Einhundertachtzigster Tag.
Mittwoch, 17. Juli 1946.
Vormittagssitzung.
DR. SIEMERS: Ich habe gestern die Ereignisse vor Ausbruch des Krieges behandelt.
Ich komme jetzt zu den Ereignissen während des Krieges. Ich glaube gezeigt zu haben, daß die Marine an allen Ereignissen vor dem Krieg außerordentlich geringfügig beteiligt war und daß die Vorgänge, an denen die Marine maßgebend beteiligt war, sich auf friedlicher Basis abspielten, nämlich auf der Basis der Abkommen mit England.
Nachdem nun der Krieg trotz allem am 3. September 1939 auch mit England begonnen hatte, geschah sofort am ersten Tage ein bedauerliches Ereignis, nämlich die Versenkung der »Athenia«, aus welcher die Anklage mit übertriebenen Worten einen schwerwiegenden moralischen Vorwurf gegen Raeder zu konstruieren versucht, und zwar weniger auf Grund des eigentlichen militärischen Teiles, nämlich der Versenkung, die bereits mein Kollege Dr. Kranzbühler behandelt hat, als auf Grund des Artikels im »Völkischen Beobachter«, vom 23. Oktober 1939 mit dem Titel: »Churchill versenkte die ›Athenia‹«. Wäre der Tatbestand, den die Anklage gebracht hat, richtig, so wären die moralischen Vorwürfe gegen Raeder und die Marine berechtigt, wenn auch selbstverständlich ein unwahrer Zeitungsartikel kein Verbrechen ist. Demnach ist der von der Anklage erhobene Vorwurf lediglich dazu benutzt, um die Persönlichkeit Raeders herabzuziehen im Gegensatz zu dem guten Ansehen, das Raeder sein Leben lang in der ganzen Welt, und zwar gerade auch im Auslande, gehabt hat.
Ich glaube, daß die Beweisführung zur Genüge ergeben hat, daß der von der Anklage vorgetragene Tatbestand nicht richtig ist. Sicherlich ist es zu verstehen, wenn die Anklagevertretung zunächst geglaubt hat, daß der schmutzige Artikel im »Völkischen Beobachter« nicht ohne Wissen der Marineführung entstanden sein kann. Die Anklage glaubte dies, weil sie auf Grund ihres Verschwörungsbegriffes in jedem Falle der Meinung ist, daß eine ständige Beratung und enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ressorts stattfand. Der Lauf des Prozesses hat gezeigt, wie wenig diese Annahme stimmt. Der Gegensatz zwischen den einzelnen Ressorts und speziell der Gegensatz zwischen Marine und Propagandaministerium, zwischen Raeder und Goebbels, war sehr viel größer als der Gegensatz zwischen einzelnen Ressorts in einem demokratischen Staate. Darüber hinaus ist durch die Aussagen der Zeugen Raeder, Schulte-Mönting, Weizsäcker, Fritzsche im Zusammenhang mit den Urkunden absolut folgendes klargestellt:
1. Raeder hat Anfang September 1939 selbst fest daran geglaubt, daß die Versenkung nicht auf ein deutsches U-Boot zurückzuführen sei, weil sich aus den Meldungen ergab, daß das nächste deutsche U-Boot mindestens 75 Seemeilen vom Versenkungsort entfernt war.
2. Raeder hatte demgemäß laut Urkunde D-912 bona fide ein Dementi veröffentlicht und die entsprechenden Erklärungen gegenüber dem amerikanischen Marine-Attaché und gegenüber dem deutschen Staatssekretär Baron Weizsäcker abgegeben.
3. Raeder erfuhr die Unrichtigkeit erst nach Rückkehr des U-Bootes 30 am 27. September 1939.
4. Hitler bestand, wie durch die Zeugen Raeder und Schulte-Mönting bewiesen ist, darauf, daß der Tatbestand keiner anderen deutschen oder ausländischen Dienststelle gegenüber richtiggestellt werden dürfe, daß also die Versenkung durch ein deutsches U-Boot nicht zugegeben werden dürfe; er ließ sich augenscheinlich von politischen Gesichtspunkten leiten, weil er vermeiden wollte, daß Komplikationen mit den Vereinigten Staaten entständen über einen Vorfall, der, so bedauerlich er war, nicht wieder gut gemacht werden konnte. Der Befehl von Hitler war so streng, daß die wenigen Offiziere, die Bescheid wußten, auf Geheimhaltung besonders vereidigt wurden.
5. Fritzsche bekundete, daß er nach der ersten Rückfrage bei der Marine Anfang September 1939 später keine erneute Rückfrage gehalten hat und daß der Artikel im »Völkischen Beobachter« auf alleinige Veranlassung von Hitler und Goebbels erschien, ohne daß Raeder vorher orientiert wurde. Hiermit decken sich die Aussagen von Raeder und Schulte-Mönting. Folglich steht fest, daß Raeder – entgegen der Behauptung der Anklage – nicht der Urheber des Artikels war und überdies nichts von dem Artikel vor seinen Erscheinen gehört hat. Ich bedauere, daß die Anklage trotz dieser Klarstellung anscheinend immer noch ihre Behauptung aufrechterhalten will, indem sie noch am 3. Juli 1946 ein neues Dokument D-912 vorlegte. Dieses neu vorgelegte Dokument enthält lediglich Rundfunksendungen des Propagandaministeriums, die auf der gleichen Linie liegen wie der Artikel im »Völkischen Beobachter«. Diese Rundfunksendungen waren ein Propagandamittel von Goebbels und können daher, ebensowenig wie der Artikel, Raeder zur Last gelegt werden, der im übrigen seinerzeit nur den Artikel, nicht aber die Rundfunksendungen zur Kenntnis erhielt. Selbst aus der Tatsache, daß Raeder nach Kenntnis des Artikels keine Berichtigung vorgenommen hat, kann kein moralischer Vorwurf erhoben werden; denn er war durch den Befehl Hitlers gebunden und konnte seinerzeit nicht ahnen, daß Hitler selbst an diesem Artikel beteiligt war, den Weizsäcker mit Recht als perverse Phantasie bezeichnete.
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß es allgemein bekannt ist, daß gerade zu Beginn des Krieges auch in der englischen Presse unrichtige Nachrichten über angebliche deutsche Greueltaten erschienen sind, die auch nach Aufklärung nicht berichtigt worden sind, wie zum Beispiel die Falschmeldung über die Ermordung von 10000 Tschechen in Prag durch deutsche Kreise im September 1939, obwohl der Sachverhalt durch eine Kommission neutraler Journalisten aufgeklärt wurde.
Die Anklage glaubt, gegen alle Angeklagte erdrückendes Material zu besitzen. Wenn diese Meinung auch bezüglich Raeder zuträfe, hätte die Anklage es wohl kaum nötig gehabt, gerade diesen Fall »Athenia« mit so schwerwiegenden und beleidigenden Ausdrücken vorzubringen, nur um den früheren Oberbefehlshaber der Kriegsmarine zu diskreditieren.
