Nachmittagssitzung.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich sprach vor der Pause über die Tatsache, daß die Einheiten der Kriegsmarine in territorialen Fragen der Seekriegsleitung nicht unterstellt waren.
Dieser Befehlsweg für territoriale Aufgaben erklärt auch die völlige Unkenntnis des Großadmirals und seiner Mitarbeiter in der Seekriegsleitung über die Abgabe der Besatzung des norwegischen Torpedobootes MTB 345 an den Sicherheitsdienst nach ihrer Gefangennahme durch Einheiten des Admirals von Schrader. Wie sich aus den Zeugenaussagen und den Protokollen des Kriegsverbrechergerichts von Oslo ergibt, erhielt die Seekriegsleitung lediglich einen Gefechtsbericht über die Aufbringung des Bootes und die Zahl der Gefangenen. Alles weitere, die Entdeckung von Sabotagematerial und Zivilanzügen an Bord, die Feststellung von Sabotageaufträgen und die Behandlung der Besatzung als Saboteure nach dem Kommandobefehl wurde als territoriale Angelegenheit zwischen dem Admiral von Schrader und dem Wehrmachtbefehlshaber Norwegen behandelt. Die Entscheidung über das Schicksal der Besatzung kam auf Anfrage des Gauleiters Terboven aus dem Führerhauptquartier. Es ist nicht nur kein Nachweis vorhanden, daß die Seekriegsleitung in diese territorialen Fragen eingeschaltet worden wäre, sondern man muß das nach den vorgelegten Beweisen und nach der dargelegten Befehlsgliederung als widerlegt ansehen.
Den zweiten Versuch der Anklage, eine Teilnahme an der angeblichen Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen herzustellen, erblicke ich in dem vorgelegten Protokoll des Admirals Wagner über die Frage des Austritts aus der Genfer Konvention im Frühjahr 1945. Die näheren Umstände ergeben sich aus den Zeugenaussagen Wagners. Danach wurde in einer Lagebesprechung am 17. Februar vom Führer darauf hingewiesen, daß die feindliche Propaganda über die gute Behandlung der Kriegsgefangenen auf die im Westen eingesetzten Truppen offensichtlich Eindruck mache und viele Fälle von Überlaufen gemeldet wurden. Er befahl, die Frage des Austritts aus der Genfer Konvention zu prüfen. Damit wollte er die eigenen Soldaten davon überzeugen, daß sie nicht mehr auf gute Behandlung als Kriegsgefangene rechnen könnten und so eine Gegenwirkung gegen die feindliche Propaganda schaffen. Zwei Tage später kam Hitler auf diesen Gedanken zurück, aber jetzt stand eine andere Begründung im Vordergrund. Er bezeichnete die feindliche Kriegführung im Osten und die Bombenangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung als völlige Absage an das Völkerrecht auf der Gegenseite und wollte sich nun auch seinerseits durch den Austritt aus der Genfer Konvention von allen Bindungen lösen. Er ersuchte erneut die Wehrmacht um Stellungnahme und wandte sich dabei direkt an den Großadmiral. Dieser gab keine Antwort. Die Auffassung der militärischen Führer zu diesem Gedanken war einhellig ablehnend. Vor der Lage am nächsten Tage fand eine etwa zehn Minuten lange Besprechung zwischen Großadmiral Dönitz, Generaloberst Jodl und dem Botschafter Hewel statt, in der Dönitz seine ablehnende Haltung bekundete. Dabei äußerte er nach dem Vermerk von Admiral Wagner »es sei besser, die für notwendig gehaltenen Maßnahmen ohne Ankündigung zu treffen und nach außen hin auf alle Fälle das Gesicht zu wahren«.
Die Anklage erblickt darin die Bereitschaft und den Willen, Hunderttausende alliierter Kriegsgefangener willkürlicher Ermordung auszusetzen.
Admiral Dönitz selbst hat an diesen Satz keine Erinnerung. Das ist nicht verwunderlich, denn es handelt sich nicht um ein Protokoll, sondern um die Zusammenfassung eines längeren Gespräches in vier Sätzen; die Formulierung geschah erst einen Tag nach dem Gespräch und sie stammt von Admiral Wagner. Diese gibt selbst die Erklärung, der Großadmiral habe alle »wilden Sachen« mißbilligt, die uns von vornherein ins Unrecht setzten, und nur solche Maßnahmen als berechtigt angesehen, die nach dem Verhalten der Gegenseite im Einzelfall sachlich geboten gewesen seien. Da Wagner als Verfasser der Niederschrift am besten wissen muß, was er damit ausdrücken wollte, kann ich von mir aus dieser Erklärung nichts hinzufügen. Die Auslegung der Anklage findet auch keine Stütze in den sonstigen Umständen. Eine Geheimhaltung irgendwelcher Maßnahmen kam überhaupt nicht in Betracht. Sie hätten vielmehr bekanntgegeben werden müssen, einerlei ob sie nun zur Abschreckung eigener Überläufer oder als Repressalie gedacht gewesen wären. In dem Vermerk von Wagner ist aber von irgendwelchen konkreten Maßnahmen, die getroffen werden sollten, überhaupt nicht die Rede, und alle Zeugen, die an der betreffenden Führerlage teilgenommen haben, bekunden, daß darüber auch kein Wort gesprochen wurde. Der Gedanke an die Ermordung von Kriegsgefangenen konnte daher bei keinem der Teilnehmer des von Wagner notierten Gespräches vorliegen.
Nun hat sich hier herausgestellt durch die Aussagen der Angeklagten von Ribbentrop und Fritzsche, daß Hitler offenbar damals neben der Aktion bei den Generalen eine andere vorbereitet hatte, an der lediglich Goebbels und Himmler beteiligt werden sollten und die durch Zufall auch zur Kenntnis von Ribbentrop kam. Bei dieser Aktion scheint die Erschießung Tausender von Kriegsgefangenen als Repressalie für den Luftangriff auf Dresden erwogen worden zu sein. Von derartigen Gedanken hat Hitler den Generalen gegenüber jedoch wohlweislich nicht die leiseste Andeutung gemacht. Die Aktion ist nicht weiter verfolgt, Repressalien sind nicht durchgeführt worden.
Und damit komme ich wieder zu den Tatsachen. Tatsache ist, daß Admiral Dönitz den Austritt aus der Genfer Konvention mißbilligt hat, und daß Hitler infolge der offensichtlich ablehnenden Stellung aller militärischen Führer den Gedanken überhaupt nicht weiter verfolgt hat. Tatsache ist, daß keinerlei völkerrechtswidrige Maßnahmen von deutscher Seite auf Grund der von der Anklage beanstandeten Bemerkung getroffen worden sind, und Tatsache ist schließlich, daß die gefangenen feindlichen Seeleute, die in einem Kriegsgefangenenlager der Marine zusammengefaßt waren, bis zum letzten Tage des Krieges vorbildlich behandelt worden sind.
Wer sich in seinem eigenen Bereich derartig verhält, wie Admiral Dönitz das bei den Gefangenen der Kriegsmarine getan hat, dem kann vernünftigerweise nicht unterschoben werden, daß er alle rechtlichen und moralischen Bindungen gegenüber den Kriegsgefangenen über Bord geworfen habe. Nach Zeugnis eines englischen Kommandeurs haben bei der Übernahme des Gefangenenlagers der Kriegsmarine durch britische Truppen alle Gefangenen ohne Ausnahme berichtet, daß sie mit »fairneß and consideration« behandelt worden seien. Das Tribunal wird eine derartige einmütige Äußerung zu würdigen wissen nach dem, was in diesem Verfahren sonst über Versager in der Kriegsgefangenenbehandlung, und zwar nicht nur auf deutscher Seite, bekanntgeworden ist.
