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DR. HORN: Durch das Münchener Abkommen trat zunächst eine vorübergehende Beruhigung der außenpolitischen Lage ein. Sie wurde erst wieder durch Hitlers, für Herrn von Ribbentrop in dieser weitgehenden Form völlig überraschenden Schritt des Besuches von Hacha in Berlin und die damit verbundenen Ereignisse kompliziert.

Wie Reichsmarschall Göring bekundet hat, hat Hitler entgegen allen Warnungen nach Lösung der Slowakei sich zur Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren entschlossen. Es dürfte auf Grund des vorhandenen Materials schwierig sein, die letzten Gründe für diesen Schritt Hitlers festzustellen. Nach Aussagen des Angeklagten Göring entsprangen sie der bei Hitler stets verfangenden Befürchtung, daß durch Verbindungen des tschechischen Offizierkorps mit Rußland eine nochmalige Komplizierung der Lage im Südostraum eintreten könne. Dieser und die daraus resultierenden strategischen und historischen Gründe dürften Hitler zu diesem auch für Herrn von Ribbentrop überraschenden Schritt vom 16. März 1939 veranlaßt haben.

Dieser Entschluß, der nur bei Hitlers zu überraschenden Entscheidungen neigenden Natur selbstverständlich ist, brachte eine völlige Veränderung der deutschen außenpolitischen Lage mit sich.

Herr von Ribbentrop hat damals Hitler die zu erwartende Reaktion der Westmächte, insbesondere Englands, auf diesen Schritt warnend vor Augen geführt.

Die Folgen zeigten sich auch sofort in der seit Oktober 1938 angeschnittenen Danzig- und Korridorfrage. Während bis dahin die Polen auf Grund der deutschen Politik seit 1934 und der Rückgabe des Olsagebietes an Polen die Verhandlungen über diese Frage nicht abgelehnt hatten, trat Ende März die Reaktion auf die Protektoratserrichtung sofort in Erscheinung. England sah die Errichtung des Protektorats als einen Bruch des Münchener Abkommens an und leitete Konsultationen mit einer Reihe von Staaten ein. In der gleichen Zeit fuhr Minister Beck, statt nochmals nach Berlin zu kommen, nach London und kehrte von dort mit der Zusicherung zurück, daß England gegen jede Veränderung des Status quo im Osten eintreten würde. Diese Erklärung war auch im Unterhaus nach vorheriger Rücksprache mit der Französischen Regierung abgegeben worden. Am 26. März 1939 erschien der Polnische Botschafter Lipski in der Wilhelmstraße und erklärte Herrn von Ribbentrop, daß jede weitere Verfolgung der Revisionsabsichten gegenüber Polen – insbesondere soweit sie eine Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen – Krieg bedeute.

Damit war die polnische Frage zu einer europäischen geworden. Herr von Ribbentrop erklärte damals dem Polnischen Botschafter, daß Deutschland sich mit dieser Entscheidung nicht begnügen könne.

Nur eine klare Rückgliederung Danzigs und eine exterritoriale Verbindung mit Ostpreußen könnten zu einer endgültigen Bereinigung führen.

Ich habe dem Gericht in Form eines Dokumentenbeweises einen Überblick über den nun einsetzenden Verlauf der polnischen Krise unterbreitet. Ich kann daher den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse als bekannt unterstellen, auch soweit sie sich auf die Angliederung des Memellandes beziehen, das durch einen Vertrag mit Litauen zum Reich zurückkam. Ich beschränke mich, um die Zeit des Tribunals nicht unnötig in Anspruch zu nehmen, auf die Hervorhebung der Tatsachen, die geeignet sind, die Rolle Herrn von Ribbentrops zu klären.