Bezüglich Griechenland erhebt die Anklage gegen Raeder den Vorwurf der Neutralitätsverletzung und des Völkerrechtsbruches in zweifacher Beziehung, nämlich:
Erstens: Auf Grund des Dokuments C-12, wonach Hitler auf Grund eines Vortrags von Raeder am 30. Dezember 1939 entschieden hat, ich zitiere:
»Griechische Handelsschiffe sind in der von USA um England erklärten Sperrzone wie feindliche zu behandeln.«
Zweitens: Laut Dokument C-167 bittet Raeder gelegentlich eines Vortrags bei Hitler am 18. März 1941 um Bestätigung, daß, – ich zitiere:
»... ganz Griechenland besetzt werden soll, auch bei friedlicher Regelung.«
Beide Vorwürfe haben sich im Laufe des Prozesses als haltlos erwiesen; in beiden Fällen liegt keine völkerrechtswidrige Handlung vor.
Zu Punkt 1: Es war Raeder und der deutschen Marineführung im Oktober/November 1939 bekanntgeworden, daß griechische Handelsschiffe auf Veranlassung oder unter Billigung der Griechischen Regierung in größerem Umfange England zur Verfügung gestellt worden waren.1 Diese Tatsache ist mit einer strikten Neutralität nicht zu vereinbaren und gab nach den völkerrechtlichen Grundsätzen Deutschland das Recht, eine äquivalente Gegenmaßnahme zu ergreifen. Die berechtigte Gegenmaßnahme bestand darin, griechische Handelsschiffe, die nach England fuhren, von dem Augenblick an als feindlich zu behandeln, wo sie sich in der Sperrzone befanden, die um England herum durch die Vereinigten Staaten erklärt worden war.2
Zum zweiten Vorwurf: Deutschland, insbesondere das Oberkommando der Kriegsmarine, hatte Nachrichten darüber erhalten, daß schon seit 1939 gewisse griechische Kreise aus Politik und Militär engste Beziehungen zum Alliierten Generalstab unterhielten. Im Laufe der Zeit hatten sich die Nachrichten verdichtet. Die Planungen der Alliierten auf dem Balkan sind bekannt; sie gingen dahin, eine Balkanfront gegen Deutschland zu errichten. Zu diesem Zwecke waren in Griechenland seitens des Alliierten Generalstabs, ebenso wie in Rumänien, die örtlichen Verhältnisse durch alliierte Offiziere untersucht, um dort Flugzeugbasen zu schaffen. Außerdem wurden Vorbereitungen getroffen, um in Griechenland zu landen. Zum Beweise habe ich als Raeder-Exhibit Nummer 59 die Niederschrift über die Sitzung des Französischen Kriegsausschusses vom 26. April 1940 vorgelegt, aus der sich ergibt, daß schon zu dieser Zeit der Kriegsausschuß die Frage etwaiger Operationen im Raume Kaukasus und auf dem Balkan prüfte, und aus der sich weiter die Tätigkeit von General Jauneaud in Griechenland zur Fortsetzung der Untersuchungen und der Vorarbeiten zeigt und der Versuch, die Reise dadurch zu tarnen, daß sie in Zivil ausgeführt wird.3
Ein derartiges Verhalten Griechenlands und insbesondere sein Eingehen auf die alliierte Planung stellt eine Verletzung der Neutralität seitens Griechenlands dar; denn Griechenland trat nicht als Bundesgenosse Englands auf, sondern hielt formal weiter an seiner Neutralität fest. Dementsprechend konnte Griechenland nicht mehr damit rechnen, daß Deutschland die griechische Neutralität vollen Umfanges respektierte. Trotzdem hat Deutschland die griechische Neutralität noch lange Zeit respektiert. Die Besetzung Griechenlands erfolgte erst im April 1941, nachdem britische Truppen bereits am 3. März 1941 in Südgriechenland gelandet waren.4
Die Tatsache, daß Griechenland der englischen Landung zugestimmt hat, ist für die völkerrechtlichen Beziehungen und für die völkerrechtliche Beurteilung zwischen Deutschland und England und zwischen Deutschland und Griechenland nach allgemein anerkannten Regeln ohne Bedeutung; sie hat nur Bedeutung für das Rechtsverhältnis zwischen England und Griechenland.
Die Britische Anklage versuchte, die Besetzung Griechenlands damit zu rechtfertigen, daß die griechische Neutralität durch Deutschland, insbesondere durch die Besetzung Bulgariens am 1. März 1941, bedroht wurde. Die Anklage übersieht dabei, daß nicht nur die Durchführung der Besetzung Griechenlands durch britische Streitkräfte, sondern daß auch die Planungen der Alliierten ganz wesentlich früher begonnen haben als die deutschen Planungen. Wie dem aber auch sei: Gegen Raeder kann jedenfalls überhaupt kein Vorwurf erhoben werden; denn das Datum der von der Anklage vorgelegten Urkunde ist der 18. März 1941, liegt also 14 Tage nach der Landung der Engländer in Südgriechenland. Zu dieser Zeit konnte jedenfalls Griechenland keinen Anspruch mehr darauf erheben, daß seine angebliche Neutralität respektiert würde. Darüber hinaus ist aber auch der Vorwurf unberechtigt, wenn die Anklage darauf hinweist, daß Raeder um Bestätigung bittet, daß ganz Griechenland besetzt werde. Dieser Antrag Raeders war dafür, daß ganz Griechenland besetzt worden ist, nicht kausal; denn Hitler hatte bereits in seiner Weisung Nummer 20 am 13. Dezember 1940 vorgesehen, daß das ganze griechische Festland zu besetzen sei, um die englischen Bestrebungen zu vereiteln, unter dem Schutze einer Balkanfront eine gefährliche Luftbasis zu schaffen, insbesondere auch für das rumänische Ölgebiet. Darüber hinaus war die Rückfrage Raeders am 18. März 1941 aus strategischen Gründen berechtigt, weil Griechenland den Engländern sehr viele Landungsmöglichkeiten bot und man sich hiergegen nur schützen konnte, wenn sich Griechenland fest in der Hand Deutschlands befand, wie die Zeugen Raeder und Schulte-Mönting ausgeführt haben.5
Diese strategische Idee Raeders hatte nichts mit Eroberungsgedanken oder Ruhmsucht zu tun, wie die Anklagebehörde meint, denn Ruhm hat die Marine in Griechenland überhaupt nicht geerntet, weil die Besetzung eine Operation zu Lande darstellte und die Besetzung eines ursprünglich neutralen Landes ist einfach die bedauerliche Folge eines derart großen Krieges; sie kann nicht einem kriegführenden Teil zur Last gelegt werden, wenn beide kriegführenden Lager hinsichtlich des gleichen Staates Planungen hatten und diese Planungen durchführten.
Ich möchte nun zu dem Thema Norwegen übergehen.
