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[Verhandlungspause.]

VORSITZENDER: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Tatsachen über die Deportation des Generals Giraud und die Deportation seiner Familie, obwohl sie sehr wahrscheinlich in Frankreich öffentlich oder allgemein bekannt sind, im Sinne des Artikels 21 des Statuts, der sich auf die ganze Welt bezieht, nicht als öffentlich oder allgemein bekannt betrachtet werden können.

Falls der französische Anklagevertreter französische Regierungsdokumente oder -berichte besitzt, die die Tatsachen bezüglich der Deportation des Generals Giraud feststellen, so ist dies natürlich etwas anderes. Wenn solche Dokumente vorliegen, wird der Gerichtshof sie selbstverständlich berücksichtigen.

M. DUBOST: Ich muß also den Beweis erbringen, daß die einzelnen, von den deutschen Polizeichefs in jeder Stadt und in jeder Provinz der besetzten Weststaaten begangenen Verbrechen in Ausführung eines zentralen Willens, eines von der Deutschen Regierung ausgehenden Willens erfolgt sind; dies erlaubt uns, die Beschuldigungen den Angeklagten gegenüber einzeln vorzubringen. Diesen Beweis kann ich nicht mit deutschen Dokumenten führen. Es wird notwendig sein, daß Sie die Verlesung der Zeugenaussagen, die ich jetzt beginnen werde, gelten lassen. Diese Aussagen wurden von der amerikanischen Armee, der französischen Armee, sowie von der französischen Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen gesammelt. Der Gerichtshof wird entschuldigen, wenn ich genötigt bin, zahlreiche Schriftstücke zu verlesen. Der Beweis des systematischen Willens kann nur erbracht werden, indem ich zeige, daß überall, in jedem Falle, die Deutsche Polizei gegenüber den verhafteten und internierten Patrioten dieselben Methoden angewendet hat.

Internierung und Haft fanden in Frankreich in den von den Deutschen beschlagnahmten zivilen Strafgefängnissen oder auch in gewissen Teilen französischer Gefängnisse statt, die von Deutschen beschlagnahmt worden waren, und zu denen allen französischen Beamten der Zutritt verboten war.

In allen diesen Strafanstalten unterstanden die Häftlinge dem gleichen Regime. Wir beweisen dies durch Verlesung von Aussagen von Gefangenen aus jeder dieser deutschen Strafanstalten in Frankreich oder den besetzten Weststaaten. Dieses Regime war durchaus unmenschlich. Es erlaubte den Gefangenen nur zu überleben, und zwar unter den schwierigsten Verhältnissen.

In Lyon, in der Festung Montluc, bekamen die Frauen als einzige Nahrung eine Tasse Kräutertee um 7.00 Uhr früh und einen Schöpflöffel Suppe, dazu ein kleines Stück Brot um 17.00 Uhr. Dies ergibt sich aus Dokument F-555, das sich als elftes Dokument in Ihrem Dokumentenbuch befindet. Wir legen es unter Nummer RF-302 vor.

Die erste Seite dieses Dokuments, zweiter Absatz, bringt eine Zusammenfassung von Zeugenaussagen. Es genügt, auf diese Zusammenfassung hinzuweisen. Ich werde einige Zeilen der folgenden Zeugenaussagen herausgreifen:

Die Zeugin sagt aus, daß

»bei ihrer Ankunft in Fort Montluc (Lyon) die von der Gestapo am 20. September 1943 verhafteten Gefangenen ihrer Habe beraubt wurden. Die Gefangenen wurden übel behandelt. Die Verpflegung war äußerst karg. Das Schamgefühl der Frauen wurde mißachtet.«

Es handelt sich hier um die Zeugenaussage, datiert: »St. Gingolf, am 9. Oktober 1944«. Sie bezieht sich auf die Verhaftungen, in Saint Gingolf, die im September 1943 vorgenommen wurden. Der Zeuge berichtet:

