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[Pause von 10 Minuten.]

DR. LATERNSER: Herr Präsident, ich hatte heute nicht die Absicht, Ausführungen zu machen über den Begriff der verbrecherischen Organisation, weil ich glaube, daß meine gestrigen Ausführungen zu diesem Punkt erschöpfend waren. Ich möchte nur die von Herrn Richter Biddle an den Kollegen Kubuschok gestellte zweite Frage aufgreifen und dazu eine kurze Stellungnahme geben:

Die zweite Frage, wenn ich sie richtig verstanden habe, lautete: Weshalb ist es unbillig einzelnen gegenüber, die Mitglieder einer Organisation waren, oder weshalb kann es unbillig einzelnen gegenüber sein, die Mitglieder der Organisation waren, wenn diese für verbrecherisch erklärt wird?

Dieser Spruch oder die Erklärung einer Organisation für verbrecherisch ist sicher allen denen Mitgliedern gegenüber unbillig, die von den Zwecken und Zielen, wenn diese verbrecherisch waren, keine Kenntnis hatten. Denn man muß diese Frage...

MR. BIDDLE: Ich glaube, Sie haben die Frage mißverstanden. Sie war, um Zeit zu sparen, sehr einfach gefaßt. Ich will nicht auf sie eingehen, es sei denn, Sie wünschen es. Ich will sie noch einmal wiederholen. Ich sagte folgendes: Wenn eine Organisation für verbrecherische Ziele verwendet worden ist – und ich fügte hinzu, daß für gewisse Fälle sehr beträchtliches Beweismaterial vorliegt –, warum wäre es nicht billig, sie als verbrecherische Organisation anzusehen, soweit sie sich aus Personen zusammensetzte, die davon Kenntnis hatten, daß die Organisation so verwendet wurde, und die freiwillig weiter Mitglied blieben? Natürlich würde dies jeden aus der Organisation ausschalten, der nicht wußte, daß sie verbrecherischen Zwecken diente.

DR. LATERNSER: Dann habe ich die Frage nicht ganz richtig verstanden, und es erübrigen sich weitere Ausführungen zu den Fragen, die jetzt überhaupt erschöpft sind.

DR. MARTIN LÖFFLER, STELLVERTRETENDER VERTEIDIGER DER SA: Ich habe zunächst ein Mißverständnis zu berichtigen:

Sir David hat gestern in seiner Erwiderung erklärt, es sei von mir zugegeben worden, daß die SA am 10. und 11. November 1938 beteiligt gewesen sei. Ich betone ausdrücklich, daß ich erklärt habe, daß nur zwei Prozent der SA höchstens an den Einzelaktionen beteiligt gewesen sind. Dies gilt selbstverständlich auch für dieses Vorkommnis.

Es gibt Veranlassung, an diesem Beispiel das zu unterstreichen, was vordem mein Kollege Servatius ausgeführt hat über die Berücksichtigung des sogenannten Fehlers einer Organisation, wenn nämlich, was zu vermeiden ist, eine Organisation von ihrer Linie abweicht und einen Fehler begeht. Sowohl die 98 Prozent, die nicht beteiligt waren, als auch die zwei Prozent, die damals beteiligt waren, haben mit wenigen Ausnahmen, einmütig diese Aktion mit Widerwillen und Abscheu betrachtet, und sie waren innerlich nicht einverstanden. Es ist also ein Fehler der Anklage, wenn aus einem solchen Einzelvorgang, aus einer solchen Ausnahmeerscheinung, allgemeine Rückschlüsse auf den Gesamtcharakter gezogen werden. Denn es wird mit Recht eingewendet, daß gerade die Ablehnung dieses Programms ein Beweis dafür ist, daß es sich um eine Ausnahme handelt, die von der allgemeinen Richtung und Tendenz abweicht.

