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DR. SIEMERS: Damit komme ich zum Vorwurf der Anklagevertretung hinsichtlich eines Angriffskrieges gegen Rußland. Der Vorwurf der Anklagevertretung auf diesem Gebiet ist nicht recht zu verstehen. Es handelte sich um einen Landkrieg, so daß die Marine keine Vorbereitungen zu treffen hatte, mit Ausnahme der geringen Vorbereitungen in der Ostsee. Darüber hinaus hat die Anklagevertretung selbst vorgetragen, daß Raeder ein Gegner des Krieges gegen Rußland gewesen sei. Das einzige, was von dem Vorwurf der Anklage übrigbleiben könnte, ist ihre Behauptung,19 daß Raeder grundsätzlich für den Krieg gegen Rußland gewesen sei und lediglich hinsichtlich des Zeitpunktes gegen Hitler opponiert habe. Unter Berufung auf C-170 sagt die Anklage, daß Raeder lediglich die Verschiebung des Krieges gegen Rußland auf die Zeit nach dem Siege über England empfohlen habe. Nach der Urkunde C-170 könnte es tatsächlich den Anschein haben. In Wirklichkeit liegt es aber anders und der wahre Sachverhalt ist durch die eingehende Beweisführung aufgeklärt. Der Zeuge Admiral Schulte- Mönting20 hat, ohne daß ihm im Kreuzverhör widersprochen wurde, klar ausgesagt, daß Raeder nicht nur zeitlich bedingte Einwendungen erhoben hat, sondern daß er bei Hitler grundsätzlich gegen einen Rußlandfeldzug opponierte, und zwar aus moralischen, aus völkerrechtlichen Gründen; einfach deshalb, weil er der Meinung war, daß sowohl der Nichtangriffspakt mit Rußland als auch der Handelsvertrag unter allen Umständen eingehalten werden müsse. Die Marine war an den Lieferungsverträgen mit Rußland besonders stark beteiligt und hat sich immer bemüht, die Verträge genau einzuhalten. Neben diesem Grundsatz der Vertragstreue, also neben diesem allgemeinen Grunde, vertrat Raeder die Meinung, daß ein Krieg gegen Rußland auch strategisch falsch sei. Seine eigene Aussage und die Aussage von Schulte-Mönting zeigen, daß Raeder im September, November und Dezember 1940 immer wieder bei Hitler versucht hat, ihn von dem Gedanken eines Rußlandkrieges abzubringen. Es ist richtig, daß in der Urkunde C-170 nur die strategische Begründung für sein Opponieren niedergeschrieben ist. Dies ist aber auch kein Wunder, denn in den Papieren bei der Seekriegsleitung wurden naturgemäß nur Begründungen niedergeschrieben, die marinetechnisch und strategisch von Bedeutung waren, nicht aber politische Gründe. Ich habe bereits gezeigt, daß Hitler es grundsätzlich nicht zuließ, daß Raeder als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine sich in außenpolitische Fragen hineinmischte, also in Dinge, die nicht in sein Ressort gehörten. Wenn Raeder dies entgegen dem Willen Hitlers doch einmal versuchte, und zwar in besonders wichtigen Fällen, so konnte er es nur unter vier Augen tun und konnte dementsprechend dann diese Unterhaltungen nicht im Kriegstagebuch niederschreiben; er hat aber seinem Chef des Stabes als seinen engsten Vertrauten stets alle Dinge erzählt. Infolgedessen konnte Schulte-Mönting klar bestätigen, daß Raeder aus völkerrechtlichen und moralischen Bedenken in diesem Falle gegen Hitler opponierte und darüber hinaus auch strategische Gründe heranzog in der Hoffnung, auf diese Weise eher auf Hitler einwirken zu können. Schulte-Mönting sagte sogar – ebenso wie Raeder –, daß dieser im November nach einer Besprechung geglaubt habe, Hitler von seinen Plänen abgebracht zu haben. Ich glaube, daß damit die Angelegenheit geklärt ist, und es bleibt nur auch hier das Tragische, daß Raeder mit politischen Einwendungen auch bezüglich Rußland von Hitler ebensowenig gehört wurde, wie im Falle Norwegen und Frankreich.

Ähnlich liegt es bei dem Vorwurf der Anklage bezüglich des Angriffskrieges gegen Amerika und bezüglich der Neutralitätsverletzung hinsichtlich Brasilien. Beide Vorwürfe sind im Rahmen der Beweisführung genügend entkräftet, so daß ich nur ganz kurz darauf einzugehen brauche.

Die Anklage hat es zunächst so dargestellt, als hätte Raeder irgendwie dabei mitgewirkt, Japan zu einem Angriff gegen Amerika aufzufordern. Tatsächlich haben gar keine seestrategischen Besprechungen zwischen Japan und Raeder stattgefunden. Raeder hatte immer die Ansicht vertreten, daß ein Krieg mit USA ebenso vermieden werden müsse wie mit Rußland. Diese Einstellung ist auch verständlich, weil er darüber hinaus auch den Standpunkt vertreten hatte, daß Hitler unter gar keinen Umständen zu einem Kriege mit England kommen dürfe. Nachdem es nun einmal zu einem Kriege mit England gekommen war, mußte er als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine seine ganze Kraft dafür einsetzen, gegen England erfolgreich zu kämpfen. Raeder kannte die Grenzen der Kampffähigkeit der Marine, und es war daher völlig ausgeschlossen, daß er an einer Ausdehnung des Seekrieges mitwirkte, wenn er schon einen Krieg gegen England für viel zu schwer hielt. Das von der Anklage vorgelegte Dokument C-152 spricht daher auch nur von dem Vorschlag, daß Japan gegen Singapore vorgehen soll, und geht davon aus, daß die Vereinigten Staaten aus dem Kriege herausgehalten werden müssen. Der Vorschlag gegenüber Hitler, Japan müßte Singapore angreifen, war in jeder Beziehung durchaus korrekt. Wir waren nun einmal im Kriege mit England, und Raeder mußte versuchen, die ganze Kraft gegen England zu konzentrieren. Er war in dieser Beziehung berechtigt vorzuschlagen, daß Japan als Bundesgenosse England mit angreift. Im übrigen datiert diese eine Besprechung von Raeder erst vom 18. März 1941, während Hitler bereits in seiner Weisung Nummer 24 vom 5. März 1941 als Richtlinie festgelegt hatte, daß Japan Singapore als Schlüsselstellung Englands angreifen müsse. (Dokument C-175.)

Darf ich hier einen Satz einschalten: Aus dem Bericht von General Marshall ergibt sich, daß General Marshall erklärt hat, daß keine gemeinsame Planung zwischen Japan und Deutschland stattgefunden hat.

Von dem plötzlichen Angriff Japans auf Pearl Harbor war Raeder, wie auch von Schulte-Mönting bestätigt wurde, ebenso überrascht, wie jeder andere Deutsche. Der Versuch der Anklagevertretung im Kreuzverhör von Schulte-Mönting, diese Behauptung durch Vorlage eines Telegramms des Marine-Attachés aus Tokio nach Berlin vom 6. Dezember 1941 (Dokument D-872) zu erschüttern, ist fehlgeschlagen. Einmal hat Raeder dieses Telegramm wahrscheinlich erst erhalten, als der japanische Angriff gegen Pearl Harbor vom 7. Dezember schon gestartet war, und außerdem ist in dem Telegramm Pearl Harbor überhaupt nicht erwähnt.

Fast noch klarer ist der Vorwurf der Anklage bezüglich Brasilien widerlegt, und zwar deshalb, weil die Anklagevertretung nach meinem Vortrage in der Beweisführung in keinem der Kreuzverhöre bei Raeder, Schulte-Mönting und Wagner auf diesen Punkt zurückgekommen ist. Es handelt sich um den Vorwurf, daß nach Jodls Tagebuch die Seekriegsleitung bereits zwei Monate vor Ausbruch des Krieges Deutschland-Brasilien die Freigabe des Waffeneinsatzes gegen die brasilianischen Kriegs- und Handelsschiffe beantragte und die Freigabe genehmigt wurde. (Dokument 1807-PS.)

