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DR. SIEMERS: Ich komme nun zu dem Vorwurf seitens der Anklage, daß Großadmiral Raeder sich an einer Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen beteiligte und insbesondere Hitler und den Nationalsozialismus unterstützte, obwohl er gewußt haben soll, daß Hitler von vorneherein die Absicht hatte, Angriffskriege zu führen.

Wie kam Raeder zu Hitler, und konnte beziehungsweise mußte er zu dieser Zeit mit einer Angriffsabsicht Hitlers rechnen?

Es ist, wie ich schon erwähnte, bewiesen, daß Raeder vor 1933 nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte und weder Hitler noch die Parteimitarbeiter kannte; er hat Hitler am 2. Februar 1933 kennengelernt als er und die übrigen Befehlshaber durch Freiherrn von Hammerstein Hitler vorgestellt wurden. Für Raeder als Chef der Marineleitung gab es nur einen Vorgesetzten, nämlich den Reichspräsidenten Hindenburg, der nach der Verfassung und nach dem Wehrgesetz3 der Oberste Befehlshaber der gesamten Wehrmacht war. Hindenburg hatte als Reichspräsident Hitler zum Reichskanzler ernannt, und damit entstand zwangsläufig eine Verbindung zwischen Hitler und Wehrmacht. Irgendein Entschluß Raeders kam also gar nicht in Betracht. Als Untergebener von Hindenburg mußte er sich als Soldat mit der politischen Entscheidung, die Hindenburg als Reichspräsident getroffen hatte, abfinden. Die verfassungsmäßige Grundlage hinsichtlich der Wehrmacht änderte sich dadurch, daß Hitler zur Macht kam, in keiner Weise. Raeder wurde als Chef der Marineleitung an dieser politischen Entscheidung nicht beteiligt, ebensowenig wie er in der Vergangenheit beteiligt worden war, wenn Müller von der Sozialdemokratischen Partei oder Brüning von der Zentrumspartei Reichskanzler wurden.

Es lag für Raeder auch keine Veranlassung vor, etwa anläßlich dieser innenpolitischen Entscheidung seinen Dienst zu quittieren, denn Hitler setzte bei der ersten Besprechung vom 2. Februar 1933 und besonders auch anläßlich des ersten Marinevortrags im gleichen Monat Raeder und den übrigen Militärs auseinander, daß an der Wehrmacht nichts geändert werde und daß die Wehrmacht entsprechend Verfassung und Wehrgesetz unpolitisch bleiben müsse. Bei dem Marinevortrag entwickelte Hitler, wie die Aussagen Raeders und Schulte-Möntings beweisen, seine Grundgedanken hinsichtlich einer friedlichen Politik, wozu es notwendig sei, trotz der von ihm erstrebten friedlichen Revision des Versailler Vertrags mit England zu einer vernünftigen vertraglichen Vereinbarung über den Ausbau der Marine im Zusammenhang mit den allgemeinen Seerüstungsbeschränkungen zu kommen. Bei dieser Unterhaltung gab Hitler klar zu erkennen, daß er kein Wettrüsten in der Marine veranstalten wolle und daß der Ausbau der Marine nur in freundschaftlicher Verständigung mit England erfolgen dürfe. Das war ein Gedanke, der absolut der grundlegenden Auffassung Raeders und der Marine entsprach. Es wäre eine Unmöglichkeit gewesen, wenn Raeder bei dieser Grundlage zu seinem Vorgesetzten Hindenburg gegangen wäre und erklärt hätte, er könne wegen Hitler nicht mehr die Marine leiten.

Nun meint allerdings die Anklage, daß die damaligen führenden Männer in Deutschland aus Hitlers Buch »Mein Kampf« die wahren Absichten Hitlers bereits gekannt hätten. Die Anklage hat, teilweise aus dem Zusammenhang gerissen, zum Beweise verschiedene Zitate aus Hitlers Propagandabuch aus dem Jahre 1924 zitiert. Diese Argumentation der Anklage erscheint nicht richtig, und zwar deshalb nicht, weil Hitler dieses Buch als Privatmann, als oppositioneller Parteimann, geschrieben hatte. Auch in diesem Prozeß ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Äußerungen ausländischer Privatmänner irrelevant sind, selbst wenn diese Ausländer einen noch so bekannten Namen haben und später – ebenso wie Hitler – eine Stellung in der Regierung erhalten haben. Raeder durfte wie jeder andere damit rechnen, daß Hitler als Reichskanzler nicht alle Parteidoktrinen aufrechterhalten werde, die er Jahre vorher als reiner oppositioneller Parteimann aufgestellt hatte, zumal dann nicht, wenn die Äußerungen Hitlers auf militärischem Gebiet diesen früheren Parteiideen widersprachen. Überdies war für die Marine immer das Verhältnis zu England entscheidend, und gerade in dieser Beziehung hatte Hitler sogar in seinem Buche »Mein Kampf« auf Seite 154 wörtlich erklärt:

»Für eine solche Politik allerdings gab es in Europa nur einen einzigen Bundesgenossen: England.«4

Überdies muß man den von der Anklage gebrachten Zitaten entgegenhalten, daß sie sämtlich einer Auflage aus dem Jahre 1933 entnommen sind und das Generalsekretariat trotz großer Bemühungen eine frühere Auflage, insbesondere die erste Ausgabe aus den Jahren 1925 und 1927, nicht hat beschaffen können. Es ist bekannt, daß Hitler selbst an zahlreichen Stellen sein Buch in den späteren Jahren in vielen Punkten geändert hat; infolgedessen können die Zitate aus einer Auflage aus dem Jahre 1933 nicht ohne weiteres zugrunde gelegt werden.

Mußte Raeder in den folgenden Jahren erkennen, daß Hitler von dem geschilderten Grundgedanken einer Verständigungspolitik mit England abweichen wollte, und kann man mit der Anklage argumentieren, daß Raeder zu irgendeinem Zeitpunkt vor 1939 seine weitere Mitwirkung hätte verweigern müssen?

Ich bin der Meinung, daß diese Frage verneint werden muß und daß sich die Notwendigkeit der Verneinung ohne weiteres aus der Zusammenstellung verschiedener Tatsachen ergibt, die von der Anklage oder der Verteidigung im Rahmen der Beweisführung vorgebracht sind:

Am 2. August 1934 starb Hindenburg, und die Anklagevertretung macht Raeder zum Vorwurf, daß er daraufhin einen Eid geleistet habe und insbesondere, daß er in diesem Eid an die Stelle des Vaterlandes den Führer gesetzt habe.5

Der Fall ist in der Beweisführung genügend geklärt. Ich brauche daher nur noch darauf hinzuweisen, daß die Anklagebehörde sich in ihrer Behauptung geirrt hat; sie hat selbst das Dokument D-481 vorgelegt, aus dem sich der von Hitler verlangte Diensteid der Soldaten der Wehrmacht ergibt. Es handelt sich bei diesem Dokument um ein Gesetz, das von Hitler, Frick und Blomberg unterzeichnet ist. Demnach steht fest, daß nicht Raeder an die Stelle des Vaterlandes Hitler setzte, sondern daß Hitler diesen Eid auf sich als Oberbefehlshaber der Wehrmacht von allen Soldaten verlangt hat. Bevor dieser von Hitler geschickt erdachte und für die spätere Zeit verhängnisvolle Eid verlangt wurde, ist Raeder weder orientiert, noch gar über den Text des Eides befragt worden; er wurde einfach in die Reichskanzlei bestellt, ohne zu wissen, um was es sich handelte.

Die Frage, welchen Eid ein Soldat leistet, ist wiederum eine politische Frage, eine Frage der Gesetzgebung, auf die Raeder als Soldat und Oberbefehlshaber der Marine keinen Einfluß hatte.

Die Anklage wirft Raeder vor, daß er über zahlreiche politische Entscheidungen orientiert worden sei und als Oberbefehlshaber der Marine gelegentlich dieser politischen Maßnahmen strategische Planungen und Vorbereitungen getroffen habe. Es handelt sich um die Fälle des Austritts aus dem Völkerbund am 14. Oktober 1933, die Besetzung des Rheinlandes am 7. März 1936, den Anschluß von Österreich im März 1938, die Eingliederung des Sudetenlandes im Herbst 1938 und die Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren im März 1939.6

Es handelt sich im wesentlichen um die in der Anmerkung hier genau bezeichneten Urkunden, die ich in diesem Zusammenhange gemeinsam behandeln kann.