Am 9. April 1940 haben die deutschen Truppen aller drei Wehrmachtsteile Norwegen und Dänemark besetzt. Aus dieser Tatsache und aus den vorhergehenden Planungen hat die Anklagevertretung gegen Großadmiral Raeder wohl neben dem allgemeinen Vorwurf der Beteiligung an der Verschwörung die stärkste Anklage erhoben. Der britische Anklagevertreter wies darauf hin, daß Raeder Hitler erst auf den Gedanken gebracht hätte, Norwegen zu besetzen, und glaubt wiederum, daß Raeder dies aus Eroberungs- und Ruhmsucht getan habe. Ich werde zeigen, daß diese Argumentation unrichtig ist. Richtig ist nur, daß in diesem einen einzigen Falle Raeder von sich aus an Hitler hinsichtlich der Norwegenfrage zuerst herangetreten ist, und zwar am 10. Oktober 1939. Ich werde aber zeigen, daß er auch hier nicht als Politiker gehandelt hat, sondern ausschließlich als Soldat. Raeder erkannte rein strategische Gefahren und wies Hitler auf diese strategischen Gefahren hin, weil er annahm, daß in Skandinavien, besonders in Norwegen, seitens der Alliierten eine neue Front zu errichten beabsichtigt sei und wußte, daß eine Besetzung Norwegens durch England kriegsentscheidend zuungunsten Deutschlands sein konnte. Ich werde zeigen, daß Deutschland durch die Besetzung von Norwegen keine Völkerrechtswidrigkeit begangen hat. Bevor ich die juristische Grundlage darlege und die in der Beweisführung bewiesenen Tatsachen mit den völkerrechtlichen Grundsätzen in Zusammenhang bringe, möchte ich nur eine wichtige Tatsache vorausschicken:
Raeder hat, wie seine Vernehmung und die Vernehmung Schulte-Möntings ergaben, sich sehr ungern als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine für die Norwegen-Aktion eingesetzt. Raeder hatte das natürliche rechtliche Empfinden, daß ein neutraler Staat nicht ohne eine absolut überragende Zwangslage in den bestehenden Krieg hineingezogen werden darf. Raeder hat in der Zeit vom Oktober 1939 bis Frühjahr 1940 immer den Standpunkt vertreten, daß es die weitaus beste Lösung wäre, wenn Norwegen und ganz Skandinavien absolut neutral bleiben. Dies haben Raeder und Schulte-Mönting übereinstimmend bei ihrer Vernehmung bekundet, und es ist im übrigen auch durch Urkunden bewiesen, wofür ich mich auf Raeder-Exhibit Nummer 69 beziehe. Dort ist im Kriegstagebuch unter dem Datum des 13. Januar 1940 die Überzeugung Raeders festgestellt, daß die günstigste Lösung zweifellos die Wahrung striktester Neutralität durch Norwegen sei. Raeder war sich klar darüber, daß eine Besetzung Norwegens durch Deutschland aus völkerrechtlichen und strategischen Gründen nur in Frage kommt, wenn Norwegen seine absolute Neutralität nicht aufrechterhalten kann oder will.
Die Anklage hat auf die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Deutschland und Norwegen hingewiesen, insbesondere auf das Dokument TC-31, wo die Deutsche Reichsregierung noch unter dem 2. September 1939 ausdrücklich Norwegen seine Unverletzlichkeit und Integrität zusichert. In diesem Aide-Memoire ist aber der folgende richtige Gedanke hinzugefügt; ich zitiere:
»Wenn die Reichsregierung diese Erklärung abgibt, so erwartet sie natürlich auch ihrerseits, daß Norwegen dem Reich gegenüber eine einwandfreie Neutralität beobachten wird und alle Einbrüche, die etwa von dritter Seite in die norwegische Neutralität erfolgen sollten, nicht dulden wird.«
Wenn Deutschland sich trotz dieser grundlegenden Einstellung zur Besetzung Norwegens entschloß, so beruhte dies darauf, daß infolge der Planungen der Alliierten die drohende Gefahr bestand, daß die Alliierten norwegische Stützpunkte besetzten. Sir Hartley Shawcross hat in seiner Eröffnungsrede6 erklärt, daß der Neutralitätsbruch Deutschlands und der Angriffskrieg gegen Norwegen selbst dann im Sinne der Anklage verbrecherisch sind, wenn die Pläne der Alliierten zur Besetzung wahr gewesen wären, und hinzugefügt, daß die Pläne tatsächlich nicht wahr gewesen seien. Ich glaube, daß die hier von Sir Hartley Shawcross vertretene Auffassung dem geltenden Völkerrecht widerspricht. Wenn tatsächlich alliierte Planungen zur Besetzung norwegischer Stützpunkte bestanden und eine drohende Gefahr dafür vorlag, daß Norwegen die Neutralität nicht innehalten wollte oder konnte, dann war nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten die deutsche Norwegen-Aktion berechtigt.
Ich darf zunächst auf die juristischen Gesichtspunkte nach dem herrschenden Völkerrecht eingehen, um für meine eigenen Ausführungen eine Basis zu schaffen und damit gleichzeitig die rechtlichen Gesichtspunkte darzulegen, welche der Ansicht der Anklagevertretung widersprechen. Um bei dieser rechtlichen Darlegung Zeit zu sparen und den Komplex übersichtlich zu gestalten, habe ich als Raeder-Exhibit Nummer 66 ein völkerrechtliches Gutachten über die Norwegen-Aktion von Dr. Hermann Mosler, Dozent für Völkerrecht an der Universität Bonn, eingereicht. Das Hohe Gericht wird sich erinnern, daß nur die Benutzung dieses Gutachtens zu Argumentationszwecken gestattet wurde, und ich darf mich daher in diesem Zusammenhang auf die ausführliche wissenschaftliche Zusammenstellung und Begründung beziehen. Ich begnüge mich deshalb in meinem Plädoyer mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ideen des Gutachtens.
In Artikel 1 und 2 des Haager Abkommens über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekrieges (Beweisstück Raeder 65) ist bestimmt, daß die Kriegführenden verpflichtet sind, die Hoheitsrechte der neutralen Mächte in dem Gebiet und in den Küstengewässern der neutralen Macht zu achten, und alle von Kriegsschiffen der Kriegführenden innerhalb der Küstengewässer einer neutralen Macht begangenen Feindseligkeiten als Neutralitätsverletzung unbedingt untersagt sind.
Großbritannien hat, entgegen dieser Bestimmung, die Neutralität Norwegens durch Verminung der norwegischen Küstengewässer verletzt, und zwar mit dem Zweck, die legitime Durchfahrt deutscher Kriegs- und Handelsschiffe zu verhindern, insbesondere um die Erzausfuhr von Narvik nach Deutschland zu unterbinden. In dem Schreiben des Foreign Office als Antwort auf meinen Antrag auf Vorlage der Akten der Britischen Admiralität wurde laut Raeder-Exhibit Nummer 130 bestätigt, daß in norwegische Gewässer durch die Streitkräfte Seiner Majestät Regierung Minenfelder gelegt wurden und hinzugefügt, daß dies eine öffentlich bekannte Tatsache sei. (Beweisstück Raeder 83, 84, 90.)
Es dürfte unstreitig sein, daß Deutschland daraufhin berechtigt war, das gestörte Gleichgewicht zwischen den Kriegführenden wiederherzustellen, also durch Aktionen seiner Streitkräfte dem Gegner den Vorteil zu nehmen, den er durch die Neutralitätsverletzung gewonnen hatte.
Die Reaktion gegen eine solche Neutralitätsverletzung richtet sich in erster Linie gegen den Feind und nicht gegen den Neutralen. Die Rechtsbeziehung hinsichtlich der Neutralität...
VORSITZENDER: Dr. Siemers! Der Gerichtshof möchte Ihre Ansicht über diesen Fall kennenlernen. Betrachten Sie es so, daß jeder Neutralitätsbruch seitens eines der kriegführenden Staaten den anderen kriegführenden Staat berechtigt, in diesen neutralen Staat einzurücken?
DR. SIEMERS: Herr Präsident! In dieser allgemeinen Beziehung kann man es sicher nicht sagen. Es ist ein Grundsatz im Völkerrecht, daß der Völkerrechtsbruch eines kriegführenden Staates den anderen kriegführenden Staat immer nur zu einer Gegenmaßnahme berechtigt, die der vorhergehenden Neutralitätsverletzung äquivalent ist. Es kann sicher nicht Deutschland Norwegen besetzen, weil England die Küstengewässer vermint. Diese Tatsache berechtigt nicht zur Besetzung.
