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VORSITZENDER: Sir David, wollten Sie hierzu etwas erwidern oder erwarten Sie, daß wir Fragen an Sie stellen?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wenn der Gerichtshof gestattet, möchte ich zunächst zu drei oder vier Punkten einiges hinzufügen.

Der erste Punkt, den Dr. Kubuschok geltend machte, war, daß dem Antrag auf eine Erklärung gegen die Organisationen aus zwei Gründen zu widersprechen sei:

1. er sei gestützt auf die im angelsächsischen Rechtssystem in beschränktem Umfange anerkannte Rechtsinstitution, nach der eine Korporation in einem bestimmten abgegrenzten Bereich verurteilt werden könne;

2. die Organisationen wären tatsächlich schon seit einiger Zeit aufgelöst.

Ich halte es für wichtig, hier zu betonen, daß dies nicht die Rechtsauffassung ist, die diesem Teil des Statuts zugrunde liegt. Sie ist meiner Ansicht nach tatsächlich auf einer Lehre aufgebaut, die sich in den meisten Rechtssystemen findet, nämlich auf der Lehre über die »res adjudicata« oder auf der Auffassung, daß ein Urteil »in rem« statt »in personam« gefällt werden kann. Das heißt, es liegt im allgemeinen und öffentlichen Interesse, daß der Streit über einen bestimmten Punkt nicht ins Endlose führt, und daß, wenn das hierfür zuständige Gericht eine Entscheidung über einen Punkt von allgemeinem Interesse und allgemeiner Bedeutung getroffen hat, über diesen Punkt nicht nachher noch mehrere Male von neuem gestritten wird.

Es ist die grundlegende Ansicht der Anklagevertretung, daß dieses Gericht, das den Vorteil gehabt hat, Beweise über die gesamte Zeit und Tätigkeit der Nazi-Verschwörung zu erhalten, das zuständige und sogar das einzige geeignete Gericht ist, um eine Entscheidung über die Frage des verbrecherischen Wesens zu treffen. Es wäre praktisch durchaus undurchführbar und würde eine geradezu phantastische Zeit in Anspruch nehmen, wenn jede Militärregierung oder jedes Militärgericht immer wieder die Frage des verbrecherischen Charakters dieser großen Organisationen entscheiden müßte. Daher ist im Statut verfahrensmäßig vorgesehen, daß diese Vorfrage ein für allemal von diesem Gerichtshof hier entschieden wird.

Die Tatsache, daß die Organisationen im Verwaltungswege aufgelöst wurden, ist unerheblich. Wichtig ist die Frage, welcher Art die Organisationen waren, als sie noch bestanden und wirkten. Das ist die Frage, über die der Gerichtshof zu entscheiden hat. Wir vertreten die Ansicht und behaupten, daß, wenn es nicht schon in Artikel 9 ausdrücklich erklärt ist, doch mit genügender Klarheit aus ihm hervorgeht, daß die Frage des verbrecherischen Charakters in dem Prozeß gegen die einzelnen Angeklagten entschieden werden muß. Wir erklären, daß, ganz abgesehen von Überlegungen der Zweckmäßigkeit, der Wortlaut des Artikels 9 ganz klar gegen die Trennung dieser Fragen spricht, wie sie zwei oder drei Verteidiger vorgeschlagen haben.

Ich möchte nur noch ein Wort zu den Ausführungen über das Gesetz Nummer 10 hinzufügen. Dr. Kubuschok hob hervor, daß sich dieses Verfahren in Wahrheit ausschließlich gegen einzelne Personen richtet. Hiergegen habe ich zumindest zweierlei einzuwenden. Erstens habe ich bereits versucht, die Rechtsauffassung zum Ausdruck zu bringen, die der Idee der Erklärung zugrunde liegt; zweitens habe ich vor dem Gerichtshof die Möglichkeiten der Rechtfertigung ausführlich erörtert. Darf ich bemerken, daß meiner Ansicht nach die Mitgliedschaft zu einer Organisation eine Tatsachenfrage ist. Demnach ist die Berufung auf Zwang, Betrug oder Irrtum – um nur drei Beispiele anzuführen – ganz klar zuzulassen; es ist ein gutes tatsächliches Verteidigungsvorbringen. Drittens setzt jedes Dokument wie das Statut – und dasselbe würde für jede gesetzliche Bestimmung gelten – eine einsichtige und vernünftige Handhabung bei der Durchführung seiner Vorschriften voraus. Es wäre meiner Ansicht nach abwegig anzunehmen, daß bei einem Ermächtigungsgesetz wie Gesetz Nummer 10 – es verleiht ganz deutlich eine Ermächtigung zur Anklage – eine einsichtige Auslegung bedeuten würde, daß jeder angeklagt werden muß, der nach dem Gesetz angeklagt werden kann.