Die Anklage wirft Herrn von Ribbentrop vor, daß er während der Sudetenkrise und während der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, Polen durch Vorspiegelung freundschaftlicher Gefühle eingelullt habe. Zur Widerlegung dieser Behauptung darf ich darauf hinweisen, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen seit der Einigung von 1934 gut und sogar freundschaftlich waren und daß diese Haltung selbstverständlich dadurch noch günstiger wurde, daß Polen den Erwerb des Olsagebietes der deutschen Außenpolitik verdankte. Es hatte daher alle Veranlassung, seinerseits freundschaftliche Gefühle gegenüber Deutschland zum Ausdruck zu bringen, ohne daß es dazu eines täuschenden Verhaltens Herrn von Ribbentrops bedurfte. Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, hat Herr von Ribbentrop diese freundschaftliche Politik gegenüber Polen auch nach der Auflösung der Tschechoslowakei weiter verfolgt, da kein Grund vorlag, von dieser bisherigen Haltung abzuweichen.

Die Anklage wirft Herrn von Ribbentrop weiter vor, daß er gewußt habe, daß Hitler bereits im Frühjahr 1939 entschlossen gewesen sei, gegen Polen Krieg zu führen und daß Danzig nur als Vorwand zu diesem Konflikt gedient habe. Sie schließt dies aus den Urkunden US-27 und US-30. Es handelt sich um die bekannten Ansprachen Hitlers vom 23. Mai und 22. August 1939. Ich darf zunächst darauf aufmerksam machen, daß Herr von Ribbentrop bei diesen für die Militärs bestimmten Besprechungen nicht anwesend war.

Es ist hier eingehend über eine Reihe von Schlüsseldokumenten gesprochen worden. Ich nenne nur die bekanntesten, wie zum Beispiel das Hoßbach-Dokument, die beiden Schmundt-Akte und die vorerwähnten Ansprachen. Eine ganze Reihe von Erklärungen über diese Dokumente sind Gegenstand der Beweisaufnahme geworden. Kenner Hitlers führten an, daß sie an ihm extravagante Ideen in Form von sich bisweilen wiederholenden überraschenden Vorträgen gewöhnt gewesen seien und sie in Anbetracht seiner Eigenart nicht ernst genommen hätten.

Man kann diesen Dokumenten auch eine ganze Reihe von Reden gegenüberstellen, in denen Hitler das Gegenteil behauptet hat. Man wird dagegen einwenden, daß Hitler dann eben jeweils einen bestimmten Zweck mit den Verlautbarungen verbunden habe. Das ist sicher zutreffend. Ebenso zutreffend ist aber, daß selbst die wenigen der zum Beweis des Angriffskrieges vorgelegten Schlüsseldokumente in sich selbst so viele Widersprüche hinsichtlich daraus hergeleiteter Angriffsabsichten enthalten, daß aus ihnen allenfalls ein retrospektiv urteilender Kritiker derartige Vorhaben erkennen kann. Der Inhalt dieser Dokumente wurde übrigens in Übereinstimmung mit den strengen Geheimhaltungsvorschriften nur denen bekannt, die an den Besprechungen teilnahmen.

So dürfte es zu erklären sein, daß Herr von Ribbentrop von ihnen erst hier im Gerichtssaal Kenntnis erhalten hat.

Die ihm von Hitler damals erteilten außenpolitischen Richtlinien erstreckten sich lediglich auf die Rückgliederung Danzigs und auf die Schaffung einer exterritorialen Straße durch den Korridor, um eine direkte Landverbindung mit Ostpreußen herzustellen. Diese Absichten hatte, wie sich das Gericht erinnern wird, Hitler Herrn von Ribbentrop bereits bei seiner Ernennung zum Außenminister als erstrebenswert bezeichnet. Diese Forderung war ebenso geschichtlich berechtigt, wie die Lösung durch die vorangehenden Anschlüsse deutsch besiedelter Gebiete auch in diesem Falle zwangsläufiger wurde. Das Statut der rein deutschen Stadt Danzig, das durch den Versailler Vertrag im Zuge der Errichtung eines polnischen Staates geschaffen worden war, hatte stets zu Reibungen zwischen Deutschland und Polen Anlaß gegeben. Polen hatte diese Lösung in Versailles erreicht mit der Begründung, daß es einen Zugang zum Meer brauche. Aus den gleichen Gründen war der Korridor entgegen allen ethnologischen Bedürfnissen geschaffen worden. Schon Clemenceau hatte in einem Memorandum auf die Gefahrenquelle dieser künstlichen Schöpfung hingewiesen, insbesondere darauf, daß die in diesem Gebiet vereinten Völker durch lange Jahre bitterer Feindschaft getrennt gewesen seien. Es war unschwer vorauszusehen, daß als Folgen dieser Tatsache nicht nur laufend Beschwerden über polnische Verstöße gegen das Minderheitenabkommen den Völkerbund und den Internationalen Gerichtshof im Haag beschäftigten. Der gleichen Ursache entsprangen die im größten Stile durchgeführten Enteignungen deutschen Grundbesitzes bis zu einer Million Hektar und Ausweisungen von weit über einer Million Deutscher im Laufe von 20 Jahren. Nicht umsonst hatte daher Lord d'Abernon von dem Danzig-Korridor-Problem als dem Pulvermagazin Europas gesprochen. Wenn jetzt eine Lösung dieser Fragen unter Anerkennung des polnischen Anspruches auf Aufrechterhaltung eines Zugangs zum Meer angestrebt wurde, so war dieses Bestreben ebenso vernünftig wie historisch begründet.