Abgesehen von den Zeugenaussagen ist der Fall bereits dokumentarisch widerlegt, und zwar durch den vollständigen Auszug aus Jodls Tagebuch, den ich als Raeder Nummer 115 überreichte, sowie durch die weiter überreichten Urkunden Raeder Nummer 116 bis 118. Aus diesen Urkunden ergibt sich, daß Brasilien dadurch die Neutralität verletzt hatte, daß es den Vereinigten Staaten gestattet hatte, brasilianische Flugplätze zu benutzen, um von dort aus deutsche und italienische U-Boote anzugreifen. Darüber hinaus hatte das brasilianische Luftfahrtministerium amtlich bekanntgegeben, daß Angriffe von der brasilianischen Luftwaffe durchgeführt seien. Bei einem derartigen neutralitätswidrigen Verhalten war also der Antrag der Seekriegsleitung, den Waffeneinsatz gegen brasilianische Schiffe freizugeben, berechtigt. Es ist auch in diesem Falle der Anklagevertretung nicht geglückt, Raeder ein völkerrechtliches Verbrechen oder auch nur einen völkerrechtlichen Verstoß nachzuweisen.

Die sehr sorgfältige Anklage hat überaus viel Material vorgelegt und die vielen Einzelheiten zwangen im Falle Raeder zu einer großen Genauigkeit in der Beweisführung. Ich habe mich bemüht, alle Vorwürfe in der Beweisführung oder in meinem Plädoyer zu behandeln und habe mich bemüht, möglichst klar darzulegen, daß sämtliche Vorwürfe teils aus tatsächlichen, teils aus juristischen Gründen keinen Tatbestand im Sinne eines Verbrechens nach diesem Statut erfüllen. Soweit ich trotz meiner Bemühung um große Genauigkeit einige Urkunden nicht behandelt habe, schienen mir diese von geringerer Bedeutung zu sein und jedenfalls von keiner strafrechtlichen Bedeutung, zum Beispiel die vielen Fälle, in denen Raeder nur deshalb genannt wurde, weil er – ohne amtlich beteiligt zu sein – eine Ausfertigung der Urkunden aus formalen Gründen erhielt. Es wäre ermüdend gewesen, auf solche wiederkehrenden Einzelheiten einzugehen, wenn auch die Anklagevertretung diese formalen Hinweise unermüdlich wiederholte, so daß man manchmal geneigt war, an das Wort Napoleons zu denken, daß die Wiederholung diejenige Redewendung sei, die am beweiskräftigsten wirke.

Ferner glaube ich, im Plädoyer für Großadmiral Raeder von einer Argumentation über die wirklichen Kriegsverbrechen beziehungsweise über die Verbrechen gegen die Humanität absehen zu können, da ich in dem vorgelegten Anklagematerial keine Verbindung zwischen diesen und Raeder festzustellen vermag. Es ist auch gegen Raeder kein spezieller Vorwurf in dieser Hinsicht erhoben mit Ausnahme der beiden mit dem Kommandobefehl zusammenhängenden Fälle, nämlich dem Fall der Erschießung von zwei Soldaten in Bordeaux und der Erschießung des britischen Soldaten Evans, der an der schwedischen Grenze vom SD gefangengenommen wurde, nachdem er vorher in dem Kleinkampfangriff gegen die »Tirpitz« beteiligt gewesen war. Insoweit wurde der Vorwurf, soweit er die Marine betrifft, in der Beweisführung widerlegt. Beide Fälle kamen nicht oder erst nachträglich zur Kenntnis der Seekriegsleitung – eben vor dem Abgange Raeders –, in beiden Fällen erfolgte das Handeln auf Grund des Kommandobefehls durch Hitler selbst oder durch den SD ohne Wissen und Willen der Seekriegsleitung, und – das Wichtigste – in beiden Fällen zeigten die Dokumente der Anklage, daß diese Soldaten in Zivil gewesen waren, also auf den Schutz der Genfer Konvention keinen Anspruch hatten.21

Alle übrigen verbrecherischen Tatbestände, welche die Anklage speziell für den Osten vorgetragen hat, brauche ich nicht zu behandeln, da Raeder unbeteiligt war. Ich hoffe, hier auch die Zustimmung des Gerichts zu haben, indem ich an die Behandlung des Falles Katyn erinnere, wo das Gericht darauf hinwies, daß Raeder nicht beteiligt sei und deshalb meine Mitwirkung als Verteidiger insoweit ablehnte. Hieraus meine ich, juristisch folgern zu müssen, daß Raeder auch auf dem Umwege über die Verschwörung mit diesen Tatbeständen nicht als belastet angesehen werden kann, da er von den Vorgängen nichts wußte und mit diesen Vorgängen nichts zu tun hatte.

Die Beweisführung der Anklage beruht auf ihrem Wunsche, ihrer theoretischen Grundidee zum Siege und zur Anerkennung zu verhelfen, nämlich auf der Idee, daß so viele Verbrechen nicht auf dem Willen eines einzelnen beruhen können, sondern daß vielmehr einer Verschwörung vieler ein Komplott zugrunde liegen muß. Das konnten logischerweise zunächst nur Hitlers eigene Mitarbeiter sein, also die wirklichen Nationalsozialisten. Da Hitler aber wesentliche Leistungen auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet vollbringen wollte und vollbracht hat, geschah etwas Eigenartiges: Unter den Nationalsozialisten waren für diese Gebiete keine Fachleute. Die meisten nationalsozialistischen Mitarbeiter hatten früher keine Berufe mit fachlicher Bildung. Deshalb nahm Hitler, trotz seines Wunsches, nur Nationalsozialisten um sich zu haben, zunächst Fachleute, die keine Nationalsozialisten waren, an führender Stelle in bestimmte Ressorts, also zum Beispiel politisch Neurath, wirtschaftlich Schacht, und militärisch für das Heer Fritsch und für die Marine Raeder. Die Anklage folgte ihm im Interesse ihrer Verschwörungstheorie ohne zu bedenken, daß diese keine Nationalsozialisten waren, also gar nicht zur Verschwörung gehören konnten, und ohne zu bedenken, daß Hitler sich dieser Nichtnationalsozialisten nur als Fachleute für ein bestimmtes Gebiet bediente und auch nur solange es ihm unbedingt notwendig erschien, und daher mit dem Abgang dieser Männer, die ihm wesensfremd waren, einverstanden war sobald die Differenzen mit ihnen nicht überbrückbar erschienen, was je nach Art des Ressorts bei jedem von ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt eintreten mußte.

Mit dieser weiten Fassung des Verschwörerbegriffes und mit dieser Ausdehnung des Kampfes der Anklage gegen Nichtnationalsozialisten hat die Anklage den Grundgedanken verlassen, der früher einmal im Auslande propagiert wurde, nämlich den Gedanken des Kampfes gegen den Nationalsozialismus und nicht gegen ganz Deutschland, zwei Begriffe, die nirgendwo und zu keiner Zeit wirklich identisch gewesen sind, wie es die Anklage jetzt hinzustellen versucht. Ich glaube, daß die Anklage damit auch den Grundgedanken des Präsidenten Roosevelt verlassen hat.

Aber noch einen zweiten tatsächlichen und juristischen Gesichtspunkt hat die Anklagebehörde unberücksichtigt gelassen. Ich meine den Begriff der Verteilung der Zuständigkeit im Staatsrecht, also die Aufteilung in einzelne Ressorts. Diese Aufteilung der Zuständigkeit hat – beruhend auf dem Gedanken der Arbeitsteilung – ihrem Wesen nach trennenden Charakter; sie verteilt Arbeitsbereiche unter örtlichen, funktionellen und sachlichen Gesichtspunkten. Einmal bestimmt sie positiv denjenigen Bereich, innerhalb dessen das einzelne Ressort tätig werden soll, zugleich aber bestimmt sie negativ die Grenzen dieser Tätigkeit, indem sie das bestimmt, was die betreffenden Organe nichts mehr angeht, wo sie also eine amtliche Tätigkeit nicht entfalten dürfen.

Bei einer Demokratie besteht noch eine Verbindung durch die gemeinsamen Kabinettssitzungen beziehungsweise durch den Ministerpräsidenten, den Reichspräsidenten oder Reichskanzler. Anders in einer Diktatur besonders dann, wenn der Diktator, so wie Hitler im nationalsozialistischen Staat, mit größtem Geschick die Trennung der einzelnen Ressorts ausnutzt und dafür sorgt, daß die einzelnen Ressorts möglichst allein stehen und demgemäß immer die Entscheidung bei ihm als Diktator liegt, wobei er sogar die einzelnen Ressorts gegeneinander ausspielt.