Ein bekanntes Sprichwort sagt: »Schwierige Fälle führen zu schlechtem Recht«. Meiner Ansicht nach wäre es ein Fehler, auf Grund eines unwahrscheinlich schwierigen Falles eine Entscheidung zu treffen oder daraus zu interpretieren.

Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich noch einige wenige Worte zu den interessanten Ausführungen von Dr. Servatius und zu den Äußerungen des gelehrten französischen Richters sagen.

Meiner Ansicht nach hat dieser Gerichtshof keinerlei gesetzgeberische Tätigkeit. Er hat eine richterliche Aufgabe; ich möchte das ganz besonders hervorheben: Ich will sie weder als »quasirichterlich« noch sonst irgendwie qualifizieren. Es ist einfach eine richterliche Aufgabe. Der erste Teil dieser Aufgabe ist, zu bestimmen, was verbrecherisch ist. Meiner Auffassung nach macht dies, wie auch Herr Justice Jackson gestern sagte, keine Schwierigkeiten. Das Wort »verbrecherisch« in Artikel 9, drei Artikel nach Artikel 6, bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Organisation, deren Ziele, Zwecke, Methoden und Handlungen die Begehung jener Verbrechen zum Inhalt haben, die in Artikel 6 genannt sind.

Nachdem der Begriff »verbrecherisch« bestimmt worden ist, ist es Sache richterlicher Beweiswürdigung, zu entscheiden, ob erwiesen ist, daß diese Verbrechen von den Organisationen begangen wurden oder zu ihren Zielen und Zwecken gehört haben, wie ich behauptet habe.

Ich bitte den Gerichtshof, sehr gründlich zu erwägen, ehe er sich das Argument von Dr. Servatius zu eigen macht, daß der Gerichtshof über die Auslegung des Wortes »verbrecherisch« – um die Worte von Dr. Servatius zu gebrauchen – auf der Grundlage seiner eigenen politischen und ethischen Anschauung zu entscheiden habe. Damit würde ein neuer gefährlicher und dem Statut nicht bekannter Faktor in diesen Prozeß eingeführt werden.

Meiner Ansicht nach ist dem Richter hier klar vorgezeichnet, wie er vorzugehen hat, und nichts im Statut unterstützt die auf den ersten Blick unerwartete Idee, daß eine als Gericht errichtete Körperschaft sich selbst gesetzgeberische Vollmachten beilegen kann.

Dann möchte ich mit Erlaubnis des Gerichtshofs noch ein Wort zu den Schlußfolgerungen sagen, die Dr. Kubuschok bei der Frage zog, ob die verbrecherische Eigenschaft die Grundlage zur Entscheidung über die Erheblichkeit von Beweisen bildet. Sein erster Schluß war, daß die in Frage stehende Organisation nach ihrer Verfassung oder ihrem Statut verbrecherische Ziele und Zwecke hatte oder nicht.

Ich stimme natürlich dem bei, daß Ziel und Zweck geprüft werden müssen, erkenne jedoch die Begrenzung auf ein Statut oder eine Verfassung nicht an. Die verbrecherischen Ziele oder Zwecke können aus den Erklärungen und Veröffentlichungen der Führer der Organisationen hervorgehen, ebenso jedoch, wie ich annehmen möchte, aus ihrem weiteren Verhalten in Methode und Handlung. Ich stimme mit Herrn Dr. Kubuschok überein, daß Zweck oder Ziel zuerst zu prüfen sind, ich stimme jedoch nicht mit ihm überein, daß er ihrem Erkennen Grenzen zieht.

Seine zweite Behauptung lautete, daß Verbrechen nach Artikel 6 nicht innerhalb oder in Zusammenhang mit der Organisation und auch nicht ununterbrochen während einer Zeitspanne begangen wurden. Der erste Teil erscheint verhältnismäßig klar, denn wenn solche Verbrechen nicht innerhalb oder im Zusammenhang mit der Organisation begangen wurden, ist die Organisation offensichtlich in einer sehr günstigen Lage. Ich möchte jedoch den zweiten Teil zuerst beantworten und behaupten, daß es nicht in das Bild dieses Falles paßt, daß irgendein Verbrechen in gar keinem Zusammenhang mit einer Organisation begangen wurde.