Die Beweisaufnahme hat keinerlei Unterlagen dafür geliefert, daß es sich bei dieser Frage nur um einen Vorwand gehandelt habe, den Herr von Ribbentrop gekannt haben müsse. Sie hat keine Beweise geliefert, daß Herrn von Ribbentrop Ziele Hitlers bekannt gewesen seien, die weit über diese Forderungen hinausgingen. Ebensowenig ist bewiesen worden, daß Herr von Ribbentrop vor dem 1. September 1939 – wie ebenfalls von der Anklage behauptet wurde – alles getan habe, was er nur konnte, um die Aufrechterhaltung des Friedens mit Polen zu vermeiden, obwohl er gewußt habe, daß Krieg mit Polen Großbritannien und Frankreich in den Konflikt hereinziehen würde. Die Anklage stützte sich bei dieser Behauptung auf das Dokument TC-73. Es handelt sich dabei um einen Bericht des Polnischen Botschafters in Berlin, Lipski, an seinen Außenminister. Das Dokument enthält überhaupt nichts, was diese Behauptung begründen könnte.

Ich glaube darüber hinaus nicht, daß Lipski nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als besonders klassischer Zeuge gewertet werden kann. Ich darf daran erinnern, daß Lipski es war, der in dem entscheidenden Stadium der Verhandlungen vor Ausbruch des Krieges äußerte, daß er nicht die geringste Veranlassung habe, sich für Noten oder einen Vorschlag von der deutschen Seite zu interessieren. Er kenne die Lage in Deutschland genau nach dieser Zeit von fünfeinhalb Jahren als Gesandter. Er sei überzeugt davon, daß im Falle eines Krieges Unruhen in Deutschland ausbrächen und daß die polnische Armee siegreich nach Berlin marschieren würde.

Nach der Aussage des Zeugen Dahlerus war es gerade Lipski, der bei den Schweden bei der entscheidenden Besprechung in der Polnischen Botschaft den Eindruck hervorrief, daß Polen jede Möglichkeit zu Verhandlungen sabotierte.

Gegen die obigen Behauptungen der Staatsanwaltschaft sprechen auch weitere Ergebnisse der Beweisaufnahme. So die Tatsache, daß Herr von Ribbentrop nach Kenntnis von der Unterzeichnung des englisch- polnischen Garantievertrags durch seine Intervention Hitler zur Zurücknahme des Marschbefehls für die Wehrmacht veranlaßte, weil nach seiner Auffassung durch einen Konflikt mit Polen die Westmächte mit hineingezogen würden. Diese Auffassung deckt sich auch mit den Schlußfolgerungen, die Herr von Ribbentrop aus der Beurteilung der europäischen Lage in der bereits behandelten Urkunde TC-75 vertreten hatte.