Allen diesen Entscheidungen ist das eine gemeinsam, daß nämlich Raeder an keiner der Entscheidungen politisch mitgewirkt hat. Raeder wurde niemals vorher gefragt, und er hatte als Oberbefehlshaber der Marine auch keine Befugnis, an derartigen Entschlüssen mitzuwirken. Raeder hat nichts weiter getan, als diese Urkunden und Mitteilungen entgegengenommen und hat daraufhin diejenigen Anordnungen getroffen, die militärisch von ihm vorsorglich für den Fall getroffen werden sollten, der etwa bei kriegerischen Komplikationen entstehen könnte. Es erscheint völlig unverständlich, wie einem Oberbefehlshaber eines Wehrmachtsteiles daraus ein Vorwurf gemacht werden soll, daß er strategische Vorbereitungen für den Fall einer politischen Komplikation traf. Ich glaube, daß es in der ganzen Welt immer das gleiche ist, daß ein Admiral an den politischen Entschlüssen nicht beteiligt wird, aber verpflichtet ist, gewisse vorsorgliche Vorbereitungen zu treffen, wenn die Staatsführung politische Entschlüsse gefaßt hat. Es handelt sich auch hier wieder um die von mir schon erwähnte Diskrepanz hinsichtlich der Stellung eines militärischen Befehlshabers, welche die Anklage als politisch ansieht, während es sich in Wirklichkeit um eine rein militärische Stellung handelt. Es dürfte kein Zweifel sein, daß zu genau den gleichen Zeiten in der militärischen Befehlsführung der ausländischen Staaten, die von den politischen Entscheidungen betroffen wurden oder an den politischen Entscheidungen interessiert waren, ebenfalls vorsorglich militärische Planungen getroffen wurden.

Ob diese politischen Entschlüsse Hitlers ein Verbrechen waren oder auch nur ein völkerrechtlicher Verstoß, konnte ein militärischer Oberbefehlshaber nicht beurteilen, besonders dann nicht, wenn er in keinem Falle zur Beratung hinzugezogen wurde. Weder der Austritt aus dem Völkerbund infolge der mißglückten Versuche zur Abrüstung aller Länder im Sinne des Versailler Vertrags noch die Besetzung des Sudetenlandes oder die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren konnten als verbrecherische Handlungen im Sinne der Anklage für den unbeteiligten Oberbefehlshaber angesehen werden. Sicherlich waren es Abweichungen vom Versailler Vertrag, aber selbst der britische Hauptankläger, Sir Hartley Shawcross, erklärte am 4. Dezember 1945 in diesem Gerichtssaal, daß manche Einwendungen gegen Versailles vielleicht berechtigt waren.7

Und selbst Justice Jackson hat, wie oben zitiert, erklärt, daß zur Revision des Vertrags die kühnsten Maßnahmen gerechtfertigt gewesen wären, nur nicht der Krieg. Tatsächlich sind die erwähnten Maßnahmen Deutschlands sämtlich ohne Krieg durchgeführt, fallen also unter die von Justice Jackson als berechtigt angesehenen Maßnahmen, um so mehr, als alle diese Maßnahmen vom Auslande stillschweigend geduldet wurden beziehungsweise sogar, wie die Eingliederung des Sudetenlandes, durch vertragliche Vereinbarung, nämlich durch das Münchener Abkommen vom September 1938 oder aber durch Vereinbarung mit dem betroffenen Lande selbst, wie im Falle Österreich. Wenn nun die Anklage im Falle Österreich und im Falle der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, objektiv und nachträglich gesehen, sicherlich mit Recht darauf hinweist, daß Hitler hierbei äußerst bedenkliche und vielleicht sogar strafbare Mittel angewandt hat, so hat dies für den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine keine Bedeutung, da feststeht, daß er über die Handlungen nicht orientiert wurde, geschweige denn über die angewandten Mittel. Insbesondere steht fest, daß Raeder weder die Einzelheiten bezüglich des Anschlusses von Österreich erfuhr noch gar die Art der Verhandlungen, die zu einem Abkommen mit dem Präsidenten Hácha führten. Die Verhandlungen mit Hácha kamen ihm nicht zur Kenntnis, ebensowenig wie die dabei ausgesprochene Drohung eines Bombardements von Prag, wobei ich auf die Aussagen der Zeugen Raeder und Schulte-Mönting Bezug nehmen darf. Für Raeder waren also alle diese Maßnahmen völkerrechtlich zulässige Handlungen beziehungsweise Verträge, die zu keinem Einschreiten und zu keiner Rückfrage bei Hitler veranlassen konnten, ganz abgesehen davon, daß dieses Recht einem militärischen Befehlshaber überhaupt nicht zusteht.

Überdies hätte es sich, selbst wenn Komplikationen entstanden wären, auch militärisch gesehen, ausschließlich um Operationen auf dem Lande gehandelt, was sich ohne weiteres aus der Lage der betroffenen Länder ergibt. Es wäre eine Unmöglichkeit gewesen, wenn der fast überhaupt nicht interessierte Oberbefehlshaber der Kriegsmarine sich um diese Dinge gekümmert hätte, obwohl fast gar keine Vorbereitungen der Marine in Betracht kamen. Man denke nur an den Fall der Tschechoslowakei, wo in der Urkunde 388-PS für die Marine lediglich bestimmt ist, daß sie sich an den eventuellen Operationen des Heeres durch den Einsatz der Donauflottille beteiligt, welche zu diesem Zweck unter den Befehl des Oberkommandos des Heeres tritt; eine Flottille, die aus kleinsten Schiffen bestand, und zwar, wenn ich mich recht erinnere, aus wenigen Kanonenbooten.

Weiter zitiere ich zur Argumentation in diesem Zusammenhang die Worte von Sir Hartley Shawcross vom 4. Dezember 1945 zum deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934:

»Durch den Abschluß dieses Abkommens überzeugte er« – Hitler – »viele Leute, daß seine Absichten wirklich friedlich seien...«8

Demgemäß mußte auch Raeder überzeugt sein.

Es ist richtig, daß Raeder dem im Februar 1938 geschaffenen Geheimen Kabinettsrat angehörte. Ebenso richtig ist aber die inzwischen bewiesene Tatsache, daß der Geheime Kabinettsrat eine reine Farce gewesen ist. Es erübrigt sich daher, diesen von der Anklage anfangs so wichtig genommenen Punkt zu behandeln.

In gleicher Weise ist die Behauptung der Anklage widerlegt, daß Raeder Regierungsmitglied und Reichsminister gewesen sei. Die Behauptung der Anklage ist von vornherein unverständlich gewesen. Das von der Anklage vorgelegte Dokument 2098-PS sagt mit absoluter Deutlichkeit lediglich, daß der Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine – ich zitiere – »dem Reichsminister im Range gleichsteht«. Damit ist bewiesen, daß er kein Minister war, sondern nur aus Gründen der Etikette im Range einem Reichsminister gleichstand. Daraus folgt, daß Raeder auch durch diesen Erlaß Hitlers keine politische Aufgabe erhielt, wie die Anklage so gern möchte. Hinzu kommt, daß er durch diesen Erlaß nicht einmal das Recht erhält, an Kabinettssitzungen auf eigenen Wunsch teilzunehmen, sondern, wie in der genannten Urkunde von Hitler geschrieben ist, nur – ich zitiere – »nach meiner Anordnung«. Das bedeutet also nichts weiter, als daß Raeder auf Anordnung Hitlers zu einer Kabinettssitzung hätte hinzugezogen werden können, wenn es sich in der Kabinettssitzung um marinetechnische Angelegenheiten gehandelt hätte. Tatsächlich ist es zu diesem politisch gleichgültigen, hypothetischen Fall niemals gekommen.

Ebensowenig kann die Zugehörigkeit zum Reichswehrverteidigungsrat auf Grund des Dokuments 2194-PS9 als belastend angesehen werden. Einerseits handelt es sich, wie der Wortlaut ergibt, nur um – ich zitiere – »Maßnahmen für die Vorbereitung der Reichsverteidigung«, also weder um eine politische Tätigkeit noch um eine Tätigkeit, die etwas mit Angriffskriegen in politischem Sinne zu tun hat. Außerdem gehörte Raeder entgegen der Behauptung der Anklage, laut Dokument 2018-PS, einem späteren Führererlaß vom 13. August. 1939 dem dann geschaffenen Ministerrat für die Reichsverteidigung überhaupt nicht an, und zwar einfach deshalb nicht, weil er kein Minister war. Andererseits kennen andere Länder ebenso die Einrichtung eines Reichsverteidigungsrates oder eines Reichsverteidigungsausschusses. Ich erinnere an die bekannte Tatsache, daß bei der Britischen Regierung schon lange vor dem ersten Weltkriege ein Reichsverteidigungsausschuß bestanden hat, dem eine sehr viel größere Bedeutung zukam10 als dem entsprechenden Institut in Deutschland.