Die Verbrechen, die wir anklagen, haben sich tatsächlich über die ganze Zeit erstreckt, wie in der Anklageschrift behauptet wird; ich glaube jedoch, daß die Annahme eines solchen Kriteriums keine Wirkliche Hilfe ist. Man kommt immer wieder auf den ersten Punkt von Dr. Kubuschok zurück, daß Zweck und Ziel, wie sie sich aus den Erklärungen, Methoden und Handlungen ergeben, der primäre und wichtigste Prüfstein sind.

Der dritte Gesichtspunkt, den Dr. Kubuschok geltend machte, war, daß eine ansehnliche Zahl von Mitgliedern keine Kenntnis von den verbrecherischen Zielen oder der fortgesetzten Begehung von Verbrechen hatte. Ich möchte betonen, wie es Herr Justice Jackson schon getan hat, daß der Prüfstein der Anklagebehörde die »anzunehmende Kenntnis« ist, das heißt: mußte ein vernünftiger Mensch in der Stellung eines Mitgliedes von diesen Verbrechen Kenntnis gehabt haben? Das ist, wie ich ergebenst bemerke, die einzig richtige Antwort auf die Frage nach der Erheblichkeit der individuellen Kenntnis eines einzelnen Mitgliedes.

Es ist nur zu wahr, daß während der Zeit, über die wir sprechen, sehr viele Leute es sich zur Gewohnheit machten, den Kopf in den Sand zu stecken und es absichtlich vermieden, von Dingen Kenntnis zu nehmen, die unangenehm waren. Meiner bescheidenen Meinung nach würde ein derartiges Verhalten eines Mitgliedes ihm nicht- im geringsten helfen, und die einzige Antwort darauf ist, den von uns vorgeschlagenen Maßstab anzulegen: Mußte eine Person in jener Lage vernünftigerweise Kenntnis von der Begehung der Verbrechen gehabt haben?

Der vierte Gesichtspunkt, auf den Dr. Kubuschok hinweist, ist, daß eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern oder gewisse unabhängige Gruppen der Organisation unter Zwang, Täuschung oder auf Befehl von oben beitraten. Darauf wollen wir nur kurz erwidern, daß dies nur für die Verteidigung eines einzelnen Mitgliedes in den folgenden Prozessen von Bedeutung sein kann; es wird natürlich nur dann eine Rechtfertigung sein, wenn es beweisen kann, daß es persönlich keinerlei Anteil an den verbrecherischen Handlungen hatte.

Zum Schluß weist Dr. Kubuschok noch darauf hin, daß eine ansehnliche Zahl von Mitgliedern nur Ehrenmitglieder waren. Auch hier wiederholen wir, daß dies nur bei der Verteidigung des einzelnen Mitgliedes von Belang ist. Es ändert weder, noch erhöht es die ihm zustehenden Verteidigungsmöglichkeiten.

Noch ein weiteres Argument von Dr. Kubuschok muß meiner Meinung nach erwähnt werden; es handelt sich um die Erwägung, wie das Beweismaterial vorgelegt werden könnte; er sagte, daß gewisse Rechte der Verteidigung universal sind. Als erstes beanspruchte er das unmittelbare mündliche Gehör; er meinte, daß jeder einzelne Angeklagte dieses Recht haben müsse. Er gab dann zu, daß dies praktisch unmöglich sei und schlug als Lösung eine Typisierung vor, das heißt, daß Vertreter von Gruppen in den verschiedenen Lagern eidesstattliche Erklärungen abgeben sollten, um zu zeigen, welcher Prozentsatz an verbrecherischen Handlungen teilnahm oder von ihnen wußte.

Ich möchte den Gerichtshof darauf hinweisen, daß im Statut ausdrücklich festgelegt ist, daß Mitglieder einer Organisation wohl das Recht haben, an das Gericht den Antrag auf Anhörung zu stellen; der Gerichtshof soll jedoch die Befugnis haben, einem solchen Antrag stattzugeben oder ihn zurückzuweisen. Vom Standpunkt der Auslegung wie der Vernunft hätte es keinen Sinn, dem Gerichtshof die Befugnis zu geben, derartige Anträge zurückzuweisen, wenn jeder das unabdingbare Recht hätte, gehört zu werden.

Die Antwort darauf ist, daß es im vollkommen freien Ermessen des Gerichtshofs steht, zu entscheiden, welche Richtlinien er für das Beweisverfahren festlegen will. Die Anklagevertretung hat durch Herrn Justice Jackson bereits erklärt, daß sie gegen jede vernünftige Form, wesentliche Beweise zu erheben, keine Einwendung erhebt.