Wenn ich mich nunmehr mit der Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen die Humanität befasse, so möchte ich zunächst darauf hinweisen, daß Admiral Dönitz nach Punkt 4 der Anklage wegen direkter Begehung von Humanitätsverbrechen nicht angeklagt ist. In der Einzelanklage wird nicht einmal Teilnahme an der Verschwörung zur Begehung von Humanitätsverbrechen behauptet. Das bedeutet wohl das Zugeständnis, daß tatsächlich keine Beziehungen zwischen seiner Tätigkeit und den von der Anklage vorgebrachten Humanitätsverbrechen bestehen. Trotzdem hat die Anklage einige Dokumente vorgelegt, die anscheinend eine Mitverantwortung für gewisse Humanitätsverbrechen begründen sollen.
Bei der Beurteilung dieser Dokumente spielt immer wieder die Frage die Hauptrolle, was Admiral Dönitz von den behaupteten Verbrechen wußte. Dazu möchte ich eines klarstellen: Während des ganzen Krieges hat er gewohnt und gelebt in seinem Stabsquartier, und zwar zunächst an der Nordsee, seit 1940 in Frankreich, 1943 kurze Zeit in Berlin und dann im Lager »Koralle« bei Berlin. Wenn er im Führerhauptquartier war, wohnte er bei dem dortigen Marinestab. Sein außerdienstlicher Verkehr bestand also fast ausschließlich aus Marineoffizieren. Das mag eine Schwäche gewesen sein, aber es ist eine Tatsache, die für die Unkenntnis mancher Vorgänge eine zusätzliche Erklärung gibt. Die Weiterleitung eines Vorschlags des Rüstungsministeriums, 12000 Mann aus Konzentrationslagern als Werftarbeiter einzusetzen, ist für die Anklage ein Beweis dafür, daß Admiral Dönitz die Verhaftung unzähliger Unschuldiger, ihre Mißhandlung und ihre Tötung in den Konzentrationslagern gekannt und gebilligt habe.
Tatsächlich wußte er natürlich, daß es Konzentrationslager gab, und er wußte auch, daß in den Lagern außer den Berufsverbrechern politische Häftlinge verwahrt wurden. Wie hier schon dargelegt worden ist, ist die Verwahrung politischer Gegner aus Sicherheitsgründen, zumindest in den Zeiten der Not, eine in allen Staaten durchgeführte Maßnahme. Die Kenntnis einer solchen Einrichtung kann also keinen Menschen belasten. Allerdings kann – gemessen an der Bevölkerungszahl – eine unverhältnismäßig hohe Anzahl politischer Häftlinge ein Regime zum Terrorregime stempeln. Bei einer Bevölkerung von 80 Millionen und im fünften Jahr eines harten Krieges würde jedoch auch das Doppelte oder das Dreifache der von Admiral Dönitz erwähnten 12000 Mann noch kein Zeichen eines Terrorregimes sein. Das wird auch die Anklage kaum behaupten wollen. Daß dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ebenso wie seinen Mitarbeitern und dem überwältigenden Teil des deutschen Volkes die in den Konzentrationslagern vorgekommenen Mißhandlungen und Tötungen unbekannt waren, hat er hier bezeugt. Alles, was die Anklage dagegen vorgebracht hat, sind Vermutungen, aber keine Beweise.
Ich will daher zu diesem Punkt nur noch auf die Aussage des damaligen Rüstungsministers Speer hinweisen, wonach die Insassen der Konzentrationslager durch eine Beschäftigung in der Industrie wesentlich besser standen als im Lager und mit allen Mitteln nach einer solchen Beschäftigung strebten. Der weitergeleitete Vorschlag bedeutete also nichts Unmenschliches, sondern eher das Gegenteil.
In dem gleichen Antrag befindet sich eine Anregung, energische Maßnahmen gegen die Sabotage auf norwegischen und dänischen Werften zu treffen, der sieben von acht Neubauten zum Opfer gefallen waren; notfalls solle die Belegschaft ganz oder zum Teil als »KZ-Arbeiter« eingesetzt werden; denn, so heißt es, eine Sabotage dieses Ausmaßes sei nur mit stillschweigender Duldung der ganzen Arbeiterschaft möglich. Hier handelt es sich also um den Vorschlag zu einer Sicherungsmaßnahme dadurch, daß die aktiv oder passiv an der Sabotage beteiligten Arbeiter in einem Lager bei der Werft untergebracht werden und damit ihre Verbindung zu Sabotageagenten abgeschnitten werden sollte. Ich glaube nicht, daß gegen solche Sicherungsmaßnahmen rechtlich etwas einzuwenden ist. Nach der Praxis aller Okkupationstruppen wären in derartigen Fällen sogar kollektive Strafmaßnahmen berechtigt.1
Tatsächlich ist es zu den angeregten Maßnahmen nicht gekommen, und die Anklage bringt sie wohl auch nur vor, um Admiral Dönitz damit allgemein eine brutale Einstellung gegenüber den Einwohnern der besetzten Gebiete vorzuwerfen. Zu diesem Zweck bezieht sie sich sogar auf eine Äußerung des Führers in einer militärischen Lagebesprechung vom Sommer 1944, wonach man den Terror in Dänemark durch Gegenterror bekämpfen müsse. Die einzige Mitwirkung des Admirals Dönitz an dieser Äußerung besteht darin, daß er sie gehört hat und daß sein Begleiter, Admiral Wagner, sie niedergeschrieben hat. Die Marine war an ihr weder beteiligt, noch hat sie daraufhin etwas veranlaßt.
Gegenüber dieser Art der Beweisführung der Anklage möchte ich die Einstellung hervorheben, die Admiral Dönitz tatsächlich den Landeseinwohnern der besetzten Gebiete gegenüber gezeigt hat. Dem Tribunal liegt ein Überblick über die Rechtsprechung der Marinegerichte zum Schutze der Landeseinwohner der besetzten Gebiete vor Übergriffen von Angehörigen der Kriegsmarine vor. Der Überblick beruht auf der Prüfung von etwa 2000 Strafakten, und ein Teil der ergangenen Urteile ist mit Sachverhalt und Begründung wiedergegeben. Danach kann man wohl sagen, daß die Gerichte der Kriegsmarine die Landeseinwohner im Westen wie im Osten mit Gerechtigkeit und Strenge geschützt haben, und zwar ihr Leben sowohl wie ihr Eigentum und die Ehre ihrer Frauen. Diese Rechtsprechung wurde von dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine als Obersten Gerichtsherrn ständig überwacht. Für die Bestätigung, der gegen deutsche Soldaten ergangenen Todesurteile war er nach der Prozeßordnung zuständig.
Die Knappheit der Zeit erlaubt es nicht, näher auf einzelne dieser Urteile einzugehen. Für alle gilt, was in einem von ihnen so formuliert wird: Alle Soldaten müssen wissen, daß auch im besetzten Gebiet Leben und Eigentum anderer Menschen voll gewährleistet wird. Diese Einstellung galt in der Kriegsmarine allgemein, und die Härte der verhängten Strafen beweist, wie ernst sie genommen wurde.