Als letzten Einzelpunkt in diesem Zusammenhang möchte ich anführen, daß auch die Behauptung der Anklage, Raeder sei Parteimitglied gewesen, sich als unhaltbar erwies. Raeder hat zwar von Hitler das goldene Ehrenzeichen erhalten; es war aber nichts anderes als eine Ordensverleihung und konnte nichts anderes sein, weil ein Soldat der Partei nicht angehören kann. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus Paragraph 36 des Wehrgesetzes, wonach sich Soldaten politisch nicht betätigen dürfen und ihnen die Zugehörigkeit zu politischen Vereinen verboten ist.11

Im übrigen verweise ich auf die Beweisführung, aus der sich zur Genüge ergab, daß Raeder niemals Beziehungen zur Partei gehabt hat, daß er vielmehr des öfteren Differenzen mit Parteikreisen hatte und wegen seiner politischen, besonders kirchlichen Einstellung von typischen Nationalsozialisten abgelehnt wurde; er wirkte zum Beispiel auf Goebbels wie ein rotes Tuch. Das war auch kein Wunder; denn einerseits hat er immer wieder verhindert, daß die Partei irgendeinen Einfluß auf das Offizierskorps der Marine erhielt, und andererseits hat er im Gegensatz zur Partei im weitesten Maße die Kirche unterstützt und dafür gesorgt, daß der Geist der Marine eine christliche Grundlage erhielt. Ich darf in diesem Zusammenhang auf den typisch nationalsozialistischen Satz von Bormann verweisen. Ich zitiere:

»Nationalsozialistische und christliche Auffassungen sind unvereinbar.«12

In demselben Dokument hat Bormann wie so oft in kulturwidrigen Gedankengängen sich so stark gegen das Christentum ausgesprochen, so stark das Vernichten aller christlichen Gedanken propagiert, daß diese Parteieinstellung ausreichend beweist, daß Raeder als überzeugter Christ niemals zur Partei Verbindung aufnehmen konnte.13

Ich habe bereits dargelegt, daß Hitler 1933 gesagt hatte, daß es eine Grundlage seiner Politik sein würde, Deutschland auf friedlichem Wege wieder zu einem gesunden und kräftigen Staate zu machen, und daß es zu einer friedlichen Entwicklung unbedingt notwendig sei, die englische Vormachtstellung anzuerkennen und sich mit England über den Umfang der deutschen Flotte zu verständigen und möglichst sogar zu einem Bündnis zu kommen. Diese Gedanken deckten sich mit der Grundeinstellung Raeders, welche dieser bei seiner Vernehmung im einzelnen darlegte. Im Rahmen meiner Verteidigung mag es dahinstehen, ob und wann Hitler diesen Grundgedanken verlassen hat. Denn jedenfalls hat Hitler Raeder gegenüber immer wieder diesen Grundgedanken hervorgehoben und auch durch Taten bewiesen; der immer wiederkehrende Grundgedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die ganzen Jahre bis zum Kriegsausbruch. Die Ausführung des Gedankens führte zum Abschluß des deutsch-englischen Flottenabkommens im Jahre 1935, des zweiten deutsch-englischen Flottenabkommens im Jahre 1937, zur Vereinbarung über die U-Boote mit Lord Cunningham im Jahre 1938 und zum Londoner Protokoll vom 30. Juni 1938 hinsichtlich der Schlachtschiffe; also die ganzen Jahre auf dem Gebiete des Ausbaues der deutschen Flotte immer die gleiche Idee, nämlich immer die Idee, mit England einig zu sein, Englands Vormachtstellung anzuerkennen und jede Differenz zu vermeiden, die zu einem Bruch mit England führen könnte. Nachträglich, in Kenntnis aller Dokumente und aller Tatsachen, die in diesem Prozeß bewiesen sind, mag es feststehen, daß Hitler zu irgendeiner Zeit, wahrscheinlich im Jahre 1938, seinen eigenen Gedanken untreu geworden ist, und daß er dadurch das tragische Schicksal Deutschlands verschuldet hat. Für die Beurteilung der gegen Raeder erhobenen Vorwürfe ist aber nicht entscheidend, was nachträglich in Kenntnis aller Tatsachen als objektiv richtig anzuerkennen ist, sondern es ist allein entscheidend, ob Raeder diese Abweichung Hitlers von seinen eigenen Ideen erkannt hat oder auch nur erkennen konnte. Das ist jedoch nicht der Fall. Raeder konnte nicht ahnen, geschweige denn wissen, daß Hitler seinen eigenen politischen Ideen, die er immer wieder betont und bewiesen hatte, irgendwann untreu wurde und damit die entsetzliche Gefahr des zweiten Weltkrieges hervorrief und verschuldete, Raeder konnte nicht ahnen und wissen, daß Hitler ihm gegenüber auch in der letzten Zeit vor Ausbruch des Krieges anders sprach als er dachte und auch anders sprach als er handelte. Gerade auf dem Gebiete der Marine zeigte der verhältnismäßig langsame Ausbau der deutschen Flotte, daß Hitler den geschilderten Gedankengängen treu bleiben wollte. Eine Sinnesänderung Hitlers auf diesem Gebiete ließ sich nicht erkennen; denn eine Sinnesänderung hätte zur Folge haben müssen, daß er gerade die Marine umfangreicher ausbaute, als er es getan hat. Er hätte zum mindesten die Möglichkeiten des deutsch-englischen Flottenabkommens vollständig ausnützen müssen. Nach dem Flottenabkommen durfte sich die deutsche Flotte auf 420595 Tonnen belaufen.14 Tatsächlich ist jedoch diese Höchstgrenze nicht ausgenutzt worden. Sogar hinsichtlich der Schlachtschiffe blieb Deutschland hinter dem Flottenabkommen zurück mit der Folge, daß die Schlachtschiffe »Bismarck« und »Tirpitz« im ersten Kriegsjahr und so auch bei der Besetzung Norwegens noch nicht zur Verfügung standen; »Bismarck« wurde erst im August 1940 und »Tirpitz« im Jahre 1941 fertig.15

Nach dem Flottenabkommen durfte Deutschland die gleiche U-Boottonnage haben wie England. Tatsächlich wurde jedoch der U-Bootbau so wenig forciert, daß, wie die Beweisführung ergeben hat, Deutschland zu Beginn des Krieges im Jahre 1939 nur die minimale Anzahl von 26 atlantikfähigen U- Booten zur Verfügung hatte. Und weiter: Noch Ende Mai 1939 wurde laut Dokument L-79, dem sogenannten »Kleinen Schmundt«, wörtlich festgelegt, daß – ich zitiere – »an dem Schiffsbauprogramm nichts geändert wird«.

All diese Dinge mußten bei dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine von seinem Standpunkt und von seinem Fachgebiete aus den festen Glauben erwecken, daß Hitler seine oft betonte Grundlinie, es zu keinem Kriege kommen zu lassen, beibehalten wollte.

Dieser feste Glaube von Raeder wurde – und das erscheint wichtig – in weiterem Umfange durch die Haltung des Auslandes bestärkt.

Winston Churchill hat im Jahre 1935 in seinem Buche »Große Zeitgenossen« geschrieben16 – ich zitiere:

»Es ist nicht möglich, ein gerechtes Urteil über eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die die enormen Ausmaße von Adolf Hitler erreicht hat, zu fällen, bevor ihr Lebenswerk als Ganzes vor uns steht... Wir können nicht sagen, ob Hitler der Mann sein wird, der noch einmal einen Weltkrieg entfesseln wird, in welchem die Zivilisation unwiderruflich untergehen wird, oder ob er in die Geschichte eingehen wird als der Mann, der die Ehre und den Friedenssinn für die große deutsche Nation wieder hergestellt und sie heiter, hilfreich und stark in die erste Reihe der europäischen Völkerfamilie zurückgeführt hat.«

Ein Jahr später, bei den Olympischen Spielen in Berlin im Jahre 1936, erschienen die Vertretungen des Auslandes geschlossen und haben Hitler in einer Weise begrüßt, die in Zustimmung und teilweiser Begeisterung vielen skeptisch eingestellten Deutschen unverständlich war. In der Folgezeit haben die größten ausländischen Politiker und auch Regierungsmitglieder Hitler besucht und sich mit ihm vollauf verstanden und schließlich, im Herbst 1938, kam es unter Chamberlain und Lord Halifax wiederum zu einer Verständigung, die Hitler ungeheuer stärkte und durch die Hitler den Deutschen zu beweisen suchte, wie richtig alle seine Handlungen gewesen waren, da sie vom Auslande anerkannt wurden. Man kann und darf die Bedeutung der programmatischen Erklärung, die Chamberlain und Hitler in München am 30. September 1938 abgaben, gar nicht hoch genug einschätzen. Ich möchte deshalb aus dieser Erklärung die beiden ersten entscheidenden Sätze zitieren:

»Wir haben heute eine weitere Besprechung gehabt und sind uns in der Erkenntnis einig, daß die Frage der deutsch-englischen Beziehungen von allererster Bedeutung für beide Länder und für Europa ist.