Die Anklagevertretung erhebt jedoch Einspruch dagegen, daß dem Gerichtshof Beweise angeboten werden, die nur für die Frage der Schuld oder Unschuld des einzelnen Mitgliedes erheblich sind.

Euer Lordschaft! Ich könnte mich mit einer Anzahl von Punkten befassen, die von den übrigen Verteidigern vorgebracht wurden – und war tatsächlich darauf vorbereitet. Ich hoffe, Sie werden es nicht als Mißachtung ihrer Argumente ansehen, daß ich mich nicht damit befaßt habe. Ich weiß jedoch, daß der Gerichtshof einige Fragen zu stellen wünscht, und ich möchte die mir gegebene Zeit nicht überschreiten.

Ich möchte jedoch noch auf einen Punkt eingehen, der sozusagen zwei Fliegen mit einem Schlage trifft.

Sie werden sich erinnern, daß, als ich gestern über die SA sprach, Dr. Seidl – es tut mir leid, daß er heute nicht hier ist – die Frage aufwarf, daß der Angeklagte Frank nicht Mitglied der SA war; Dr. Löffler, der heute über die SA sprach, betonte, daß ihre Tätigkeit sicherlich nicht über 1939 hinausging, ja nicht einmal wesentlich über die Säuberungsaktion von 1934.

In der halbamtlichen Schrift »Das Archiv« vom April 1942 finde ich ein interessantes Zitat, und da es sehr kurz ist und diese Punkte behandelt, werde ich mir erlauben, es dem Gerichtshof zu verlesen, damit es im Protokoll aufgenommen werden kann.

Auf Seite 54 heißt es:

»SA-Einheit Generalgouvernement:

Auf Befehl des Stabschefs der SA erfolgte die Aufstellung der ›SA-Einheit Generalgouvernement‹, deren Führung Generalgouverneur SA-Obergruppenführer Dr. Frank übernahm.«

Ich habe dies zitiert, um zum Schlusse meines Vorbringens zu zeigen, daß, wie dies übrigens aus allen Beweisen hervorgeht, die Anklagevertretung hinsichtlich der SA und aller anderen Organisationen Beweise vorgelegt hat, daß die Verbrechen sich über die Zeitspanne erstreckt haben, die sie angegeben hat.

Ich habe absichtlich alles weitere weggelassen, was ich vorbringen wollte, Euer Lordschaft, weil ich nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen wollte, wenn der Gerichtshof Fragen an mich zu stellen wünscht.

VORSITZENDER: Ich glaube, ich habe nur eine Frage an Sie zu richten. Wenn ich Sie richtig verstehe, behaupten Sie, daß die Anklagevertretung Tatsachen bewiesen hat, aus denen man schließen muß, daß jede vernünftige Person, die einer dieser Organisationen beitrat, gewußt haben mußte, daß sie verbrecherisch war.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja.

VORSITZENDER: Sie werden mir sicherlich zustimmen, daß Beweise für eine Tatsache, die im Widerspruch steht zu den Tatsachen, aus denen Sie die Kenntnis des verbrecherischen Wesens abgeleitet haben, von der Verteidigung vorgelegt werden könnten, nicht wahr?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß. Wenn die Verteidigung zu beweisen versucht – um ein krasses Beispiel anzuführen –, daß die SS erstens in den Konzentrationslagern und zweitens bei der Ermordung von Juden und politischen Kommissaren an der russischen Front trotz der weitausgedehnten Gebiete, in denen diese erwiesenen Verbrechen begangen wurden, derart vorging, daß niemand etwas davon wußte, wenn hierfür erhebliche Beweise beigebracht würden, dann könnte man meinen, daß es sich hier im allgemeinen nicht um eine Angelegenheit einer zu unterstellenden Kenntnis, sondern der Erinnerung handelt.

VORSITZENDER: Ich stelle diese Frage nur, weil Herr Justice Jackson gewisse Bemerkungen machte, die mit der von Ihnen soeben gegebenen Antwort nicht übereinzustimmen schienen.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Soweit ich Herrn Justice Jackson verstanden habe, sagte er, daß es nicht erheblich sei, zu beweisen, daß ein Mitglied von diesen Verbrechen nichts wußte; ich dachte, daß unsere beiden Ansichten wirklich übereinstimmten.

VORSITZENDER: Ja.