Ich brauche nur wenige Worte zu sagen über den Befehl vom Frühjahr 1945, in dem ein kriegsgefangener deutscher Unteroffizier als vorbildlich hingestellt wurde, weil er in einem Gefangenenlager sich bemerkbar machende Kommunisten unauffällig und planvoll habe umlegen lassen. Tatsächlich handelte es sich nach der Erinnerung von Admiral Wagner um die Beseitigung eines Spitzels. Der Sachverhalt wurde aber in der genannten Art verschleiert, um dem feindlichen Nachrichtendienst keinen Anhalt über das Lager und die Person des Unteroffiziers zu geben. Daß der Befehl nach seinen wahren Grundlagen zu rechtfertigen war, kann niemand bezweifeln angesichts der ungeheueren Zahl von politischen Morden, die mit Duldung oder Unterstützung der am Kriege beteiligten Regierungen begangen worden sind und deren Täter man heute als Helden feiert. Daß aber die verunglückte getarnte Fassung Beweis für einen allgemeinen Plan sein könne, Kommunisten umzulegen, kann ich nicht als ernst betrachten. Ein zum Schutze von Kommunisten ergangenes Urteil soll die wirklichen Verhältnisse zeigen. Ein Feldwebel hatte in einem Lazarett Decken unterschlagen, die für sowjetische Kriegsgefangene bestimmt waren und hatte einem verstorbenen Gefangenen Goldzähne herausgebrochen. Dieser Feldwebel wurde von einem Marinegericht zum Tode verurteilt und nach Bestätigung des Spruches durch den Oberbefehlshaber hingerichtet.
Endlich hat die Anklage auch noch eine Verbindung mit der Judenfrage hergestellt durch eine Äußerung, in der der Großadmiral vom »schleichenden Gift des Judentums« spricht. Dazu stelle ich fest:
Der Plan zur Vernichtung des Judentums war Dönitz ebenso unbekannt wie dessen Ausführung. Bekannt war ihm die Umsiedlung der in Deutschland ansässigen Juden nach dem Generalgouvernement. Ich glaube nicht, daß man eine solche Umsiedlung verdammen kann in einer Zeit, wo in noch viel größerem Ausmaße Austreibungen von Deutschen stattfinden vor den Augen einer ruhig zuschauenden Welt. Auch hier verweise ich auf ein Urteil, in dem gegen zwei deutsche Seeleute hohe Zuchthausstrafen verhängt wurden. Sie hatten gemeinsam mit Franzosen bei französischen Juden geplündert. Aus der Begründung zitiere ich wieder einen Satz, der die allgemeine Haltung kennzeichnet: »Daß sich die Taten gegen Juden richteten, kann die Angeklagten in keiner Weise entschuldigen.«
Ebenso scheinen mir die Bemühungen der Anklage gescheitert zu sein, Admiral Dönitz auf dem Wege über den sogenannten fanatischen Nazi in ihre Konstruktion der Conspiracy einzubeziehen Er war weder Mitglied der Partei, noch ist er bis zu seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber der Kriegsmarine politisch irgendwie hervorgetreten. Die Behauptung der Anklage, er sei wegen seiner politischen Haltung zum Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ernannt worden, entbehrt jeder Grundlage. Als aktiver Offizier, dem nach dem Wehrgesetz jede politische Betätigung verboten war, hatte er keinen Anlaß, sich näher mit dem Nationalsozialismus zu befassen. Wie Millionen anderer Deutscher anerkannte er jedoch die einmaligen Erfolge der Führung Hitlers auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, wie selbstverständlich auch in der Befreiung von den Bindungen von Versailles, die ihn als Soldaten besonders berührten. Er stand also ohne jeden politischen Aktivismus, aber in loyaler Weise auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates, als er die Ernennung zum Oberbefehlshaber erhielt.
Damit kamen in sein Verhältnis zum Nationalsozialismus zwei neue Elemente. Das war zunächst die persönliche Berührung mit Adolf Hitler. Wie fast alle, die mit diesem Mann persönlich zu tun hatten, war er aufs tiefste von ihm beeindruckt. Zu der dem Berufsoffizier anerzogenen Achtung vor dem Staatsoberhaupt und Treue zu dem Obersten Befehlshaber kam die Bewunderung für den Staatsmann und den Feldherrn. Es ist schwer, nach den Kenntnissen, die dieses Verfahren vermittelt hat, eine derartige Einstellung ganz zu verstehen. Ich fühle mich weder berufen noch imstande, eine Persönlichkeit wie Adolf Hitler zu beurteilen. Aber eins scheint mir sicher, daß er nämlich mit vollendeter Kunst der Tarnung die menschlich abstoßenden Züge seines Charakters meisterhaft vor denjenigen seiner Mitarbeiter verborgen hat, denen er diesen Teil seines Wesens nicht zu offenbaren wagte. Der Hitler, den der neue Oberbefehlshaber der Kriegsmarine damals kennenlernte und den er verehrte, war also ein völlig anderer als der, den die Welt – zu Recht oder zu Unrecht – heute sieht.
Das zweite neue Element im Verhältnis des Großadmirals zum Nationalsozialismus lag darin, daß die Erfüllung seiner militärischen Aufgabe ihn notwendig mit den politischen Stellen des Reiches in Berührung brachte. Ob er mehr Menschen, mehr Schiffe oder mehr Waffen brauchte, immer waren es letzten Endes politische Stellen, mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte. Um bei seinen Forderungen Erfolg haben zu können, mußte er daher von vornherein einmal jedes politische Mißtrauen ausschalten. Das hat er bewußt getan und auch von seinen Untergebenen gefordert. Die Partei war für ihn nicht ein ideologischer Faktor, sondern der tatsächliche Träger der politischen Macht. Mit ihr verband ihn das gemeinsame Ziel, den Krieg zu gewinnen. Zur Erreichung dieses Ziels betrachtete er sie als seinen Bundesgenossen. Einem Bundesgenossen muß man aber für die Vorteile, die man von ihm erwartet, auch gewisse Opfer bringen, insbesondere auch Opfer im Übersehen von Fehlern und im Verschweigen von Gegensätzen.
Die durch die Stellung und die Aufgaben als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine geschaffene Bindung an den Führer und Berührung mit der Partei hat den Großadmiral jedoch niemals dazu veranlaßt, etwas mitzumachen, was er nicht vor seinem Gewissen verantworten konnte. Gerade einige Punkte der Anklage beweisen das. Der Führer forderte die Bekämpfung von Schiffbrüchigen; Admiral Dönitz lehnte sie ab. Der Führer wünschte den Austritt aus der Genfer Konvention; Admiral Dönitz lehnte ihn ab. Dem Einfluß der Partei auf die Wehrmacht hat er sich hartnäckig und mit Erfolg widersetzt. Seinem Widerstand ist es zu danken, daß die nationalsozialistischen Führungsoffiziere nicht politische Kommissare wurden, sondern als echte Offiziere lediglich Berater ihres Kommandeurs waren, der die alleinige Verantwortung für die Führung seiner Truppe behielt. Die von der Partei betriebene Abgabe der politischen Strafsachen gegen Soldaten von den Kriegsgerichten an den Volksgerichtshof hat Großadmiral Dönitz bis zum Winter 1944/1945 verhindert und dann entgegen einer Verordnung des Führers in der Kriegsmarine nicht durchgeführt. Er hat sich also niemals mit der Partei identifiziert und kann daher gewiß nicht für deren weltanschauliche Bestrebungen oder sogar Exzesse verantwortlich gemacht werden, genau so wenig, wie in der auswärtigen Politik eine Regierung die Verantwortung für diese Dinge bei einem Bundesgenossen zu übernehmen bereit wäre.