Wir sehen das gestern abend unterzeichnete Abkommen und das deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker an, niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen.«

Ich glaube, daß diese Hinweise genügen, und frage:

Kann man verlangen, daß ein Großadmiral, der nie Politiker und immer Soldat gewesen ist, in der Beurteilung Hitlers weiterschauend sein sollte als die großen britischen Staatsmänner Chamberlain und Churchill? Ich glaube, daß die Stellung der Frage bereits die Verneinung der Frage in sich trägt.

Die Anklagevertretung kann diesen zahlreichen Gesichtspunkten ernsthaft nur einige wenige Dokumente gegenüberstellen, die für eine Kenntnis Raeders von Angriffsplänen Hitlers sprechen könnten. Die Anklage hat zwar zahllose Dokumente vorgelegt, bei denen sie darauf hinwies, daß Raeder oder die Seekriegsleitung oder das Oberkommando der Kriegsmarine eine Ausfertigung erhielt. Bei einer ganz beträchtlichen Anzahl von Dokumenten konnte die Anklage aber nichts weiter vorbringen als die Tatsache, daß Raeder eine Ausfertigung bekam, während ein sachlicher Zusammenhang meist nicht bestand und auch nicht von der Anklage dargelegt wurde. Es ist selbstverständlich kein Wunder, daß militärische Dokumente der Einheitlichkeit halber an alle Wehrmachtsteile gingen, auch wenn im Einzelfalle der eine Wehrmachtsteil nicht oder kaum daran beteiligt war. Wirklich belastend können von allen diesen Dokumenten im Fragenkomplex Raeder nur die vier Dokumente sein, welche die Anklage wegen ihrer Bedeutung als Schlüsseldokumente bezeichnete. Es handelt sich um die vier Reden Hitlers vor den Oberbefehlshabern vom 5. November 1937, 23. Mai 1939, 22. August 1939, 23. November 1939.17

Die Anklage behauptet, daß sich aus diesen Reden die Verschwörungsteilnahme ergibt und daß aus diesen Reden klar zu erkennen ist, daß Hitler Angriffskriege führen wollte. Ich möchte deshalb zu diesen Dokumenten im einzelnen Stellung nehmen und dabei zeigen, warum auch diese Dokumente das Gesamtbild, das ich gegeben habe, nicht beeinflussen können.

Zweifellos sind diese Schlüsseldokumente äußerst wichtig für die nachträgliche geschichtliche Feststellung, welche Gedankengänge Hitler geleitet haben; und zwar deshalb, weil es Meinungsäußerungen Hitlers sind und es sonst trotz des gewaltigen Umfanges des erbeuteten Dokumentenmaterials fast keine schriftlichen Aufzeichnungen Hitlers gibt. Zunächst ist auch der Gedanke bestechend, daß der Inhalt wahr sein muß, weil es sich um Meinungsäußerungen handelt, die nur vor einem kleinen Kreise vorgetragen sind, vor dem sich Hitler naturgemäß eher decouvrierte als in seinen öffentlichen Reden. Wenn ich auch den Wert der Urkunden keineswegs verkenne, so glaube ich trotzdem, daß die Anklagevertretung die Bedeutung dieser vier Urkunden weit überschätzt. Sicherlich sind es in gewissem Umfange Schlüsseldokumente, und zwar insofern, als sie den Schlüssel dafür geben, Hitler psychologisch zu erkennen und Hitlers Methoden zu erfassen. Die Dokumente sind aber keine Schlüssel für die wirklichen Planungen Hitlers und erst recht kein Maßstab für die Schlußfolgerungen, die der Zuhörer nach Ansicht der Anklage aus diesen Dokumenten hätte ziehen müssen. Um den Wert der Urkunden in dieser Richtung vollständig zu erfassen, möchte ich einige generelle Punkte vorweg zusammenstellen, die für jedes dieser vier Dokumente in gleicher Weise gelten. Alle diese Punkte geben eine Einschränkung des von der Anklage überschätzten Beweiswertes dieser Urkunden.

Keine dieser Reden ist stenographisch aufgenommen, von keiner Rede liegt also der wirkliche Wortlaut vor. Dementsprechend hat Hoßbach in der Niederschrift über den 5. November 1937 richtig die indirekte Rede gewählt, ebenso wie Generaladmiral Boehm mit seiner Niederschrift über die Rede vom 22. August 1939.18 Überraschenderweise und nicht ganz korrekt hat Schmundt in der Niederschrift über den 23. Mai 1939 die direkte Rede gewählt, obwohl es keine wörtliche Aufzeichnung ist; er ist aber wenigstens vorsichtig gewesen und hat zu Beginn erklärt, daß die Ausführungen Hitlers »sinngemäß« wiedergegeben werden. Die schwächsten Urkunden, nämlich die beiden Fassungen über die Reden vom 22. August 1939, welche die Anklage vorlegte, haben die direkte Rede gewählt und die Urheber dieser Urkunden, deren Namen nicht bekannt sind, haben es nicht einmal für nötig gehalten, einen Hinweis zu gebrauchen, wie Schmundt es tat. Wie dem aber auch sei, es ist bei der Betrachtung der Urkunden festzuhalten, daß keine wörtliche Wiedergabe erfolgte und daher die Zuverlässigkeit der Wiedergabe von der Arbeitsweise und Einstellung des Urhebers der Urkunde abhängt, insbesondere davon, ob und wie viele Notizen der Betreffende sich während der Rede gemacht hat und wann er seine Niederschrift anfertigte. In dieser Beziehung erscheint wichtig, daß der Adjutant Hoßbach die Niederschrift, wie die Urkunde 386-PS zeigt, erst volle fünf Tage später vorgenommen hat, nämlich erst am 10. November, während die Rede schon am 5. November gehalten wurde. Im Falle Schmundt fehlt überhaupt ein Datum für die Niederschrift und ebenso in den beiden Anklagedokumenten über die Rede vom 22. August 1939. Bei den letzteren fehlt auch die Unterschrift, so daß hier nicht einmal gesagt werden kann, wer überhaupt die Verantwortung für die Niederschrift trägt. Das gleiche gilt für das Dokument über die Rede vom 23. November 1939, so viele formale Fehler, ebenso viele Bedenken gegen den Beweiswert und die Zuverlässigkeit der Urkunden.

Anders liegt es bei der Urkunde Boehm, der in seinem Affidavit eidesstattlich versichert, daß er die Rede Hitlers fortlaufend mitgeschrieben und an besonders wichtigen Stellen den Wortlaut aufgezeichnet hat und der ferner versichert, daß er noch am gleichen Abend die endgültige hier vorliegende Fassung niederschrieb. Wenn schon bei allen diesen Urkunden der Wortlaut nicht vorhanden ist, so liegt es auf der Hand, wie wichtig es ist, wenn wenigstens feststeht, daß die Niederschrift gleichzeitig mit der Rede beziehungsweise noch am selben Tage vorgenommen wurde und nicht wie im Falle Hoßbach fünf Tage später. Selbst beim besten Gedächtnis kann auch der beste Adjutant, an den täglich überaus viele Dinge neu herantreten, unmöglich nach fünf Tagen noch eine absolut zuverlässige Wiedergabe einer Rede anfertigen.

Ebenso wichtig ist der zweite Punkt, nämlich die Tatsache, daß es sich im Gegensatz zu sonstigen militärischen Dokumenten um keine offiziellen Schriftstücke mit einem Verteiler handelt, also um keine Schriftstücke, welche den Beteiligten nachträglich zugingen. Daß die Schriftstücke Raeder nicht zugegangen sind, wurde in der Beweisaufnahme durch ihn und durch den Zeugen Schulte-Mönting festgestellt, abgesehen davon, daß es sich schon aus dem Fehlen eines Verteilers ergibt. Gerade dieser Punkt erscheint mir aber von großer Bedeutung. Das einmalige Anhören einer Rede – und Hitler sprach wie bekannt außerordentlich schnell – veranlaßt den Hörer nicht so sehr zu Schlußfolgerungen wie das Vorliegen eines Protokolls, an Hand dessen er sich nachträglich über den Inhalt der Rede immer wieder vergewissern kann. Wir, die wir diese Reden jetzt im Prozeß auf schriftlichem Wege kennenlernten und immer wieder von neuem wegen des Wortlautes zur Hand genommen haben, nehmen naturgemäß die einzelnen Worte und Sachwendungen wichtiger, als wir es von einer schnell gesprochenen Rede getan hätten. Hinzu kommt, daß wir alle leicht geneigt sind, die einzelnen Satzwendungen wichtiger zu nehmen, weil wir alles vom jetzigen Standpunkte und von unserer größeren Kenntnis nun besser übersehen können; denn wir haben nicht nur als Unterlagen eine Rede, sondern gleich alle Reden, und zur Ergänzung alle die vielen anderen Dokumente, die die geschichtliche Entwicklung zeigen. Bei der Diskussion über diese Dokumente wird man immer sich vor Augen halten müssen, wie verschieden der einzelne Zuhörer auf das gesprochene Wort reagiert und wie häufig schon nach wenigen Stunden die Berichte verschiedener Hörer voneinander abweichen.