VORSITZENDER: Würde Ihrer Ansicht nach hinsichtlich der Rechte Deutschlands ein Unterschied bestehen, wenn Deutschland im ursprünglichen Kriege als Angreifer angesehen würde? Ich will das wiederholen: Würde Ihrer Ansicht nach ein Unterschied entstehen, wenn Deutschland im ursprünglichen Kriege, aus dem die Besetzung des neutralen Landes hervorging, für den Angreifer gehalten würde?
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich bitte um Entschuldigung, es läßt sich der Sinn Ihrer Frage in der Übersetzung nicht verstehen.
VORSITZENDER: Ich werde es noch einmal wiederholen: Bestände Ihrer Ansicht nach ein Unterschied, wenn der Gerichtshof annehmen sollte, daß Deutschland in einem Krieg, der zur Besetzung eines neutralen Staates führte, als Angreifer anzusehen wäre?
DR. SIEMERS: Ich kann den Sinn der Frage nicht verstehen...
Verzeihung, Herr Präsident, wenn ich jetzt richtig verstanden habe, soll Ich die Frage beantworten, ob die Tatsache, daß vorher ein Krieg von Deutschland gegen Polen begonnen war, irgendeinen Einfluß hat auf die rechtliche Stellungnahme, auf die Frage hinsichtlich Norwegens.
VORSITZENDER: Angenommen – ich sage nur: angenommen –, daß der von Deutschland gegen Polen begonnene Krieg als Angriffskrieg angesehen würde.
DR. SIEMERS: Ich glaube, dies verneinen zu müssen, denn diese einzelnen völkerrechtlichen Tatbestände müssen getrennt behandelt werden. Die Tatsache, die eventuell das Gericht annehmen wird, daß ein Angriffskrieg gegen Polen geführt wurde, kann völkerrechtlich keine Wirkung auf die kommenden Jahre machen. Übrigens ist dies ein Standpunkt, den meines Erachtens die Anklage vertreten hat, denn auch Sir Hartley Shawcross hat den Komplex Griechenland hinsichtlich der Landungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der griechischen Ereignisse betrachtet und nicht gesagt, England durfte Griechenland besetzen, weil Deutschland Polen angegriffen hat, sondern genau wie ich juristisch-völkerrechtlich sagte, England dürfe Griechenland besetzen, weil Griechenland durch Deutschlands Besetzung bedroht wurde. Das sage ich völkerrechtlich mit Bezug auf Norwegen, wie meine weiteren Ausführungen zeigen werden. Andere Vergleiche will ich nicht ziehen.
VORSITZENDER: Eine weitere Frage möchte ich Ihnen noch stellen. Ist es Ihre Ansicht, daß Deutschland völkerrechtlich berechtigt war, die Territorialgewässer Norwegens für die Durchfahrt von Kriegsschiffen für Erztransporte oder für den Transport von Kriegsgefangenen zu benutzen?
DR. SIEMERS: Meines Erachtens liegt es völkerrechtlich so, daß Deutschland berechtigt war, die Küstengewässer zu benutzen, unter Beobachtung der verschiedenen völkerrechtlichen Bestimmungen, zum Beispiel des kurzen Aufenthalts in Häfen, und ähnlicher Bestimmungen, der Verpflichtung der Überprüfung durch Neutrale, wie im Falle der »Altmark«. Aber grundsätzlich die Schiffahrt von Narvik aus zu führen ist völkerrechtlich, soviel ich weiß, berechtigt.
VORSITZENDER: Sie können nunmehr fortfahren.
DR. SIEMERS: Ich darf, Herr Präsident, zu dem letzten nur noch das eine hinzufügen: Wenn man der Meinung sein sollte, daß Deutschland die Küstengewässer nicht benutzen durfte, darin wäre die Verminung der Küstengewässer eine berechtigte Neutralitätsverletzung durch England; dann würde also die Verminung für mich als Begründung in meinem Plädoyer fortfallen, hingegen nicht die anderen Tatsachen, die ich bringe. Die Verminung steht im äquivalenten Verhältnis zu der Benutzung der Küstengewässer. Ich persönlich halte die Verminung für unzulässig, die Durchfahrt durch Küstengewässer für zulässig, es hat aber keine weiteren Schlußfolgerungen auf den ganzen Komplex bezüglich der Besetzung von Norwegen. Ich möchte recht verstanden werden, ich behaupte nicht, daß Deutschland Norwegen besetzen durfte, weil England Minen in den Küstengewässern legte.
VORSITZENDER: Aber Sie sagen doch, daß Deutschland berechtigt war, die Küstengewässer zu benutzen, erstens für den Erztransport, zweitens für seine Kriegsschiffe...
DR. SIEMERS: Ja.
VORSITZENDER:... und drittens für den Transport von Kriegsgefangenen?
DR. SIEMERS: Ja, ich bin der Meinung, daß für die Transporte des Erzes keine völkerrechtliche Vorschrift besteht, die dieses untersagt, so daß diese Schiffahrt berechtigt stattfand.
Hinsichtlich der Kriegsgefangenen darf ich darauf hinweisen, daß da nur ein Fall vorliegt, nämlich der Fall der »Altmark«. Wenn Deutschland die Küstengewässer für Transporte von Kriegsgefangenen nicht benutzen durfte, dann könnte dies höchstens zur Folge haben, daß England eine äquivalente Gegenmaßnahme ergreifen würde, das heißt im Einzelfall dagegen etwas tun würde, es durfte aber dann nicht die ganzen Küstengewässer verminen. Die Verminung der ganzen Küste ist völkerrechtlich nur berechtigt, wenn man auf dem Standpunkt steht, daß die Handelsschiffahrt Deutschlands in den Küstengewässern völkerrechtlich verboten war. Das ist aber meines Erachtens nicht der Fall.
VORSITZENDER: Sie können fortfahren.
DR. SIEMERS: Die Reaktion gegen eine solche Neutralitätsverletzung richtet sich in erster Linie gegen den Feind, und nicht gegen den Neutralen. Die Rechtsbeziehungen hinsichtlich der Neutralität bestehen nicht nur zwischen dem Neutralen und jedem der beiden kriegführenden Staaten, sondern die Neutralität des betreffenden Neutralen ist gleichzeitig auch ein Faktor in den direkten Beziehungen der Kriegführenden untereinander. Wird das Neutralitätsverhältnis zwischen dem einen Kriegführenden und den Neutralen gestört, so kann sich der Neutrale über ein entsprechendes Vorgehen des anderen Kriegführenden nicht beklagen, wobei es keine Rolle spielt, ob der neutrale Staat seine Neutralität nicht schützen kann oder nicht schützen will.7
Der Rechtstitel für die Gegenmaßnahmen des benachteiligten Kriegführenden ist das »Recht der Selbsterhaltung« (The right of selfdefense; le droit de défense personelle). Dieses Recht der Selbsterhaltung ist völkerrechtlich allgemein anerkannt, wie im einzelnen das Gutachten ergibt. Es genügt hier darauf hinzuweisen, daß dieses grundlegende Recht auch durch den in diesem Saale so oft genannten Kellogg- Pakt nicht beeinträchtigt wurde. Ich darf dazu aus der Zirkularnote des amerikanischen Staatssekretärs Kellogg vom 23. Juni 1938 folgendes kurze Zitat bringen:
»Nichts in dem amerikanischen Entwurf eines Anti- Kriegsvertrages beschränkt oder beeinträchtigt irgendwie das Recht der Selbsterhaltung. Dieses Recht ist ein wesentlicher Bestandteil jedes souveränen Staates und implicite in jedem Vertrage enthalten.«
Soweit Kellogg.