Die im nationalsozialistischen Staat streng durchgeführte Ressorteinteilung spricht besonders stark gegen den Begriff der Verschwörung und erschwert es dem einzelnen, in irgendeiner Form über sein Ressort hinauszugehen.

Diese Bedeutung mag an folgendem Beispiel dargetan werden:

Die politischen Beziehungen zu anderen Staaten zu gestalten, Verträge oder Bündnisse mit anderen Staaten abzuschließen oder zu lösen, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, sind Angelegenheiten, die in den Zuständigkeitsbereich der auswärtigen Gewalt fallen, aber nicht in denjenigen von Behörden mit nach innen gerichteten Aufgaben, wie zum Beispiel die Reichsfinanzverwaltung, die Rechtspflege und das Militär.

Daraus folgt: Da die Entscheidung über Krieg und Frieden keine Angelegenheit des Militärs ist, hat das Militär die seitens der politischen Führung getroffene Entscheidung hinzunehmen, Entscheidungen, welche für die militärischen Stellen verbindliche Tatbestandswirkung haben. Der militärische Befehlshaber hat für sein Ressort die aus der Entscheidung für ihn folgenden Konsequenzen zu ziehen. Das Militär hat nach erfolgter Kriegserklärung zu kämpfen. Eine Verantwortung für den Krieg, über dessen Ausbruch es nicht mitentscheiden konnte, trägt es nicht.

Deshalb gibt es auch für die Armee einen Angriffskrieg nur im strategischen Sinne. Im übrigen ist für sie jeder Krieg, dessen Führung ihr obliegt, schlechthin Krieg, mag er rechtlich zu qualifizieren sein wie er will.22

Dem Zuständigkeitsbereich entspricht die Verantwortung im staatsrechtlichen und strafrechtlichen Sinne. Wenn aber demgemäß der Oberbefehlshaber eines Wehrmachtsteiles nur für die Führung des Krieges, nicht für die Entstehung des Krieges verantwortlich ist, so kann er hinsichtlich der strategischen Planung auch nur für die Planung als solche verantwortlich sein, nicht aber für die eventuelle Entstehung desjenigen Krieges, für den die strategische Planung entworfen ist.

Diese staatsrechtlich und strafrechtlich wichtige Ressorteinteilung und Zuständigkeitsverteilung ist von Hitler im Interesse der Verstärkung seiner eigenen Macht auf vielen Gebieten noch ganz besonders ausgeprägt durchgeführt worden, so zum Beispiel die Schaffung des »Beauftragten für den Vierjahresplan«, dessen Sachgebiet eigentlich zum Wirtschaftsministerium gehört, die Schaffung von Reichskommissaren in den besetzten Gebieten, deren Tätigkeit eigentlich zur Militärverwaltung gehört, und schließlich die im Falle Raeder interessierende Tatsache der sehr strengen Abgrenzung unter den drei Wehrmachtsteilen und die Abschaffung des Reichswehrbeziehungsweise des Reichskriegsministers, der die drei Wehrmachtsteile zusammenhielt und verband. Je mehr Ressorts geschaffen wurden und je mehr die Ressorts gegeneinander abgegrenzt wurden, um so stärker wurde Hitler als Diktator, als der einzige, der allen den zahllosen Ressorts übergeordnet war. Damit aber sank staatsrechtlich und auch strafrechtlich die Verantwortung für die strategische Planung in einem einzigen Ressort, hier also der Marine. Der Befehlshaber eines Wehrmachtsteiles, also zum Beispiel der Marine, kann bei einer strategischen Planung folglich auch nur für die Planung auf dem Marinegebiet verantwortlich sein; er hatte keinen Überblick über die Gesamtplanung. Die Gesamtplanung wurde an keiner Stelle gemeinsam beraten, sondern lag politisch und militärisch nur bei Hitler, da nur bei ihm alle Fäden und alle Tätigkeiten der einzelnen Ressorts zusammenliefen. Ich darf hier einen Satz einschalten und daran erinnern, daß zum Beispiel bei der Norwegen-Aktion sogar Göring erst im März 1940 eingeschaltet wurde, ein Beweis für die ungeheuerlich scharfe Trennung der einzelnen Ressorts innerhalb der Wehrmacht.

Hinzu kommt, daß eine rein strategische Planung als solche nicht strafbar sein kann, da sie in jedem Lande üblich ist, und da in jedem Lande der militärische Befehlshaber eines Wehrmachtsteiles nicht weiß und nicht wissen kann, wofür einmal der von ihm ausgearbeitete Plan von der politischen Führung verwandt wird, ob also für einen Angriffskrieg oder Verteidigungskrieg.

Die in meinen Dokumentenbüchern vorgelegten Dokumente beweisen überzeugend, daß die militärischen Stellen sowohl bei den Alliierten als auch in Deutschland in gleicher Weise und auf demselben Gebiet und zu den gleichen Zeiten strategische Planungen ausarbeiteten, und zwar hinsichtlich Norwegen, Belgien23, Holland, Griechenland, Rumänien und darüber hinaus, bei den Alliierten noch hinzukommend die Planungen für die Zerstörung der rumänischen Ölfelder und insbesondere die Ölquellen im Kaukasus.24 Gerade die Planungen bezüglich des Kaukasus seitens des Obersten Rates, also des gemeinsamen britischen und französischen Generalstabs, zeigen die Richtigkeit der Ausführungen.

Der Oberste Rat würde es sicherlich ablehnen, für diese strategischen Planungen politisch verantwortlich gemacht zu werden, obwohl zur Zeit der Planungen die Sowjetunion noch neutral war und die Durchführung der Planung, wie auch die Urkunden zeigen, nicht nur das feindliche Deutschland, sondern auch die neutrale Sowjetunion treffen sollte.

Die Ähnlichkeit der Urkunden über solche Planungen wirkt absolut überzeugend und zeigt die starke Parallelität. Ich darf in dieser Beziehung auf meine früheren Ausführungen verweisen, die ich hier gelegentlich der umfangreichen Debatte25 über die Erheblichkeit und Zulässigkeit der von mir vorgelegten Dokumente gemacht habe, und darf ergänzend nur noch auf das Dokument Raeder Nummer 130 verweisen, nämlich das Schreiben des Foreign Office, in dem die Vorlage der Akten der Britischen Admiralität verweigert wurde, in dem aber die Planung hinsichtlich Norwegen und ganz Skandinavien zugegeben wird, lediglich unter Hinzufügung, daß die Planung nicht in die Tat umgesetzt wurde, eine Tatsache, die nur darauf beruht, daß Deutschland der Durchführung der Planung zuvorkam.

Man mag Pazifist sein und infolgedessen grundsätzlich gegen das Militär. Man muß dann aber konsequent sein und darf sich nicht nur gegen das deutsche Militär wenden, sondern muß sich gegen jedes Militär wenden. Man mag es verdammen, daß das Militär als ausführendes Organ militärische Planungen vorbereitet, und mag in Zukunft darauf dringen, daß solche Planungen strafbar sind. Dann aber dürfen nicht nur deutsche militärische Planungen, sondern müssen auch ausländische militärische Planungen strafbar sein.