Die Anklage sieht in diesen Reden Hitlers die Grundlage der Verschwörung und stellt es so dar, als hätte sich bei dieser Gelegenheit Hitler mit den Befehlshabern beraten und wäre dann mit ihnen zu einem bestimmten Verschwörungsplan und einem bestimmten Entschluß gekommen. Dies muß die Anklage behaupten, denn darin liegt die Grundlage einer Verschwörung, von der nur dann gesprochen werden kann, wenn gemeinsam etwas geplant wird. In Wirklichkeit trat nicht, wie die Anklage sagt, eine einflußreiche Gruppe von Nazis zusammen, um die Lage zu prüfen und Beschlüsse zu fassen, sondern es war vielmehr eine einseitige Darstellung von Hitler, bei der keine Diskussion erfolgte und keine Beratung. Es wurde auch kein Beschluß gefaßt, sondern Hitler sprach vielmehr ganz allgemein, ich zitiere »über Entwicklungsmöglichkeiten«;19 soweit man überhaupt von Entschlüssen sprechen kann, handelte es sich lediglich um einen alleinigen Entschluß Hitlers. All dies widerspricht einer wirklichen Conspiracy. Überhaupt habe ich den Eindruck, daß die Anklage bei ihrer Konstruktion hinsichtlich einer Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen sich ein absolut falsches Bild von den wirklichen Machtverhältnissen im national-sozialistischen Staate gemacht hat. Sie verkennt meines Erachtens das Wesen einer Diktatur, und es mag auch tatsächlich schwer sein, die ungeheuere diktatorische Macht Hitlers zu verstehen, wenn man nicht selbst ständig die ganzen zwölf Jahre in Deutschland miterlebt hat, und zwar gerade auch in ihrer Entwicklung von den ersten Anfängen, bis sie schließlich zu einer Diktatur wurde, die mit dem schrecklichsten und grausamsten Terror arbeitete. Ein Diktator wie Hitler, der überdies offensichtlich eine ungeheuere suggestive und faszinierende Kraft ausübte, ist kein Präsident einer parlamentarischen Regierung. Ich habe den Eindruck, daß sich die Anklage bei der Beurteilung der Gesamtlage niemals ganz von den Ideen einer parlamentarischen Regierung freigemacht und niemals das kompromißlose Arbeiten eines Diktators in Rechnung gestellt hat. Wie sehr das Wesen Hitlers der Idee einer Verschwörung zwischen ihm und den Kabinettsmitgliedern oder zwischen ihm und den Befehlshabern widerspricht, zeigte sich im Laufe des Prozesses bei zahlreichen Zeugenvernehmungen. Ganz besonders prägnant wurde es aber bewiesen durch das Zeugnis des schwedischen Großindustriellen Dahlerus, der dank seiner gleich guten und gleich umfangreichen Beziehungen zu England und zu Deutschland sich im Laufe der Zeit ein objektives Bild über England und Deutschland machen konnte, und während seiner Verhandlungen mit Chamberlain und Halifax auf der einen Seite und Hitler und Göring auf der anderen Seite am besten den Unterschied der parlamentarischen Britischen Regierung und der deutschen Hitler-Diktatur erkannte. Aus der Schilderung von Dahlerus ergab sich überzeugend der unüberbrückbare Unterschied. Wenn er mit Chamberlain und Halifax gesprochen hatte, dann fand selbstverständlich vor endgültiger Entscheidung erst eine Besprechung mit dem Kabinett statt. Als Dahlerus hingegen in der Nacht vom 26. zum 27. August 193920 eine entscheidende Besprechung mit Hitler hatte, bei der lediglich Göring zugezogen war, hat Hitler sofort sechs Vorschläge gemacht, ohne auch nur mit irgendeinem Kabinettsmitglied oder irgendeinem militärischen Befehlshaber ein Wort zu sprechen, ja sogar ohne sich auch nur mit dem schweigend dabeisitzenden Göring zu beraten, überdies Vorschläge, die sich nicht genau mit dem deckten, was er selbst kurz vorher Sir Nevile Henderson gesagt hatte. Ein stärkeres Argument gegen eine Verschwörung mit Befehlshabern oder Kabinettsmitgliedern kann es kaum geben, es sei denn, die ebenso wichtige Tatsache, die der Zeuge Dahlerus hinzufügt, daß Göring die ganzen zweieinhalb Stunden kein Wort zu sagen gewagt habe und daß es beschämend gewesen sei, welche Unterwürfigkeit Hitler sogar von Göring als seinem engsten Mitarbeiter verlangte.21

Alle diese Reden von Hitler enthalten sehr viele Widersprüche. Durch derartige Widersprüche leidet naturgemäß die Klarheit der Gedankenführung und sie nehmen dem einzeln hervorgehobenen Gedanken seine Bedeutung. Wenn man die Dokumente vollständig liest, so sieht man die Anzahl der Widersprüche, worauf der Zeuge Admiral Schulte-Mönting im Verhör und im Kreuzverhör zutreffend hingewiesen hat. Gerade die Widersprüche und die vielfach unlogischen Gedanken vermindern den Beweiswert der Urkunden. Denn es ist zu verstehen, daß es für einen militärischen Adjutanten wie Hoßbach oder Schmundt schwierig ist, unklare und widerspruchsvolle Gedankengänge aufzuzeichnen, und es ist weiter zu verstehen, daß ein militärischer Adjutant dann dazu neigt, eine möglichst klare Linie hineinzubringen und dadurch dazu verführt wird, bestimmte ihm klar gewordene Gedanken stärker herauszuarbeiten, als sie in Wirklichkeit bei der gesprochenen Rede in Erscheinung traten. Hinzu kommt die sehr treffende Bemerkung Raeders, der nicht nur auf die Widersprüche hinweist, sondern besonders auf die übertriebene Phantasie Hitlers und ihn im Zusammenhang damit einen »Meister des Bluffs« nannte.22

Darüber hinaus verfolgte Hitler bei jeder derartigen Rede eine bestimmte Tendenz; er hatte ein bestimmtes Ziel im Auge, und zwar die besondere Einwirkung auf alle oder einige der Zuhörer, indem er entweder bewußt übertrieb oder absichtlich Dinge harmlos hinstellte, je nachdem, welches Ziel er im Auge hatte. Hitler sprach aus dem Augenblick heraus. Er machte sich, wie Schulte-Mönting sagt, von seinem Konzept frei. Er dachte laut und wollte die Zuhörer mit sich reißen, aber nicht beim Wort genommen werden.23 Man wird mir zugeben, daß derartige Gewohnheiten und derartige zweckbetonte Reden absolut keinen sicheren Anhaltspunkt für die wirkliche Meinung Hitlers in diesem Augenblick abgeben. Darüber hinaus noch ein weiterer, generell diese Urkunden betreffender Gesichtspunkt:

Raeder hat mit Hitler im Anschluß an die Ansprache vom 23. Mai 1939 im sogenannten »Kleinen Schmundt« eine Unterredung unter vier Augen gehabt und ihn auf Widersprüche aufmerksam gemacht, die in dieser Ansprache lagen und andererseits auf den Widerspruch zu den Worten, die Hitler ihm sonst schon persönlich gesagt hatte, nämlich, daß er auch den Fall Polen unter allen Umständen friedlich bereinigen würde. Hitler hat daraufhin Raeder absolut beruhigt und ihm gesagt, er habe die Dinge politisch fest in der Hand. Dies hat der Zeuge Schulte-Mönting ausgeführt.24 und hinzugefügt, daß Hitler Raeder durch ein Beispiel über den Widerspruch zwischen der Rede vom 23. Mai 1939 und seinen sonstigen Erklärungen beruhigte. Er sagte ihm, er, Hitler, habe drei Arten der Geheimhaltung; erstens das Gespräch unter vier Augen, zweitens die Gedanken, die er, Hitler, für sich selbst behalte, und drittens die Gedanken, die er selbst nicht einmal zu Ende denke. Ich glaube, daß diese Art des Denkens von Hitler am besten zeigt, wie wenig Verlaß letzten Endes demnach auf diejenigen Worte war, die Hitler in einem kleinen oder großen Kreise sprach. Es scheint mir daher verständlich, wenn Raeder sich bei seinen Überlegungen weder an die allgemeinen Reden Hitlers hielt noch an die hier behandelte Rede Hitlers vor den Oberbefehlshabern, sondern ausschließlich an dasjenige, was Hitler ihm unter vier Augen sagte. In der Beziehung ist aber übereinstimmend durch die Aussagen von Schulte- Mönting, Böhm und Albrecht25 bewiesen, daß Hitler unter vier Augen Raeder noch mehrfach im Jahre 1939 ausdrücklich zugesichert hat, daß es zu keinem Kriege kommen würde, und zwar immer dann, wenn Raeder aus irgendwelchen Gründen sorgenvoll war und Hitler auf Gefahren aufmerksam machte.