»Als die jungen Leute vom Verhör zurückkamen, waren ihre Zehen mittels Benzin getränkter Wattebauschen verbrannt, den anderen wurden die Waden mit einer Lötlampe gerötet, andere waren von Polizeihunden gebissen worden.«

DR. RUDOLF MERKEL, VERTEIDIGER FÜR DIE GESTAPO: Es werden hier von der französischen Anklage Urkunden vorgelegt, die keine eidesstattlichen Aussagen darstellen. Das sind Erklärungen, aus denen nicht hervorgeht, wer sie aufgenommen hat, und ich muß gegen diese einfachen Aussagen von Leuten, die nicht vereidigt sind, formellen Einspruch erheben. Sie können hier nicht als Beweismittel dienen.

VORSITZENDER: Ist das alles, was Sie zu sagen haben?

DR. MERKEL: Jawohl.

VORSITZENDER: Wir werden nun die Antwort von Herrn Dubost anhören.

M. DUBOST: Herr Präsident, das Statut, das öffentlich bekannte Tatsachen als Beweise zuläßt, stellt keine Regel auf hinsichtlich der Art und Weise, in der Aussagen entgegengenommen werden sollen, die Ihnen als Beweismittel vorgelegt werden. Das Statut überläßt es Ihnen, zu entscheiden, ob dieses oder jenes Dokument angenommen werden kann, oder ob diese oder jene Untersuchungsmethode zulässig ist. Nun wurden aber diese Untersuchungen ordnungsgemäß durchgeführt, jedenfalls nach den Gewohnheiten und Gebräuchen meines Landes.

Es ist üblich, daß alle Polizei- und Gendarmerieprotokolle ohne Eidesleistung des Zeugen aufgenommen werden. Im übrigen sind nach dem Wortlaut des Statuts alle Untersuchungen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen als authentische Beweise zu betrachten.

Artikel 21 besagt:

»Der Gerichtshof wird für allgemein bekannte Tatsachen keine Beweise verlangen, sondern von ihnen amtlich Kenntnis nehmen. Er wird auch von offiziellen Dokumenten und Berichten der Regierungen der Vereinten Nationen amtlich Kenntnis nehmen, einschließlich derjenigen Urkunden und Dokumente, die von den in den verschiedenen alliierten Ländern zur Untersuchung der Kriegsverbrechen eingesetzten Ausschüssen verfaßt wurden, sowie von den Verhandlungsprotokollen und Urteilen der Kriegsgerichte oder sonstiger Gerichtshöfe irgendeiner der Vereinten Nationen.«

VORSITZENDER: Herr Dubost, ist das von Ihnen verlesene Dokument ein offizielles Regierungsdokument oder ein Bericht, oder ist es eine Urkunde oder ein Dokument eines in Frankreich eingesetzten Ausschusses?

M. DUBOST: Dieser Bericht stammt von der Generaldirektion der Sicherheitspolizei. Sie werden dies feststellen, indem Sie das zweite Blatt der Ihnen vorliegenden Abschrift lesen, wo links oben steht: »Generaldirektion der Sicherheitspolizei. Sonderkommissariat St. Gingolf, Vernehmungsniederschrift.«

VORSITZENDER: Können wir das Original sehen?

M. DUBOST: Diese Urkunde wurde in der Gerichtskanzlei eingereicht. Der Kanzleisekretär braucht sie Ihnen nur zu bringen.

VORSITZENDER: Schön! Ist dies eine beglaubigte Abschrift?

M. DUBOST: Jawohl, die Abschrift ist beglaubigt, und zwar durch den Kabinettschef des Justizministeriums.

VORSITZENDER: Herr Dubost, mir wird gesagt, daß die Französische Anklagebehörde sämtliche Originalurkunden besitzt und sie nicht vorlegt, wie die anderen Anklagebehörden es tun. Ist das richtig?

M. DUBOST: Die Französische Anklagebehörde hat die Originale der gestrigen Verhandlung vorgelegt und sie Herrn Martin überreicht.