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß die Anklage die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse verkennt, wenn sie Raeder für politische Entscheidungen verantwortlich machen will, obwohl er nichts mit ihnen zu tun hatte, sondern immer nur als Soldat gearbeitet hat. Ebensowenig wie man vor 130 Jahren auf den Gedanken kommen konnte, einen Admiral des Diktators Napoleon vor ein Gericht zu stellen, ebensowenig kann man jetzt einen Admiral des Diktators Hitler verurteilen. Gerade bei Diktatoren – und das übersieht die Anklage – sinkt nicht nur die Macht und der Einfluß eines militärischen Befehlshabers, sondern in gleichem Maße muß auch seine Verantwortung sinken; denn der Diktator hat alle Macht und damit alle Verantwortung an sich gerissen. Dies um so mehr, wenn der Diktator mit einem so außerordentlichen Willen und einer so ungeheuren Kraft auftritt, wie Hitler. Der französische Anklagevertreter hat am 7. Februar 1946 vor diesem Gericht26 besonders zutreffend wörtlich gesagt: »Hitler war... der Mittelpunkt jeder Willensäußerung.«

Die hieraus resultierende Stärke- und Macht hat die Anklage fast ganz außer acht gelassen und jedenfalls bei der Darstellung des Tatbestandes und der rechtlichen Folgerungen nicht berücksichtigt. Wie groß diese Macht ist, zeigt Gustave le Bon in seinem berühmten Buche »Psychologie der Massen«27 in dem Kapitel »Die Führer der Massen«. Ich zitiere hieraus:

»Innerhalb der Klasse der Führer läßt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen. Zu der einen Art gehören die energischen, willensstarken, aber nicht ausdauernden Menschen; zur anderen, viel selteneren, die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen... Die zweite Führerklasse, die der Menschen mit ausdauerndem Willen, übt trotz ihres weniger glänzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluß aus.«

Zu dieser zweiten Führerklasse gehört Hitler, der in Übereinstimmung hiermit einen ungeheuren Einfluß ausübte und andererseits in seiner braunen Uniform wenig repräsentativ aussah.

Gustave le Bon fährt fort. Ich zitiere:

»Der beharrliche Wille, den sie besitzen, ist eine unendlich mächtige Eigenschaft, die sich alles unterwirft. Man ist sich nicht immer klar darüber, was ein starker und stetiger Wille vermag. Nichts widersteht ihm, weder die Natur, noch die Götter, noch die Menschen.«

Angesichts dieser Worte wird man begreifen, daß auch Raeder nicht widerstehen konnte.

Es bleibt daher nur noch die Frage: Gibt es für einen Soldaten eine Pflicht zur Revolte, eine Pflicht zum offenen Aufstand? Diese Frage wird jeder Befehlshaber in der ganzen Welt und auch jeder andere Mensch verneinen mit der einzigen Ausnahme, wenn es sich um Befehle des Diktators handelt, Verbrechen zu begehen, wobei aber das Verbrechen für den militärischen Befehlshaber erkennbar sein muß. Demgemäß könnte Raeder nur für ein militärisches Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht aber für ein politisches, denn für das politische haftet der Diktator selbst. Wenn die Anklage bei Raeder zu einem anderen Ergebnis kam, so kam es nur – wie ich schon in meiner Einleitung betonte –, weil sie Raeder in Verkennung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse als Politiker und Soldaten angesehen hat. Er war aber nur Soldat. Er hat ausschließlich für die Marine, für das Wohl seiner Marine gelebt, für die er auch jetzt in vollem Umfange einstehen und die Verantwortung tragen will. Er hat die Marine einheitlich geführt und sie, unterstützt von seinem Offizierkorps, erzogen, anständig zu denken und sittlich zu kämpfen, wie die Menschlichkeit es vom Soldaten verlangt.

Es darf nicht sein, daß die Offiziere und Soldaten dieser Marine durch die Taten eines Hitler und seines Nationalsozialismus diffamiert werden dadurch, daß ihr oberster Offizier zum Verbrecher erklärt wird. Raeder mag im geschichtlichen Sinne eine Schuld tragen, weil er, wie viele andere im Inland und Ausland, Hitler nicht erkannte und durchschaute und nicht die Kraft hatte, sich gegen die ungeheure Dynamik eines Hitler aufzulehnen, aber ein Unterlassen ist kein Verbrechen. Was Raeder in seinem Leben tat oder unterließ, er tat es in seinem Glauben, richtig zu handeln, und als pflichtbewußter Soldat so handeln zu müssen.

Raeder ist ein Offizier von höchstem Ansehen, der kein Verbrecher ist und kein Verbrecher sein kann, da er sein Leben lang ehrlich und christlich lebte; ein Mensch, der an Gott glaubt, begeht keine Verbrechen, und ein Soldat, der an Gott glaubt, ist kein Kriegsverbrecher.

Ich bitte daher das Hohe Gericht, Großadmiral Dr. h. c. Erich Raeder von allen Anklagepunkten in vollem Umfange freizusprechen.

VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Sauter für den Angeklagten Schirach.

DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Baldur von Schirach, damals Reichsjugendführer, begrüßte im Jahre 1936 die Gäste der Olympischen Spiele in Berlin mit den folgenden Worten: »Jugend überbrückt alle Grenzen und Meere: Ich rufe die Jugend der Welt und in ihr den Frieden.«

Und Baldur von Schirach sagte 1940 als Gauleiter von Wien zu Hitler: »Wien kann man nicht mit Bajonetten erobern, sondern nur mit Musik.«

Diese beiden Aussprüche erscheinen charakteristisch für Wesen und Art dieses Angeklagten. Es ist Aufgabe der Verteidigung, die Ergebnisse der Beweisaufnahme dieses Prozesses daraufhin zu untersuchen, ob der nämliche Baldur von Schirach, der solche programmatische Aussprüche tat, wirklich jene Verbrechen gegen Recht und Humanität beging, die ihm die Anklage zur Last legt.

Schirach ist hier der jüngste Angeklagte. Er ist auch derjenige Beschuldigte, der bei seinem Eintritt in die Partei der weitaus jüngste von sämtlichen gewesen ist; noch nicht einmal 18 Jahre war er damals. Schon diese Tatsachen sind vielleicht von einer gewissen Bedeutung für die Beurteilung seines Falles. Noch auf der Schulbank geriet er bereits in den Bann des aufkommenden Nationalsozialismus; mächtig zog ihn vor allem der sozialistische Gedanke an, der schon in seinem Landerziehungsheim keinen Unterschied zwischen den Söhnen der verschiedensten Stände und Berufe anerkannt hatte. Diese Jungens um Schirach versprachen sich gerade von der völkischen Bewegung der zwanziger Jahre in Deutschland den Wiederaufstieg unseres Vaterlandes von den Auswirkungen des verlorenen ersten Weltkrieges zu einer glücklichen Zukunft; und das Schicksal wollte es, daß Schirach bereits 1925 mit 17 Jahren in der alten Goethestadt Weimar in persönliche Fühlung mit Hitler geriet. Die Person Hitlers machte auf den jungen Schirach, wie er selbst zugab, einen faszinierenden Eindruck; das von Hitler damals entwickelte Programm der Volksgemeinschaft hat Schirach mächtig begeistert, weil er darin im großen das wiederzufinden glaubte, was er im kleinen bereits in der Kameradschaft des Landerziehungsheimes und seiner Jugendorganisation persönlich erlebt hatte. Hitler erschien ihm und seinen Kameraden als der Mann, welcher der jungen Generation den Weg in die Zukunft freimachen würde; von ihm erhoffte sich diese junge Generation die Aussicht auf Arbeit, die Aussicht auf eine Existenz, die Aussicht auf Lebensglück. So wurde der junge Mensch überzeugter Nationalsozialist. Er wurde es als Produkt des Milieus, in dem er seine Jugendzeit verlebt hatte und das nur einen zu günstigen Nährboden für jene Weltanschauung lieferte, der sich der junge Schirach anschloß, weil er sie damals für die richtige hielt.

Dieses Milieu seiner Jugendjahre und eine einseitige politische Lektüre, die der junge Mensch in seinem Bildungshunger verschlang, machte ihn schon in jungen unerfahrenen Jahren auch zum Antisemiten, freilich nicht zum Antisemiten im Sinne jener Fanatiker, die schließlich auch vor Gewalttaten und Pogromen nicht mehr zurückschreckten, nicht zum Antisemiten im Sinne jener Fanatiker, die zuletzt ein Auschwitz geschaffen und Millionen von Juden ermordet haben, sondern zum Antisemiten in jenem gemäßigten Sinne, der lediglich den jüdischen Einfluß in Staatsverwaltung und Kulturleben einengen, aber im übrigen die Freiheit und das Recht auch des jüdischen Mitbürgers unangetastet lassen wollte und niemals an eine Ausrottung des jüdischen Volkes dachte. So wenigstens hat sich der junge Schirach den Antisemitismus Hitlers in jenen Jahren vorgestellt.