Ich glaube daher, zusammenfassend sagen zu können, daß die sogenannten Schlüsseldokumente äußerst interessant sind für die psychologische Beurteilung Hitlers, jedoch nur einen sehr bedingten und schwachen Beweiswert für die wirklichen Absichten Hitlers darstellen. Man kann nicht erwarten, daß Raeder sich von tendenziösen und zweckbestimmten Augenblicksreden Hitlers leiten ließ, sondern sich vielmehr ausschließlich auf das stützte, was Hitler ihm selbst zusicherte und darauf, daß diese Zusicherungen bis zum Sommer 1939, bis zum Ausbruch des Krieges, völlig im Einklang gestanden haben mit den Tatsachen und den Taten Hitlers, nämlich mit den vier Flottenabkommen und dem Münchener Abkommen. Es ist zu verstehen, wenn Raeder sich in dieser Grundeinstellung auch durch die zweifellos bedenklichen Reden vor den Oberbefehlshabern nicht erschüttern ließ, sondern fest daran glaubte, daß Hitler ihn nicht täuschen würde. Wenn wir jetzt nachträglich erkennen, daß Hitler Raeder letzten Endes in seinen Gesprächen unter vier Augen und auf Grund seines eben geschilderten speziellen zweiten und dritten Geheimhaltungsgrades doch getäuscht hat, so läßt sich daraus keine Schuld Raeders, sondern nur eine Schuld Hitlers konstruieren. Es kann darin angesichts des umfangreichen Beweismaterials auch im Jahre 1938/1939 keine völkerrechtswidrige Absicht Raeders zur Führung eines Angriffskrieges gesehen werden, sondern nur eine völkerrechtswidrige Absicht Hitlers zur Führung eines Angriffskrieges. Nachdem ich die Schlüsseldokumente generell behandelt habe, darf ich mit Erlaubnis des Gerichts noch ein paar Punkte zu jedem einzelnen Dokument sagen, nachdem die Anklagevertretung immer und immer wieder diese Dokumente als Grundlage ihres Beweises für die Verschwörung hervorgehoben hat.

Hoßbach-Dokument, Besprechung vom 5. November 1937 in der Reichskanzlei:

Die bedenklichen Sätze dieser Urkunde sind nicht zu verkennen, und sie sind oft genug von der Anklage vorgebracht worden. Demgegenüber ist aber bei der Betrachtung der Urkunde zu berücksichtigen, daß Göring und Raeder übereinstimmend ausgesagt haben, daß Hitler vorher angekündigt hat, daß er mit einer bestimmten Tendenz sprechen wolle. Hitler war mit den Maßnahmen Feldmarschalls von Blomberg und besonders des Generalobersten von Fritsch, des Oberbefehlshabers des Heeres, nicht einverstanden und fand, daß die Rüstung im Heer zu langsam fortschreite. Hitler hat daher absichtlich übertrieben, eine Tatsache, die nur Göring und Raeder wußten, so daß es selbstverständlich erscheint, wenn die Rede auf Neurath, der nichts von dieser Tendenz ahnte, einen anderen absolut alarmierenden Eindruck hervorrief. Interessant ist, daß offenbar Hitler nicht ganz das erreichte, was er wollte; denn die beiden letzten Absätze der Urkunde zeigen, daß Blomberg und Fritsch Hitler in gewisser Weise durchschauten und sich durch seine Übertreibungen nicht täuschen ließen. Obwohl Hitler bei derartigen Gelegenheiten keine Diskussion zuließ, griffen in diesem Falle Blomberg und Fritsch ein und wiesen auf die Notwendigkeiten hin, daß England und Frankreich nicht als Gegner Deutschlands auftreten dürften. Blomberg begründete seinen Einspruch, und Fritsch machte im vorletzten Absatz der Urkunde seine Skepsis gegenüber den Worten Hitlers noch besonders deutlich, indem er darauf hinwies, daß er unter diesen Umständen seinen am 10. November beginnenden Auslandsurlaub nicht durchführen könne. Es ist weiter bezeichnend, daß Hitler daraufhin einlenkte und im Gegensatz zu seinen früheren Worten nunmehr erklärte, daß er von der Nichtbeteiligung Englands überzeugt sei und daher auch an eine kriegerische Aktion Frankreichs gegen Deutschland nicht glaube. Die Unhaltbarkeit der hitlerischen Gedanken in dieser Urkunde ergibt sich weiter daraus, daß er seinen Ausführungen eine absolut phantastische Idee zugrunde legte, nämlich einen italienisch-französisch- englischen Krieg beziehungsweise ebenso phantastisch, einen Bürgerkrieg in Frankreich. Widerspruchsvoll sprach Hitler in dieser Rede einerseits von Anwendung von Gewalt, andererseits von einem Vorgehen Polens gegen Ostpreußen, was nur einen Verteidigungsgedanken betreffen konnte und sagte bezüglich der Tschechoslowakei, daß wahrscheinlich England und Frankreich die Tschechoslowakei bereits im stillen abgeschrieben hätten. Dieser Hinweis aber spricht dafür, daß Hitler verhandeln wollte, und dazu paßt die tatsächliche geschichtliche Entwicklung; er spricht vom Niederwerfen Österreichs und der Tschechoslowakei, hat aber im nächsten Jahre dann doch sowohl im März 1938 als auch im September 1938 verhandelt und beide Fragen ohne Krieg erledigt. Gerade diese Tatsache erscheint bedeutungsvoll, denn sie zeigte Raeder im Laufe der weiteren Entwicklung, daß er mit Recht den scharfen Worten Hitlers vom 5. November 1937 keinen übertriebenen Wert beigelegt hatte, da die tatsächlichen Verhandlungen Hitlers in der darauffolgenden Zeit hiermit nicht im Einklang standen.

Weiter hat Raeder bei seiner Vernehmung mit Recht darauf hingewiesen, daß gerade erst wenige Monate vorher das zweite umfangreiche Flottenabkommen mit England abgeschlossen war und er daher nicht annehmen konnte, daß Hitler ernsthaft die von ihm selbst eingeschlagene Linie verlassen wollte.

Und als letzten Gesichtspunkt noch diesen: Es handelt sich in der ganzen Urkunde auf der einen Seite um politische Fragen und auf der anderen Seite um eventuelle Operationen auf dem Lande.

Mit den politischen Fragen hatte Raeder nichts zu tun, da er kein Politiker ist, während Neurath naturgemäß diese politische Einstellung Hitlers als Außenminister wichtiger nehmen mußte. Ebenso wichtig ist, daß Neurath nach seiner Aussage Hitler auf Grund dieser Rede auch seinerseits nach seiner persönlichen Einstellung fragte und sein weiteres Verbleiben im Amte des Außenministers verweigerte, weil Hitler ihm gegenüber erklärte, daß dies seine wirklichen Absichten seien. Es scheint mir typisch für Hitler zu sein, daß er dem einen, Neurath, erklärte, er werde eventuell Krieg führen, während er dem anderen, nämlich Raeder, erklärte, er werde unter keinen Umständen Krieg führen. Diese verschiedenartige Stellungnahme beruhte offensichtlich darauf, daß er zu dieser Zeit Neurath als Außenminister nicht mehr schätzte, weil er wußte, daß Neurath ihm gegenüber in der Außenpolitik nicht so fügsam sein würde, wie der von ihm in Aussicht genommene Nachfolger Ribbentrop. Andererseits wollte er zu dieser Zeit Raeder noch unter allen Umständen als Oberbefehlshaber der Marine behalten. Auch hier wieder das zweckbestimmte Verhalten Hitlers, der stets ohne die geringste innere Hemmung dem Grundsatz huldigte: Der Zweck heiligt die Mittel.