Justice Jackson wird mir gestatten, daß ich in diesem Zusammenhang erwähne, daß er in seiner Eröffnungsrede vor diesem Gericht am 21. November 1945 selbst »auf das Recht der legitimen Selbsterhaltung« hinwies.
Interessant ist, daß der schwedische Außenminister Guenther in einer Parlamentsrede vom 8. Februar 1940 diesen Gedanken anerkannte, obwohl er der Vertreter eines zu dieser Zeit gefährdeten neutralen Staates war und überdies zu einer Zeit sprach, bevor Deutschland in Norwegen Gegenmaßnahmen einleitete.8 Guenther nahm in dieser Rede zu der englischen Erklärung Stellung Schwedens Neutralität nur so lange zu respektieren, wie sie von Englands Feinden respektiert werde. Guenther anerkannte, daß Schweden im Verhältnis zu Großbritannien seine Neutralität verliere, falls Deutschland Schwedens Neutralität verletze, und Schweden nicht willens oder imstande wäre, die Neutralitätsverletzung durch Deutschland zu verhindern. Folglich, so sagte Guenther, brauche Großbritannien Schweden nicht mehr als neutrales Land zu behandeln. Es liegt auf der Hand, daß diese Schlußfolgerungen, die Guenther für den Fall der Neutralitätsverletzung durch Deutschland im Falle Schweden zieht, auch für das dreiseitige Rechtsverhältnis Großbritannien-Deutschland-Norwegen Anwendung finden müsse. Es handelte sich aber, wie ich bei der Würdigung der Beweisführung darlegen werde, nicht nur um die britische Verminungsaktion in norwegischen Küstengewässern, sondern um einen sehr viel weiter gespannten britisch-französischen Plan, der auf die Besetzung von Stützpunkten Norwegens und eines Teiles des norwegischen Staatsgebietes gerichtet war. Die Verminungsaktion erscheint nur als ein Teilstück des Gesamtplanes.
Nach dem Gutachten Mosler und nach den vorstehenden Ausführungen ist es absolut klar, daß die Besetzung Norwegens durch Deutschland berechtigt war, wenn die Alliierten ihren Plan teilweise durch Landung an einem Stützpunkt in Norwegen bereits vor dem Erscheinen deutscher Truppen durchgeführt gehabt hätten. Das aber war nicht geschehen; es lag, wie ich zeigen werde, vielmehr so, daß Deutschland der britisch-französischen Landung zuvorkam, sich also zur Gegenmaßnahme bereits wegen der bevorstehenden drohenden Gefahr entschloß.
Rechtlich ist daher noch die weitere Frage zu untersuchen: Ist bei gleichem Tatbestande die Gegenmaßnahme eines kriegführenden Staates erst erlaubt, wenn der andere kriegführende Staat die Neutralitätsverletzung vorgenommen hat, oder darf man bereits auf die Gefahr der dicht bevorstehenden Neutralitätsverletzung reagieren, um dem unmittelbar erwarteten Angriff des Feindes zuvorzukommen?
Nach dem begründeten Gutachten von Dr. Mosler ist die vorbeugende Gegenmaßnahme gestattet, und es ist die mit Sicherheit zu erwartende, unmittelbar bevorstehende Neutralitätsverletzung einer vollendeten Neutralitätsverletzung gleichzusetzen.
Der bekannte angelsächsische Völkerrechtler Westlake sagt zu der Frage der Präventivmaßnahmen:
»Ein solcher Fall ist im Wesen demjenigen ähnlich, daß ein Kriegführender die sichere Kunde hat, daß sein Feind zur Erlangung eines strategischen Vorteils im Be griff steht, eine Armee durch das Gebiet eines zum Widerstand offenbar zu schwachen Neutralen marschieren zu lassen; unter diesen Umständen würde es unmöglich sein, ihm das Recht zu verweigern, den Vorstoß auf das neutrale Gebiet vorwegzunehmen.«
Die Begründung für eine solche Präventivmaßnahme liegt nach Westlake in dem Recht der Selbsterhaltung, das auch gegen eine drohende Neutralitätsverletzung gilt. Eine andere Auffassung wäre auch lebensfremd und würde dem Wesen der Völkergesellschaft als Vielheit souveräner Staaten mit einer noch unvollkommen entwickelten gemeinsamen Rechtsordnung nicht entsprechen. Im innerstaatlichen Rechtssystem jedes zivilisierten Staates ist die Abwehr des unmittelbar drohenden Angriffes ein erlaubter Notwehrakt, obwohl dort sogar die Hilfe des Staates gegen den Rechtsbrecher zur Verfügung steht. In der Völkerrechtsgemeinschaft, wo dieses nicht der Fall ist, jedenfalls noch nicht zu Beginn und während des zweiten Weltkrieges, muß der Gesichtspunkt der Selbsterhaltung in ungleich stärkerem Maße gelten. Im Einklang mit dieser Auffassung hielt auch die Britische Regierung während dieses Krieges die Präventivmaßnahme für berechtigt, als sie am 10. Mai 1940 Island besetzte. Die Britische Regierung hat diese Maßnahme klar und völkerrechtlich richtig in einer amtlichen Verlautbarung des Foreign Office folgendermaßen begründet, ich zitiere:
»Nach der deutschen Besetzung Dänemarks ist es notwendig geworden, mit der Möglichkeit eines plötzlichen deutschen Vorstoßes nach Island zu rechnen.
Es ist klar, daß die Isländische Regierung im Falle eines solchen Angriffs, selbst wenn er nur mit sehr geringen Kräften geführt würde, unfähig wäre zu verhindern, daß ihr Land vollständig in die Hände der Deutschen fiele.«
Die Präventivmaßnahme wurde durch England durchgeführt, obwohl Island sich ausdrücklich in einer Protestnote gegen die Besetzung wehrte.
Ich bitte auch zu beachten, daß die Vereinigten Staaten diesen Rechtsstandpunkt billigten, wie die bekannte Botschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten an den Kongreß vom 7. Juli 1941 und die dann erfolgende Besetzung Islands durch Streitkräfte der Amerikanischen Marine beweist.
In Übereinstimmung mit diesen Rechtsgrundsätzen ist der vorliegende Tatbestand zu überprüfen. Ich habe versucht, in der Beweisführung den Tatbestand klarzustellen, und darf die hauptsächlichsten Gesichtspunkte zusammenlassen, welche tatsächlich eine dicht bevorstehende Neutralitätsverletzung seitens der Alliierten durch teilweise Besetzung von Norwegen zeigen und damit die deutsche Norwegen-Aktion rechtfertigen.
Ende September, Anfang Oktober 1939 erhielt Großadmiral Raeder, wie die Beweisführung gezeigt hat, durch Generaladmiral Carls und durch die laufenden Berichte des Admirals Canaris, als Leiter der Abwehr, verschiedene Nachrichten, welche die Gefahr erkennen ließen, daß die Alliierten im Rahmen ihrer Planungen zur Einkreisung Deutschlands Stützpunkte in Norwegen besetzen würden, um insbesondere die Erzzufuhr aus Skandinavien zu unterbinden.
In Zivil getarnte englische Flugzeugbesatzungen waren in Oslo gesehen und Vermessungsarbeiten durch alliierte Offiziere an norwegischen Brücken, Viadukten und Tunnels bis an die schwedische Grenze waren festgestellt. Außerdem war die stille Mobilmachung schwedischer Truppen wegen der Gefährdung schwedischer Erzgebiete bekanntgeworden. Raeder hielt sich mit Recht für verpflichtet, über diesen Tatbestand Hitler zu unterrichten und ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die für Deutschland entstehen würde, wenn sich englische und französische Streitkräfte in Skandinavien festsetzen würden. Die Gefahren waren klar. Sie bestanden in der Abschneidung jeglicher Zufuhr auf dem Handelsgebiete aus Skandinavien, insbesondere von der Erzzufuhr, sowie darin, daß die Alliierten eine günstige Basis für Luftangriffe erhielten, und last but not least darin, daß die deutsche Marine in der Flanke bedroht und in ihren Operationsmöglichkeiten eingeschränkt würde.9
Die Blockierung von Nordsee und Ostsee hätte sich strategisch verheerend ausgewirkt.
Da die Nachrichten noch keinen abschließenden Überblick gestatteten, machte Raeder nicht etwa den Vorschlag zur sofortigen Besetzung, sondern wies nur auf die Gefahren hin, um dann zunächst die weitere Entwicklung abzuwarten. Hitler faßte in dieser Besprechung vom 10. Oktober 1939 infolgedessen auch noch keinen endgültigen Entschluß, sondern war mit dem Abwarten einverstanden. In den Monaten Oktober und November gingen weitere ähnliche Nachrichten ein, und zwar nun auch durch den inzwischen nach Oslo entsandten Marine-Attaché Korvettenkapitän Schreiber, auf dessen Affidavit (Beweisstück Raeder 107) ich mich beziehen darf. Es ergibt: Der norwegische Reederverband hatte Tankschiffsraum von zirka einer Million Tonnen mit Zustimmung der Norwegischen Regierung an England zur Verfügung gestellt.10
Im Winter 1939/1940 konkretisierten sich die Meldungen über Spionageaufträge des englischen und französischen Geheimdienstes an norwegische Agenten und englische Hafenkonsulate zwecks Erkundung von Landemöglichkeiten und zur Überprüfung norwegischer Bahnen hinsichtlich Leistungsfähigkeit, insbesondere bezüglich der Narvikbahn, und Aufträge auf Untersuchung von Land- und Seeflugplätzen in Norwegen. Auf Grund dessen, daß sich die Nachrichten aus zwei verschiedenen Quellen, nämlich Marine-Attaché in Oslo und Admiral Canaris, deckten und im Laufe der Monate Oktober bis Dezember 1939 allmählich verdichteten, schien die geschilderte Gefahr immer größer zu werden.
Im Dezember 1939 kam dann noch hinzu, daß Quisling und Hagelin, völlig unabhängig von den bisherigen Nachrichtenquellen, gleiche und ähnliche Nachrichten über Landungsabsichten der Alliierten an Rosenberg überbrachten, und zwar nur deshalb nicht direkt an Raeder, weil Raeder weder Quisling noch Hagelin bisher kannte. Da es sich um eine rein militärisch-strategische Frage handelte, bat Rosenberg Raeder, sich mit Quisling zu unterhalten, damit Raeder die militärtechnischen Möglichkeiten überprüfe unter Berücksichtigung dessen, daß nach den Nachrichten mit einer Aggression der Alliierten in Skandinavien zu rechnen wäre. Dies ergibt sich aus dem Briefe Rosenbergs an Raeder vom 13. Dezember 1939, den ich als Raeder-Exhibit Nummer 67 vorlegte. Raeder fühlte sich vom rein militärischen Standpunkt aus verpflichtet, nunmehr Hitler, den er inzwischen über diese Frage nicht gesprochen hatte, darüber zu unterrichten, daß übereinstimmende Nachrichten inzwischen von Canaris, dem Marine-Attaché in Oslo und Quisling eingegangen seien. Hitler wollte Quisling selbst sprechen, tat dieses und entschloß sich dann, zur Begegnung der drohenden Gefahr nunmehr die erforderlichen Vorbereitungen für eine eventuelle Präventivmaßnahme, also eine Besetzung von Norwegen, zu treffen.11
Der endgültige Entschluß wurde immer noch zurückgestellt, und wiederum wurde noch abgewartet, welche weiteren Nachrichten eingingen, und ob sich die Gefahr vergrößerte. Diese Vorsicht und Zurückhaltung erscheint gerade bei Raeder verständlich. Wie ich schon sagte, hätte Raeder es lieber gesehen, wenn die Neutralität Norwegens erhalten worden wäre, gerade weil ihm jede Eroberung um der Eroberung willen fremd ist. Andererseits wußte er, daß eine Besetzung den Einsatz der gesamten Marine erforderte und das Schicksal der ganzen Marine aufs Spiel setzte, zum mindesten mit einem Verlust eines Drittels der ganzen Flotte gerechnet werden mußte. Wie schwer unter solchen politischen und strategischen Gesichtspunkten ein derartiger Entschluß für einen gewissenhaften Menschen und Soldaten ist, dürfte ohne weiteres klar sein.
Leider aber vermehrten sich die Nachrichten in den ersten Monaten des Jahres 1940 und wurden ständig konkreter. Im März 1940 zeigten sich auffallend viele englisch sprechende Menschen in Oslo, und Raeder erhielt sehr ernste, glaubwürdige Informationen über kurz bevorstehende Maßnahmen der Alliierten gegen Norwegen und auch Schweden. Bezüglich der Landungsabsichten waren Narvik, Drontheim und Stavanger genannt. So kam es, daß die militärische Ausarbeitung erst im Februar und März 1940 und die endgültige Anweisung an die Wehrmacht sogar erst im März 1940 erfolgte.12
Hinzu kamen zahlreiche Neutralitätsverletzungen im März 1940, die im Kriegstagebuch zusammengestellt sind (Beweisstücke Raeder 81 und 82), und außerdem Anfang April die Verminung der norwegischen Hoheitsgewässer.
Die Anklage hat gegenüber diesem umfangreichen Nachrichtenmaterial lediglich einige Urkunden überreicht, wonach der Deutsche Gesandte in Oslo, Bräuer, die Gefahr für nicht so groß ansah, sondern glaubte, daß das auch von ihm erwähnte englische Verhalten lediglich darauf hinauszulaufen scheine, Deutschland zu provozieren, damit Deutschland den Auftakt zu Kriegshandlungen in den norwegischen Gewässern gäbe.13
Baron Weizsäcker hat im Rückkreuzverhör hierzu Stellung genommen und erklärt, daß er zunächst die Gefahr noch nicht für so groß gehalten habe, jedoch zugeben müsse, daß nachträglich die Tatsachen bewiesen hätten, daß er und Bräuer unrecht, Raeder hingegen mit seiner Besorgnis recht gehabt habe.
Diese objektive Richtigkeit der Auffassung von Großadmiral Raeder und der Nachrichten, die seiner Auffassung zugrunde lagen, ergibt sich aus den einzelnen von mir vorgelegten und vom Gericht genehmigten Dokumenten.