MR. BIDDLE: Ich nehme an, Sir David, Sie würden sagen, daß Beweismaterial über die allgemeine Kenntnis eines sehr großen Teiles einer Organisation erheblich wäre, nicht wahr?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nun, ich würde es für erheblich halten, wenn es nicht ganz absurd wäre. Ich meine, das Bestreiten der Kenntnis von bestimmten Handlungen kann so absurd sein, daß der Gerichtshof sich nicht die Zeit nehmen sollte, das nachzuprüfen.

MR. BIDDLE: Das würde natürlich für jeden Beweis zutreffen. Ich wollte jedoch auf folgendes hinweisen: Sie sagten, daß Beweise über die allgemeinen Kenntnisse einer ganzen Organisation klarerweise erheblich wären.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl.

MR. BIDDLE: Und nun frage ich Sie, ab das nicht auch für jeden wesentlichen Teil einer Organisation gilt, wie zum Beispiel die Waffen-SS?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich versuche, das mit einem konkreten Fall in Verbindung zu bringen. Ich finde das jedoch sehr schwer. Wenn ich Ihr Beispiel nehme, so kann man sich das kaum vorstellen. Nehmen wir die vier wohlbekannten Divisionen, die Totenkopf-, die Polizeidivisionen, die Division »Das Reich«, oder die 12. Panzerdivision. Wenn versucht würde, zu beweisen, daß diese Divisionen, über deren Teilnahme an Verbrechen so viele Beweise vorliegen, nichts von diesen Verbrechen wußten, so hätte ich gedacht, daß der Gerichtshof in Ausübung seiner Ermessensfreiheit recht daran täte, dies zurückzuweisen.

MR. BIDDLE: Es würde die weitere Frage auftauchen, ob die Handlungen der Mitglieder bestimmter Divisionen der ganzen Waffen-SS allgemein bekannt waren, nicht wahr?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Bei allem Respekt kann ich kaum einsehen, inwiefern die Kenntnis oder Nichtkenntnis einer besonderen Division der Waffen- SS etwas mit der Frage des verbrecherischen Charakters der Gesamt-SS zu tun hat.

MR. BIDDLE: Ich wiederhole. Ich frage Sie nicht, ob eine bestimmte Division Kenntnis hatte. Meine Frage bezieht sich auf die allgemeine Kenntnis der gesamten Waffen-SS von Handlungen einer bestimmten Einheit.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wenn jemand bereit wäre auszusagen: »Ich kannte jede Division der Waffen-SS, und meiner Meinung nach hatte niemand in der Waffen-SS Kenntnis oder Gelegenheit, von diesem Verbrechen etwas zu erfahren«, dann wäre ein solcher Beweis zuzulassen. Seine Bedeutung wäre jedoch so gering einzuschätzen, daß ich glaube, der Gerichtshof würde nicht lange damit aufgehalten werden.

Aber ich gebe zu, daß, wenn jemand bereit ist, an Hand der erforderlichen Unterlagen zu erklären: »Ich kann aussagen: ich besitze Unterlagen und bin in der Lage, über die allgemeine Situation zu sprechen«, dann sehe ich keine Möglichkeit für den Gerichtshof, einen solchen Beweis auszuschließen.

MR. BIDDLE: Die Sache ist sehr wesentlich, weil wir den Verteidigern zu sagen haben, welches Material sie vorlegen können, und zwar sehr bald.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß.

MR. BIDDLE: Lassen Sie mich noch einige weitere Fragen an Sie stellen:

Wie kommen Sie zu der Behauptung, Sir David, daß das Reichskabinett in seiner Zusammensetzung vom 30. Januar 1933 eine verbrecherische Organisation war, als, wenn ich mich recht erinnere, nur drei Mitglieder der Nazi-Partei dem Kabinett angehörten: Göring, Hitler und Frick? Glauben Sie, daß, wenn drei aus einer viel größeren Zahl – einigen zwanzig Mitgliedern – einer verbrecherischen Organisation angehört haben sollen, dies das gesamte Kabinett verbrecherisch macht?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß! Auf Grund der Tatsachen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Hitler sich Monate vor dem von Ihnen genannten Datum weigerte, die Stelle eines Vizekanzlers anzunehmen. Er hat sich mit der Begründung geweigert, daß er als Vizekanzler nicht in der Lage wäre, sein Parteiprogramm durchzuführen. Der Angeklagte von Papen verhandelte mit Hitler auf dieser Grundlage und Hitler kam am 30. Januar 1933 zur Macht.

Für die Anklagevertretung liegt der Fall so, daß die Mitglieder dieses Kabinetts wußten, daß sie einem Kabinett angehörten, in dem Hitler sein bei vielen Anlässen erklärtes Programm durchzuführen beabsichtigte. Das ist der erste Grund.