Rede Hitlers am 23. Mai 1939, US-27, der sogenannte »Kleine Schmundt«:

Hitler sprach auch hier wieder in der bedenklichsten Weise, die man sich vorstellen kann. Er spricht vom Angriffsprogramm, von der Vorbereitung eines planmäßigen Angriffes und von dem Entschluß, Polen anzugreifen. Ich verkenne keineswegs, daß die Anklagevertretung mit Recht dieses Dokument als besonders gutes Beweismittel ansieht. Ich glaube aber, man wird im Falle Raeder unter Berücksichtigung der zahlreichen, von mir angeführten Gesichtspunkte der Urkunde einen sehr viel geringeren Beweiswert zubilligen müssen, als die Anklage möchte und als es auf den ersten Anblick der Wortlaut in der Schmundtschen Fassung gestatten könnte. Schmundt hat sich offensichtlich bemüht, die widerspruchsvollen, phantasiereichen und durcheinandergehenden Erklärungen Hitlers entsprechend seinem exakten militärischen Denken klar zu formulieren. Dadurch hat die Urkunde eine Klarheit bekommen, die der Rede Hitlers nicht entspricht. Wir wissen nicht, wann Schmundt die Urkunde aufgesetzt hat, und Schmundt hat es versäumt, die von ihm angefertigte Niederschrift den übrigen Beteiligten zu zeigen. Der Zeuge Admiral Schulte- Mönting hat gerade für diese Urkunde im Verhör und im Kreuzverhör auf die in ihr enthaltenen Widersprüche hingewiesen, die ich nicht zu wiederholen brauche. Noch wichtiger ist der entscheidende Punkt, nämlich der Widerspruch zwischen diesen Worten und den Worten, die Hitler zu der gleichen Zeit immer wieder Raeder gegenüber sprach und die immer auf der gleichen alten Linie lagen, daß kein Krieg von ihm beabsichtigt sei und daß er keine übertriebenen Forderungen stellen würde. Raeder war über diese Rede entsetzt und ist nur durch die Unterhaltung beruhigt worden, die er im Anschluß an diese Rede mit Hitler allein gehabt hat. Er glaubte Hitler, wenn dieser ihm bei der persönlichen Unterhaltung versicherte, daß er auch den Fall Polen unter allen Umständen friedlich bereinigen würde und mußte annehmen, daß Hitler ihm bei einer so präzisen Frage die Wahrheit sagen würde. Ich erinnere an die präzise Aussage über diese Urkunde in der Vernehmung von Raeder und in der Vernehmung des Zeugen Schulte-Mönting.26 Ich verweise besonders auf den von Schulte-Mönting bezeugten Vergleich Hitlers, der darauf hinweist, daß man nicht zum Gericht gehen würde, wenn man 99 Pfennige erhalten hätte und sich um eine Mark streite und die Schlußfolgerung zog, daß er das bekommen habe, was er politisch hätte haben wollen und es daher wegen der letzten politischen Frage, nämlich wegen des polnischen Korridors, nicht zu einem Kriege kommen könne.

Daß Raeder selbst unter keinen Umständen einen Angriffskrieg wollte und daß er in dieser Beziehung sich auf Hitlers Zusicherungen verließ, beweisen alle von mir gebrachten Zeugenaussagen, nicht zuletzt die von Dönitz bekundete Aussage, daß Raeder anläßlich der U-Bootsübung auf der Ostsee im Juli 1939 seine feste Überzeugung zum Ausdruck brachte, daß kein Krieg entstehen würde. Hinzu kam, daß Raeder wußte, daß die Marine unmöglich einen Seekrieg mit England führen könne, daß er dies Hitler immer wieder klargemacht hatte; er vertraute darauf, daß Hitler entsprechend seinen Worten auch in der polnischen Frage wieder verhandeln würde und – wie die Aussage des Zeugen Dahlerus zeigt – ist auch tatsächlich verhandelt worden, und zwar zunächst durchaus erfolgreich. Aus welchem Grunde der Versuch schließlich doch scheiterte und es zum zweiten Weltkriege kam, hat der Zeuge Dahlerus im einzelnen ausgeführt und damit die entsetzliche Tragik dieses Geschehens gezeigt. Es erscheint mir wichtig, daß noch im August 1939 nicht nur der Zeuge Dahlerus, sondern auch Chamberlain an den guten Willen Hitlers geglaubt haben. Auch hier deshalb wieder die gleiche Frage und die gleiche Antwort: Man kann nicht verlangen, daß Raeder als Soldat weiterschauend war und Hitlers gefährliche Ideen erkannte, wenn Männer wie Chamberlain, Halifax und Dahlerus selbst zu dieser Zeit Hitler noch nicht durchschaut haben.

Wenn ich selbst auf die Bedenklichkeit dieser Urkunde und auf das Belastende hingewiesen habe, so bitte ich zu berücksichtigen, daß sich das Belastende, ebenso wie bei der Urkunde vom 5. November 1937, auf das Politische erstreckt. Ich habe als Verteidiger des Oberbefehlshabers der Marine den Tatbestand nicht politisch zu beurteilen, sondern militärisch. Vom militärischen Standpunkt aus kann man jedoch der Argumentation der Anklage unter keinen Umständen folgen, denn das Militär ist nicht berechtigt, sich an dar Entscheidung über Krieg und Frieden zu beteiligen, sondern ist lediglich verpflichtet, diejenigen militärischen Vorbereitungen zu treffen, welche die politische Führung für notwendig hält. Ein Admiral hat in keinem Lande der Welt ein Urteil darüber abzugeben, ob der eventuelle Krieg, für den er Planung treffen muß, ein Angriffskrieg oder ein Verteidigungskrieg ist. Die Entscheidung der Frage, ob ein Krieg geführt wird, liegt in keinem Lande der Welt beim Militär, sondern immer bei der politischen Führung beziehungsweise bei den gesetzgebenden Körperschaften. Dementsprechend ist in Artikel 45 der Reichsverfassung bestimmt, daß der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich vertritt und ferner bestimmt, ich zitiere:

»Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch Reichsgesetz.«

Die Frage also, ob ein Krieg gegen Polen geführt werden sollte, lag beim Reichstag und nicht bei der militärischen Führung. Professor Jahrreiss hat bereits ausgeführt, daß in der staatsrechtlichen Entwicklung des nationalsozialistischen Staates diese Entscheidung schließlich allein bei Hitler gelegen hat. Von meinem Fall Raeder aus ist es gleichgültig, ob Hitler staatsrechtlich als berechtigt angesehen werden konnte, allein einen Krieg zu beginnen, wie er es tatsächlich dann im Herbst 1939 getan hat. Entscheidend ist nur, daß jedenfalls die militärische Führung an diesem Entschluß weder tatsächlich noch verfassungsmäßig mitzuwirken hat. Es ist ein unhaltbarer Gedanke, wenn die Anklagevertretung jede militärische Planung, die auf deutscher Seite erfolgte, als Verbrechen ansehen will; denn die militärische Führung, die lediglich den Auftrag bekommt, einen bestimmten Plan auszuarbeiten, ist weder berechtigt, noch verpflichtet, darüber zu urteilen, ob es sich bei der Durchführung ihrer Pläne später einmal um einen Angriffskrieg oder Verteidigungskrieg handeln wird. Es ist bekannt, daß die militärische Führung der Alliierten mit Recht den gleichen Standpunkt vertritt. Kein Admiral oder General der Alliierten Streitkräfte würde es verstehen, wenn jemand einen Vorwurf gegen sie wegen derjenigen militärischen Planungen erheben wollte, die auf der alliierten Seite ebenfalls lange Zeit vor dem Kriege gemacht worden sind. Ich brauche dies nicht weiter anzuführen. Ich glaube, es genügt, wenn ich mich insoweit auf das Dokument Ribbentrop Nummer 221 beziehe. Es handelt sich dort um ein Geheimdokument, welches nach der Überschrift die »Zweite Phase der französisch-britischen Generalstabsbesprechungen« betrifft. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß genaue Pläne hinsichtlich der alliierten Streitkräfte für einen viele Länder umfassenden Krieg bearbeitet worden sind, Pläne, die sich nach diesem Dokument auf einen Krieg in Europa und auf einen Krieg im Fernen Osten erstrecken. Es wird dort ausdrücklich gesagt, daß der französische und britische Oberkommandierende im Fernen Osten einen – ich zitiere – »gemeinsamen Aktionsplan ausgearbeitet« haben. Es wird dort ausdrücklich auf die Bedeutung des Besitzes des belgischen und holländischen Staatsgebietes als Ausgangsbasis für eine Aufnahme der Offensive gegen Deutschland gesprochen, und das Entscheidende für diesen militärischen Parallelfall scheint mir zu sein, daß dieses Dokument aus dem gleichen Monat stammt wie die behandelte Rede von Hitler vor den Oberbefehlshabern, nämlich aus dem Mai 1939. Das Dokument trägt die Aufschrift: »London, den 5. Mai 1939«.