Seit dem 16. Januar 1940 arbeitete das Französische Oberkommando an einem Plan, der unter anderem die Besetzung der Häfen und Flugplätze der norwegischen Westküste beabsichtigte. Der Plan sah außerdem vor, daß die Operationen möglicherweise auf Schweden ausgedehnt und die Erzgruben von Gallivare besetzt werden sollten.14 Man hat versucht, diese Planungen damit zu rechtfertigen, daß sie lediglich zur Hilfe für Finnland gegen die Sowjetunion ausgearbeitet worden seien.
Zunächst ist dem entgegenzuhalten, daß eine Unterstützungsaktion für Finnland keine Besetzung von norwegischem Gebiet rechtfertigt. Außerdem ergeben die Urkunden, daß es sich keineswegs nur um altruistische Maßnahmen zugunsten Finnlands handelte. Im Verlaufe der interalliierten Militärbesprechungen vom 31. Januar und 1. Februar, die der Sitzung des Obersten Rates vom 5. Februar vorausgingen, verwiesen die Engländer die Frage der unmittelbaren Hilfe für Finnland an die zweite Stelle; sie zeigten sich als entschiedene Anhänger einer Unternehmung gegen die Erzgruben Nordschwedens. Dies bestätigt General Gamelin in einer Aufzeichnung vom 10. März 1940 (Beweisstück Raeder 79) und fügt hinzu, daß diese Ansicht im Obersten Rat die Mehrheit erlangte, und daß die Vorbereitung der skandinavischen Expedition sofort in Angriff genommen würde.
So kam es, daß französisch-britische Streitkräfte seit den ersten Märztagen zum Transport bereitstanden, wobei nach Gamelin die Leitung der in Skandinavien beabsichtigten Operation dem Britischen Oberkommando übertragen worden war. Schließlich fügt Gamelin noch hinzu (Beweisstück Raeder 79), daß die skandinavischen Pläne entschlossen weiter verfolgt werden müssen, um Finnland zu retten, ich zitiere:
»... oder doch mindestens, um die Hand auf das schwedische Erz und die nordischen Häfen zu legen.«
Am 7. Februar teilte Lord Halifax dem Norwegischen Gesandten mit, daß England sich gewisse Stützpunkte an der norwegischen Küste schaffen wolle, um den deutschen Erztransport von Narvik zu stoppen (Beweisstück Raeder 97).
Mitte Februar besichtigten englische und französische Generalstabsoffiziere im Einvernehmen mit norwegischen Behörden Landungsstellen (Beweisstück Raeder 97).
Nach einem Bericht der Gesandtschaft in Stockholm vom 16. Februar 1940 ging die englische Voraussetzung davon aus, gleichzeitig Truppen in Bergen, Drontheim und Narvik zu landen (Beweisstück Raeder 75).
Am 21. Februar 1940 teilt Daladier dem Französischen Botschafter in London, Corbin, mit, daß die Besetzung der wichtigsten norwegischen Häfen und die Landung der ersten Abteilung der Alliierten Streitkräfte in Norwegen Schweden das Gefühl der Sicherheit geben würden, und fügt hinzu, daß diese Operation »unabhängig von dem Hilferuf Finnlands« ausgedacht und innerhalb kürzester Frist ausgeführt werden müsse. Falls diese Demarche in Norwegen auf Ablehnung stoße, was wahrscheinlich sei, so habe die Britische Regierung das norwegische Versagen festzustellen und sich sofort der Stützpunkte zu bemächtigen, deren sie zur Wahrung ihrer Interessen bedürfe, und zwar im Wege einer »überraschenden Operation«. Ob Schweden den Durchmarsch nach Finnland verweigert, erscheint nicht wichtig; hervorgehoben wird vielmehr der – ich zitiere:
»... Vorteil gegenüber Deutschland im Norden eine beherrschende Stellung gewonnen zu haben, den Seetransport des schwedischen Erzes aufgehalten zu haben, die schwedischen Erzlagerstätten in den Aktionsbereich unserer Luftwaffe gebracht zu haben.« (Beweisstück Raeder 77.)15
Am 27. Februar 1940 erklärte Churchill im Britischen Unterhaus, er sei es »müde, über die Rechte der Neutralen nachzudenken«. (Beweisstück Raeder 97.)
Interessant ist, daß man in der 6. Sitzung des Obersten Rates vom 28. März 1940 übereinkommt:
»Jeder Versuch der Sowjetregierung, von Norwegen eine Stellung an der atlantischen Küste zu erhalten, widerspräche den Lebensinteressen der Alliierten und würde entsprechende Gegenwirkungen auslösen.« (Beweisstück Raeder 83.)
Die demnach vom Obersten Rat vertretene Auffassung unter Hinweis auf die Lebensinteressen der Alliierten deckt sich genau mit den von mir dargelegten Rechtsideen über das »Recht der Selbsterhaltung« und steht im völligen Gegensatz zu der von der Anklage hier vorgetragenen völkerrechtlichen Darlegung.
Die endgültige Durchführung der Operation in Norwegen, also der Landung und der Bildung von Stützpunkten, wurde am 28. März 1940 beschlossen, und zwar zwischen den maßgebenden britischen und französischen Stellen. Dieses Datum wurde in einer Sitzung des französischen Kriegsausschusses von dem französischen Ministerpräsidenten genannt (Beweisstück Raeder 59), und General Gamelin fügte hinzu, daß er am 29. März General Ironside auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht habe, alles für eine rasche Besetzung der norwegischen Häfen bereit zu haben, dasselbe habe er auch Winston Churchill gelegentlich eines Aufenthalts in Paris zur Kenntnis gebracht.
Einen Tag später, am 30. März, erklärte Churchill im Rundfunk, ich zitiere:
»Es wäre nicht gerecht, wenn die Westmächte im Kampf um Leben und Tod an legalen Abmachungen festhielten.« (Beweisstück Raeder 97.)
Am 2. April 1940 wurde durch Telegramm aus London um 19.12 Uhr nach Paris mitgeteilt, daß der erste Transport »am Tage J. 1 abfahren« solle, und daß der Tag J. 1 grundsätzlich der 5. April sei. (Beweisstück Raeder 85.)
Am 5. April stellt der Earl de la Warr fest, daß weder Deutschland noch die Neutralen sich darauf verlassen dürften, daß »England sich die Hände auf dem Rücken binden lassen werde, indem es das Recht nach dem Buchstaben befolge«. (Beweisstück Raeder 97.)
Am 6. April 1940 erklärte der englische Arbeitsminister Ernest Brown, daß weder Deutschland noch die Neutralen damit rechnen könnten, daß »die Westmächte sich an den Buchstaben des Völkerrechts halten würden«. (Beweisstück Raeder 97.)
Am gleichen Tage – dies war ein Tag nach der Minenlegung durch britische Streitkräfte in den norwegischen Hoheitsgewässern – wurde ein geheimer englischer Operationsbefehl »betreffend Vorbereitungen zur Besetzung der nordschwedischen Erzfelder von Narvik aus« erlassen. (Beweisstück Raeder 88.)
In dem Befehl wurde bestimmt, daß die Aufgabe der Avonforce zunächst darin bestehe – ich zitiere: »den Hafen von Narvik und die Eisenbahn zur schwedischen Grenze zu sichern«. Es wurde hinzugefügt, daß der Befehlshaber beabsichtige, nach Schweden vorzurücken und die Gallivare-Erzfelder und wichtige Punkte jenes Gebietes zu besetzen, sobald sich die Gelegenheit dazu biete; eine Formulierung, die geradezu an die Worte in dem Anklage-Dokument L-79 erinnert: »bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen«.