Ich will nun keinesfalls den Eindruck erwecken, Admiral Dönitz sei kein Nationalsozialist gewesen.
Im Gegenteil. Ich möchte gerade an seinem Beispiel die Unrichtigkeit der These beweisen, daß jeder Nationalsozialist als solcher ein Verbrecher sein müsse. Dieses Tribunal ist die einzige Instanz, in der sich autoritative Persönlichkeiten der alliierten Hauptmächte eingehend und unmittelbar mit der deutschen Vergangenheit der letzten zwölf Jahre befassen. Es bildet daher die einzige Hoffnung sehr vieler Deutscher, einen verhängnisvollen Irrtum zu beseitigen, der die schwachen Charaktere unseres Volkes zur Heuchelei veranlaßt und so der politischen Gesundung entscheidend im Wege steht.
Wenn ich nach diesen Ausführungen noch auf den Vorwurf eingehe, Admiral Dönitz habe im Februar 1945 aus politischem Fanatismus die unausbleibliche Kapitulation hinausgezögert, so tue ich das aus einem besonderen Grund. Dieser Vorwurf, der mit der Anklage vor einem internationalen Gericht kaum etwas zu tun zu haben scheint, wiegt besonders schwer in den Augen des deutschen Volkes; denn dieses Volk weiß, welche Zerstörungen und welche Verluste es in den Monaten vom Februar bis zum Mai 1945 noch erlitten hat. Ich habe Erklärungen von Darlan, Chamberlain und Churchill aus dem Jahre 1940 vorgelegt, in denen diese Staatsmänner in einer kritischen Stunde ihres Landes zu verzweifeltem Widerstand, zur Verteidigung von jedem Dorf und von jedem Haus aufriefen. Niemand wird daraus den Schluß ziehen, daß diese Männer fanatische Nationalsozialisten gewesen sind. In der Tat ist die Frage einer bedingungslosen Kapitulation von so ungeheurer Tragweite für ein Volk, daß man eigentlich erst nach den Ereignissen darüber urteilen kann, ob ein Staatsmann, der vor diese Frage gestellt war, richtig gehandelt hat oder nicht.
Admiral Dönitz war aber im Februar 1945 kein Staatsmann, sondern Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. Sollte er etwa seine Untergebenen auffordern, die Waffen niederzulegen zu einem Zeitpunkt, wo die politische Führung des Staates den militärischen Widerstand noch für zweckmäßig und notwendig hielt? Das kann niemand im Ernst fordern.
Wesentlich schwieriger erscheint mir die Frage, ob er nicht auf Grund seines hohen Ansehens bei Hitler dazu verpflichtet war, diesen auf die Aussichtslosigkeit weiteren Widerstandes mit aller Deutlichkeit hinzuweisen. Ich würde persönlich eine solche Pflicht gegenüber seinem Volk bejahen, wenn er selbst eine Kapitulation zu diesem Zeitpunkt für richtig erachtet hätte. Er hat es nicht getan und die Gründe dafür dargelegt. Kapitulation bedeutet Stehenbleiben der Armeen und Stehenbleiben der Bevölkerung. Die im Februar 1945 noch über zwei Millionen Mann starke deutsche Armee an der Ostfront und die gesamte Zivilbevölkerung der deutschen Ostprovinzen wäre also in die Hand der Sowjetarmeen gefallen, und zwar in einem Wintermonat mit grimmiger Kälte. Admiral Dönitz war daher der Auffassung, die auch der Generaloberst Jodl teilte, daß die auf diese Weise eintretenden Menschenverluste ungleich höher gewesen wären als die, die durch eine Hinauszögerung der Kapitulation bis zu einer wärmeren Jahreszeit noch entstehen mußten. Erst eine spätere Zeit, der genauere Unterlagen zur Verfügung stehen über die Verluste an Soldaten und an Zivilbevölkerung, die vor und nach der Kapitulation im Osten und im Westen eingetreten sind, wird über die objektive Richtigkeit dieser Auffassung einmal urteilen können. Schon heute läßt sich aber sagen, daß diese Überlegungen allein getragen waren von ernstem Verantwortungsbewußtsein für das Leben deutscher Menschen.
Das gleiche Verantwortungsbewußtsein veranlaßte ihn, nach Übernahme der Geschäfte des Staatsoberhauptes am 1. Mai 1945 die Kampfhandlungen nach dem Westen einzustellen, die Kapitulation nach dem Osten dagegen noch um einige Tage hinauszuzögern, Tage, in denen es Hunderttausenden gelang, nach dem Westen zu entkommen. Von dem Augenblick an, wo er – für ihn selbst völlig überraschend – eine politische Aufgabe bekam, hat er mit vernünftiger Hand ein drohendes Chaos verhütet, Verzweiflungstaten führerlos gewordener Massen verhindert und vor dem deutschen Volk die Verantwortung für den schwersten Schritt übernommen, den ein Staatsmann wohl überhaupt unternehmen kann.
Er hat also, um auf den Ausgangspunkt der Anklage zurückzukommen, nichts getan, um diesen Krieg anzufangen, aber das Entscheidende, um ihn zu beenden.
Das deutsche Volk hat seit diesem Zeitpunkt vieles erfahren, was es nicht erwartet hatte, und es ist mehr als einmal hingewiesen worden auf die bedingungslose Kapitulation, die das letzte Staatsoberhaupt vollzogen hat. Dieses Tribunal wird es in der Hand haben, ob dieses Volk in Zukunft auf die bindende Kraft der Unterschrift eines Mannes verwiesen werden soll, der von seinen Vertragspartnern als Verbrecher vor der ganzen Welt geächtet ist.
Ich habe zu Beginn meines Vortrags hingewiesen auf die Zweifel, die jedes Kriegsverbrecherverfahren in der Brust eines Juristen notwendig auslösen muß. Sie lasten auf jedem, der eine Mitverantwortung an einem solchen Verfahren trägt. Ich könnte die Aufgabe aller Verantwortlichen nicht besser kennzeichnen als mit den Worten, die ein englischer Anwalt über die Prozesse vor dem deutschen Reichsgericht im Jahre 1921 geprägt hat; ich zitiere:
»Die Kriegsverbrecherprozesse waren eher von einem erzürnten Publikum gefordert als von Staatsmännern oder der kämpfenden Truppe. Hätte die öffentliche Meinung von 1919 ihren Lauf genommen, so könnten die Verfahren ein grimmiges Schauspiel geboten haben, dessen sich künftige Geschlechter geschämt hätten. Aber dank den Staatsmännern und den Juristen wurde ein allgemeiner Schrei nach Rache verwandelt in eine wahre Demonstration der Majestät des Rechts und der Macht des Gesetzes.«2
Möge der Spruch dieses Tribunals in ähnlicher Weise Bestand haben vor dem Urteil der Geschichte.
VORSITZENDER: Ich erteile Herrn Dr. Siemers für den Angeklagten Raeder das Wort.
DR. WALTER SIEMERS, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN RAEDER: Hoher Gerichtshof!
In meinem Plädoyer für den Angeklagten Großadmiral Dr. Raeder möchte ich mich in der Disposition an die gleiche Reihenfolge halten, die ich in meinen Dokumentenbüchern und in der gesamten Beweisführung gewählt habe. Ich glaube damit die Übersicht über den gesamten Fall zu erleichtern.
Raeder, der jetzt vor kurzem sein 70. Lebensjahr vollendete, war von seinem 18. Lebensjahr an, also ungefähr ein halbes Jahrhundert, in einer ereignisreichen Zeit Soldat, und zwar ausschließlich und mit Leib und Seele. Obwohl er stets nur seine soldatischen Pflichten kannte, hat ihn die Anklagebehörde in diesem großen gegen den Nationalsozialismus gerichteten Prozeß nicht nur als Soldaten, nämlich als Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, angeklagt, sondern – und das ist das Eigenartige und Entscheidende – als Politiker, als politischen Verschwörer und als Regierungsmitglied; alles drei Dinge, die er in Wirklichkeit gar nicht war. Ich stehe daher vor der eigenartigen Aufgabe, Raeder als Politiker zu verteidigen, obwohl es – wie ich zeigen werde – gerade sein Lebensgrundsatz war, ein völlig unpolitischer Offizier zu sein und ein Offizierkorps und eine Marine zu führen, die ebenfalls völlig unpolitisch bleiben sollten. Wenn die Anklagebehörde gegen Raeder so vielseitige und schwere Vorwürfe erhebt, so liegt dies im wesentlichen daran, daß sie eine der deutschen Wehrmacht völlig fremde Konstruktion aufstellte, nämlich die Idee des für die Außenpolitik und für die Entstehung eines Krieges verantwortlichen Admirals. Gegen diese Konstruktion werde ich mich wenden und zeigen, daß diese Konstruktion auch in dem nationalsozialistischen Staate Hitlers keine Berechtigung und keine Grundlage findet. Zwar hat Hitler immer wieder im Volke das Politische in den Vordergrund gestellt und versucht, das Volk politisch einseitig zu erziehen. Dem Auslande ist dies bekannt, und es mag daher dem Auslande überraschend sein, wenn Hitler diese politische Durchdringung in einem einzigen Punkt außer acht ließ. Jede Behörde, jede Organisation und jegliche Polizeieinrichtung wurde von Hitler nach politischen Grundsätzen geführt mit der einzigen Ausnahme der Wehrmacht. Die Wehrmacht, und zwar speziell die Marine, blieb lange Zeit bis tief in den Krieg hinein absolut unpolitisch, und dies sicherte Hitler nicht nur Raeder zu, sondern hatte das gleiche auch Hindenburg als Reichspräsidenten zugesagt. Daraus ist die Tatsache zu verstehen, die auch in diesem Prozeß klar wurde, daß bis 1944 kein Offizier Mitglied der Partei sein durfte, beziehungsweise seine Mitgliedschaft ruhte, wenn er in der Partei war.
Wenn ich diese Gedanken vorausschicke, so wird man es verstehen, warum Raeder – wie seine Vernehmung zeigte – diesen Vorwürfen, die letzten Endes politisch waren, befremdet und erstaunt gegenüberstand. Ein Mensch, der ganz Soldat ist, kann es nicht begreifen, wenn er plötzlich ohne Zusammenhang mit seinen militärischen Pflichten für Dinge verantwortlich gemacht wird, die zu keiner Zeit in den Bereich seiner Tätigkeit fielen.
Selbstverständlich werde ich auch die militärischen Vorwürfe behandeln mit Ausnahme der U-Bootkriegführung, die bereits im Interesse der Einheitlichkeit von Dr. Kranzbühler für Raeder mitbehandelt worden ist. Bei den sonstigen militärischen Vorwürfen wird sich zeigen – wie zum Beispiel in den Fällen Norwegen und Griechenland –, daß es immer wieder die Diskrepanz zwischen den Gesichtspunkten von Politik und Militär ist: Raeder handelte als Oberbefehlshaber auf Grund militärischer Überlegungen, und die Anklagebehörde zieht ihn zur Rechenschaft auf Grund politischer Überlegungen, indem sie die militärischen Handlungen als politische bewertet.
Der erste Fall dieser eben geschilderten Diskrepanz liegt in den Vorwürfen, die gegen Raeder schon für die Zeit vor 1933, also vor dem Nationalsozialismus, erhoben werden. Für diese Zeit kommt noch die Besonderheit hinzu, daß Hitler, das Haupt der angeblichen Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen, noch gar nicht in Deutschland herrscht und trotzdem schon eine Gesamtverschwörung zwischen Hitler und einem Teil der Angeklagten bestehen soll. Dies ist um so überraschender, als Raeder zu dieser Zeit als Seeoffizier und ab 1928 als Chef der Marineleitung nichts, aber auch gar nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, ja sogar Hitler und seine Mitarbeiter in der Partei überhaupt nicht kennt. Die Vorwürfe bezüglich der Verstöße gegen den Versailler Vertrag werden von der Anklage in die Verschwörung mit einbezogen, obwohl die Verstöße nicht unter der Führung von Hitler, sondern unter Führung oder Billigung der damaligen demokratischen Regierungen in Deutschland vorgenommen wurden. Dies zeigt, daß die Anklage mit dieser Prozeßführung nicht nur, wie während des Krieges und nach dem Zusammenbruch immer wieder betont, den Nationalsozialismus treffen will, sondern darüber hinaus weite Kreise in Deutschland trifft, die nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten und die zum Teil sogar direkte Gegner des Nationalsozialismus waren.
Gerade deshalb war es mir so außerordentlich wichtig, in der Beweisführung des Falles Raeder die Frage des Verstoßes gegen den Versailler Vertrag bis ins kleinste aufzuklären, und ich habe dies unter Billigung des Gerichts versucht. Ich bin der festen Meinung, daß es mir gelungen ist. Ich brauche im einzelnen auf die genau behandelten Verstöße, die von der Anklage in der Urkunde C-32 gebracht waren, nicht einzugehen. Es dürfte genügen, wenn ich auf die umfangreiche Beweisführung verweise, sowie auf folgende Tatsachen:
Jeder einzelne Punkt war eine Bagatelle oder war eine militärische Maßnahme, die ausschließlich, wie zum Beispiel die Flakbatterien und ähnliches, auf Verteidigungsgedanken beruhte. Raeder hat unumwunden zugegeben, daß Vertragsverstöße vorgekommen sind, wobei aber schon die Kleinheit der Verstöße zeigte, daß diese Maßnahmen unmöglich mit einer Absicht, Angriffskriege zu führen, verbunden sein konnten. Darüber hinaus brauche ich juristisch nur hinzuzufügen, daß ein Vertragsverstoß nicht ipso jure ein Verbrechen sein kann. Sicherlich ist die Verletzung eines Vertrags zwischen mehreren Völkern ebensowenig erlaubt wie die Verletzung eines Vertrags im Handelsrecht zwischen Privatfirmen. Eine solche Verletzung ist aber keine strafbare Handlung, geschweige denn ein Verbrechen. Auch nach der Argumentation der Anklage wäre eine strafbare Handlung nur gegeben, wenn die Verletzung in verbrecherischer Absicht erfolgte, also entgegen dem Kellogg- Pakt auf einen Angriffskrieg gerichtet war. Das aber wird selbst die Anklagebehörde nicht mehr behaupten können und hat es indirekt damit zu erkennen gegeben, daß sie alle diese Punkte im Kreuzverhör der Zeugen nicht mehr behandelte.
Etwas anders liegt es bei dem erst im Kreuzverhör von der Anklage eingehend behandelten Vorwurf hinsichtlich der Beteiligung der deutschen Marine an U- Bootbauten in Holland, wofür sich die Anklage auf Dokument C-156, das Buch von Kapitän zur See Schüssler »Der Kampf der Marine gegen Versailles« gestützt hat, sowie auf die Ausführungen in den Notizen des Marinegeschichtsschreibers, nämlich des Admirals Aßmann, im Dokument D-854.
Diese Unterlagen beweisen, daß sich die deutsche Marine an einem U-Bootkonstruktionsbüro in Holland, nämlich an der Firma N. V. Ingenieurskantoor voor Scheepsbouw, beteiligt hat. Diese Beteiligung fällt bereits in die Zeit, bevor die Marine von Raeder geleitet wurde; das Gericht wird sich erinnern, daß Raeder erst am 1. Oktober 1928 Chef der Marineleitung wurde, während die Beteiligung an dem holländischen Büro schon in den Jahren 1923 und folgende vor sich ging. Ich bitte aber zu beachten, daß in keinem einzigen Falle ein U-Boot für die deutsche Marine gebaut wurde und daß dementsprechend die deutsche Marine auch kein U-Boot erworben oder in Dienst gestellt hat. Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang auf den Versailler Vertrag, Raeder-Exhibit Nummer 1. In Artikel 188 und folgenden des Versailler Vertrags finden sich die Bestimmungen über die Marine. Nach Artikel 188 hatte Deutschland die Verpflichtung übernommen, seine U-Boote an die alliierten Länder abzuliefern oder abzubrechen. Diese Verpflichtung hat Deutschland voll erfüllt. Darüber hinaus ist in Artikel 191 wörtlich bestimmt, ich zitiere:
»Der Bau und der Erwerb aller Unterwasserfahrzeuge, selbst zu Handelszwecken, ist in Deutschland untersagt.«
Aus dieser klaren Vertragsbestimmung ergibt sich, daß die Beteiligung an der holländischen Firma kein Verstoß gegen den Versailler Vertrag gewesen ist. Nach Artikel 191 war Deutschland lediglich der Bau und der Erwerb von U-Booten verboten, überdies – streng genommen – auch nur in Deutschland. Tatsächlich ist in Deutschland kein U-Boot entgegen dem Vertrage gebaut. Tatsächlich ist aber auch für Deutschland kein U-Boot im Ausland gebaut. Die Beteiligung an einem ausländischen Konstruktionsbüro war nicht verboten, und es war auch nicht der Sinn des Versailler Vertrags. Das Entscheidende war lediglich, daß Deutschland sich keine U-Bootwaffe schuf. Die Marine durfte sich aber an einem Konstruktionsbüro beteiligen, um auf diese Weise auf dem Gebiete des modernen U-Bootbaues orientiert zu bleiben und Erfahrungen für die Zukunft zu sammeln und dadurch eine Grundlage für einen eventuellen, später wieder erlaubten U-Bootbau zu schaffen unter Heranbildung eines fachlich gebildeten Stammpersonals. Siehe Raeder-Exhibit Nummer 2, Lohmann-Affidavit.
Die erwähnten von der Anklage vorgelegten Dokumente beweisen, daß die von der holländischen Firma konstruierten und im Auslande gebauten U-Boote vom Ausland in Dienst gestellt wurden, nämlich von der Türkei und von Finnland.
Selbst wenn man den Standpunkt vertreten wollte, daß auch Konstruktionsarbeiten verboten waren, so gilt das unter Ziffer 1 Gesagte auch hier; die Konstruktionsarbeiten erstreckten sich nur auf einige wenige U-Boote, so daß deren geringe Anzahl schon beweist, daß darin keine Absicht enthalten sein kann, Angriffskriege zu führen.
Auch wenn das Hohe Gericht meinen vorstehenden Gedankengängen nicht ohne weiteres folgen will, so ergibt sich darüber hinaus das Fehlen einer Angriffsabsicht aus der Tatsache, daß die geringfügigen Vertragsverstöße in gewisser Weise kompensiert sind. Ich darf auf das zweite Affidavit von Admiral Lohmann, Raeder-Exhibit Nummer 8, verweisen. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß Deutschland nach dem Versailler Vertrag acht Panzerschiffe bauen durfte, jedoch nur drei Panzerschiffe gebaut hat; und es ergibt sich weiter, daß es an Stelle von acht Kreuzern bis 1935 nur sechs Kreuzer und an Stelle von 32 Zerstörern beziehungsweise Torpedobooten nur zwölf Zerstörer und keine Torpedoboote gebaut hat. Tatsächlich ist also die Marine in den wirklich wichtigen Waffen und gerade in denen, die als Offensivwaffen angesehen werden können, weit hinter dem zurückgeblieben, was nach dem Versailler Vertrag gestattet war, und zwar insoweit, daß dem gegenüber die geringfügigen Verletzungen auf dem Gebiete der Marine überhaupt nicht ins Gewicht fallen.
Nach der Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Artikel 47 und 50, Raeder-Exhibit Nummer 3, hat der Reichspräsident den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht. Die Anordnungen des Reichspräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister, also dem Reichswehrminister. Ich zitiere: »Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen.«
Damit ist staatsrechtlich absolut klargestellt, daß die Verantwortung beim Reichswehrminister beziehungsweise bei der Reichsregierung und dem Reichspräsidenten liegt. Es ist nun allerdings richtig, daß die Marine vor 1928, also bevor Raeder verantwortlicher Chef der Marineleitung wurde, einige Maßnahmen ohne Wissen der Reichsregierung getroffen hatte. In der Beweisführung ist aber klargestellt, und zwar besonders durch die Aussage des früheren Reichsministers Severing, daß von dem Zeitpunkt ab, wo Raeder Chef der Marineleitung wurde, entgegen den Ausführungen der Anklage keine heimlichen Maßnahmen getroffen worden sind. Severing hat bestätigt, daß das Kabinett Müller-Stresemann-Severing in einer Kabinettssitzung vom 18. Oktober 1928 sich durch Vernehmung von Raeder als Chef der Marineleitung und von Heye als Chef der Heeresleitung Klarheit über die heimlichen Maßnahmen der Wehrmacht verschaffte.
Sowohl Raeder als auch Heye wurden vom Kabinett, nachdem sie Aufklärung gegeben hatten, verpflichtet, gemäß den oben zitierten Paragraphen der Reichsverfassung an Zukunft keine Maßnahmen ohne Wissen des Reichswehrministers beziehungsweise des Kabinetts zu treffen. Gleichzeitig stellte das parlamentarische Kabinett fest, daß es sich bei den heimlichen Maßnahmen aus der Zeit vor Raeder nur um Bagatellen gehandelt hat und übernahm daraufhin ausdrücklich die Verantwortung. Wenn aber das Kabinett in Übereinstimmung mit der Verfassung die Verantwortung übernahm, so ist dies ein juristisch und staatsrechtlich wirksamer Vorgang, der Raeder als Chef der Marineleitung entlastet und von der Verantwortung befreit. Es erscheint daher unzulässig, den nicht mehr verantwortlichen Angeklagten für Handlungen haftbar zu machen, deren Verantwortung vom Kabinett übernommen ist.