Zweitens liegt der Fall für die Anklagevertretung so, daß der Angeklagte von Papen sich den Nazi-Verschwörern, anschloß, indem er sie in voller Kenntnis und in der Absicht, sie in Deutschland nach ihrem Willen vorgehen zu lassen, in die Regierung einführte.

Dasselbe gilt für die Industriellen, die mit der Partei im Kabinett zusammenarbeiteten; es wurde wohl nicht in diesem Ausmaß untersucht, weil sie nicht Angeklagte sind. Man muß annehmen, daß sie die Ziele der Partei gekannt haben, genau wie Gustav Krupp sie kannte und unterstützte, und genau wie Kurt von Schröder sie kannte und die Ziele der Nazis unterstützte, die sie in die Regierung brachten und mit denen sie zusammenarbeiteten.

Drittens, die Persönlichkeiten der Nazis in der Regierung – Hitler selbst, und die Angeklagten Göring und Frick, ferner Dr. Goebbels, der, wie ich glaube, sofort oder sehr bald nachher Propagandaminister wurde – haben mit ihren Taten bewiesen, daß sie nicht Leute waren, die im Hintergrund blieben. Sie führten sofort das Führerprinzip in den einzelnen Ländern ein, und jene anderen Leute im Kabinett nahmen das Führerprinzip an und waren sich darin einig, Hitler, dem Angeklagten Göring und den anderen Verschwörern eine Macht und Autorität zu verschaffen, die es ihnen ermöglichte, ihre ungeheuren Verbrechen, deren sie angeklagt sind, auszuführen.

Ich will ein weiteres Beispiel geben:

Innerhalb weniger Monate wurde damals der Angeklagte Schacht Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft und begann mit den Vorbereitungen für den Aufbau des deutschen Kriegspotentials auf wirtschaftlichem Sektor.

Aus allen diesen Gründen behaupte ich, daß die Handlungen des Reichskabinetts zu jener Zeit vorsätzliche waren; das gleiche gilt für den Angeklagten von Neurath. Es ist die Ansicht der Anklagebehörde im Falle Neurath, daß er den Nazis sein Ansehen und seinen guten Ruf verkaufte, um ihnen zu helfen, sich mit diesem Ansehen und guten Ruf bei den konservativen Kreisen Deutschlands und den diplomatischen Kreisen in Europa, mit denen er in Berührung gekommen war, eine Machtstellung zu schaffen.

Aus allen diesen Gründen, meine Herren Richter, behaupte ich, daß die Reichsregierung zu jener Zeit durchaus von dem verbrecherischen Wesen angesteckt war, das wir in diesem Falle behaupten.

MR. BIDDLE: Im Zusammenhang mit den Politischen Leitern möchte ich folgende Frage stellen, Sir David:

Wäre es Ihrer Meinung nach notwendig, für die Begründung der Verantwortlichkeit von Politischen Leitern niederer Ränge zu beweisen, daß sie als Gruppe über die Pläne zur Durchführung von Angriffskriegen oder zur Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterrichtet waren? Mit anderen Worten, ich nehme an, daß wir einige Verpflichtung haben, diese Kenntnis zu beweisen. Beruht das einfach auf der Tatsache, daß diese Verbrechen begangen wurden, oder gibt es irgendwelche Beweise für diese Kenntnis?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wir haben Beweise, und ich möchte nur andeuten, um welche Art es sich handelt: Für die erste Periode der Erlangung der totalitären Herrschaft in Deutschland, die auch die erste Phase der Verschwörung darstellt, haben wir außer dem Parteiprogramm Auszüge aus dem Buch »Der Hoheitsträger«. Sie werden sich erinnern, daß »Hoheitsträger« alle Politischen Leiter sind.

Zum antisemitischen Teil haben wir Dokumente, Beweisstücke US-240 und 332, die im Protokoll Band IV, Seite 57 und Seite 78/79, erscheinen.

Zur Frage der Verbrechen gegen alliierte Flieger wird dem Gerichtshof noch in Erinnerung sein, daß ein Rundschreiben an die Reichsleiter, Gauleiter und Kreisleiter herausgegangen war mit der Anweisung, daß Ortsgruppenleiter über das Lynchen alliierter Flieger mündlich zu unterrichten seien. Das Dokument hat die Nummer 057-PS und erscheint im Protokoll Band IV, Seite 61. Und daß diese Anweisung zumindest von einem Gauleiter befolgt wurde, geht aus Dokument L-154, Beweisstück US-335, ebenfalls Band IV, Seite 61 hervor.

