[Das Gericht vertagt sich bis
25. Januar 1946, 10.00 Uhr.]
Dreiundvierzigster Tag.
Freitag, den 25. Januar 1946.
Vormittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Kaltenbrunner und Streicher werden von der heutigen Vormittagssitzung abwesend sein.
M. DUBOST: Hoher Gerichtshof, ich kam gestern bis zur Verlesung eines amtlichen französischen Schriftstücks, das Sie in Ihrem Dokumentenbuch unter dem Titel »Bericht des Ministeriums für Kriegsgefangene und Deportierte« finden. Diese Verlesung bezog sich auf die von Deutschen festgenommenen jüdischen Kinder in Frankreich bei Privatpersonen oder in öffentlichen Anstalten, in denen sie untergebracht waren.
Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich auf eine Erklärung zurückkommen, welche ich früher abgegeben habe. Sie betraf die vom deutschen Generalstab mit Billigung des deutschen Auswärtigen Amtes gegebenen Befehle über die Verhaftung aller französischen Generale und, zudem als Vergeltung, der Familien derjenigen Generale, die zur Dissidenz, das heißt auf die Seite unserer Alliierten, übergegangen waren.
Aus dem Artikel 21 des Statuts geht ja hervor, daß der Hohe Gerichtshof den Beweis öffentlich bekannter Tatsachen nicht verlangt. Unter der ungeheuren Menge von Tatsachen, die wir Ihnen unterbreiten werden, sind viele, die zwar bekannt, aber nicht öffentlich bekannt sind. Es gibt aber auch einige wenige, die bekannt und zwar auch in allen Ländern öffentlich bekannt sind; connus et de notoriété publique. Das bezieht sich vor allem auf die Deportierung der Familie des Generals Giraud. Ich darf den Hohen Gerichtshof an die sechs Hauptpunkte dieser Angelegenheit erinnern.
Erstens: Wir erinnern uns alle an die Meldung des alliierten Rundfunks; daß Frau Giraud, die Ehefrau des Generals Giraud...
VORSITZENDER: Wovon sollen wir bezüglich der Deportierung der Familie des Generals Giraud amtlich Kenntnis nehmen?
M. DUBOST: Herr Vorsitzender, ich möchte den Gerichtshof bitten, hinsichtlich dieser Tatsachen den Artikel 21 des Statuts anzuwenden, nämlich die Bestimmung, nach der das Gericht den Beweis über öffentlich bekannte Tatsachen nicht verlangt.
Ferner bitte ich den Gerichtshof, meinen Vortrag über diese Tatsachen, die wir als öffentlich bekannt ansehen, anzuhören, denn diese sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in Amerika bekannt, da die amerikanische Armee an diesen Ereignissen beteiligt war.
VORSITZENDER: Der Wortlaut des Artikels 21 heißt nicht »öffentlich bekannt«, of public knowledge, sondern »... allgemein bekannt«, of common knowledge. Das ist nicht genau das gleiche.
M. DUBOST: Herr Präsident! Ich habe eine französische Übersetzung dieses Statuts vor mir. Ich verlese die französische Übersetzung: »Der Gerichtshof verlangt nicht, daß der Beweis für öffentlich bekannte Tatsachen, de notoriété publique, erbracht wird«.
Wir legen diese Worte so aus: Es ist nicht notwendig, den Beweis für überall bekannte Tatsachen, universellement connus, durch Dokumente oder Zeugnisse zu erbringen.
VORSITZENDER: Nun gut, Sie sagten »überall bekannt«, universally known; aber nehmen wir an, daß die Mitglieder des Gerichtshofes die Tatsachen nicht kennen? Wie könnten sie in diesem Falle als »allgemein bekannt«, of common knowledge, betrachtet werden? Die Mitglieder dieses Gerichtshofes sind möglicherweise über diese Tatsachen nicht unterrichtet worden; es wäre für sie daher schwierig, von Tatsachen Kenntnis zu nehmen, die ihnen nicht bekannt sind.
M. DUBOST: Dies ist eine je nach dem einzelnen Falle zu beurteilende Tatfrage, über die der Gerichtshof eine Entscheidung zu treffen hat. Der Gerichtshof wird erklären, ob er weiß oder nicht weiß, daß diese sechs Punkte, die ich nochmals aufzählen will, der Richtigkeit entsprechen.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück.