[Das Gericht vertagt sich bis
1. Februar 1946, 10.00 Uhr.]
Achtundvierzigster Tag.
Freitag, den 1. Februar 1946.
Vormittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Kaltenbrunner und Seyß-Inquart werden krankheitshalber heute Vormittag abwesend sein.
M. DUBOST: Ich habe die Darlegung der Tatbestände beendet. Sie war eine trockene Aufzählung von Verbrechen, Greueltaten und Ausbeutungshandlungen aller Art, die ich Ihnen absichtlich ohne jedes rhetorische Beiwerk vorgelegt habe. Die Tatsachen sprechen eine beredte Sprache, die vollauf genügt.
Diese Tatsachen sind meines Erachtens endgültig festgestellt. Ich glaube nicht, daß die Verteidigung oder die Geschichte, auch nicht die deutsche Geschichte, sie jemals im wesentlichen leugnen können. Zweifellos werden sie Gegenstand kritischer Erörterungen werden. Unsere Beweise sind in aller Eile und in einem verwüsteten Lande gesammelt worden, dessen gesamte Verkehrsmittel vom fliehenden Feinde zerstört worden waren; in einem Lande, in dem jeder mehr darauf bedacht war, die Zukunft vorzubereiten, als sich der Vergangenheit zu widmen, selbst wenn es sich um Rache handelte; denn die Zukunft bedeutet das Leben unserer Kinder und die Vergangenheit nichts als Tod und Zerstörungen. Für ganz Frankreich, für jedes Land des Westens haben die Erfordernisse des täglichen Lebens, die Schwierigkeit, bessere Zeiten vorzubereiten, dem abgebrauchten Bibelspruch »Sinite mortuos sepellire mortuos« seinen ganzen Sinn wiedergegeben. Deshalb haben wir trotz aller unserer Austragungen, bei aller unserer Hingabe, das Werk der Gerechtigkeit vorzubereiten, das von Frankreich und dem Weltgewissen gefordert wird, nicht vollständiger sein können. Deshalb haben sich Irrtümer in den Einzelheiten bei unserer Arbeit einschleichen können. Die Berichtigungen, die die Zeit und die Verteidigung vornehmen werden, können jedoch nur ergänzender Natur sein. Sie können nicht mehr verhindern, daß Millionen Menschen deportiert wurden, verhungert sind und durch Arbeit und Entbehrungen ermattet waren, bevor man sie in den Tod schickte wie Vieh ohne Wert, daß unzählige Unschuldige zu Märtyrern wurden, bevor man sie dem Henker überlieferte. Berichtigungen werden Zeit- oder Ortsumstände betreffen, sie werden aber nichts an den wesentlichen Tatsachen ändern, wenn sie auch einige Einzelheiten modifizieren.
Da diese Tatsachen in ihrer Gesamtheit feststehen, so bleibt uns nur die Aufgabe, sie juristisch zu qualifizieren, indem wir sie an Hand der juristischen Grundsätze, die sie verletzt haben, untersuchen, und indem wir die Beschuldigungen präzisieren, mit anderen Worten, indem wir die Verantwortlichkeit jedes Angeklagten an Bezug auf einen Rechtssatz feststellen.
Welches Recht wollen wir anwenden?
Einzeln betrachtet und losgelöst von der systematischen Politik, die sie als Mittel zur Terrorherrschaft und darüber hinaus ganz einfach zur Vernichtung erdacht, gewollt und angeordnet haben, stellen diese Tatsachen sowohl Verbrechen des gemeinen Rechtes dar, wie auch Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges und des Völkerrechts. Alles könnte also getrennt sowohl als Verstoß gegen ein internationales Abkommen wie einer Strafbestimmung eines unserer positiven nationalen Rechte qualifiziert werden; besser gesagt, alles könnte als Verletzung jener Vorschrift des gemeinen Rechtes bezeichnet werden, die Herr de Menthon in seiner Rede aus unseren nationalen Rechten abgeleitet hat; jenes gemeinen Rechtes, das er letzten Endes als die Grundlage und Wurzel des internationalen Brauches bezeichnete, die über das Statut hinausgehend die einzige Richtschnur Ihrer Entscheidungen ist und bleibt.
Es ist zu beachten, daß dieses gemeine Recht, das aus unseren positiven Rechtsordnungen hervorgegangen ist, ebenso wie unsere positiven Rechtsordnungen in erster Linie die Ausführungshandlungen züchtigt. Alle unsere Angeklagten sind jedoch physisch allen Verbrechen ferngeblieben, die sie durch ihre fast vollständige Allgegenwart in der Welt angehäuft haben. Ihr Wille hat befohlen, aber wie dies Justice Jackson bemerkte, haben sie ihre Hände niemals mit dem Blute ihrer Opfer rot gefärbt. Wenn wir uns also ausschließlich auf unsere positiven Rechtsordnungen, insbesondere auf unser französisches Landesrecht stützen wollten, könnten die Angeklagten in keinem Falle als Haupttäter, sondern nur als Mitschuldige betrachtet werden, die die Tat durch Mißbrauch ihrer Befugnisse oder ihrer Macht hervorgerufen haben. Wie sehr widerspricht dies den Vorstellungen, die jeder Angehörige unserer Nationen von der Schuld der Hauptkriegsverbrecher hat. Das Problem auf diese Weise zu lösen, hieße, den Verantwortlichkeitsbereich jedes Angeklagten sehr stark beschränken. Die Verantwortlichkeit erschiene dort als nebensächlich, wo sie die Hauptsache ist; sie erschiene als Bruchstück, während sie, um richtig bestimmt zu werden, gleichzeitig dargestellt werden müßte im Zusammenhang mit ihren Gedanken und Handlungen als Führer der Nazi-Regierung, welche die Entwicklung der systematischen Terror- und Vernichtungspolitik erdacht, gewollt, angeordnet oder geduldet haben; einer Politik, deren einzelne Handlungen an sich nur bestimmte Seiten beleuchten und nur bestimmte Baubestandteile bilden. Somit genügt ein einfacher Hinweis auf das gemeine Recht nicht, um der Wirklichkeit hinreichend nahe zu kommen. Wenn auch alle strafbaren Handlungen als Tatsachen damit erfaßt würden, so blieben doch die psychologischen Faktoren dabei unbeachtet; wir bekämen dadurch kein vollständiges Bild von der Schuld der Angeklagten in einer einzigen zusammenfassenden Formel, die die ganze Wirklichkeit umfaßt. Das gemeine Recht drückt auch einen gewissen Stand der gemeinen Moral aus, wie sie von den zivilisierten Völkern als Gesetz für die Beziehungen der Bürger untereinander anerkannt wird. Tief durchdrungen vom Geist des Individualismus ist dieses gemeine Recht den Forderungen des kollektiven Lebens nicht gewachsen, das von der internationalen Moral regiert werden soll. Darüber hinaus ist das gemeine Recht, die Grundlage unseres Brauches in einer kartesianischen Statik erstarrt, während Ihr Brauch durch die Entwicklung des internationalen Strafrechts bereichert wurde. Das Statut hat die Art und Weise der juristischen Qualifizierung der Straftaten, die ich Ihnen vorgetragen habe, nicht fixiert. Bei Schaffung Ihres Gerichtshofs haben die Verfasser des Statuts sich damit begnügt, die Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofs festzusetzen: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden; bisher ist eine erschöpfende Definition dieser Verbrechen noch nicht gegeben worden. Ich verweise den Gerichtshof in dieser Hinsicht auf Artikel 6, Absatz b und c des Statuts Ihres Gerichtshofs. Dieser Artikel enthält lediglich eine andeutungsweise Aufzählung; denn die Verfasser des Statuts waren sich bewußt, daß das internationale Strafrecht sich noch in dem Anfangsstadium der Entstehung eines Brauches befindet, aus dem das Recht sich als Reaktion auf die Tat entwickelt, bei dem der Richter nur eingreift, um die Verbrecher vor individueller Rache zu schützen, bei dem Recht nur vom Richter gesprochen werden kann, und bei dem nur das Gewissen des Richters über die Strafe entscheidet. So haben die Verfasser des Statuts davon Abstand genommen, die Verbrechen unter die Bestimmungen des gemeinen Rechtes einzuordnen, oder uns andererseits auf die Gewohnheit zu verweisen. Sie haben nicht gesagt: Die hier vorgetragenen kriminellen Tatbestände sind einer nach dem andern zu behandeln; jede Tat ist gesondert zu kennzeichnen, und zwar durch Hinweis auf eine Bestimmung des Landesrechts oder auf eine Synthese der Landesrechte, woraus sich das gemeine Recht ergibt.
Sie sagten auch nicht: Diese einzelnen Verbrechen sind zusammenzufassen und aus ihnen ist nur der Tatbestand eines einzigen Verbrechens zu bilden, das den allgemeinen Regeln des gemeinen Rechtes folgt, und das im wesentlichen nur durch die besondere Absicht oder den verfolgten Zweck bestimmt wird, ohne daß durch die Suche nach ähnlichen Präzedenzfällen in den verschiedenen Landesrechten, die sich übrigens auf einen ganz anderen Stoff beziehen, Zeit vergeudet wird.
Die Verfasser des Statuts haben Ihnen innerhalb der Grenzen der Gewohnheit vollkommen freie Hand gelassen. Deshalb sind auch wir innerhalb dieser Grenzen in der Lage, eine Definition vorzuschlagen, die uns als die zweckmäßigste erscheint und die den Tatbestand im Zusammenhang mit den allgemeinen Grundsätzen des Rechtes und den Grundbegriffen der Moral so genau wie möglich umreißt; eine Definition, die, wie uns scheint, den Forderungen des menschlichen Gewissens, die von der internationalen, über die hitlerischen Greueltaten gebührend aufgeklärten öffentlichen Meinung aufgestellt wurden, am besten entspricht, und die im Rahmen des internationalen strafrechtlichen Brauches liegt. Dieser Brauch ist zwar erst im Werden, aber wenn dieser auch noch ohne Vorbild ist, so haben doch die hier aufgeworfenen Probleme schon früher bestanden, und Juristen haben als Vorgänger des hiesigen Gerichtshofs bereits Lösungen für sie gefunden. Diese Lösungen stellen Präzedenzfälle dar und bilden dadurch die ersten Grundzüge dieses Brauches. In ihrer Denkschrift an die Kommission zur Untersuchung der Verantwortlichkeit der Kriegsurheber und zur Festsetzung der Sanktionen bei der Friedenskonferenz 1919 bis 1920 schrieben die Herren Larnaude und Lapradelle:
»Das Strafrecht hat nicht vorhersehen können, daß durch eine noch nie dagewesene Herausforderung der Grundgesetze der Menschlichkeit, der Zivilisation und der Ehre eine Armee auf Befehl ihres Oberbefehlshabers systematisch derartige Taten begehen würde, die der Feind, ohne Erfolg, zur Erreichung seines Sieges sich nicht gescheut hat, auszuführen. Das Landesstrafrecht konnte also niemals in der Lage sein, Bestimmungen zu entwerfen, die die Bestrafung derartiger Handlungen vorsahen. Bei der Auslegung eines jeden Gesetzes muß die Absicht des Gesetzgebers berücksichtigt werden. Wenn es in einigen, besonders günstig gelagerten Fällen gelingt, verantwortliche Einzelpersonen zu überführen, als deren Komplize letzten Endes der Kaiser betrachtet werden könnte, so würde man, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, seinen Verantwortungsbereich durch Beschränkung auf einige scharf umrissene Fälle nur verringern.... Es hieße, dem Fall Wilhelm II. nur geringe Bedeutung beimessen und ihn weit unterschätzen, wollte man ihn auf das Niveau eines Schwur- oder Militärgerichtsprozesses herabdrücken. Der Gerechtigkeit, die die Welt voller Spannung erwartet, wäre nicht Genüge getan, wenn der deutsche Kaiser nur als Mitschuldiger oder selbst als Anstifter eines im gemeinen Recht vorgesehenen Verbrechens abgeurteilt würde. Die Handlungen, die er in seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt beging, müssen nach ihrem wahren juristischen Charakter abgeurteilt werden.«
Ist dies nicht fast vollständig in dem letzten Absatz des Artikels 6 des Statuts dieses Gerichtshofs stillschweigend enthalten?
»Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben«, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit »sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgend einer Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.«
Im übrigen stimmt das alles mit dem ursprünglichen deutschen Begriff des Führertums genauestens überein, der die gesamte Verantwortung dem Führer und denjenigen auferlegt, die von Anfang an zusammen mit dem Führer die treibende Kraft gewesen sind.
Auf Grund einer möglichst genauen Erfassung der Wirklichkeit durch Anwendung der Charte vom 8. August und des Artikels 6 des Statuts dieses Gerichtshofs und der Vorschriften des gemeinen Rechtes, wie sie unser Anklagevertreter, Herr de Menthon, formuliert hat, und nach internationalem Brauch auf dem Gebiete des Strafrechts können wir diesen Gerichtshof ersuchen, alle Angeklagten in ihrer Eigenschaft als die hitlerischen Hauptanführer des deutschen Volkes für schuldig zu erklären, daß sie als wohlerwogenes Mittel zur Durchführung ihres Planes Europa und die Welt durch Terror zu beherrschen und ganze Bevölkerungen auszurotten, um den Lebensraum des deutschen Volkes zu erweitern, die systematische Verübung von Mord oder anderen unmenschlichen Taten, von Gewalttaten an Kriegsgefangenen oder Zivilpersonen und systematische, völlig ungerechtfertigte Verwüstungen ersonnen, gewollt, befohlen oder einfach durch Stillschweigen geduldet haben.
Insbesondere fordern wir: Göring, Keitel und Jodl für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, durch ihren Befehl zur Festnahme und Hinrichtung von Geiseln unter Verletzung von Artikel 50 der Haager Konvention, durch den Kollektivsanktionen und Vergeltungsmaßnahmen untersagt sind;
Keitel, Jodl, Kaltenbrunner, Seyß-Inquart, Bormann und Ribbentrop für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, weil sie
1. das Hinmorden von unschuldigen Zivilpersonen befohlen haben,
2. Mitglieder der Widerstandsbewegung ohne gerichtliches Urteil hinrichten und zu Tode foltern ließen,
3. ungerechtfertigte Verwüstungen anordneten;
Göring, Keitel, Jodl, Speer und Sauckel für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da sie Gesundheit und Leben der Kriegsgefangenen gefährdeten, insbesondere durch Anordnungen, durch die sie die Kriegsgefangenen Entbehrungen und Mißhandlungen sowie Bombenangriffen und anderen Kriegsgefahren aussetzten oder auszusetzen versuchten;
Göring, Keitel, Jodl, Kaltenbrunner und Bormann für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, indem sie persönlich die Befehle erteilten oder deren Abfassung veranlaßten, die auf die Ermordung oder das Lynchen gewisser Kampfteilnehmer, insbesondere von Fliegern und Mitgliedern von Kommandoeinheiten durch die Bevölkerung, sowie die terroristische Ermordung oder langsame Ausrottung gewisser Gruppen von Kriegsgefangenen hinzielten;
Keitel für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da er den Abtransport von unschuldigen Zivilpersonen anordnete und einige unter ihnen der NN-Behandlung aussetzte, die sie der Vernichtung preisgab;
Jodl für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da er die Festnahme der Juden in Dänemark mit dem Ziel ihrer Deportierung anordnete;
Frank, Rosenberg, Streicher, von Schirach, Sauckel, Frick und Heß für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da sie die Ausrottung der Juden billigten oder ein Gesetz zu diesem Zweck ausarbeiteten;
Göring für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da er
1. die Konzentrationslager geschaffen hat und sie unter die Kontrolle der Staatspolizei stellte, um jegliche Opposition gegen den Nationalsozialismus auszuschalten,
2. physiologische Abkühlungs-, Hochdruck- und Unterdruckversuche, die zum Tode führten, duldete und später sogar genehmigte. Diese Experimente wurden unter Aufsicht der Luftwaffe und mit von ihr geliefertem Material von Dr. Rascher, der als Luftwaffenarzt zu diesem Zweck dem Konzentrationslager Dachau zugeteilt war, an gesunden Häftlingen, den unfreiwilligen Opfern dieser Versuche, vorgenommen; für diese Versuche trug Göring als Chef gleiche Verantwortung.
3. Internierte in großer Anzahl unter unmenschlichen Verhältnissen in den Rüstungsbetrieben der Luftwaffe zu Arbeiten verwendete, die über ihre Kräfte gingen;
Speer für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da er Internierte in großer Zahl unter unmenschlichen Verhältnissen in Rüstungsbetrieben zu entkräftenden Arbeiten verwendete. Hierzu: Dokument 1584-PS und Zeugenaussage Boix in der Sitzung vom 29. 1. 1946;
Bormann für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, weil er an der Ausrottung der Gefangenen in den Konzentrationslagern beteiligt war.
Im Hinblick auf Dönitz, Raeder, von Papen, von Neurath, Fritzsche, Funk und Schacht schließen wir uns den Anträgen unserer britischen und amerikanischen Kollegen an.
Auf Grund der vorstehend aufgeführten Handlungen beantragen wir ferner, gemäß den Bestimmungen des Artikels 9 des Statuts dieses Gerichtshofs:
Das OKW und das OKH an der Ausführung dieses Planes für schuldig zu erklären, weil sie die Deportierung von unschuldigen Zivilpersonen aus den besetzten Gebieten im Westen befohlen und daran teilgenommen haben;
das OKW, das OKH und das OKL für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, weil sie an der Ausarbeitung des Geiselsystems als Terrormittel beteiligt waren, und die Festnahme sowie Hinrichtung von Geiseln in den westlichen Gebieten anordneten, die materielle Lage der Kriegsgefangenen auf ein demütigendes Niveau herabsenkten und sie der Garantien beraubten, die ihnen auf Grund des internationalen Brauches und des geltenden Völkerrechts zustanden; weil sie den Einsatz der Kriegsgefangenen bei Arbeiten, die gefährlich waren oder die in unmittelbarer Beziehung mit den militärischen Operationen standen, anordneten oder duldeten, und da sie die Hinrichtung von Gefangenen sowie von Mitgliedern der Kommandoeinheiten wegen Flucht oder Fluchtversuch befahlen, und der SS und dem SD Richtlinien für die Ermordung von Fliegern erteilt haben;
das OKL für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, weil es
1. Internierte in großer Anzahl unter unmenschlichen Verhältnissen in den Rüstungsbetrieben der Luftwaffe zu entkräftenden Arbeiten verwendete;
2. an tödlich ausgehenden physiologischen Versuchen durch Abkühlung, Hochdruck und Unterdruck beteiligt war, die für die Luftwaffe unter Leitung des Luftwaffenarztes Dr. Rascher, der dem Konzentrationslager Dachau zugeteilt war, durchgeführt wurden. Hierzu die Dokumente; 343-PS, 1610-PS, 669-PS, L-90, 668-PS, UK-56, 835-PS, 834-PS und F-278B;
die SS und den SD für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, weil sie an der Deportation unschuldiger Zivilpersonen aus den besetzten Gebieten im Westen beteiligt waren und sie diese auf jede Art und Weise in den Konzentrationslagern gefoltert, ermordet und vernichtet haben;
die SS, den SD und die Gestapo für schuldig zu erklären, an der Ausführung dieses Planes teilgenommen zu haben, da sie direkte Befehle gegeben haben zur Hinrichtung oder Deportierung von Mitgliedern der Kommandoeinheiten, von Fliegern, flüchtigen Gefangenen, Arbeitsverweigerern, oder Personen, die sich gegen die nationalsozialistische Ordnung auflehnten, mit dem Ziel ihrer langsamen Vernichtung, und weil sie die Unterdrückung der Lynchjustiz, die die deutsche Bevölkerung gegen abgestürzte Flieger anwendete, verboten haben;
die SS, den SD und die Gestapo weiterhin für schuldig zu erklären, Mitglieder der Widerstandsbewegung gefoltert und ohne gerichtliches Urteil hingerichtet zu haben;
die gleichen Organisationen und außerdem das OKW und das OKH im Zusammenwirken mit der SS, dem SD und der Gestapo für schuldig zu erklären, Massenmorde und ungerechtfertigte Verwüstungen begangen oder angeordnet zu haben. Hierzu die Dokumente: 1063-PS, F-285, R-91, R-129, 1553-PS, L-7, F-185 A;
die Gestapo für schuldig zu erklären, an der Ausführung des Planes der Deportierung, Folterung und Ermordung von Zivilpersonen aus den besetzten Westgebieten teilgenommen zu haben;
die Reichsregierung und das Korps der Politischen Leiter der NSDAP für schuldig zu erklären, da sie beabsichtigten, Europa und die Welt zu beherrschen, ferner die systematische Ausrottung von unschuldigen Zivilpersonen aus den besetzten Westgebieten durch Deportierung und Ermordung in Konzentrationslagern geplant, vorbereitet und durchgeführt haben;
das Korps der Politischen Leiter der NSDAP und die Reichsregierung für schuldig zu erklären, in der Absicht, Europa und die Welt durch Terror zu beherrschen, die oben beschriebenen Folterungen, Massenhinrichtungen, Massenmorde und unbegründeten Verwüstungen als System erdacht und in die Wirklichkeit übertragen zu haben;
die Reichsregierung und das Korps der Politischen Leiter der NSDAP für schuldig zu erklären, in der Absicht, Europa und die Welt zu beherrschen, die Vernichtung der in ihrer Gewalt befindlichen Kampfteilnehmer, die Demoralisierung, die intensive Ausbeutung und die Vernichtung von Kriegsgefangenen geplant, vorbereitet und durchgeführt zu haben.
Dies ist die juristische Klassifikation des Tatbestandes, die ich Ihnen vorzuschlagen die Ehre habe. Aus diesem Tatbestand sind jedoch einige Lehren zu ziehen, die ich bitte, abschließend vortragen zu dürfen:
Seit hunderten von Jahren schon hat die Menschheit auf die Verschleppung der Besiegten, auf ihre Versklavung und auf ihre Vernichtung durch Elend, Hunger, Eisen und Feuer verzichtet. Denn eine Botschaft der Brüderlichkeit wurde der Welt gegeben, und die Welt konnte sie auch inmitten der Grauen des Krieges nicht vollkommen vergessen. Seit dieser Friedensbotschaft haben wir von Generation zu Generation ein Streben nach Aufstieg feststellen können. Wir glaubten, daß die Menschen, über jeden Rückfall erhaben, begonnen hätten, den Weg des moralischen Fortschrittes einzuschlagen und daß dies einen Teil des gemeinsamen Gutes der zivilisierten Völker bilde. Der gute Glaube in den Beziehungen der Einzelnen untereinander wurde von allen gleich geachtet; es gelang allen, diesen guten Glauben zum Gesetz ihrer gegenseitigen Beziehungen zu erheben. Allmählich entstand eine internationale Moral, und die zwischenstaatlichen Beziehungen, die den Beziehungen zwischen den Individuen glichen, folgten immer mehr den drei Geboten der römischen Rechtsgelehrten des klassischen Zeitalters: »honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere«.
Jede zivilisierte Nation war von einem gemeinsamen Humanismus durchdrungen, der sich aus einer langen christlichen und liberalen Tradition entwickelt hatte. Auf dieser gemeinsamen Grundlage und um den Preis einer grausamen Erfahrung, hatte jede Nation, geleitet von wohlerwogener Fürsorge für den einzelnen Menschen, begriffen, oder war auf dem Wege zu begreifen, daß in öffentlichen- wie auch privaten Angelegenheiten Redlichkeit, Bescheidenheit und gegenseitige Hilfe die goldenen Regem sind, die auf die Dauer nicht unbestraft übertreten werden können.
Die Niederlage und Katastrophe, die auf Deutschland hereingebrochen sind, bestätigen diesen Gedanken und verleihen der feierlichen Warnung, die Präsident Roosevelt in seiner Rede vom 27. Mai 1940 an das amerikanische Volk gerichtet hat, nur einen umso tieferen Sinn und größeren Glanz:
»Obwohl unsere Marine, unsere Kanonen und unsere Luftwaffe unsere vorderste Verteidigungslinie bilden, stehen doch der Geist und die Moral eines freien Volkes dahinter, die der materiellen Verteidigung Macht sowie innere Nahrung und Leistungsfähigkeit verleihen.«
Und in diesem Kampf, dessen Widerhall noch in unseren Ohren klingt, hat derjenige den Sieg davongetragen, der seine Kraft auf das Recht stützen konnte, der diese Kraft durch Gerechtigkeit zu erhalten vermochte. Da wir aber Schritt für Schritt das Entstehen des verbrecherischen Wahnsinns der Angeklagten und seine Folgen während dieser letzten Jahre verfolgt haben, können wir daraus schließen, daß das menschliche Erbgut, dessen Wahrer wir sind, sehr gebrechlich ist, daß Rückfälle aller Art möglich sind, und daß wir verpflichtet sind, es sorgfältig zu hüten. Es gibt kein Volk, das durch schlechte Erziehung und von üblen Führern schlecht geführt, nicht schließlich in die Barbarei primitiver Zeitalter zurückfallen könnte.
Dieses deutsche Volk, dessen militärische Tugenden wir anerkennen, dessen Dichter und Musiker wir lieben, dessen Arbeitsfleiß wir bewundern, und von dem man nicht sagen kann, daß es nicht Beispiele der Redlichkeit in den erhabensten Werken des Geistes gegeben hat, dieses deutsche Volk, das ziemlich spät, erst zu Beginn des 8. Jahrhunderts, den Zustand der Zivilisation erreicht hatte, war langsam in den Rang der ältesten Kulturvölker emporgestiegen. Seine Beiträge zum modernen oder zum zeitgemäßen Denken schienen den Beweis erbracht zu haben, daß dieser Sieg des Geistes ein endgültiger war; Kant, Goethe, Johann Sebastian Bach gehören ebenso der Menschheit an wie Calvin, Dante oder Shakespeare; und doch wurden Millionen von unschuldigen Menschen im Lande dieses Volkes vernichtet, durch Männer dieses Volkes, als Folge eines gemeinsamen Planes seiner Führer, ohne daß dieses Volk sich in einer plötzlichen Empörung erhoben hätte.
Nun sehen Sie, was aus ihm geworden ist, weil es die Tugend der politischen Freiheit, der bürgerlichen Gleichheit, der menschlichen Brüderlichkeit verachtete; sehen Sie, was aus ihm geworden ist, weil es vergessen hatte, daß alle Menschen frei und mit gleichen Rechten auf die Welt kommen, daß die wesentliche Aufgabe des Staates darin besteht, die Achtung der geistigen Freiheit und der brüderlichen Solidarität in den sozialen Beziehungen und in internationalen Einrichtungen immer mehr zu festigen.
Dieses Volk ließ sich seines Gewissens, selbst seiner Seele berauben. Schlechte Führer haben seine primitiven Leidenschaften geweckt und die Greueltaten ermöglicht, die ich Ihnen aufgezählt habe. In Wahrheit besteht das Verbrechen dieser Leute darin, daß sie das deutsche Volk um mehr als zwölf Jahrhunderte zurückversetzt haben; ihr Verbrechen besteht darin, als Regierungsmittel eine Terrorpolitik erfunden und gegen die Gesamtheit der unterjochten Völker und gegen ihr eigenes Volk angewendet zu haben; ihr Verbrechen besteht schließlich darin, eine Vernichtungspolitik gegen ganze Kategorien harmloser Bürger verwirklicht zu haben. Dies allein würde genügen, um die Todesstrafe über sie zu verhängen. Dennoch wird die französische Staatsanwaltschaft, vertreten durch Herrn Faure, Beweise für ein weiteres, noch schwereres Verbrechen erbringen, nämlich für die Absicht, gewisse Begriffe wie Freiheit, Unabhängigkeit, Sicherheit der Völker, Verlaß auf das gegebene Wort und Achtung vor der menschlichen Person, vollkommen zu tilgen sowie für den Versuch, den Geist und die Seele Frankreichs und anderer besetzter Gebiete des Westens der Vernichtung preiszugeben. Wir betrachten dies als das größte Verbrechen dieser Menschen, denn es steht geschrieben im Evangelium, Matthäus XII, 31 bis 34:
»Alle Sünde und Lästerung wird dem Menschen vergeben, aber die Lästerung wider den Heiligen Geist wird dem Menschen nicht vergeben.... Und wer redet wider den Heiligen Geist, dem wird es nicht vergeben werden, weder in dieser noch in jener Welt.... Denn an der Frucht erkennt man den Baum. Ihr Otterngezücht, wie könnt ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid?...«
VORSITZENDER: Bitte Herr Faure.
M. EDGAR FAURE, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Herr Präsident, Hoher Gerichtshof! Ich habe die Ehre, den abschließenden Vortrag der Französischen Anklagebehörde zu halten. Dieser Vortrag bezieht sich einerseits besonders auf die Absätze I und J im Punkt 3 der Anklageschrift: »Treueid« und »Germanisierung der besetzten Gebiete«, und auf der anderen Seite auf Absatz B des Anklagepunktes 4: »Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen«.
Ich möchte zuerst in einer kurzen Einleitung auf die allgemeinen Gedanken eingehen, die meiner Anklagerede zugrunde liegen.
Der Begriff Germanisierung ist in den Ausführungen von Herrn de Menthon behandelt worden. Ihren wesentlichen Inhalt bilden jene Maßnahmen, durch welche die Bewohner der besetzten Gebiete der Norm des sozialen und politischen Lebens unterworfen wurden, die von den Nazis entsprechend ihrer Lehre und zu ihrem Nutzen festgelegt worden waren. Die Gesamtheit der Handlungen, die die Germanisierung darstellen oder die auf diesen Vorgang hinzielten, sind rechtswidrige Maßnahmen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet worden sind. Der Gesamtprozeß der Germanisierung ist in bestimmten Gebieten durchgeführt worden, die das Reich annektiert hatte. Die Deutschen beabsichtigten schon vor Ende des Krieges, diese Gebiete in eigenes Land einzuverleiben. Diese annektierten und demgemäß vollständig germanisierten Gebiete sind: das Großherzogtum von Luxemburg, die belgischen Bezirke Eupen, Malmedy und Moresnet und die drei französischen Departements Oberrhein, Niederrhein und Mosel.
Man kann der Ansicht sein, daß diese Gebiete verhältnismäßig klein sind im Vergleich zu der Gesamtheit der Gebiete, die von den Deutschen besetzt worden sind.
Das vermindert aber in keiner Weise den strafbaren Charakter dieser Annexionen, sondern hier sind vielmehr zwei für unser Thema wesentliche Punkte festzuhalten.
Erstens: Die Deutschen haben viel wichtigere Annexionen geplant und vorbereitet, als diese in offizieller Form tatsächlich durchgeführt wurden. Nur infolge von Nützlichkeitserwägungen wurden diese Annexionen während der zur Verfügung stehenden Zeit durchgeführt.
Zweitens: Auf der anderen Seite war die Annexion nicht das einzige und unbedingt erforderliche Mittel zur Germanisierung. Die Nazis haben entdeckt, daß sie verschiedene und mannigfaltige Wege einschlagen konnten, um ihr Ziel, die Universalherrschaft, zu erreichen.
Die Anwendung verschiedener, den Umständen angepaßter Mittel zur Erreichung und Tarnung ein und desselben Zieles ist charakteristisch für die Politik, die man mit Nazi-Machiavellismus bezeichnet. Diese Lehren waren elastischer, geschickter und gefährlicher als der klassische Begriff der territorialen Eroberung. In diesem Sinn hat der brutalste Eroberer ihnen gegenüber die Überlegenheit eines freimütigen Vorgehens gehabt.
Ich behaupte in erster Linie, daß die Deutschen geplant hatten, noch ausgedehntere Gebiete zu annektieren. Dafür liegen zahlreiche Anzeichen vor. Ich möchte hierzu nur zwei Stellen zitieren.
Die erste ist der Dokumentensammlung entnommen, die meine Kollegen von der Amerikanischen Anklagebehörde zusammengestellt haben. Sie ist dem Gerichtshof noch nicht vorgelegt worden. Ich möchte im übrigen bemerken, daß ich mich in meinem gesamten Anklagevortrag nur zweimal auf die äußerst bemerkenswerte amerikanische Sammlung beziehen werde. Alle anderen Dokumente, die ich vorlegen werde, sind neue Dokumente der Französischen Anklagebehörde.
Das Dokument, von dem ich jetzt spreche, ist 1155-PS der amerikanischen Dokumentensammlung und erscheint in dem Dokumentenbuch, das Ihnen als Beweisstück RF-601 vorgelegt worden ist.
Das Dokument ist datiert, Berlin, den 20. Juni 1940. Es trägt den Vermerk: »Geheime Kommandosache«. Die Überschrift lautet: »Aktenvermerk über die Besprechung im Hauptquartier des Generalfeldmarschalls Göring vom 19. Juni 1940«.
Die Angaben, die in einem solchen Dokument enthalten sind, spiegeln recht gut die Absichten der Machthaber wider, nicht die Auslegungen einzelner Personen.
Ich möchte dem Gerichtshof lediglich Punkt 6 des Dokuments verlesen. Wenn der Gerichtshof meine Akten vor sich hat, wird er sehen, daß es das erste Dokument ist, das mit RF-601 bezeichnet ist. Ich lese von der dritten Seite des Dokuments den Punkt 6 vor:
»Allgemeine Absichten hinsichtlich der politischen Entwicklung:
Luxemburg soll ins Deutsche Reich einverleibt werden, Norwegen soll zu Deutschland kommen; Elsaß- Lothringen wird ins Deutsche Reich wieder eingegliedert; es soll ein selbständiger bretonischer Staat errichtet werden. Es schweben weiterhin noch Absichten bezüglich Belgiens, der besonderen Behandlung der Vlamen dort, der Errichtung eines burgundischen Staates.«
Das zweite Zitat, das ich dem Gerichtshof zu diesem Thema verlesen möchte, bezieht sich auf das französische Dokument, das ich als Dokument RF-602 vorlege. Es handelt sich um das Protokoll des Verhörs des Dr. Globke, des ehemaligen Mitarbeiters von Staatssekretär Dr. Stuckart im Innenministerium, vom 25. September 1945.
Das Verhör wurde von dem den französischen Justizbehörden zugeteilten Major Graff aufgenommen.
Diesem Protokoll ist eine Erklärung beigefügt, die im Laufe dieses Verhörs von Dr. Globke abgegeben wurde. Ich lese aus diesem Dokument und beginne mit dem ersten Absatz, es ist also der Anfang des Dokuments:
»Frage: Sind Ihnen Pläne bekannt, weitere französische Gebiete beim Friedensschluß zwischen Deutschland und Frankreich zu annektieren? Belfort, Nancy, Erzbec ken von Briey, Kohlenrevier des Nordens, rote Zone, an das Generalgouvernement Belgien angegliedertes Gebiet?
Antwort: Ja, diese Pläne haben bestanden.
Sie sind auf Sonderbefehl des Führers vom Staatssekretär Dr. Stuckart ausgearbeitet worden, und ich habe sie gesehen. Die Vorschläge sind dem Auswärtigen Amt, dem OKW und der Waffenstillstandskommission in Wiesbaden zur Kenntnis übermittelt worden.
Alle diese Akten sind vernichtet worden (nimmt Dr. Globke an). Staatssekretär von Stuckart ist mit einer ersten Fassung in das Führerhauptquartier befohlen worden (zeitlich: bevor der Russenfeldzug begann, Ende 1940). Nach Prüfung dieses Vorschlages fand ihn der Führer nicht weitgehend genug und befahl, weitere Gebiete zur Eingliederung, besonders längs der Kanalküste, vorzusehen.