VORSITZENDER: Nun möchten wir das Originaldokument sehen. Ich glaube, es befindet sich in den Händen des französischen Sekretärs; wir möchten es gern sehen.

M. DUBOST: Ich habe es holen lassen, Herr Vorsitzender. Diese Urkunde ist eine beglaubigte Abschrift des Originals, das sich im Archiv der französischen Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen befindet. Einerseits ist diese Beglaubigung von dem französischen Vertreter bei der Staatsanwaltschaft, Sie bemerken die Unterschrift von Herrn de Menthon auf dem vorliegenden Schriftstück, und andererseits von dem Kabinettschef des Justizministers, Herrn Zambeaux, ausgefertigt und mit dem Dienststempel des französischen Justizministers versehen.

VORSITZENDER: Es scheint ein Regierungsdokument zu sein. Es ist das Dokument eines von Frankreich geschaffenen Ausschusses zur Untersuchung von Kriegsverbrechen. Ist das richtig?

M. DUBOST: Herr Präsident, es ist ein Dokument der Generaldirektion der Sicherheitspolizei. Es wurde im Rahmen einer Untersuchung über Kriegsverbrechen aufgenommen, die von der französischen Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen veranlaßt wurde. Das Original ist in Paris in der französischen Dienststelle verblieben, aber die Ihnen vorliegende beglaubigte Abschrift trägt die Unterschrift des Kabinettschefs des Justizministeriums in Paris.

VORSITZENDER: Ja, Herr Dubost, es dreht sich hier nicht um die Frage, ob es eine richtige Abschrift ist oder nicht, sondern darum, ob im Rahmen des Artikels 21 des Statuts das Dokument ein Regierungsdokument oder ein Bericht der Vereinten Nationen oder ein Dokument von einem mit der Untersuchung der Kriegsverbrechen in Frankreich beauftragten Ausschuß ist. Ich habe gefragt, ob das der Fall sei, und es scheint so zu sein. Ist es so oder nicht?

M. DUBOST: Jawohl, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?

M. DUBOST: Nein, Herr Vorsitzender, ich habe nichts hinzuzufügen.

VORSITZENDER: Nun dürfen Sie sprechen, Dr. Merkel.

DR. MERKEL: Ich möchte nur noch kurz betonen, daß diese Berichte, die hier vorgelegt werden, ja keine Berichte einer offiziellen Regierungsstelle sind und auch nicht als Regierungsberichte gewertet werden können, sondern, daß es lediglich Protokolle sind, die von Polizeistellen aufgenommen worden sind, also in keiner Weise irgendwie Erklärungen, authentische Erklärungen einer Regierung oder eines Untersuchungskomitees sein können. Ich betone noch einmal, daß diese Erklärungen, die vor kleinen Polizeirevieren, zum Teil sicherlich, aufgenommen wurden, nicht beeidigt sind und keine eidesstattliche Versicherung darstellen, und ich muß entschieden dagegen protestieren, daß sie hier als Beweismaterial verwertet werden.

VORSITZENDER: Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?

DR. MERKEL: Nein.

VORSITZENDER: Wer ist Herr Binaud? T. Binaud?

M. DUBOST: Das ist der Polizeiinspektor, der dem Polizeikommissariat in St. Gingolf zugeteilt ist. Übrigens muß ich einen Fehler des Verteidigers bemerken, der sich äußerte, Gingolf sei ein kleines Revier. Es ist eine Grenzstelle, und die Grenzpolizeikommissariate sind alle bedeutende Polizeidienststellen, selbst wenn sie sich in kleinen Ortschaften befinden. Ich glaube, daß es in allen Ländern so ist.

VORSITZENDER: Herr Dubost, sind Sie sich darüber klar, was das Problem ist? Es ist eine Frage der Auslegung des Artikels 21.