Der Gesandte Schmidt hat hier bekundet, daß Herr von Ribbentrop es war, der ihn am 25. August 1939 nach der Zusammenkunft Hitler-Henderson mit dem als TC-72/69 vorgelegten Verbal-Kommuniqué, das den Inhalt der Hitlerschen Vorschläge zusammenfaßte, zu Sir Nevile Henderson sandte. Herr von Ribbentrop verband damit die inständige Bitte, Hitlers Vorschlag sofort persönlich der Britischen Regierung ans Herz zu legen. Sir Nevile Henderson konnte laut englischem Blaubuch nicht umhin, diese und später unterbreitete Vorschläge als außerordentlich vernünftig und aufrichtig zu bezeichnen. Sie stellten auch nicht die üblichen Hitler-Vorschläge, sondern reine »Völkerbundsvorschläge« dar.

Wer die Verhandlungen der folgenden schicksalsschweren Tage studiert, wird nicht leugnen können, daß auf deutscher Seite alles geschah, um wenigstens Verhandlungen auf brauchbarer Grundlage in Gang zu bringen. Die Gegenseite hat es nicht dazu kommen lassen, weil man entschlossen war, diesmal zu handeln. Die guten Dienste Englands endeten mit Abbruch jeglicher Vermittlung, ohne daß Polen an den Verhandlungstisch gebracht werden konnte.

Es ist gegen Herrn von Ribbentrop der Vorwurf erhoben worden, daß er den Zweck der letzten entscheidenden Besprechungen mit dem Britischen Botschafter Henderson praktisch dadurch vereitelt habe, daß er die deutschen Vorschläge an Polen in einer jedem diplomatischen Brauch und jedem internationalen Takt widersprechenden Weise so schnell verlesen habe, daß Sir Nevile Henderson sie nicht habe verstehen und demzufolge auch nicht habe übermitteln können. Der Dolmetscher, Gesandter Schmidt, war bei dieser entscheidenden Unterredung zugegen. Er hat hier unter Eid ausgesagt, daß diese Behauptung nicht zutrifft. Man mag den Befehl Hitlers, das Memorandum nur der Substanz nach Sir Nevile Henderson bekanntzugeben, für unklug halten. Tatsache ist, daß Herr von Ribbentrop nicht nur den gesamten Inhalt dem Britischen Botschafter in einem normalen Tempo verlas, sondern durch die Gegenwart des Dolmetschers auch Sir Nevile Henderson die Möglichkeit gab, von seinem vollen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich noch dazu Erläuterungen geben zu lassen. Im übrigen wurde es in der gleichen Nacht durch die Initiative des Reichsmarschalls Göring der Britischen Botschaft durch Diktat an Botschaftsrat Forbes mitgeteilt. Die Britische Regierung wäre also in der Lage gewesen, ihre angebotenen guten Dienste für die Aufnahme von Verhandlungen auf Grund positiver Vorschläge zur Verfügung zu stellen.

Man wird auf Grund dieser hier bekundeten Tatsachen füglich bezweifeln müssen, daß die Behauptung zutreffend ist, der Angeklagte habe alles getan, um den Frieden mit Polen zu vermeiden.

Ich habe zu Eingang meines Plädoyers betont, daß Rechtsbetrachtungen über den Angriffskrieg ohne Kenntnis der Voraussetzungen, die zu einem bewaffneten Konflikt führen, nicht möglich sind. Ehe ich zur rechtlichen Würdigung des Konflikts mit Polen übergehe, sei es mir gestattet, noch einige Ausführungen über die Ursachen, die zum Kriege führten, zu machen.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wird charakterisiert durch die gegenseitigen Reaktionen der befriedigten und unbefriedigten Mächte. Es scheint ein zwangsläufiges Gesetz nach großen kriegerischen Erschütterungen zu sein, daß die Siegerstaaten eine möglichst weitgehende Wiederherstellung des Vorkriegszustandes und -denkens anstreben, während die Besiegten gezwungen werden, durch neue Mittel und Methoden einen Ausweg aus den Folgen der Niederlage zu finden. So kam es nach den napoleonischen Kriegen zur Heiligen Allianz, die unter Metternichs Führung versuchte, unter dem Zeichen der Legitimität die Auswirkungen der Französischen Revolution zu ignorieren.