Dr. Stuckart hat dann eine zweite Fassung vorbereitet. Auch eine Karte war gezeichnet worden, welche den Grenzverlauf ungefähr festlegte. Ich habe sie gesehen und kann sie Ihnen auf einer großen Karte Frankreichs ungefähr einzeichnen.
Ich weiß nicht, ob dieser zweite Plan von Hitler gutgeheißen wurde.«
VORSITZENDER: Haben Sie uns gesagt, Herr Faure, wer Dr. Globke war?
M. FAURE: Ja, Herr Vorsitzender! Dr. Globke war der Mitarbeiter des Dr. Stuckart, Staatssekretär im Innenministerium. In seinem Vernehmungsprotokoll wird er als Sachbearbeiter der Angelegenheiten von Elsaß-Lothringen und Luxemburg bezeichnet; im Innenministerium seit 1940.
Ich lese jetzt eine Stelle aus der Anlage zu diesem Dokument. Diese Stelle befindet sich ebenfalls im Dokumentenbuch im Anschluß an das, was ich gerade gelesen habe. Es ist immer noch RF-602. Ich lese Punkt 6 dieser Erklärung. Es ist der Anlang des Dokuments, das dem Gerichtshof vorliegt:
»Der Entwurf einer neuen deutsch-französischen Grenze ist im Reichsministerium des Innern von Staatssekretär Dr. Stuckart auf Grund eines ihm von Hitler erteilten Sonderauftrages ausgearbeitet worden. Der Entwurf sieht vor, daß die Teile Nord- und Ostfrankreichs, die aus historischen, politischen, ethnographischen, geographischen und sonstigen Gründen angeblich nicht zu West-, sondern zu Mitteleuropa gehörten, an Deutschland fallen sollten. Eine erste Fassung, die Hitler in seinem Hauptquartier vorgelegt wurde, fand zwar im großen und ganzen seine Billigung, er wünschte aber eine Erweiterung.«
DR. STAHMER: Die Verteidigung hat diese Urkunden noch nicht bekommen. Wir sind also auch heute nicht in der Lage, dem Vortrag zu folgen, und vor allen Dingen sind wir nicht in der Lage, einzeln zu prüfen, ob die formellen Voraussetzungen für die volle Gültigkeit dieser Urkunden überhaupt gegeben sind.
VORSITZENDER: Herr Faure, stimmt das, daß keines dieser Dokumente den deutschen Verteidigern in ihrer Informationszentrale vorgelegt worden ist?
M. FAURE: Diese Dokumente sind mit zwei Photokopien in der Informationszentrale der Verteidiger niedergelegt worden. Darüber hinaus wird die Verteidigung, bevor ich meinen Vortrag abschließe, Gelegenheit haben, dieses sehr kurze Dokument zu studieren und sich darüber zu äußern, falls sie es wünscht. Ich kann aber versichern, daß diese Dokumente abgegeben worden sind.
VORSITZENDER: Sie können mir die Versicherung geben, daß die Verfügungen des Gerichtshofs ausgeführt worden sind?
M. FAURE: Die Dokumente wurden entsprechend den Anweisungen des Gerichtshofs der Verteidigung übergeben, und zwei Photokopien sind in der Informationszentrale der Verteidiger hinterlegt worden.
Im übrigen sind diese Dokumente in deutscher Sprache, was die Sache für die Verteidiger sehr erleichtert. Die Vernehmung ist in deutscher Sprache durch den den französischen Justizbehörden zugeteilten Offizier vorgenommen worden.
VORSITZENDER: Herr Dr. Stahmer, Sie haben gehört, was Herr Faure gesagt hat?
DR. STAHMER: Ich würde hier gewiß keine Beanstandung erhoben haben, wenn die Urkunden tatsächlich uns zur Verfügung gestellt worden wären. Wir haben, einige Herren und ich, heute Morgen noch nachgesehen, es war nichts in unserem Fach. Herr Dr. Steinbauer ist mit mir zusammen dort gewesen; wir haben die Urkunden nicht ermitteln können. Ich werde aber noch einmal hingehen und feststellen, ob sie inzwischen eingegangen sind.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat mehrmals erklärt, er lege großen Wert darauf, daß die Dokumente bei der Informationszentrale der Verteidigung mit der vorgeschriebenen Anzahl von Abschriften abgeliefert werden. Dr. Stahmer bezweifelt, daß dies diesmal der Fall war. Aus diesem Grunde wird der Gerichtshof so schnell wie möglich feststellen lassen, ob diese Regeln genau durchgeführt worden sind oder nicht. Der Gerichtshof hofft, daß in Zukunft diese Vorschriften genauestens beachtet werden. Wollen Sie inzwischen fortfahren!
M. FAURE: Der Verteidiger sagte mir soeben, daß diese Dokumente wohl im Zimmer der Verteidiger vorliegen, aber noch nicht verteilt worden sind. Ich stelle also fest, daß die Anweisungen des Gerichtshofs zwar befolgt worden sind, aber infolge Arbeitsüberlastung haben die Verteidiger diese Dokumente noch nicht in Händen. Ich bin bereit, den Verteidigern, die besonderes Interesse daran haben, die Photokopien sofort auszuhändigen, so daß sie der Beweisführung folgen können, die übrigens sehr kurz ist.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird die Angelegenheit untersuchen lassen, inzwischen können Sie mit Ihrer Beweisführung fortfahren. Der Gerichtsmarschall wird sofort feststellen und dem Gerichtshof mitteilen, ob und wann die Dokumente deponiert worden sind.
Sie können Ihren Vortrag jetzt fortsetzen, und wir würden dankbar sein, wenn Sie den Verteidigern alle verfügbaren Exemplare zur Verfügung stellten.