Der ursprüngliche Plan, den ersten Transport am 5. April nach Norwegen abgehen zu lassen, wurde abgeändert, denn am 5. April abends setzt das Britische Oberkommando den Oberbefehlshaber der Französischen Kriegsmarine davon in Kenntnis, daß, ich zitiere:
»... der erste englische Geleitzug nicht vor dem 8. April auslaufen könnte, was im Rahmen des aufgestellten Zeitenplanes bewirkt, daß die erste französische Abteilung den Einschiffungshafen am 16. April verläßt.« (Beweisstück Raeder 91.)
Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, daß das Norwegen-Unternehmen auf alliierter Seite unter der Tarnbezeichnung »Stratford-Plan« lief, während die deutsche Norwegen-Aktion unter der Tarnbezeichnung »Weserübung« behandelt wurde. (Beweisstück Raeder 98.)
Die vorstehenden Tatsachen zeigen folgendes:
Seit Herbst 1939 wurden Vorbereitungen für eine eventuelle Norwegen-Aktion durch Untersuchen von Landungsmöglichkeiten et cetera getroffen. Seit Januar/Februar 1940 drohte die Gefahr einer Besetzung von Stützpunkten in Norwegen durch die Alliierten. Im März 1940 war die Durchführung der Planung endgültig beschlossen, und es wurde das Ausläufen des ersten Geleitzuges auf den 5. April festgesetzt. Gleichzeitig erfolgte die Minenlegung in den norwegischen Hoheitsgewässern; gleichzeitig waren in britischen und französischen Einschiffungshäfen Truppen für die Norwegen-Aktion gesammelt. Damit war das völkerrechtliche Tatbestandsmerkmal der dicht bevorstehenden Neutralitätsverletzung gegeben, teilweise war die Neutralitätsverletzung sogar schon erfolgt – die Minenlegung –. Es war der Augenblick, wo Deutschland in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Begriff des Rechtes der Selbsterhaltung äquivalente Gegenmaßnahmen ergreifen, also Norwegen besetzen durfte, um der drohenden Besetzung durch andere kriegführende Staaten zuvorzukommen. Es war sogar, wie sich gezeigt hat, der letzte Moment, denn Deutschland kam den Alliierten nur deshalb zuvor, weil das Britische Oberkommando das auf den 5. April festgesetzte Auslaufen des ersten Geleitzuges verschoben hatte. Die deutsche Norwegen-Aktion muß daher nach den Grundsätzen des Völkerrechts als berechtigt angesehen werden. Ich habe die feste Überzeugung, daß das Hohe Gericht unter diesen geschilderten Umständen in Verbindung mit dem bestehenden Völkerrecht feststellen wird, daß Großadmiral Raeder hinsichtlich der Besetzung von Norwegen nach rein strategischen Gesichtspunkten unter Beobachtung der völkerrechtlichen Normen gehandelt hat, und ihn dementsprechend von dem von der Anklage erhobenen Vorwurf freispricht.
Bezüglich Norwegen hat die Anklage gegen Raeder beziehungsweise Dönitz noch den Vorwurf erhoben, daß ein völkerrechtlicher Verstoß darin enthalten sei, daß laut Befehl vom 30. März 1940 die Seestreitkräfte bis zur Truppenlandung die englische Kriegsflagge führen sollten.16
Auch dies ist ein Irrtum der Anklage auf dem Gebiete des Völkerrechts im Seekrieg. Die Haager Landkriegsordnung verbietet zwar den Flaggenmißbrauch ausdrücklich. Im Seekrieg ist dagegen diese Frage nach dem geltenden Völkerrecht eindeutig dahin zu beantworten, daß die Schiffe bis zum Beginn der Kampfhandlungen mit der eigenen, mit feindlicher oder neutraler Flagge oder auch ohne Flagge fahren können. Ich darf auch in dieser Beziehung mich auf die rechtlichen Ausführungen von Dr. Mosler in seinem Gutachten (Beweisstück Raeder 66) unter Ziffer 7 berufen und insbesondere auf die von ihm angeführten wissenschaftlichen Literaturstellen, wonach der Gebrauch einer fremden Flagge allgemein als berechtigte Kriegslist angesehen wird und wonach speziell die britische Praxis den Gebrauch falscher Flaggen erlaubt; übrigens in Übereinstimmung mit dem historischen Präzedenzfall, in dem Nelson in den Napoleonischen Kriegen in der Höhe von Barcelona die französische Flagge führte, um spanische Schiffe abzufangen.
Im übrigen ist im vorliegenden Falle der Streit müßig, weil tatsächlich der oben erwähnte Befehl zur Führung der englischen Flagge unter dem 8. April, also vor der Durchführung des Norwegen-Unternehmens, laut dokumentarischem Beweis aufgehoben ist. (Beweisstück Raeder 89.)
Abschließend möchte ich zu dem Thema Norwegen nur noch hervorheben, daß Raeder und die deutsche Marine nach der Besetzung von Norwegen alles getan haben, um das Verhältnis zu Norwegen zu einem freundschaftlichen zu gestalten, sowie das Land und das Volk während der Besetzung würdig und gut zu behandeln und ihm alle unnützen Lasten zu ersparen. Raeder und der Kommandierende Admiral von Norwegen, Generaladmiral Boehm, haben sich ferner bemüht, zu einem Frieden mit Norwegen zu kommen unter Wahrung der norwegischen nationalen Interessen. Diesen Bemühungen stand die von Hitler und Himmler eingesetzte sogenannte Zivilverwaltung des Reichskommissars Terboven17 entgegen, die im Gegensatz zur Wehrmacht im Zusammenhang mit Partei, SS, SD und Gestapo Stand. Raeder ist, wie Boehm in seinem Affidavit bestätigt, immer wieder für die gemeinsamen Gedankengänge der guten Behandlung des norwegischen Volkes und des baldigen Friedensschlusses bei Hitler eingetreten und hat zusammen mit Boehm auf das schärfste Terboven bekämpft. Es ist auch hier wieder das tragische Ergebnis, daß sich die Wehrmacht trotz größter Anstrengungen nicht gegen die Diktatur Hitlers durchsetzen konnte und auch nicht gegen die Diktatur, die mit Wissen von Hitler ein so minderwertiger Reichskommissar wie Terboven ausübte. Das norwegische Volk, das unter der Besetzung hat leiden müssen, weiß – und das ist der einzige Trost für Raeder –, daß an diesen Leiden nicht die Marine schuld gewesen ist. Es ist auf der anderen Seite interessant zu wissen, daß gerade die Differenzen, die wegen Norwegen zwischen Hitler und Raeder auftraten, einer der Hauptgründe gewesen sind, die Raeder veranlaßten, im Dezember 1942 endgültig seinen Rücktritt zu verlangen. Die weiteren Gründe lagen darin, daß Raeder auch bezüglich Frankreich Differenzen mit Hitler bekam, weil Raeder auch hier auf Friedensschluß drängte, während Hitler in seiner Maßlosigkeit derartiges Entgegenkommen in den besetzten Gebieten ablehnte18 und ebenso Differenzen mit Hitler wegen Rußland gehabt hatte, weil er für die Aufrechterhaltung des deutsch-russischen Vertrags eintrat und sich gegen den Vertragsbruch und gegen den Krieg mit Rußland aussprach.
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