Daß dies Schirachs Auffassung auch wirklich gewesen ist, dafür spricht auch die Erklärung, die er hier am Vormittag des 24. Mai 1946 abgab und in der er rückhaltlos die von Hitler begangenen Verbrechen als einen Schandfleck unserer Geschichte bezeichnete, als ein Verbrechen, das jeden Deutschen mit Scham erfüllt; jene Erklärung, in welcher er hier offen aussprach, daß Auschwitz das Ende einer jeden Rassenpolitik und eines jeden Antisemitismus sein müsse. Diese Erklärung hier im Sitzungssaal kam dem Angeklagten Schirach aus innerstem Herzen. Sie war das Ergebnis der furchtbaren Enthüllungen, die dieser Prozeß auch für ihn gebracht hat, und Schirach hat diese Erklärung hier in breitester Öffentlichkeit abgegeben, um die deutsche Jugend von einem Irrweg auf den Weg der Gerechtigkeit und Toleranz zurückzuführen.

Meine Herren Richter! Ich möchte nunmehr die wichtigen Anklagepunkte, die gegen Schirach erhoben worden sind, und die wesentlichen Ergebnisse, die die Beweisaufnahme zu den einzelnen Punkten ergeben hat, Ihnen vortragen:

Dem Angeklagten Schirach wird zunächst vorgeworfen, daß er vor der Machtübernahme, also vor dem Jahre 1933, die Nationalsozialistische Partei und die ihr angeschlossene Jugendorganisation aktiv gefördert und dadurch beigetragen habe, daß die Partei zur Macht kommen konnte. Er sei, wie es im Trialbrief heißt, ein enger und unterwürfiger Anhänger Hitlers gewesen, er habe in blinder Treue zu Hitler und dessen nationalsozialistischer Gedankenwelt gestanden, und er habe als Führer des Studentenbundes die Studenten ideologisch und politisch dem Nationalsozialismus zugeführt und für ihn gewonnen.

Das alles, meine Herren Richter, bestreitet Schirach in keiner Weise. Was ihm in dieser Beziehung vorgeworfen wird, hat er getan, das bekennt er offen und dafür tritt er selbstverständlich auch heute ein. Das einzige, was er für diese, wie auch für die spätere Zeit, um so entschiedener in Abrede stellte, ist der Vorwurf, daß er an einer Verschwörung teilgenommen habe. Schirach hat selbst darauf hingewiesen, Führerprinzip und Diktatur sind nach seiner Auffassung ihrem Wesen und ihrem Begriff nach mit dem Gedanken einer Verschwörung schlechterdings unvereinbar, und eine Verschwörung erscheine ihm als logisches Unding, wenn sie viele Millionen Mitglieder umfassen soll und wenn ihre Existenz und ihre Ziele vor dem In- und Ausland offenliegen. Überdies wissen wir aus den Ergebnissen dieses Prozesses, daß Hitler, abgesehen von Bormann und Himmler, keinen Freund hatte, keinen Berater, mit dem er sich über seine Pläne und Ziele aussprach, er trieb vielmehr das Führerprinzip bis ins äußerste Extrem. Er kannte keine Beratungen und keine Aussprachen, die auf seine Willensbildung irgendeinen Einfluß gehabt hätten, sondern er faßte seine Entschlüsse lediglich aus sich heraus, ohne die Meinung seiner nächsten Umgebung auch nur anzuhören. Bei ihm gab es nur Befehl auf seiner Seite, bedingungslosen Gehorsam auf der anderen Seite. So sah, ohne daß ich zu diesem Kapitel weitere Ausführungen machen möchte, in Wahrheit diese »Verschwörung« aus, und wir alle, die wir diesen Prozeß miterlebt haben, hätten diese radikale Steigerung des Führerprinzips bis ins äußerste sicherlich niemals für möglich gehalten, wenn nicht alle Angeklagten und alle Zeugen, die hierüber Bescheid wissen, vollkommen übereinstimmend ohne eine einzige Ausnahme uns immer wieder das gleiche Bild gezeigt hätten.

Schirach bestreitet nun durchaus nicht, daß er schon in sehr jungen Jahren vollständig in den Bann Hitlers geriet, daß er sich mit seiner ganzen jungen Persönlichkeit in den Dienst dieser Sache gestellt hat und daß er damals, wie es in der Anklageschrift heißt, Hitler in bedingungsloser Treue ergeben war.

Wenn dies ein Verbrechen des jungen Schirach war, ein Verbrechen, das Millionen von älteren, erfahreneren gereiften Deutschen mit ihm begangen haben, so mögen Sie als Richter ihn deshalb verurteilen, falls unsere Rechtsordnung hierfür eine rechtliche Grundlage zur Verfügung stellt. Es wäre das eine weitere Enttäuschung zu den vielen anderen dazu, die der Angeklagte Schirach seit Jahren bereits erlebt hat. Schirach weiß heute, daß er bis zum Ende einem Manne treue Gefolgschaft geleistet hat, der dies nicht verdiente, und er weiß heute, daß die Ideen, für die er sich in seinen jungen Jahren begeisterte und aufopferte, in der Praxis zu Zielen führten, an die er selbst niemals gedacht habe.

Aber auch der durch viele bittere Erfahrungen geläuterte Schirach von heute kann in jener gutgläubigen Tätigkeit seiner Jugendzeit, die er mit Millionen des deutschen Volkes für Hitler und dessen Partei entfaltete, kein kriminelles Verbrechen erblicken. Denn die Partei erschien ihm damals als durchaus rechtmäßig; Schirach hat nie einen Zweifel gehabt, daß die Partei auch auf rechtmäßigem Weg zur Regierung gelangte. Die Machtergreifung durch die Partei, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten von Hindenburg, die Gewinnung der Mehrheit des Volkes durch die Partei in wiederholten Abstimmungen und dergleichen, das alles bestätigte dem jungen Schirach immer wieder aufs neue die Legalität der Bewegung, der er sich angeschlossen hatte. Wenn er heute dafür bestraft werden soll, daß er den nämlichen Hitler als seinen Führer anerkannte, den Millionen Deutscher und alle Staaten der Welt als rechtmäßiges Staatsoberhaupt anerkannt haben, so könnte Schirach eine solche Entscheidung niemals als gerecht empfinden und anerkennen. Trotz des harten Urteils, das er selbst hier in diesem Sitzungssaal über Hitler ausgesprochen hat und nach seiner Überzeugung aussprechen mußte, würde er sich als Opfer seiner politischen Überzeugung fühlen, wenn man ihn deshalb verurteilen würde, weil er als junger begeisterter Mensch sich der Nationalsozialistischen Partei angeschlossen hat und an ihrem Aufbau und ihrer Machtergreifung mitgearbeitet hatte. Er hat das damals nicht als ein Verbrechen erkannt, sondern von seinem Standpunkt aus als seine vaterländische Pflicht betrachtet.

Der zweite, weit wichtigere Vorwurf, den man dem Angeklagten von Schirach macht, geht dahin, daß er als Reichsjugendführer in den Jahren 1932 bis 1940, um die Anklage wörtlich zu zitieren, »die Gedankenwelt der Jugend mit der Nazi-Ideologie vergiftete und sie insbesondere für den Angriffskrieg ausbildete«. Diese Behauptung hat Schirach von jeher mit aller Entschiedenheit bestritten, und diese Behauptung wird auch durch die Ergebnisse der Beweisaufnahme nicht erwiesen.

Das Gesetz über die Hitler-Jugend vom Jahre 1936 sagte über die Aufgabe Schirachs als Reichsjugendführer, ich zitiere wörtlich:

»Die Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitler-Jugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienste am Volk und zur Volksgemeinschaft« – durch ihren Führer, den Angeklagten von Schirach – »zu erziehen.«

Soweit dieses Programm. Und dieses Programm wird wörtlich wiederholt in der Ausführungsverordnung vom Jahre 1939, die erst deshalb, nämlich drei Jahre später, so spät erging, weil Schirach die Pflichtmitgliedschaft zur HJ erst zu einem Zeitpunkt einführen wollte, wo die Hitler-Jugend auf Grund freiwilligen Beitritts praktisch bereits die gesamte deutsche Jugend umfaßte und daher der Zwang zum Beitritt für die Folgezeit nur mehr auf dem Papier stand.