Dann haben wir einen Befehl Himmlers an die höheren SS- und Polizeiführer, der mündlich an die Gauleiter weiterzugeben war. Danach sollte sich die Polizei in Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und alliierten Fliegern nicht einmischen. Es ist dies Dokument R-110, Beweisstück US-333, Band IV, Seite 59 des Protokolls.

Ferner haben wir einen Aufsatz von Goebbels, in dem er die Bevölkerung aufhetzt, alliierte Flieger zu ermorden, Band IV, Seite 60 des Protokolls.

Ebenso haben wir, was die Fremdarbeiter betrifft, ein Telegramm Rosenbergs an die Gauleiter, in dem er sie ersucht, gegen die Beschlagnahme gewisser Gesellschaften und Banken nicht einzuschreiten.

Ferner eine Rede Jodls an die Reichsleiter und Gauleiter zu einem späteren Zeitpunkt. Ein undatiertes Schreiben Bormanns an alle Reichs- und Gauleiter mit der Mitteilung, daß das Oberkommando der Wehrmacht den Lagerwachen den Befehl erteilt hat, wenn nötig, mit Waffengewalt Gehorsam von unbotmäßigen Kriegsgefangenen zu erzwingen.

MR. BIDDLE: Sir David, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen? Ich kenne das Beweismaterial bezüglich der Gauleiter und Reichsleiter. Meine Frage betraf, wenn Sie sich erinnern, die niederen Stufen, die Blockleiter.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich glaube, ich kann zu den niederen Rängen zusammenfassend sagen, daß wir vier Anhaltspunkte haben: »Mein Kampf«, »Das Parteiprogramm«, »Der Hoheitsträger«, und die Tatsache, daß innerhalb dieser Organisation ständig Versammlungen abgehalten wurden.

Ich habe das Beweismaterial bezüglich der Juden und des Lynchens alliierter Flieger behandelt; ich glaube, den Brief Bormanns an die Reichs-, Gau- und Kreisleiter über Unterstützung zur Steigerung der Leistung von Kriegsgefangenen erwähnt zu haben. Ferner haben wir eine Anweisung Bormanns bis zu den Kreisleitern hinunter über die Beerdigung russischer Kriegsgefangener. Schließlich haben wir einen Erlaß über die Sicherstellung der Arbeitsleistung ausländischer Zwangsarbeiter, der bis hinunter zu den Ortsgruppenleitern geht.

Über alle diese Tatsachen liegen Beweisstücke vor; unserer Ansicht nach liegt daher zu jedem einzelnen Punkt besonderes Beweismaterial vor. Im allgemeinen haben wir, wie ich schon erwähnte, diese Schriften in Verbindung mit den Beweisen darüber, daß Besprechungen abgehalten wurden, die, abgesehen vom Führerprinzip, bewirken sollten und bewirkten, daß die Zellenleiter und die Blockleiter die letzte Waffe waren, um sicherzustellen, daß das Volk in Übereinstimmung mit den Wünschen des Führers handelte.

MR. BIDDLE: Ich habe zum Schluß noch zwei Fragen zu stellen, die sich auf die SA beziehen. Würden Sie behaupten, daß ein Mitglied, das im Jahre 1921 der SA beitrat und im nächsten Jahre wieder austrat, sich einer Mitwirkung an der Durchführung von Angriffskriegen und Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: In einem gewissen Sinne, ja. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich eine Frage beantwortet, die Sie an mich vor ein oder zwei Tagen gestellt haben, nämlich, wann die Verschwörung angefangen hatte. Jeder, der freiwillig eine aktive Rolle als Mitglied der SA im Jahre 1921 spielte, hat dadurch, daß er die nationalsozialistische Partei unterstützte, sicherlich auch das veröffentlichte Programm der Partei unterstützt, das die Ziele hatte, die Sie mir eben genannt hatten.

In Artikel 2 ist als Parteiziel ausdrücklich die Befreiung vom Diktat von Versailles, der Anschluß und die Zurückführung der Deutschen ins Reich erwähnt; das ist aber nur eine geschickte Umschreibung für die Zerstörung Österreichs und der Tschechoslowakei.

Daher hatte ein solcher Mann diese Ziele im Auge.