Wenn dann als Zweites zu Unrecht geltend gemacht worden ist, die SA habe ja auch mit KZ-Lagern zu tun gehabt, so ist auch das ein weiterer typischer Beweis dafür, zu welchen Fehlschlüssen man bei Organisationsverurteilungen kommen kann. Von 4 Millionen sind es höchstens 1000 Mann gewesen. Das sind nur 0,05 Prozent. Die übrigen 3999000 hatten nachweisbar keine Kenntnis. Es wird wohl niemand behaupten wollen, daß die Tatsache, daß zufällig 0,05 Prozent herangezogen wurden, wovon die anderen keine Ahnung hatten, irgendeinen Rückschluß auf die Frage des verbrecherischen Charakters zuläßt. Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist aber nicht mit dieser geringen Prozentzahl als solcher beantwortet; sondern wir stehen nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die Erklärung, die Rechtsanwalt Kubuschok abgegeben hat, durchaus den verbrecherischen Charakter trifft, wie ihn die Verteidigung formuliert hat; also wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, die in der Formulierung von Rechtsanwalt Kubuschok im Einvernehmen mit allen Organisationsverteidigern niedergelegt sind. Es kann auf Grund dieser Formulierung auch ohne weiteres diese Frage beantwortet werden, die vorher Justice Biddle an die einzelnen Organisationsverteidiger gestellt hat.

Ich möchte noch betonen, daß gestern Justice Jackson den Vorschlag hier gemacht hat, an Stelle der Vernehmung zahlreicher Zeugen gewissermaßen Sachverständige darüber zu hören, welchen »dolus« man bei den einzelnen Organisationen als vorliegend annehmen darf. Ich möchte dem mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Man kann keinen Zeugen hören und auch keinen Sachverständigen, der dem Gericht sagen kann, was hier gewissermaßen der »common sense« gewesen ist, von dem aus gesehen die Frage zu beurteilen ist, welche Kenntnis die Mitglieder im einzelnen hatten. Die Mitglieder sind in ihrer Erkenntnisfähigkeit sehr verschieden. Es gibt intelligente Durchschnittsleute und weniger intelligente Organisationsmitglieder. Wenn nun ein Urteil hier gefällt werden soll, das auch wenig intelligente Organisationsmitglieder betreffen und verdammen soll, so ist es Grundsatz des Rechts, daß nicht von dem ausgegangen werden darf, was die Intelligenten der Organisation erkennen durften und konnten; das wäre ein Unrecht gegenüber dem Durchschnitt und gegenüber den weniger Intelligenten. Ja, es darf nicht einmal der Durchschnitt zugrunde gelegt werden, denn der Durchschnitt wäre ein Unrecht für alle weniger Intelligenten, die von diesem Urteil miterfaßt und betroffen werden.

Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß die gestrige Debatte über die Frage der Wirkung des Urteils, das dieses Gericht spricht, im vollen Umfang die Befürchtung der Verteidiger bestätigt hat. Justice Jackson hat erklärt, daß dieses Urteil reinen Feststellungscharakter trage. Dies steht im Widerspruch mit der gestrigen Erklärung, die Generalleutnant Clay, der stellvertretende Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, in einem »Interview« gegenüber der Neuen Zeitung – der amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung – abgegeben hat. Ich bitte, einen Satz zitieren zu dürfen aus der neuesten Nummer, durch die die Auffassung von Justice Jackson widerlegt wird. Generalleutnant Clay führt aus:

Über die Frage des Schicksals der in der US-Besatzungszone in Haft befindlichen Personen bemerkt der General:

»Es wird von der Entscheidung der Nürnberger Behörde abhängen, was mit ihnen geschieht. Ihre Zahl beträgt gegenwärtig 280000 bis 300000 Personen. Sollte jedoch der Internationale Gerichtshof in Nürnberg alle Mitglieder der angeklagten nationalsozialistischen Organisationen als Kriegsverbrecher ansehen, so wird sich ihre Zahl auf 500000 bis 600000 erhöhen.«

Die Erklärung, die gestern Justice Jackson gegeben hat, daß keine Massenvergeltung beabsichtigt sei, konnte er nur abgeben bezüglich des gegenwärtigen Standpunktes seiner Regierung. Es ist keine Sicherheit gegeben, daß andere Regierungen einen anderen Standpunkt einnehmen, oder daß seine Regierung, die nicht an die Auffassung von Justice Jackson gebunden ist, ihren Standpunkt ändert.

Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen: Justice Jackson hat von der Schockwirkung gesprochen, die der jetzige Zustand, nämlich das Statut in Verbindung mit der von der Anklagebehörde begehrten Entscheidung – in Verbindung mit dem Kontrollratsgesetz Nummer 10 – auf die Verteidigung ausgeübt habe. Ich glaube, daß sich diese Schockwirkung nicht auf die Verteidigung beschränkt, sondern alle erfaßt, denen die Gerechtigkeit am Herzen liegt; denn, wenn die Verbindung dieser verschiedenen Gesetze den nationalen Gerichten die Möglichkeit gibt, Millionen von Organisationsangehörigen, von denen auch Justice Jackson gestern nicht in Abrede stellen konnte, daß darunter Unschuldige sind, zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn ein Strafrahmen für die bloße Mitgliedschaft von der Geldstrafe bis zur Todesstrafe gegeben wird, so muß eine pflichtgemäße Verteidigung darauf hinweisen, daß sich hier das Verfahren offenbar vom Boden des Rechts zu entfernen droht und zu einer Willkür führen muß.

Wenn demgegenüber Justice Jackson auf die Schockwirkung hinweist bezüglich des Todes vieler Juden, so sind diese Taten geschehen außerhalb des Gesetzes, im Namen der Gewalt. Das Statut aber und dieses Gericht wollen ja gerade die Gewalt beseitigen und an ihre Stelle das Recht setzen; das Recht aber muß klar sein, und es muß sicher sein.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Der Gerichtshof erwähnte vorhin, daß gewisse Fragen an mich gestellt worden sind. Ich bin selbstverständlich bereit, die drei Fragen zu beantworten, wenn der Gerichtshof seine Zeit dafür opfern will.

VORSITZENDER: Ich glaube nicht, daß der Gerichtshof weitere Argumente hören möchte, es sei denn, daß Sie speziell etwas darauf zu antworten haben.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich will durchaus nicht debattieren; Dr. Dix richtete aber zwei Fragen an mich, über die er meine Meinung zu hören wünscht; auch Dr. Servatius hatte eine Frage. Ich überlasse aber die Entscheidung darüber dem Gerichtshof. Ich möchte jedoch den Eindruck vermeiden, als ob die Anklagevertretung nicht bereit wäre, die Fragen zu beantworten.

VORSITZENDER: Wenn Sie sie kurz beantworten können, wollen wir es gern anhören.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Dr. Dix hat mich zunächst gebeten, das zu klären, was ich über das Führerprinzip mit Bezug auf die Reichsregierung sagte. Ich kann diese Frage in zwei Sätzen beantworten: Ich sagte, daß die Mitglieder der Reichsregierung im Jahre 1933 unter dem Führerprinzip Hitler nicht nur in normaler Weise unterstützten, sondern ihm auch ihr Gewissen und ihren Willen auslieferten und seine Ansichten vollständig zu den ihren machten.

Damit sich Dr. Dix bezüglich seines Mandanten keinen Illusionen hingibt, kann man den Tatbestand vom Standpunkt der Anklagevertretung mit den Worten Goebbels – eines der Verschwörer – ausdrücken, die er am 21. November 1934 gelegentlich einer Unterredung mit Dr. Schacht gebrauchte:

»In einer Aussprache mit Dr. Schacht habe ich mich vergewissert, daß er absolut unseren Gesichtspunkt vertritt. Er ist einer der wenigen, der dem Standpunkt des Führers vollkommenes Verständnis entgegenbringt.«

Der zweite Punkt betraf die Frage des Parteiprogramms im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag und dem Anschluß. Dr. Dix hat mich gebeten, mich mit den Leuten zu befassen, die die Ziele des Parteiprogramms auf friedlichem Wege erreichen wollten. Die Anklagevertretung betont, daß diese Frage überhaupt nicht besteht, daß das Parteiprogramm beurteilt werden muß unter dem Gesichtspunkt der Veröffentlichungen Hitlers und anderer Nazi-Persönlichkeiten über die Anwendung von Gewalt, über die bestehenden Beziehungen Deutschlands zu den Westmächten und über seine Vertragsverpflichtungen gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei.