Was die Heilige Allianz nicht erreichte, gelang auch dem Völkerbund nicht. Geschaffen in einer Stimmung brennenden Glaubens an menschlichen Fortschritt, wurde er schnell in ein Werkzeug der saturierten Staaten umgewandelt. Jeder Versuch, den Völkerbund »zu stärken«, bedeutete ein neues Bollwerk zur Aufrechterhaltung des Status quo. Die Machtpolitik wurde unter den geschliffenen Diktionen juristischer Formen weiterbetrieben. Dazu nahm die Besessenheit von der »Sécurité« dem neu geschaffenen Körper bald jeden Hauch von Frische und Leben. Auf diese Weise konnte natürlich niemals eine Lösung der Probleme, die durch den Ausgang des ersten Weltkrieges geschaffen waren, gefunden werden. In den internationalen Beziehungen zeichnete sich immer mehr ein Zusammenschluß der Interessen konservativer Mächte ab, die sich mit dem Status quo zufrieden gaben, und der revolutionären Mächte, die versuchten, ihn zu beseitigen. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, wann unter diesen Bedingungen politisch die Initiative auf die unbefriedigten Mächte überging. Die Bildung dieser Fronten hing einzig und allein von der Stärke des revolutionären Geistes ab, der sich im Gegensatz zur politischen Selbstgefälligkeit und Heimweh nach der Vergangenheit herauskristallisierte. Auf diesem Nährboden wuchsen die in vielen Programmpunkten obskuren, elastischen und manchmal zusammenhanglosen Doktrinen des Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus. Ihre Werbekraft lag nicht so sehr in ihren Programmen, sondern in der Tatsache, daß sie eingestandenermaßen etwas Neues zu bieten hatten und ihre Anhänger nicht aufforderten, ein politisches Ideal anzubeten, das in der Vergangenheit versagt hatte.

Die wirtschaftlichen Krisen der Nachkriegszeit, die Kontroversen über die Reparationen und die Ruhrbesetzung, die Unfähigkeit der demokratischen Regierungen, etwas für ihre in Not befindlichen Völker bei den anderen Demokratien zu erreichen, führte zwangsläufig dazu, die noch unerprobten Doktrinen auf die Probe zu stellen. Die praktischen Auswirkungen dieser Revolution, wie wir sie nach 1933 in Deutschland erlebten, konnten neben dem Sozialprogramm nur darin bestehen, die Friedensregelung von 1919 zu beseitigen, die ein klassisches Beispiel des Fehlschlags darstellt, den revolutionären Charakter einer Weltkrise zu verstehen. Diese Aufgaben waren für diese Revolution keine Rechtsfragen, sondern Doktrinen, genau so wie es für die saturierten Staaten schon längst zur Doktrin geworden war, den Status quo um jeden Preis – schließlich um den eines neuen Weltkrieges – aufrechtzuerhalten.

Nur wer sich diesen Tatsachen nicht verschließt, kann über die politischen Krisen des vergangenen Jahrzehnts urteilen.

Jede Revolution hat nur zwei Möglichkeiten, entweder sie stößt auf so geringen Widerstand, daß mit der Zeit konservative Tendenzen aufkommen und ein Amalgam mit der alten Ordnung zustande kommt, oder die Gegenkräfte sind so stark, daß schließlich die Revolution durch Überspitzung ihrer eigenen Mittel und Methoden zerbricht.

Den zweiten Weg ging der Nationalsozialismus, der so unblutig und mit zum Teil beachtlichen Neigungen zur Tradition begann. Aber auch er konnte geschichtlichen Eigengesetzlichkeiten nicht entgehen. Die Ziele waren zu weit gesteckt für eine Generation, die revolutionäre Essenz zu stark. Die Anfangserfolge verblüfften; sie machten aber auch kritiklos gegenüber Methoden und Zielen.

Der Prozeß des Zusammenschlusses aller größeren deutschen Gruppen im zentraleuropäischen Raum wäre höchstwahrscheinlich geglückt, wenn man zum Schluß – ich meine bei Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren und bei Verfolgung der Danzig- Korridorfrage – das revolutionäre Tempo und Methoden nicht auf Grund früherer Erfolge übersteigert hätte. Kein nüchtern urteilender Mensch wird die Berechtigung zur Lösung der Danzig-Korridor-Frage in Abrede stellen, so heikel sie auch war.