Ich komme zu der Ansprache Hitlers vor den Oberbefehlshabern am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg.27

Hinsichtlich des Beweiswertes der beiden von der Anklage vorgelegten Dokumente 1014-PS und 798-PS darf ich mich zur Abkürzung zunächst auf meine früheren Ausführungen beziehen, die ich in diesem Gerichtssaal gemacht habe, als ich den formalen Antrag stellte, das Dokument 1014-PS zu streichen. Wenn auch das Hohe Gericht diesem Antrage nicht gefolgt ist, so glaube ich doch, daß meine Ausführungen über diese Urkunde wenigstens in der Richtung von Bedeutung sind, daß diesen beiden Dokumenten, und zwar besonders dem Dokument 1014-PS, nur ein äußerst geringer Beweiswert zukommt. Der amerikanische Anklagevertreter hat seinerzeit bei Vorlage dieser Dokumente darauf hingewiesen,28 daß der Gerichtshof es berücksichtigen sollte, falls die Verteidigung eine genauere Fassung über diese Rede vorlegen kann. Demgemäß habe ich mit Raeder-Exhibit Nummer 2729 die von dem Zeugen Generaladmiral Boehm stammende Fassung vorgelegt und glaube, im Rahmen der Beweisführung gezeigt zu haben, daß es sich hier tatsächlich um eine genauere Fassung handelt als bei den Fassungen der Anklagedokumente. Sir David Maxwell-Fyfe hat daraufhin zwei Dokumente eingereicht, in denen in sorgfältiger Weise die Boehmsche Fassung den Fassungen 1014-PS und 798-PS gegenübergestellt wird, und hat damit uns allen die Bearbeitung des Vergleichs dieser Urkunden wesentlich erleichtert. Um auch meinerseits diese Gegenüberstellung dem Hohen Gericht und der Anklagevertretung zu erleichtern, habe ich inzwischen Generaladmiral Boehm gebeten, die vorliegenden Fassungen auch seinerseits zu vergleichen, und zwar unter Benutzung der eben erwähnten Zusammenstellungen der Britischen Anklagevertretung. Das Ergebnis findet sich in dem Affidavit von Boehm.

Überschaut man dieses gesamte Material, so ergibt sich, daß das Dokument 1014-PS äußerst unvollständig und ungenau ist, zumal es, abgesehen von seinen formalen Mängeln, nur eineinhalb Seiten lang ist und schon aus diesem Grunde keine hinreichende Darstellung einer zweieinhalbstündigen Rede sein kann.

Die Urkunde 798-PS ist zweifellos besser, hat aber, wie das Affidavit Boehm zeigt, ebenfalls zahlreiche Unrichtigkeiten. Es wird nicht auf jeden Satz ankommen. Es kommt aber darauf an, daß gerade einige der schwerwiegendsten Sätze, wodurch die Oberbefehlshaber am ehesten als belastet angesehen werden könnten, tatsächlich nach der eidlichen Erklärung von Boehm nicht gesprochen worden sind. Nach dem Affidavit Boehm ist es nicht wahr, daß Hitler erklärte, daß er sich bereits im Frühjahr 1939 entschlossen hätte, sich zunächst gegen den Westen und dann erst gegen den Osten zu wenden. Ebensowenig sind die Worte gebraucht: »Ich habe nur Angst, daß mir im letzten Moment ein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag vorlegt, die politische Zielsetzung geht weiter.« Und das Entscheidendste ist, die Worte – ich zitiere: »Vernichtung Polens im Vordergrund, Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie« – sind nicht gebraucht worden, sondern Hitler hat nur von dem Zerbrechen der militärischen Kräfte gesprochen. Diese Unterschiede in einzelnen Worten und Satzwendungen sind von großer Bedeutung. Denn die Unterschiede liegen gerade in den von der Anklage mehrfach hervorgehobenen scharfen Redewendungen, aus denen die Absicht eines völkerrechtswidrigen Krieges, ja sogar die Absicht von Morden an Zivilpersonen, hergeleitet werden kann. Wären diese Sätze gesprochen, so würde man mit Recht den anwesenden Oberbefehlshabern den Vorwurf machen können, daß sie trotz einer derartigen verbrecherischen Zielsetzung den Krieg und Hitlers Befehle durchführten. Sind aber diese Sätze nicht gebraucht, sondern, wie Boehm unter Eid aussagt, lediglich Sätze gebraucht, die auf eine militärische Zielsetzung hinausgingen, so kann die Anklage keinem der anwesenden Oberbefehlshaber daraus einen Vorwurf machen, daß er in seiner Stellung geblieben ist. Niemand kann ernsthaft von einem Admiral verlangen, daß er wenige Tage vor Ausbruch eines Krieges seine Stellung aufgibt und damit die militärische Macht des eigenen Vaterlandes erschüttert. Ich bin mir absolut klar darüber, daß zum mindesten aus dem Verhalten Hitlers nach dem Abkommen in München bis zum Ausbruch des Krieges in Polen die allerschwersten Vorwürfe gemacht werden können, aber – und das ist für den Fall Raeder entscheidend – nicht gegen die militärische Führung, sondern ausschließlich gegen den politischen Führer. Wir wissen, daß Hitler dies auch selbst erkannt hat und sich deshalb durch Selbstmord der Verantwortung entzog, ohne auch nur in den Jahren des Krieges oder am Schlusse des Krieges die geringste Rücksicht auf das Leben und das Wohl des deutschen Volkes zu nehmen.

Ich komme dann zur Rede Hitlers vor den Oberbefehlshabern am 23. November 1939,30 über die ich nur kurz zu sprechen brauche.

Falls Herr Präsident es gestatten, werde ich diese kurze Ausführung noch machen, da dann ein größerer Abschnitt kommt.

VORSITZENDER: Jawohl.

DR. SIEMERS: Ich glaube, ich kann mich bezüglich dieses letzten Schlüsseldokuments verhältnismäßig kurz fassen. Es ist wiederum eine Urkunde ohne Unterschrift, wo also der Urheber nicht bekannt ist, und ohne Datum über den Zeitpunkt der Niederschrift. Es ist kein offizielles Protokoll; es verfolgt wiederum eine besondere Tendenz. Anfang November 1939 war eine starke Differenz zwischen Hitler und den Generalen entstanden; denn Hitler wollte sofort mit der Offensive im Westen beginnen, während die Generale anderer Ansicht waren und augenscheinlich darauf hofften, daß sich doch noch die Entstehung eines wirklichen Weltkrieges vermeiden ließe. Unzufriedenheit und Ärger Hitlers mit den Generalen zeigt sich klar. Infolgedessen bemüht er sich unter üblicher Wiederholung seiner vergangenen Taten zu zeigen, was er geleistet hat, und weiter zu zeigen, daß er immer recht behalten hat. Es ist eine absolut typische Rede Hitlers, die seinen öffentlichen Reden entspricht, in denen er es ebenfalls liebte zu protzen und sich selbst als genial zu rühmen. Hitler gehörte nun einmal zu den Menschen, die immer glauben, im Recht zu sein und jede Gelegenheit benutzen, um dies zu beweisen. Er benutzte die Gelegenheit ferner dazu, um die ihm bekanntgewordenen Widerstände bei hohen Militärs durch Drohung im Keime zu ersticken und dadurch seine Diktatur zu festigen. Es ist absolut bezeichnend, wenn er in dieser Urkunde wörtlich sagt: »Ich werde vor nichts zurückschrecken und jeden vernichten, der gegen mich ist.« Dies ist auch von führenden und ausländischen Militärs erkannt. Ich verweise zum Beispiel auf den offiziellen Bericht von General Marshall,31 der von dem »Mangel an weitreichender Planung in militärischer Beziehung« spricht und davon, daß das deutsche Oberkommando keinen alles erfassenden strategischen Plan gehabt hat und in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß »Hitlers Prestige zu einem Punkt kam, wo man nicht mehr wagte, seiner Ansicht zu widersprechen«.

Abschließend ist bei diesem letzten Schlüsseldokument nur noch darauf hinzuweisen, daß zu dieser Zeit der Krieg bereits im Gange war und daß man es den Militärs nicht verübeln kann, wenn sie im Kriege sich in allen Planungen bemühen, zum Siege zu kommen. Auch bei den Alliierten wurde gleichzeitig geplant. Ich verweise auf die Dokumente Ribbentrop-Exhibit Nummer 222 und Raeder-Exhibit Nummer 34.32 Das erstere Dokument, datiert vom 1. September 1939, ist ein Geheimschreiben von General Gamelin an Daladier und enthält den Grundgedanken, daß es notwendig ist, in Belgien einzudringen, um den Krieg außerhalb der französischen Grenze zu führen. Das zweite Dokument enthält in gleicher Weise militärische Planungen, und zwar in einem Geheimschreiben von General Gamelin an den Militär-Attaché der Französischen Botschaft in London, General Lelong, vom 13. November 1939 und betrifft ebenfalls das von den Alliierten in Holland und Belgien geplante Unternehmen.

VORSITZENDER: Wir vertagen nun die Verhandlung.