Die dritte, von Dr. Servatius an mich gerichtete Frage bezog sich auf das Korps der Politischen Leiter. Sie werden sich daran erinnern, Herr Vorsitzender, daß in der Erklärung des Hohen Gerichtshofs die Anklagevertretung befragt wurde, ob sie irgend eine Einschränkung machen wolle; wenn dies der Fall wäre, dann müßte dies jetzt geschehen. Das steht in der Erklärung des Gerichtshofs. Die Begrenzung, die wir tatsächlich gemacht haben, nämlich nur den Stab der Reichsleitung, Gauleitungen und Kreisleitungen einzuschließen und den Stab der Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleitungen auszuschalten, entspricht der Ansicht, an der die Anklagevertretung festhält, und der von den verschiedenen Delegationen zugestimmt wurde. Ich will nur, daß Dr. Servatius über unseren Standpunkt Bescheid weiß. Ich beabsichtige nicht, die verschiedenen von meinem Freund Justice Jackson dafür vorgebrachten Gründe zu wiederholen.

VORSITZENDER: Ich möchte hierzu nur das eine sagen: Ich glaube, daß es für den Gerichtshof nützlich sein würde, wenn Sie uns einige Abdrucke der britischen Gesetze, auf die sich Herr Justice Jackson bezogen hat, zur Verfügung stellen würden – für den Fall, daß Sie solche besitzen – und auch gewisse Urteile der deutschen Gerichte, wenn Exemplare hiervon zu beschaffen sind.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wir werden diese Exemplare für den Gerichtshof beschaffen, und der Gerichtshof wird sie so bald wie möglich erhalten.

VORSITZENDER: Mr. Dodd, ich höre, daß Sie eine eidesstattliche Erklärung besitzen, die Sie bezüglich des Oberkommandos vorlegen wollen?

MR. DODD: Jawohl, wir haben eine solche. Wir haben Donnerstag diese eidesstattliche Erklärung gefunden. Der Gerichtshof hatte am Nachmittag des vorhergehenden Tages – ich glaube, es war Mittwoch – danach gefragt. Wir haben eine Liste von Ämtern des deutschen Generalstabs und Oberkommandos, wie es in der Anklageschrift, Anhang B, definiert ist, für den Gerichtshof vorbereitet Die Liste ist aus amtlichen Quellen der britischen Admiralität, des britischen Kriegs- und des britischen Luftfahrtministeriums zusammengestellt worden; ergänzende Informationen kommen von höheren deutschen Offizieren, die sich jetzt als Kriegsgefangene in England oder in Deutschland befinden. Die Liste ist dem Affidavit beigelegt, da wir es heute Morgen dem Gerichtshof vorzulegen beabsichtigten; die eidesstattliche Erklärung gibt die Quellen an, aus denen diese Informationen stammen und weist darauf hin, daß diese Liste nicht auf absolute Vollständigkeit oder unbedingte Richtigkeit jeder Einzelheit Anspruch erhebt. Sie ist jedoch eine im wesentlichen vollständige Liste der Mitglieder der Gruppe Generalstab und Oberkommando. Auf Grund dieser Aufstellung scheinen es 131 Mitglieder gewesen zu sein, von denen wir glauben, daß 114 jetzt noch am Leben sind. Ich will diese Liste formell gemeinsam mit dieser eidesstattlichen Erklärung als US-778 vorlegen. Ich frage hiermit an, ob sie angenommen wird, ohne verlesen zu werden. Wenn der Gerichtshof jedoch glaubt, daß sie über den Lautsprecher verlesen werden sollte, will ich dies gern tun.

VORSITZENDER: Nein, ich glaube nicht, daß Sie es zu verlesen brauchen. Sind den Verteidigern Abschriften gegeben worden?

MR. DODD: Jawohl, Sie haben solche bekommen, Herr Vorsitzender. Sie sind der Verteidigung übergeben worden.

VORSITZENDER: Sehr gut, besten Dank.

MR. DODD: Herr Vorsitzender, Oberst Smirnow ist bereit, die Schriftstücke, die sich auf das Stalag Luft 3 beziehen, zu verlesen. Wenn der Gerichtshof dies wünscht, wird er es tun.

VORSITZENDER: Ich glaube, daß dies vielleicht Montag Morgen gemacht werden kann.

MR. DODD: Gewiß.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich nunmehr.