Wenn die Anklage behauptet, daß in Wirklichkeit Danzig nur ein Vorwand gewesen sei, so ist das, vom Jahre 1939 aus gesehen, kaum zu beweisen. Sicher ist aber, daß es auf der Gegenseite um etwas anderes ging als um die Erhaltung des Status quo im Osten. Der Nationalsozialismus und mit ihm das erstarkte Deutsche Reich waren in den Augen der anderen eine derartige Gefahr geworden, daß man nach Prag fest entschlossen war, aus jedem weiteren Vorgehen Deutschlands, wo immer es auch erfolgen würde, einen »Test case« zu machen.

Ich habe schon gesagt, daß der revolutionäre Protest in Zentraleuropa in erster Linie wirtschaftliche Ursachen hatte, die in den Bedingungen von Versailles begründet waren, wo man Deutschland einen Frieden auferlegte, von dem man genau wußte, daß er in seinen wirtschaftlichen Bestimmungen nicht von dem Besiegten erfüllt werden konnte.

VORSITZENDER: Dr. Horn! Der Gerichtshof hält diesen Satz auf jeden Fall aus dem von mir schon angeführten Grunde für unzulässig.

DR. HORN: Ich wollte nicht den Versailler Vertrag, sein Zustandekommen, sondern nur gewisse notwendige Auswirkungen, die ja allgemeinkundige Tatsachen sind, unterstreichen. Ich bin auch bereits damit fertig, ich habe auf diesem Gebiet nichts weiter zu sagen.

VORSITZENDER: Fahren Sie fort, Dr. Horn.

DR. HORN: Es ist hier manches über das Schlagwort »Lebensraum« gesagt worden. Ich bin überzeugt, dieses Wort wäre nie zu einem politischen Programm geworden, wenn man Deutschland nach dem ersten Weltkrieg statt der wirtschaftlichen Abdrosselung die Möglichkeit gegeben hätte, wieder Anschluß an die Weltmächte zu finden. Durch die systematische Abschneidung von den Rohstoffbasen der Welt – alles unter dem Gesichtspunkt der »Sécurité« – nährte man einmal das Streben nach der Autarkie, dem unvermeidlichen Ausweg aus der Abschnürung von den Weltmärkten, und ließ zugleich mit zunehmender wirtschaftlicher Zwangslage den Schrei nach Lebensraum auf fruchtbaren Boden fallen.

So hat Stalin recht, wenn er sagt:

»Es wäre falsch zu denken, daß der zweite Weltkrieg zufällig oder als Folge von Fehlern dieser oder jener Staatsmänner entstanden ist, obwohl diese Fehler ohne Zweifel gemacht worden sind. In Wirklichkeit entstand der Krieg als ein unvermeidliches Ereignis der Entwick lung der internationalen wirtschaftlichen und politischen Kräfte auf der Grundlage des modernen monopolitischen Kapitalismus2.«

Wie Professor Jahrreiss in seinen grundlegenden Ausführungen über die rechtliche und tatsächliche Bedeutung des Kellogg-Paktes bereits eingehend bewiesen hat, kann diesem Kriegsverhütungsprogramm die ihm von der Anklage beigelegte Bedeutung von der Verteidigung nicht zugebilligt werden3.

Wenn auch der Krieg vorher schon als internationales Verbrechen bezeichnet worden war, insbesondere auf der achten Völkerbundsversammlung von 1927, so war man sich doch bei den vorausgehenden Besprechungen, wie bereits durch dem Gericht vorliegende Urkunden bewiesen worden ist, darüber im klaren, daß es sich bei dieser Deklaration um kein Verbrechen in einem juristisch erfaßbaren Sinn handeln kann, sondern um den Ausdruck des Wunsches, Völkerkatastrophen vom Ausmaß des ersten Weltkrieges in Zukunft zu vermeiden. An der Völkerbundsresolution von 1927 waren übrigens die Vereinigten Staaten und Rußland nicht beteiligt.