Das Verhalten des Kabinetts in der Kabinettssitzung vom 18. Oktober 1928 zeigt aber weiter, daß allen diesen Handlungen keine verbrecherische Absicht, Angriffskriege zu führen, zugrunde gelegen haben kann. Denn auch die Anklagebehörde wird nicht behaupten wollen, daß Männer wie Stresemann, Müller und Severing die Absicht hatten, Angriffskriege zu führen, sondern wird Severing glauben müssen, daß Stresemann, Müller und er nur deshalb für diese Verstöße die Verantwortung übernahmen, weil den Verstößen ausschließlich Verteidigungsgedanken zugrunde lagen. Man wird Severing auch darin glauben müssen, daß die Verteidigungsgedanken berechtigt waren, weil in den zwanziger Jahren tatsächlich die Gefahr bestand, daß Deutschland angegriffen würde, zum Beispiel von polnischer Seite, und dann nicht mehr in der Lage sein würde, mit den geringen Wehrmachtskräften des Versailler Vertrags sich zu verteidigen; eine Gefahr, die sich besonders eindringlich gezeigt hatte bei polnischen Grenzüberfällen in Ostpreußen und Schlesien, sowie bei der Besetzung von Wilna, und noch größer wurde, als alle Versuche von Stresemann und Müller fehlschlugen, die im Versailler Vertrag zugesagte Absicht der anderen Mächte, abzurüsten, zu verwirklichen.
Wie schwierig Deutschlands Lage war und wie berechtigt Verteidigungsmaßnahmen waren, hat Justice Jackson selbst in seiner Einführungsrede zugegeben. Er sagt wörtlich – ich zitiere:
»Es mag sein, daß Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren vor verzweifelt schwierigen Aufgaben stand, Aufgaben, die die kühnsten Maßnahmen gerechtfertigt hätten, nur nicht den Krieg.«
Ich will nicht einmal soweit gehen wie Justice Jackson, glaube aber, daß die behandelten Maßnahmen der Marine sicherlich von seinem eigenen Gedankengang über die »kühnsten Maßnahmen« vollauf gedeckt sind.
Der britische Anklagevertreter, Mr. Elwyn Jones, hat im Kreuzverhör von Severing den Versuch gemacht zu beweisen, daß Raeder die Verpflichtung aus der Kabinettssitzung vom 18. Oktober 1928 nicht eingehalten hat, und zwar deshalb nicht, weil Severing nach seiner Aussage über den Bau der kleinen U-Boote im Auslande für die Türkei und für Finnland nicht orientiert gewesen sei. Demgegenüber ist zweierlei zu berücksichtigen:
Punkt a: Severing hatte bei seiner Vernehmung keine Einzelheiten mehr im Kopf, sondern nur die grundlegenden und entscheidenden Fragen und hatte überdies naturgemäß bezüglich der Einzelheiten sich auf den zuständigen Fachminister, also den Reichswehrminister, verlassen.
Punkt b: Nach Severings Aussage war es am 18. Oktober 1928 ein Ausnahmefall, wenn der Chef der Marineleitung vor dem gesamten Kabinett erschien. Raeder wurde als Chef der Marineleitung nicht verpflichtet, allen Kabinettsmitgliedern jeweils zu berichten, sondern war entsprechend der Verfassung lediglich verpflichtet, den jeweiligen Reichswehrminister zu unterrichten. Das aber hat Raeder getan. Was dann seinerseits der Reichswehrminister den übrigen Mitgliedern des Kabinetts und dem Reichstag vorlegte, entzieht sich nicht nur der Kenntnis Raeders, sondern untersteht auch nicht seiner Verantwortung. Die Verantwortung hierfür trägt der Reichswehrminister und das Kabinett.
Abschließend darf ich nur noch auf folgendes hinweisen:
Wenn die Anklagevertretung trotz allem in den behandelten Verletzungen des Versailler Vertrags seitens der Marine eine Angriffsabsicht erkennen will, so trägt hierfür die damalige sozialdemokratische oder demokratische Regierung die Verantwortung. Damit bricht die Anklage in diesem Punkte zusammen. Denn diese damaligen Regierungen für die Absicht, Angriffskriege zu führen, zur Rechenschaft ziehen zu wollen, hieße, die Anklage in diesem Punkte ad absurdum führen.
Auch die Vertragsverletzungen in der Zeit von 1933 bis zum deutsch-englischen Flottenabkommen von 1935 ergeben das gleiche tatsächliche und juristische Bild. Auch in diesen etwa zwei Jahren hat keine wesentliche Erweiterung der Marineaufrüstung stattgefunden. Der einzige in dieser Beziehung von der Anklage vorgebrachte diskutable Vorwurf befindet sich in dem Dokument D-855, das im Kreuzverhör vorgelegt wurde. Es handelt sich um den Vortrag des Flottenintendanten Thiele. Danach ging man im März 1935, also wenige Monate vor dem Flottenabkommen, dazu über, »Scharnhorst« und »Gneisenau« mit einem Deplacement von 27000 Tonnen zu planen, obwohl formal zu diesem Zeitpunkte noch drei Monate lang das im Versailler Vertrag vorgesehene Deplacement von 10000 Tonnen gültig war, im Gegensatz zu dem im Flottenabkommen von 1935 vorgesehenen Deplacement von 35000 Tonnen.
Hierbei bitte ich zu berücksichtigen, daß Deutschland im März 1935 schon mit dem baldigen Abschluß eines deutsch-englischen Abkommens rechnen konnte, während von der Planung bis zur Fertigstellung eines Schlachtschiffes sehr viel längere Zeit vergeht, die nicht nach Monaten, sondern nach Jahren zu rechnen ist. Tatsächlich sind »Scharnhorst« und »Gneisenau« erst drei beziehungsweise vier Jahre nach dem Flottenabkommen, nämlich 1938 beziehungsweise 1939, in Dienst gestellt worden, siehe Raeder-Exhibit Nummer 2, Affidavit Lohmann.
Die übrigen von der Anklage vorgebrachten Dinge sind wiederum Bagatellen, wie zum Beispiel das Aussuchen – nicht der Bau, wie die Anklage meint – von vier oder fünf Handelsschiffen, laut Urkunde C-166, oder der Bau von fünf Schnellbooten a 40 Tonnen, laut Urkunde C-151, die aus technischen Gründen an Stelle von zwölf Torpedobooten a 200 Tonnen gebaut wurden. Ernsthaft wird die Anklage hieraus keine schwerwiegenden Vorwürfe machen können, zumal die behandelten Abweichungen vom Versailler Vertrag auch den ausländischen Fachkreisen bekanntgewesen sind oder – wie der Zeuge Schulte-Mönting sich richtig ausgedrückt hat – ein »offenes Geheimnis« waren.
Und nun der entscheidende juristische Gesichtspunkt gegenüber allen Vorgängen bis zum Sommer 1935. Im zwischenstaatlichen Vertragsrecht gilt dasselbe wie im Handelsrecht jedes Landes:
Vertragsverletzungen sind als geheilt und erledigt anzusehen, wenn ein neuer Vertrag abgeschlossen wird. Dieser neue Vertrag ist im vorliegenden Falle das »Deutsch-englische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935«, Raeder-Exhibit Nummer 11. Dieses Flottenabkommen enthält ein vollständiges Abweichen vom Versailler Vertrag, und zwar sowohl hinsichtlich der großen Schiffe als auch hinsichtlich der U-Boote. Das, was in diesem Abkommen Deutschland zugebilligt wurde, läßt erst klar erkennen, wie verschwindend klein die bisherigen, vertraglich nicht gebilligten Verletzungen des Versailler Vertrags gewesen waren. An die Stelle von 10000-Tonnen-Kreuzern traten Schlachtschiffe mit 35000 Tonnen und an Stelle des verbotenen U-Bootbaues wurde die Gleichberechtigung in der U-Boottonnage vereinbart. Und dabei hatte Deutschland keine rücksichtslosen Forderungen gestellt, im Gegenteil: Die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich bestätigte ausdrücklich in der genannten Urkunde den deutschen Vorschlag. Ich zitiere:
»... als einen außerordentlichen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Seerüstungsbeschränkung.«
Dieses Abkommen zwischen England und Deutschland erledigt tatsächlich und juristisch die Debatte über den Versailler Vertrag, soweit es die Marine betrifft.