In dem Programm der Hitler-Jugend, wie es Schirach in seinen Reden und Schriften formuliert hat – denn ein anderes Programm der Hitler-Jugend gibt es nicht –, findet sich kein einziges Wort, das auf eine militärische Erziehung der Jugend, geschweige denn auf ihre Erziehung zu Angriffskriegen hindeuten würde. Aber auch die Praxis der Jugenderziehung läßt nach Auffassung Schirachs in keiner Weise eine militärische Erziehung der deutschen Jugend für einen derartigen Zweck erkennen. Man hat in dieser Beziehung geltend gemacht, daß die Hitler-Jugend in verschiedene »Abteilungen und Divisionen«, wie sich die Anklageschrift ausdrückt, organisiert war; dies ist richtig, wenn auch die von der Anklage angeführten Bezeichnungen nicht stimmen und mit militärischen Gliederungen nicht das geringste zu tun haben. Aber schließlich wird ja jeder Jugendverband der ganzen Welt irgendeine Gliederung in größere und kleinere Einheiten aufweisen; jede dieser Einheiten muß natürlich auch einen Namen besitzen und ebenso einen verantwortlichen Führer, und wie in anderen Ländern, so wurde auch bei der deutschen Hitler-Jugend der Führer einer Einheit in irgendeiner Weise, sei es durch Führerschnur oder durch Sterne oder durch andere Rangabzeichen kenntlich gemacht. Mit einem militärischen Charakter der Jugenderziehung hat dies natürlich nichts zu tun. Schirach weiß aus seiner eigenen genauen Kenntnis des Auslandes, daß auch die ausländischen Jugendorganisationen in der Schweiz wie in Frankreich und in anderen Ländern eine ähnliche Einteilung und ähnliche Abzeichen besitzen, ohne daß es uns bisher eingefallen wäre, deshalb jene ausländischen Jugendorganisationen als militärische Verbände anzusprechen.

Man hat nun weiterhin geltend gemacht, daß die Formationen der männlichen Jugend in Deutschland auch im Schießen ausgebildet wurden. Auch das ist richtig, beweist aber nach Auffassung Schirachs gleichfalls sehr wenig. Denn die Schießausbildung der Hitler-Jugend erfolgte grundsätzlich und ausnahmslos nur an sogenannten Kleinkalibergewehren, also an einer Art Flobertstutzen, der nirgends in der Welt als Militärwaffe betrachtet wird und der nicht einmal vom Versailler Vertrag zu den Militärwaffen gezählt wurde. Die Hitler-Jugend in Deutschland hat während der ganzen Dauer ihres Bestehens keine einzige Militärwaffe besessen, kein Infanteriegewehr und kein Maschinengewehr, kein motorisiertes Flugzeug, keine Kanone und keinen Tank. Wenn man aber von militärischer Ausbildung sprechen wollte, so müsse doch diese Ausbildung in erster Linie an Militärwaffen erfolgt sein, also den Waffen, wie der moderne Krieg sie benutzt. Es hat zwar, wie im Kreuzverhör des Angeklagten Schirach festgestellt wurde, der für die Schießausbildung zuständige Referent der Reichsjugendführung, ein gewisser Dr. Stellrecht, gerade diesem Zweig der Jugenderziehung eine gewisse höhere Bedeutung zu geben versucht, um eben sein eigenes Amt als besonders wichtig erscheinen zu lassen; Schirach hat aber unwidersprochen hier geltend machen können, daß er gerade hierwegen in Meinungsverschiedenheiten zu diesem seinem Referenten geriet und schließlich sich deshalb von diesem Dr. Stellrecht trennte, weil er – Schirach – jede Entwicklung ablehnte, die vielleicht auf eine militärische Ausbildung der Jugend hinausgelaufen wäre. Aber selbst dieser Dr. Stellrecht, der von der Anklagevertretung als Zeuge gegen Schirach angeführt wurde, hat trotzdem seinerseits anerkannt, daß »kein einziger Junge in Deutschland auf Kriegswaffen trainiert wurde«, es sei »keinem Jungen eine Militärwaffe gereicht worden«. So wörtlich die Aussage Stellrechts.

Von Bedeutung für die Beurteilung all dieser Fragen ist weiterhin die Tatsache, daß Schirach die Erziehung der Jugend durch aktive Offiziere oder durch frühere Offiziere grundsätzlich ablehnte, weil er diese Personen für durchaus ungeeignet hielt, die Jugend in dem Sinne zu erziehen, der ihm als das Ziel seines Wirkens vorschwebte. Außerdem waren weder Schirach noch seine engeren Mitarbeiter vor dem Krieg Offiziere, und das gleiche gilt auch für die erdrückende Mehrzahl der ihm unterstellten höheren oder niederen HJ-Führer.

Alle diese Tatsachen stehen fest durch das Zeugnis des Angeklagten Schirach selbst und durch die Bekundungen der vernommenen Zeugen Lauterbacher, Gustav Höpken und Maria Höpken. Diese Zeugen waren jahrelang die nächsten Mitarbeiter Schirachs, sie kennen genau seine Ansichten und Prinzipien und sie haben übereinstimmend bestätigt, daß von einer militärischen oder auch nur vormilitärischen Erziehung der Hitler-Jugend nicht gesprochen werden konnte.

Ich darf hier noch eine Zwischenbemerkung einschieben, meine Herren Richter. Ich habe eben als Zeugen den Namen Lauterbacher genannt. Die Staatsanwaltschaft hat nun im Kreuzverhör den Versuch gemacht, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Lauterbacher dadurch zu erschüttern, daß sie ihn bei seiner Vernehmung am 27. April 1946 auf dem Zeugenstand fragte, wie viele Leute Lauterbacher öffentlich habe aufhängen lassen und ferner, daß sie ihm vorhielt, er solle angeordnet haben, daß 400 oder 500 Gefangene des Zuchthauses Hameln vergiftet oder erschossen werden sollten. In diesem Zusammenhang hatte dann der amerikanische Anklagevertreter sieben eidesstattliche Versicherungen unter dem Dokument US-874 angeboten. Darunter die eines gewissen Josef Krämer, der tatsächlich in seinem Affidavit die Behauptung aufgestellt hat, daß der für Schirach aufgetretene Zeuge Lauterbacher in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Hannover ihm den Befehl hinsichtlich der Ermordung der Gefangenen gegeben hatte.

Ich habe nun bereits in der Sitzung vom 27. Mai 1946 gegen die Verwertung dieser eidesstattlichen Versicherung Krämers protestiert und Ihnen, meine Herren Richter, einen Zeitungsbericht vorgezeigt, wonach dieser Zeuge Krämer am 2. Mai 1946 vom Gericht der 5. britischen Division zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Ich habe nun vor einigen Tagen einen Bericht der »Rhein-Neckar-Zeitung« vom 6. Juli 1946 als Beweismittel vorgelegt, der berichtet, daß der Zeuge Hermann Lauterbacher in der Zwischenzeit vom Obersten Britischen Militärgericht in Hannover freigesprochen worden ist.

Daraus ergibt sich, daß die Verdächtigung, die seinerzeit die Staatsanwaltschaft gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen Lauterbacher ausgesprochen hatte, und bei der sie sich auf eine eidesstattliche Versicherung dieses Krämer gestützt hatte, nicht begründet war.

Ich darf nun bei meinem Exposé weiterfahren auf Seite 8:

Man hat zum Gegenbeweis hinsichtlich der Frage der vormilitärischen Erziehung der HJ wiederholt auch geltend gemacht, daß die Hitler-Jugend eine Uniform getragen habe. Das ist richtig, kann aber nichts beweisen, denn auch die Jugendorganisationen anderer Länder pflegen eine gemeinsame Tracht, irgendeine Art von Uniform zu tragen, ohne daß man sie deshalb als militärische oder halbmilitärische Verbände bezeichnen würde, und Schirach, wie verschiedene seiner Mitarbeiter, haben mir berichtet, daß in manchen anderen Ländern, die sicherlich nicht an Kriegführung und noch weniger an Angriffskriege denken, die männliche Jugend sogar in der Benützung von ausgesprochenen Militärwaffen ausgebildet wird und jährlich Wettbewerbe im Schießen mit Militärgewehren veranstaltet.

Warum hat nun Schirach auch für die Hitler-Jugend, und zwar nicht bloß für die männliche, sondern auch für die weibliche Jugend eine Uniform eingeführt? Die Antwort hierauf haben wir von verschiedenen Zeugen gehört.

