Tatsache verweise ich den Gerichtshof auf Dokument D-571, US- 112, das schon von Herrn Alderman in das Protokoll verlesen wurde. Der Gerichtshof weiß, daß aus diesem Dokument hervorgeht, daß am 21. März 1939 ein Beamter der Britischen Regierung von Prag aus an Viscount Halifax gemeldet hat, daß kurz vorher, und zwar am 11. März 1939, Seyß-Inquart, Bürckel und fünf deutsche Generale an einer Kabinettssitzung der Slowakischen Regierung teilnahmen und dort erklärten, daß die Regierung die Unabhängigkeit der Slowakei proklamieren sollte, daß Hitler sich entschlossen habe, die Frage der Tschechoslowakei endgültig zu lösen, dies wurde heute bereits vor dem Gerichtshof verlesen, und daß, falls sie nicht so handelten, wie ihnen aufgetragen sei, Hitler sich für ihr Schicksal nicht mehr interessieren würde. Dies gibt einen Begriff, wie dieser Mann sich in der Verfolgung der Angriffspläne der Nazi-Verschwörer einsetzte.

Anfang September 1939, nach Beginn des Feldzuges gegen Polen, wurde Seyß-Inquart zum Chef der Zivilverwaltung für Südpolen ernannt. Wenige Wochen später, am 12. Oktober 1939, erließ Hitler ein Gesetz, nach dem die von den deutschen Truppen besetzten Gebiete, mit Ausnahme derer, die in das Deutsche Reich eingegliedert worden waren, dem Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete unterstellt wurden. Er ernannte den Angeklagten Frank zum Generalgouverneur und den Angeklagten Seyß- Inquart zum Stellvertreter des Generalgouverneurs. Dieses Gesetz befindet sich im Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, Seite 2077; ich bitte den Gerichtshof, hiervon amtlich Kenntnis zu nehmen. Kurz danach, am 26. Oktober 1939, erließ Frank eine Verordnung über den Aufbau der Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete, deren Gouverneur er war. Diese Verordnung ist in der Sammlung »Dokumente der Deutschen Politik« veröffentlicht und erscheint als 3468-PS im Dokumentenbuch. Wie ich höre, handelt es sich um Band 7 des genannten Werkes, der die Beweisnummer 705 erhalten hat, mit der ich ihn jetzt anbiete.

Paragraph 3 dieser Verordnung bestimmt, daß der Chef des Amtes des Generalgouverneurs und der Höhere SS- und Polizeiführer dem Generalgouverneur und seinem Stellvertreter unmittelbar unterstellt sind. Dieser Stellvertreter war der Angeklagte Seyß-Inquart.

Die Bedeutung dieser Bestimmung ist im Hinblick auf die Beweise, die dem Gerichtshof bereits vorgelegt wurden und noch weiter vorgelegt werden, klar zu erkennen. Ich bitte den Gerichtshof, diese Verordnung amtlich zur Kenntnis zu nehmen.

Als Stellvertreter des Generalgouverneurs der besetzten polnischen Gebiete scheint Seyß-Inquart die Aufgabe gehabt zu haben, die deutsche Verwaltung im ganzen Gebiet einzurichten, das heißt, er arbeitete unter dem Angeklagten Frank, führte jedoch hauptsächlich die Besprechungen mit den verschiedenen örtlichen Leitern, denen er die Instruktionen für ihre Tätigkeit gab. Zur Illustration lege ich einen Bericht über eine Dienstreise vor, die Seyß-Inquart mit seinen Mitarbeitern zwischen dem 17. und 22. Februar 1939 durchführte. Es handelt sich hier um unser Dokument 2278-PS, das ich als Beweisstück US-706 vorlege.

Hoher Gerichtshof, ich habe mich bei der Angabe des Datums geirrt. Es soll richtig heißen, zwischen dem 17. und 22. November 1939, das heißt mit anderen Worten, kurz nachdem die Verwaltungsbehörden eingerichtet waren. Es heißt auf der ersten Seite der englischen Übersetzung, wobei ich jetzt den ganzen zweiten Absatz zitiere, folgendermaßen:

»15.00 Uhr hält Reichsminister Dr. Seyß-Inquart eine Ansprache an die Abteilungsleiter beim Distriktchef, bei der er unter anderem ausführte, daß oberste Richtschnur bei der Durchführung der deutschen Verwaltung im Generalgouvernement lediglich das Interesse des Deutschen Reiches sein müsse. Es müsse eine harte und einwandfreie Verwaltung das Gebiet der deutschen Wirtschaft nutzbar machen; um sich vor übergroßer Milde zu bewahren, müsse man sich die Folgen des Hereinbruches des Polentums in den deutschen Raum vergegenwärtigen.«

Dieser Bericht ist zu lang, Hoher Gerichtshof, um ausführlich daraus zu zitieren. Wenn jedoch der Gerichtshof Seite 7 aufschlagen wollte, so möchte ich dort einige Auszüge über die Ereignisse während des Aufenthalts des Angeklagten in Lublin verlesen. Aus dem Bericht geht hervor, daß der Angeklagte Seyß-Inquart mit den verschiedenen örtlichen deutschen Verwaltungsbeamten zusammentraf und ihnen, ich zitiere von Seite 7 oben, »Ausführungen über die Grundsätze« machte, »nach denen die Verwaltung im Gouvernement geführt werden müsse.«

Ich überspringe einen Satz und fahre fort:

»Die Schätze und die Bewohner dieses Landes müßten für das Reich nutzbar gemacht werden und könnten nur in diesem Rahmen ihr Fortkommen finden. Ein eigener politischer Gedanke dürfe sich nicht mehr entwickeln. Der Weichselraum sei vielleicht für das Deutschtum noch schicksalhafter wie der Rhein. Den Kreishauptleuten rief der Minister dann als Leitsatz zu: Wir fördern alles, was dem Reiche nützt, und unterbinden alles, was dem Reiche schaden kann. Dr. Seyß-Inquart sagte dann noch, daß der Generalgouverneur wünsche, daß die Männer, die hier eine Reichsaufgabe erfüllten, eine ihrer Verantwortung und ihren Leistungen entsprechende materielle Stellung erhielten.«

Und dann schildert der Berichterstatter zwei Seiten weiter eine Besichtigungsfahrt nach dem Dorf Wlodawa, Cycow. Ich verlese:

»Cycow ist ein volksdeutsches Dorf.«

Ich überspringe wieder einige Sätze und fahre fort:

»Reichsminister Dr. Seyß-Inquart hielt eine Ansprache, in der er u. a. ausführte, daß die Treue dieser Deutschen zu ihrem Volkstum nun durch die Stärke Adolf Hitlers ihre Rechtfertigung und Belohnung gefunden habe.«

Und dann der nächste Satz, der anscheinend vom Schreiber eingeschaltet ist:

»Dieses Gebiet mit seinem stark sumpfigen Charakter könnte nach den Erwägungen des Distriktgouverneurs Schmidt als Judenreservat dienen, welche Maßnahme womöglich eine starke Dezimierung der Juden herbeiführen könnte.«

VORSITZENDER: Wir wollen an dieser Stelle die Sitzung für zehn Minuten unterbrechen.