Alle weiteren Kriegsächtungsabsichten, die in die Epoche zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg fallen, sind, wie der Herr britische Anklagevertreter in seinen bedeutsamen Ausführungen zugeben mußte, Entwürfe geblieben, weil die praktische Politik diesen moralischen Postulaten nicht folgen konnte.

Aus allen diesen Versuchen – und sie sind nicht wenig zahlreich – wird deutlich, daß die Problematik der Definition in der Schwierigkeit liegt, einen politischen, von einer Unzahl von Komponenten abhängigen Vorgang in einen rechtlichen Begriff zusammenzufassen, der alle vielgestaltigen Fälle der Praxis decken kann. Der Mißerfolg der Formulierung einer völkerrechtlich brauchbaren Definition führte dazu, statt der Herausarbeitung allgemeiner, in jedem Fall anwendbarer Merkmale, die Bestimmung des Angreifers der Entscheidung eines über den streitenden Parteien stehenden Organes zu überlassen. Die Frage der Definition des Angreifers wurde somit zur Frage »quis judicavit«, das heißt: »Wer bestimmt den Angreifer«. Aus dieser Entscheidung ergibt sich dann als erneute Schwierigkeit das Problem: Was geschieht gegen den Angreifer?

Vor dem Versuch zu einer allgemeinen Regelung des Angriffsbegriffes und der Sanktionen gegen den Angreifer waren die politischen Bündnisse für die Verpflichtung der Parteien, zum Kriege zu schreiten, maßgebend. Um diese unbefriedigende, anarchische Situation zu bessern, ergriffen die Vereinigten Staaten in einer Reihe von Einzelverträgen unter dem Staatssekretär Bryan...

VORSITZENDER: Behandeln Sie nicht dieselben Fragen, die Dr. Jahrreiss schon behandelt hat?

DR. HORN: Herr Präsident! Ich habe mich bemüht, die Dinge, die Professor Jahrreiss dargelegt hat, auszulassen. Professor Jahrreiss hat seine Ausführungen hauptsächlich auf den Kellogg-Pakt beschränkt. Ich befasse mich nur mit den Fragen, die zu dem Rechtsgebiet des Angriffskrieges gehören.

VORSITZENDER: Ja, aber der Gerichtshof hat nur im Hinblick darauf, daß die anderen Verteidiger sich nicht mit derselben Rechtsfrage befassen würden, gestattet, daß sich ein zusätzlicher Anwalt mit den allgemeinen Rechtsfragen befassen kann. Natürlich verwenden Sie nicht die Worte von Dr. Jahrreiss. Das hätte ich auch gar nicht von Ihnen erwartet, aber Sie werfen die gleichen Fragen auf.

DR. HORN: Herr Präsident! Es wurde zunächst ursprünglich vereinbart – und wie der Professor Ihnen als Fachmann dartat –, daß jeder Anwalt berechtigt ist, eine andere Einstellung zu dem von ihm aufgerissenen Problem einzunehmen. Professor Jahrreiss hat sich hauptsächlich auf den Kellogg-Pakt und seine Folgen beschränkt. Ich persönlich habe hier Stellung zu nehmen zum Angriffskrieg, und wie der Herr Präsident letzthin hervorhob...

VORSITZENDER: Einen Augenblick! Die Folge hiervon wäre, daß der Gerichtshof 20 verschiedene Argumente über allgemeine Rechtsfragen zu hören bekäme, und die Verteidigung kann doch kaum annehmen, der Gerichtshof habe vor, 20 Argumente über allgemeine Rechtsfragen und dazu noch Dr. Jahrreiss anzuhören. Durch die Entscheidung, nur einen Anwalt zu hören, wurde einzig und allein der Zweck verfolgt, die allgemeine Rechtsfrage von nur einem einzigen Verteidiger behandelt zu sehen, so daß die anderen sie nicht aufgreifen sollten.

DR. HORN: Herr Präsident! Darf ich nochmals betonen...

VORSITZENDER: Einen Augenblick.