Schirach sah – ich darf hier wörtlich zitieren – in der Uniform der Jungens und in der einheitlichen Tracht der Mädels das »Kleid des Sozialismus«, das »Kleid der Kameradschaft«. Das Kind des reichen Industriellen – hat schon seinerzeit Schirach geschrieben – sollte das gleiche Gewand tragen, wie das des Bergmannes, der Sohn des Millionärs das nämliche Kleid, wie der Sohn eines Arbeitslosen. Die Uniform der HJ sollte, wie Schirach schon 1934 in seinem Buch »Die Hitler-Jugend« ausführte, der Ausdruck einer Haltung sein, die nicht nach Klasse und Besitz fragt, sondern nur nach Einsatz und Leistung. Die Uniform der Hitler-Jugend war für Schirach, wie es in seinem gleichen Buch weiter heißt, »nicht das Zeichen irgendeines Militarismus, sondern das Wahrzeichen der Idee der Hitler-Jugend, nämlich der Idee der klassenlosen Gemeinschaft«. Im Sinne des Wahlspruches, den Schirach 1933 der Jugend gab: »Durch Sozialismus zur Nation«. Diesem Grundsatz, der sich aus den angeführten Zitaten ergibt, ist Schirach, solange er ein Jugendführer war, immer treu geblieben. So schrieb er in der offiziellen Zeitschrift der Hitler-Jugend 1937, ich zitiere wörtlich:

»Die Uniform ist nicht der Ausdruck einer kriegerischen Gesinnung, sondern das Kleid der Kameradschaft, sie löscht den Standesunterschied aus und macht den kleinsten Arbeiterjungen heute wieder gesellschaftsfähig; in unserem neuen Deutschland soll die junge Generation zu einer untrennbaren Gemeinschaft zusammengeschlossen werden.«

(Beweisstück Schirach 7.)

Diese Kameradschaft und dieser Sozialismus schwebte Schirach vor, als er 1934 in seinem Buch »Die Hitler-Jugend« darlegte, wie er sich diesen Sozialismus dachte; ich zitiere auch hier wieder wörtlich:

»Sozialismus heißt nicht, dem Einen die Früchte seiner Arbeit nehmen, um allen etwas von der Arbeit des Einen zu geben. Jeder soll arbeiten, aber auch jeder soll die Früchte seiner Arbeit ernten. Es soll auch nicht Einer reich werden, während dann Tausende für ihn Not leiden müssen. Wer seine Arbeiter ausbeutet und die Gemeinschaft ausplündert, um seine Kassen zu füllen, ist ein Feind des deutschen Volkes.«

(Beweisstück Schirach 55.)

Hier endet das Zitat, das die damalige Einstellung Schirachs erkennen läßt.

Schirach hat in seinen zahlreichen Schriften, Aufsätzen und Reden, die im Dokumentenbuch gesammelt und dem Gericht vorgelegt sind, immer darauf hingewiesen, daß er, wie er sich ausdrückt, keinen »pseudomilitärischen Drill« wünsche, der nur die Freude der Jugend an ihrer Bewegung verkümmern würde. Die Ausbildung der Jungens im Kleinkaliberschießen ging vielmehr Hand in Hand mit der Ausbildung in allen sportlichen Disziplinen und entsprach der Neigung der männlichen Jugend, die sicher in allen Staaten dem Schießsport ein besonderes Interesse entgegenzubringen pflegte; sie trat aber an Umfang und Bedeutung sehr stark zurück hinter den größeren Zielen, die Schirach in der Hitler-Jugend verfolgte und über die uns nicht nur Schirach, sondern auch die anderen vernommenen Zeugen ebenso klare Auskunft geben wie die Schriften und Reden, die von Schirach stammen. Diese Ziele der HJ-Erziehung sollen hier kurz dargelegt werden, wie sie durch die Beweisaufnahme erwiesen worden sind. Wegen dieser anderen Ziele der HJ-Erziehung ist natürlich Schirach hier nicht angeklagt, aber man muß sie trotzdem beachten und berücksichtigen, wenn man sich einen Gesamteindruck von seiner Persönlichkeit, Tätigkeit und von seinen Plänen machen will.

Neben der bereits erwähnten Erziehung der Jugend zur Kameradschaft, zum Sozialismus im Sinne der Überwindung des Klassenunterschiedes, hatte Schirach, wie er hier selbst vorgetragen hat, hauptsächlich vier Ziele im Auge: Einmal die sportliche Ausbildung der Jugend in den verschiedenen Sportarten und in Verbindung damit die Pflege der Gesundheit der Jugend; dieser Zweig der Jugenderziehung nahm einen sehr großen Teil der HJ-Ausbildung für sich in Anspruch, und wenn die deutsche Jugend in den Olympischen Spielen des Jahres 1936 so unerwartet große Erfolge erzielte, so war das zu einem gewissen Teil der Tätigkeit der Hitler-Jugend-Führung im Zusammenwirken mit dem deutschen Reichssportführer von Tschammer und Osten zu verdanken.

Ein weiteres Ziel war die berufliche Weiterbildung und Förderung der erwerbstätigen Jugend und die Besserstellung der Jugendlichen, namentlich der erwerbstätigen, im Jugendrecht, insbesondere durch das Verbot der Nachtarbeit, durch Erhöhung der Freizeit, durch Gewährung eines bezahlten Urlaubs, durch Verbot der Kinderarbeit, durch Erhöhung des Schutzalters für Jugendliche et cetera; die berufliche Weiterbildung wurde durch Schirach so stark gefördert, daß schließlich über eine Million Jungens und Mädels alljährlich zum sogenannten Berufswettkampf antraten und von Jahr zu Jahr die Durchschnittsleistungen im Beruf sehr erheblich steigern konnten.

Ein drittes Hauptziel der Jugenderziehung war die Förderung der Liebe zur Natur, fern vom Sumpf der Großstadt, auf Wanderfahrten und in Jugendherbergen. Tausende von Jugendheimen und Jugendherbergen wurden im Laufe jener Jahre durch die Initiative Schirachs, und zwar aus eigenen Mitteln der Hitler- Jugend erbaut, um die Jugend aus der Großstadt mit ihren Versuchungen und Lastern wieder herauszubringen und dem Landleben zurückzugeben, um ihr die Schönheiten der Heimat zu zeigen und auch dem ärmsten Kind einen Ferienaufenthalt zu ermöglichen.

Die stärkste Fürsorge aber widmete Schirach seinem vierten Ziel der Jugenderziehung: Nämlich der Verständigung mit der Jugend anderer Völker, und gerade diese Tätigkeit ist ein besonders geeigneter Prüfstein für die Frage, ob man dem Angeklagten von Schirach vorwerfen kann, er habe sich an Plänen zur Führung von Angriffskriegen beteiligt und er habe Verbrechen gegen den Frieden begangen. Schirach hat uns hier auf dem Zeugenstand berichtet, daß immer wieder, Sommer wie Winter jeden Jahres, ausländische Jugendgruppen bei der deutschen Jugend, auf seine Einladung hin, zu Gast waren, und aus den Urkunden des Dokumentenbuches von Schirach ergibt sich, daß zum Beispiel bereits im Jahre 1936 nicht weniger als rund 200000 Übernachtungen ausländischer Jugendlicher in deutschen Jugendherbergen stattfanden; Jahr für Jahr gingen umgekehrt deutsche Jugendabordnungen ins Ausland, besonders nach England und Frankreich, damit sich die Jugend gegenseitig kennen und achten lerne. Gerade diese Bemühungen Schirachs, die mit einer Absicht der Vorbereitung von Angriffskriegen vollkommen unvereinbar wären, wurden auch im Ausland in der Vorkriegszeit rückhaltlos immer wieder anerkannt: In einer dieser Verständigungsarbeit ausschließlich gewidmeten Sondernummer der HJ-Zeitschrift: »Wille und Macht« vom Jahre 1937, die auch in französischer Sprache erschien und die auch in Frankreich sehr viel vertrieben worden ist, und die ich hier nur als Beispiel anführe, hat der französische Ministerpräsident Chautemps – Unterlagen habe ich im Dokumentenbuch vorgelegt erhalten – seine Bereitschaft erklärt, als Chef der Französischen Regierung die weitere Entwicklung dieser friedlichen Zusammenkünfte zu fördern.