M. DUBOST: Ich verstehe es ebenso, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof braucht Ihre Hilfe in der Frage, ob dieses Dokument unter die Bestimmungen des Artikels 21 fällt. Wenn Sie irgendetwas über diese Angelegenheit zu sagen haben, werden wir es gern anhören.

M. DUBOST: Herr Vorsitzender, es scheint mir unmöglich, daß der Gerichtshof diesem Dokument und ähnlichen Dokumenten, die ich vorlegen möchte, keine Rechnung trägt, denn alle diese Dokumente tragen zur Bestätigung nicht nur die Unterschrift des Vertreters Frankreichs vor diesem Gerichtshof, sondern auch die des Bevollmächtigten des Justizministers beim Ausschuß für Kriegsverbrechen. Prüfen Sie den Stempel, welcher sich neben der zweiten Unterschrift befindet. Das ist ein Siegel.

VORSITZENDER: Nicht so schnell. Sagen Sie uns, wo diese Unterschriften sind.

M. DUBOST: Hier ist, meine Herren: [auf das Dokument zeigend], ein Hinweis der Überreichung dieses Dokuments von der Untersuchungsstelle für feindliche Kriegsverbrechen als Beweismittel an die Französische Anklagebehörde und darunter die Unterschrift des Kabinettschefs des französischen Justizministeriums und Siegelbewahrers und noch auf dieser Unterschrift der Stempel des Justizministeriums. Sie lesen: »Untersuchungsstelle für feindliche Kriegsverbrechen«.

VORSITZENDER: Ist das der Kernpunkt der Angelegenheit, daß dies eine polizeiliche Untersuchung über diesen Tatbestand ist, daß diese Untersuchung niedergeschrieben wurde, und daß dann der Justizminister zur Verwendung bei diesem Prozeß diesen Polizeibericht annahm. Ist das der Kernpunkt der Angelegenheit?

M. DUBOST: So ist es! Herr Präsident, ich glaube, daß wir einig sind. Die Untersuchungsstelle für feindliche Kriegsverbrechen in Frankreich untersteht unmittelbar dem Justizminister und läßt Untersuchungen durchführen, die von Kriminalpolizeibeamten vorgenommen werden, wie zum Beispiel durch Monsieur Binaud, Polizeiinspektor im Polizeikommissariat von Saint Gingolf.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof möchte wissen, wann die Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen geschaffen wurde.

M. DUBOST: Aus dem Gedächtnis kann ich Ihnen das genaue Datum nicht angeben, aber diese Dienststellen sind in Frankreich gleich nach der Befreiung eingesetzt worden. Sie arbeiteten ab Oktober 1944.

VORSITZENDER: Wurde sie also nach diesem Polizeibericht geschaffen?

M. DUBOST: Im Monat September, zur gleichen Zeit.

VORSITZENDER: Im September welchen Jahres?

M. DUBOST: Im September 1944 wurde die Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen in Frankreich geschaffen, und diese Dienststelle gab gewisse Anweisungen, nachdem sich die Provisorische Regierung in Frankreich eingesetzt hatte.

VORSITZENDER: Die polizeiliche Untersuchung wurde also unter dieser Dienststelle durchgeführt? Der Polizeibericht trägt das Datum vom 9. Oktober; infolgedessen scheint der Polizeibericht nach der Einrichtung dieser Dienststelle gemacht worden zu sein. Ist das richtig?

M. DUBOST: Den Beweis dafür, Herr Präsident, haben Sie, wenn Sie oben links auf die zweite Seite sehen, wo der Anfang des Protokolls ist. Dort lesen Sie: »Betrifft: Untersuchung über die von Deutschen gegen die Zivilbevölkerung verübten Grausamkeiten.« Diese Untersuchungen wurden durch die Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen des Feindes eingeleitet.

VORSITZENDER: Es schiene richtig zu sein, wenn die Dienststelle im September eingerichtet worden wäre; der Polizeibericht stammt vom 9. Oktober.

Der Gerichtshof wird sich zur Beratung dieser Frage zurückziehen.