M. FAURE: Ich lese also aus Dokument RF-602, dem Anhang des Protokolls vor. Ich bitte den Gerichtshof, meinem Vortrag auf Seite 6 des Exposés zu folgen. Der Auszug, zu dem ich jetzt kommen werde, ist der letzte Absatz auf dieser Seite 6:
»Eine erste Fassung, die Hitler in seinem Hauptquartier vorgelegt wurde, fand zwar im großen und ganzen seine Billigung, er wünschte aber eine Erweiterung des an Deutschland fallenden Gebietes, insbesondere an der Kanalküste. Der endgültige Vorschlag sollte als Grundlage für spätere Diskussionen der beteiligten Ressorts dienen; solche Diskussionen haben jedoch nicht mehr stattgefunden. Die vorgesehene Grenze verläuft etwa von der Mündung der Somme, ostwärts am Nordrand des Pariser Beckens und der Champagne entlang bis zu den Argonnen, bog dort nach Süden ab und ging weiter über Burgund und westlich der Franche Comté bis zum Genfer-See. Für einzelne Bezirke waren Alternativlösungen vorgeschlagen.«
Diese deutschen Pläne sind bei verschiedenen Gelegenheiten durch besondere Maßnahmen, die man als Vor-Annexion bezeichnen kann, in den fraglichen Gebieten in Erscheinung getreten.
Ich komme jetzt zur zweiten Behauptung, die ich eben aufgestellt habe. Mit oder ohne Annexion beabsichtigten die Deutschen alle besetzten Länder unter ihre Herrschaft zu bringen und zu behalten. In der Tat wollten sie ganz West-Europa und selbst den afrikanischen Kontinent germanisieren und nazifizieren.
Diese Absicht geht aus der Verschwörung selbst hervor, die dem Gerichtshof durch meine amerikanischen Kollegen so ausführlich vorgetragen worden ist. Sie wird im übrigen auch durch das praktische Vorgehen bewiesen, das in großen Zügen in meiner Anklagerede behandelt wird.
Hinsichtlich dieses allgemeinen Begriffs möchte ich lediglich dem Gerichtshof ins Gedächtnis zurückrufen, daß die Definition des Planes der germanischen Vorherrschaft von den Deutschen selbst stammt, und zwar durch eine deutsche Auslegung eines öffentlich bekannten diplomatischen Dokuments, nämlich des Dreimächte-Pakts vom 27. September 1940 zwischen Deutschland, Italien und Japan. Ich möchte dem Gerichtshof in diesem Zusammenhang einige Sätze aus dem Kommentar eines offiziellen deutschen Autors, von Freytagh-Loringhoven, Mitglied des Reichstages, zitieren, der ein Buch über die deutsche Außenpolitik von 1933 bis 1941 geschrieben hat. Es ist während der Besetzung in französischer Übersetzung im Verlag Sorlot in Paris erschienen.
Ich möchte es nicht als Dokument vorlegen, es ist lediglich ein Zitat aus einem veröffentlichten Werk, das uns vorliegt. Ich lese auf Seite 313 dieses Werkes:
»Dieser Vertrag wies Deutschland und Italien die Führung bei der Schaffung einer neuen Ordnung in Europa zu und übertrug Japan die gleiche Aufgabe im großostasiatischen Raum.«
Ich überspringe einen Satz, der nicht von Interesse ist.
»Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß der Dreimächte-Pakt eine doppelte Zielsetzung hatte.«
Ich lese den folgenden Satz nicht, er ist ohne Bedeutung, aber ich lese jetzt die Sätze, die sich auf das zweite Ziel beziehen:
»Andererseits wies er den Parteien eine Zukunftsaufgabe, die in der Herstellung einer neuen Ordnung in Europa und in Ostasien besteht.
So wichtig nun jene Gegenwartsaufgabe ist, kann doch unter weiteren Gesichtspunkten kein Zweifel daran bestehen, daß das zweite, in die Zukunft weisende Ziel unendlich größere Bedeutung hat.
Zum ersten Male wurden hier in einem internationalen Vertrage die Begriffe ›Raum‹ und ›Führung‹ verwandt und miteinander verbunden.«
Ich lese jetzt Seite 315, wo der Verfasser eine Bemerkung macht, die mir bedeutsam erscheint:
»Jetzt, im Dreimächte-Pakt, wurde eine klare Abgrenzung der durch die Natur selbst auf unserem Erdball gegebenen Großräume geschaffen. Ausdrücklich allerdings wurde der Raumbegriff nur im Hinblick auf den Fernen Osten angewandt. Es liegt jedoch auf der Hand, daß er auch für Europa gilt und daß Afrika hier mit inbegriffen ist. Stellt dieses doch politisch und wirtschaftlich ein Komplement oder, wenn man will, einen Annex Europas dar... Zugleich fällt ins Auge, daß der Vertrag die zwei, seinen Partnern vorbehaltenen Großräume abgrenzte, den dritten, nämlich Eurasien im engeren Sinne, zwischen den Zeilen anerkannte und den vierten, als welcher der amerikanische Kontinent anzusehen ist, aus dem Spiele ließ und damit auf sich selbst verwies. Solchermaßen war die gesamte Erdoberfläche erfaßt, und ein Gedanke, der bisher nur die Theorie beschäftigte, zum Range eines politischen und völkerrechtlichen Grundsatzes erhoben.«
Ich dachte, daß dieser Satz interessant sein würde, denn einerseits beweist er, daß selbst der afrikanische Kontinent in den Raum, den Deutschland sich vorbehalten hat, mit eingeschlossen ist, und andererseits wird darin behauptet, daß die Beherrschung eines so großen Raumes durch Deutschland Völkerrecht darstelle. Dieser Schein der juristisch korrekten Handlungsweise ist bezeichnend für das Unternehmen der Germanisierung von 1940 bis 1945.
Es ist dies, ohne Zweifel, einer der Gründe, die in Nazi-Deutschland den Gedanken entstehen ließen, nur in Ausnahmefällen Gebiete zu annektieren. Eine Annexion ist zur Beherrschung eines großen Raumes nicht unbedingt notwendig. Mann kann sie durch andere Verfahren ersetzen, die etwa dem allgemeinen Begriff »Vasallen-Schaft« entsprechen.
VORSITZENDER: Ich denke, wir werden die Sitzung unterbrechen.