Was Kriegsverbrechen anbetrifft, wiederhole ich, was ich neulich schon sagte, daß es ein sehr wichtiger Lehrsatz der Partei war, das Leben und die Sicherheit aller anderen Völker zu mißachten, die der Durchführung ihrer Ziele im Wege standen. Jemand, der bewußt einer Organisation mit solchen Zielen beitrat, mit Zielen, die sich von Woche zu Woche immer klarer auf praktische Probleme bezogen, ein solcher Mann nahm teil am ersten wichtigen Schritt, der die ganze Menschheit in das Elend stürzte, das wir gesehen haben. Es ist gerade dieser Grundsatz, der angewendet auf jedes Geschehen im Menschenleben und -leiden die Verbrechen veranlaßte, die der Gerichtshof hier untersucht.

MR. BIDDLE: Ich sehe ein, daß Sie das im Hinblick auf die Verschwörung zu Kriegsverbrechen sagen können, aber ich möchte ganz genau wissen, ob Sie auch für das eigentliche Delikt eines Kriegsverbrechens behaupten, daß ein Mann, der der SA im Jahre 1921 beitrat und im Jahre 1922 austrat, an jenen Kriegsverbrechen Anfang 1939 teilgenommen hat.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Falls Sie eigentliche Kriegsverbrechen meinen, möchte ich Sie ergebenst an die letzten Worte des Artikels 6 erinnern:

»Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.«

Nach dem Statut genügt dies meiner Ansicht nach, um sie für die Verbrechen verantwortlich zu machen.

MR. BIDDLE: Dann habe ich noch eine Frage. Was, glauben Sie, war die Funktion der SA nach der Röhm-Säuberungsaktion?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ihre Funktion bestand noch immer darin, jede Nazi-Tätigkeit in Deutschland zu unterstützen. Sie werden sich erinnern, daß Dr. Löffler offen und ehrlich den 10. November 1938 ausgenommen hat. Ich habe ein weiteres Beispiel genannt, wie die SA im Generalgouvernement aufgestellt wurde. Wir haben noch weitere Beispiele gegeben, die Sie in meinem Anhang über die Teilnahme – eine begrenzte Teilnahme zwar, aber eben doch noch eine Teilnahme – der SA an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit finden werden.

Es kam uns im wesentlichen darauf an, zu zeigen, daß der SA nach dieser Zeit 3 Millionen Menschen beigetreten waren, die ihr damit die notwendige Stärke gegeben hatten, den Nazis zur Macht zu verhelfen. Und sie hatte auch die notwendige machtvolle Stärke, um in jenen Tagen die Nazis zur Macht zu bringen. Dann traten ihr noch zweieinhalb Millionen Menschen bei, die die Zahl ihrer Mitglieder damals sehr hoch schnellen ließ. Sie sank zwar später wieder herab, war aber im Jahre 1939 noch hoch und stellte eine große unmoralische Macht hinter der Nazi-Partei dar. Sie gab ihr einen starken Rückhalt, und war bei allen Gelegenheiten dabei; wann immer eine Demonstration in Szene gesetzt werden sollte, war die SA da, um ihre Unterstützung zu geben. Sie war ein wichtiges Werkzeug, um die Herrschaft der Nazis über das Deutsche Reich aufrecht zu erhalten.

MR. BIDDLE: Ich nehme an, daß diese Aufgabe Ihrer Meinung nach sich nach dem Röhm-Putsch im wesentlichen nicht geändert hat? Wollen Sie das behaupten?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Die Ziele änderten sich nicht. Sie hatte natürlich nicht mehr halb soviel zu tun, weil gegen Ende des Jahres 1933 alle anderen politischen Parteien aufgelöst waren. Ein Teil der ursprünglichen Aufgabe der SA war es, wie Dr. Löffler wohl behauptete, den Angeklagten Göring zu beschützen, wenn er eine Rede hielt; ich hätte es so dargestellt, daß es ihre Aufgabe war, andere Leute davon abzuhalten, freie Reden zu halten. Nach Dr. Löffler hatte sie ferner bei Zusammenstößen der verschiedenen Gruppen einzuschreiten. Das war nicht mehr notwendig, weil jede politische Opposition unterdrückt war. Daher wurden sie dann eher – ich habe den richtigen Ausdruck vergessen – eine Art Haupt-Hurraschreier oder eine Ansammlung von Leuten, die immer bereit war, lärmend zu applaudieren.

Sie werden in den Versammlungen, Herr Richter, die übertragen wurden, jene gesteuerten Beifallskundgebungen gehört haben. So bestand die Aufgabe der SA mehr in einer Unterstützung der Partei als in einem Einschreiten gegen die Opposition, aber im Grunde war es ein und dasselbe Ziel, nämlich, das Volk bei der Stange zu halten.