»Ich wünschte« – so schrieb Chautemps – »die jungen Leute beider Nationen lebten alljährlich zu Tausenden Seite an Seite und lernten einander auf diese Weise kennen, verstehen und schätzen.« – Er fährt dann fort: – »Unsere beiden Völker wissen, daß eine Verständigung zwischen ihnen einer der wertvollsten Faktoren für den Weltfrieden sein würde; deshalb ist es Pflicht all derer von beiden Seiten der Grenzen, die einen klaren Blick und menschliches Empfinden haben, an der Verständigung und Annäherung der beiden Völker zu arbeiten. Niemand aber könnte das aufrichtiger und eifriger tun, als die Führer unserer prächtigen Jugend, der französischen und der deutschen. Wenn sie« – diese Jugendführer von beiden Seiten – »es verständen, diese Jugend zur Einigung zu bringen, so hielten sie damit die Zukunft Europas und der menschlichen Kultur in Händen.« (Beweisstück Schirach 110.)

Im ähnlichen Sinne schrieb damals der Bürgermeister von Versailles an Schirach. Er hat damals seinen Aufruf in der Monatszeitschrift der deutschen Hitler- Jugend mit den Worten geschlossen, ich zitiere hier wieder wörtlich:

»Die Erziehung der Jugend in diesem Sinne ist eine der wichtigsten Aufgaben der Politiker unserer beiden Länder.« (Beweisstück Schirach 111.)

Nicht minder herzlich anerkannte der Französische Botschafter François-Poncet in der gleichen Zeitschrift unter der Überschrift: »Jugend als Brücke« die Bestrebungen Schirachs und schließt seinen längeren Artikel mit den Worten, ich zitiere wörtlich:

»Französisches Mitwirken bereichert den deutschen Boden. Deutscher Einfluß befruchtet den französischen Geist... Möge sich dieser Austausch weiter entwickeln. Mögen auch die Generationen, die einmal Nutzen daraus ziehen werden, dazu beitragen, die beiden Hälften des Reiches Karls des Großen sich näher zu bringen und zwischen ihnen jene Beziehungen der gegenseiti gen Achtung, der Eintracht und der guten Kameradschaft zu schaffen, nach denen die beiden Völker sich zutiefst sehnen, weil ihr Instinkt ihnen sagt, daß das Heil der europäischen Kultur davon abhängt, und weil sie sehr genau wissen, wenn sie einmal in sich gehen, daß sie... ›viel mehr Gründe haben, sich zu achten und sich zu bewundern, als sich zu hassen‹.« (Beweisstück Schirach 112.)

Soweit dieses Zitat. Und Schirach selbst antwortete im nächsten Heft seiner Monatszeitschrift, in einem Heft, das auch in französisch erschien, mit einem begeisterten Artikel unter der Überschrift: »Gruß an Frankreich«. Er schreibt darin zum Beispiel, ich zitiere wörtlich:

»Die Annäherung unserer beiden Völker ist eine europäische Aufgabe von so zwingender Notwendigkeit, daß die Jugend keine Zeit zu verlieren hat, um an ihrer Lösung zu arbeiten.«

Schirach fährt dann weiter:

»Die Jugend ist der beste Botschafter der Welt, sie ist unbefangen, freimütig, und ohne den ewigen Argwohn, von dem die Diplomaten oft nicht zu heilen sind, weil er gewissermaßen ihre Berufskrankheit ist. Allerdings« – fügt Schirach hinzu – »darf hinter dem Austausch der Jugend keine propagandistische Absicht stehen.« -Und erschließt dann:- »Ich sehe es nun als meine Aufgabe an, zwischen der deutschen und der französischen Jugend ein Gespräch zustande zu bringen, das auf deutscher Seite nicht in schönen Äußerungen von mir beste hen soll, sondern in vielen persönlichen Unterhaltungen tausender junger Deutscher mit ebensovielen Franzosen... daß man an die Jugend glauben müsse, weil sie vor allem eine wirkliche Verständigung durchführen könne.«

Und zum Schluß erinnert Schirach nochmals daran, daß sämtliche höhere Jugendführer der deutschen Hitler-Jugend kurz vorher im Namen der jungen Generation Deutschlands dem Unbekannten Soldaten Frankreichs durch eine Kranzniederlegung unter dem Arc de Triomphe ihre Ehrfurcht bezeugten, und er schließt mit den Worten – ich zitiere wörtlich:

»Die Toten des großen Krieges starben in der Erfüllung ihrer patriotischen Pflicht und in edler Hingabe an die Idee der Freiheit. Aber Deutsche wie Franzosen waren immer von der Achtung vor dem tapferen Gegner erfüllt. Wenn sich die Toten achteten, sollten die Lebenden versuchen sich die Hand zu reichen. Wenn die... heimgekehrten Frontkämpfer der beiden Nationen sogar Kameraden werden konnten, warum sollten nicht die Söhne und Enkel Freunde werden?« (Beweisstück Schirach 113.)

Das, meine Herren Richter, sind die Worte des nämlichen Baldur von Schirach, den die Anklage zu einem bewußten Teilnehmer einer hitlerischen Kriegsverschwörung stempeln will. Aus diesem unermüdlichen Propheten der Völkerverständigung und des Friedens will die Anklage einen Kriegsverbrecher machen, der die Jugend militarisiert und für Angriffskriege körperlich und psychisch vorbereitet und gegen den Frieden gearbeitet haben soll. Den Beweis hierfür hat die Anklage bisher nicht erbringen können.

Schirach hat verschiedene richtunggebende Bücher für die Jugend geschrieben, die im Trialbrief gegen ihn verwertet wurden, er hat zahlreiche Aufsätze über die verschiedensten Probleme der Jugenderziehung veröffentlicht; seine ungezählten Reden, die er an die Jugend richtete, sind veröffentlicht worden, seine Befehle und Instruktionen die er der Jugend gab, liegen gesammelt Ihnen und der Staatsanwaltschaft vor; es muß aber festgestellt werden, daß unter all diesen seinen Kundgebungen aus der ganzen Zeit seiner Tätigkeit als Reichsjugendführer sich nicht eine einzige befindet, worin er zum Kriege gehetzt oder worin er Angriffe auf andere Länder gepredigt hätte. Die Anklagevertretung hat zwar hier behauptet, Schirach habe in seinem Buch »Die Hitler-Jugend« – das ich schon wiederholt erwähnt habe – von »Lebensraum« gesprochen, also damit ein Schlagwort der hitlerischen Aggressionspolitik sich zu eigen gemacht; diese Behauptung ist unrichtig; das ganze Buch »Die Hitler- Jugend« und auch alle übrigen Reden und Schriften Schirachs enthalten das Wort »Lebensraum« überhaupt nicht. Wohl hat Schirach in seinem erwähnten Buch »Die Hitler-Jugend«, das 1936 erschien, an zwei Stellen von »Ostraum« gesprochen, aber dieses Wort bezog er ganz offensichtlich nicht etwa auf polnische oder sowjetrussische Gebiete, sondern nur auf die östlichen Provinzen des früheren Deutschen Reiches, also auf Gebiete, die früher zu Deutschland gehörten, die aber bekanntlich nur sehr dünn besiedelt waren, und die zur Ansiedlung überschüssiger deutscher Volksteile sich gut eigneten.

Nirgends hat Schirach, wie ich abschließend zu diesem Kapitel bemerken darf, während der ganzen Zeit bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges den Gedanken ausgeführt, als ob er wünschen würde, daß Deutschland fremde Gebiete erobern solle, niemals hat er die häßlichen Schlagworte von der »Herrenrasse« der Deutschen oder vom »Untermenschentum« anderer Völker gesprochen, er hat im Gegenteil sich stets für die Aufrechterhaltung des Friedens mit den Nachbarvölkern ausgesprochen, und er ist immer für die friedliche Lösung auftretender Konflikte und der unvermeidlichen Interessengegensätze eingetreten. Wenn Hitler, meine Herren Richter, nur einen Bruchteil der Friedensliebe besessen hätte, die sein Jugendführer immer und immer wieder predigte, dann wäre uns Deutschen und der ganzen Welt dieser Krieg vielleicht erspart geblieben.

VORSITZENDER: Wir vertagen uns nunmehr.