Das Flottenabkommen wurde seinerzeit von deutscher und englischer Seite allgemein begrüßt. Das Flottenabkommen wurde am 17. Juni 1937 durch ein neues Abkommen ergänzt, siehe Raeder-Exhibit Nummer 14.
Die Anklage hat zum Beweis dafür, daß die Marine auch das Flottenabkommen wiederum in Angriffsabsicht verletzt habe, zwei Vorwürfe erhoben:
Erstens: Im Abkommen von 1937 hatten sich beide vertragsschließenden Regierungen zu einem gegenseitigen Nachrichtenaustausch verpflichtet, und zwar insbesondere jährlich innerhalb der ersten vier Monate eines jeden Kalenderjahres, über die Einzelheiten des Bauprogramms. Laut Dokument C-23 hat die Marine gegen diese Verpflichtung insofern verstoßen, als sie das Deplacement und den Tiefgang der beiden in Bau gegebenen Schlachtschiffe »Bismarck« und »Tirpitz« Anfang 1938 zu gering angab, und zwar mit 35000 Tonnen statt 41700 Tonnen. Die Tatsache dieses vertraglichen Verstoßes ist offen von Raeder zugegeben. Auch hier handelt es sich aber wiederum um keinen so schwerwiegenden Verstoß, wie die Anklage ihn hinstellt, also um keinen Verstoß, der eine Grundlage für die Beweisführung hinsichtlich einer verbrecherischen Absicht ergibt. Dies zeigen die eingehenden Darlegungen meiner Beweisführung und in den Zeugenaussagen, die ich nicht zu wiederholen brauche. Es wird genügen, wenn ich mich auf das absolut überzeugende sachverständige Zeugnis des Schiffsbaudirektors Dr. h. c. Süchting beziehe, das ich als Raeder-Exhibit Nummer 15 vorgelegt habe. Die während des Baues von der Marine verlangten Tonnageerhöhungen dienten danach ausschließlich einem Defensivgedanken, nämlich dem Gedanken, die Panzerung der Schlachtschiffe zu erhöhen und die Schottenaufteilung so vorzunehmen, daß die Schlachtschiffe möglichst unsinkbar wurden, ein Defensivgedanke, der, wie Dr. Süchting hervorhebt, auch tatsächlich bei der Bekämpfung und dem Untergange des Schlachtschiffes »Bismarck« sich als richtig erwiesen hat. Handelt es sich aber um Defensivgedanken, so kann aus diesem vertraglichen Verstoß keine Angriffsabsicht konstruiert werden.
In juristischer Beziehung kommt hinzu, daß im Flottenabkommen von 1937 den vertragschließenden Regierungen unter bestimmten Voraussetzungen in den Artikeln 24, 25 und 26 das Recht zugebilligt war, von den getroffenen Vereinbarungen abzuweichen, und zwar insbesondere von der Tonnagebegrenzung der Schlachtschiffe, wenn etwa andere Seemächte größere Schlachtschiffe bauen oder erwerben. Dieser Fall des Artikels 25 war eingetreten, und die Vertragsverletzung besteht daher lediglich darin, daß die Marine zwar das Recht hatte, nunmehr größere Schlachtschiffe zu bauen, aber England davon hätte Mitteilung machen müssen, daß Deutschland von seinem Rechte Gebrauch machen wollte. Es handelt sich also nur um die Verletzung der Verpflichtung zum Nachrichtenaustausch. Wie bedeutungslos diese Maßnahme war, beweist die Abänderung des deutsch-englischen Flottenabkommens auf Grund des Londoner Protokolls vom 30. Juni 1938, das ich in dem Dokument Raeder- Exhibit Nummer 16 vorgelegt habe.
Bereits am 31. März 1938, also nur sechs Wochen nach dem Datum der Urkunde C-23, hatte England seinerseits laut Londoner Protokoll vom 30. Juni 1938 mitgeteilt, daß es von dem erwähnten Recht gemäß Artikel 25 Gebrauch machen müsse und demzufolge vorschlage, daß die Schlachtschifftonnage von 35000 Tonnen auf 45000 Tonnen hinaufgesetzt wird. Dieses Abkommen wurde dann zwischen beiden Ländern am 30. Juni 1938 unterzeichnet, und damit war die Vertragsverletzung, die sich aus der Urkunde C-23 ergibt, illusorisch geworden.
Einen zweiten Vorwurf hat der britische Anklagevertreter im Kreuzverhör durch Vorlage der Urkunde D-854 erhoben. Es handelt sich um die von Admiral Aßmann für seine Geschichtsschreibung gemachten Notizen, wo er auf Blatt 15 ausführt, daß sich Deutschland auf dem Gebiet des U-Bootbaues am wenigsten an die Grenze des deutsch-englischen Flottenabkommens gehalten habe; es hätten 55 U-Boote bis 1938 vorgesehen werden können: tatsächlich wären aber 118 fertiggestellt beziehungsweise in Bau gegeben. Diese Ausführungen von Aßmann sind tatsächlich unrichtig. In Wirklichkeit hat sich Deutschland auf dem Gebiete des U-Bootbaues streng an die Bestimmungen des deutsch-englischen Abkommens gehalten. Im Abkommen von 1935 hatte sich Deutschland trotz der Zusicherung der Gleichberechtigung freiwillig auf 45 Prozent beschränkt, es war ihm aber das Recht vorbehalten worden, diesen Prozentsatz durch freundschaftliche Vereinbarung mit England jederzeit zu erhöhen.
Die Beweisführung hat ergeben – siehe Aussage Raeder und Schulte-Mönting –, daß im Dezember 1938 die entsprechenden Verhandlungen zwischen dem britischen Admiral Lord Cunningham und Großadmiral Raeder stattgefunden haben, in denen Seiner Majestät Regierung die Erhöhung auf 100 Prozent zubilligte.
Zur Zeit der Beweisführung war noch nicht klar, ob diese Zubilligung auch schriftlich festgelegt worden ist, wie zu vermuten war. Inzwischen konnte ich feststellen, daß ein Schriftstück vorgelegen haben muß, und zwar gerade aus dem erwähnten Aßmann-Dokument D-854, wo auf Seite 169 – in Verbindung mit Seite 161 – der in Betracht kommende Brief vom 18. Januar 1939 erwähnt wird. Abschließend ist nur noch zu sagen, daß die von Aßmann erwähnte Zahl von 55 U-Booten dem Prozentsatz von 45 entspricht, während die Zahl von 118 U-Booten dem Prozentsatz von 100, demnach also Aßmann und folglich auch die Anklage-Vertretung irrt; tatsächlich liegt überhaupt keine Verletzung des Flottenabkommens hinsichtlich der U-Boote vor.
VORSITZENDER: Dr. Siemers! Da wir nun eine Übersetzung des Textes vorliegen haben, könnten Sie vielleicht ein wenig rascher lesen. Vielleicht können Sie das mit den Dolmetschern besprechen.
DR. SIEMERS: Selbstverständlich, Herr Präsident.