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Einhunderteinundachtzigster Tag.

Donnerstag, 18. Juli 1946.

Vormittagssitzung.

GERICHTSMARSCHALL: Der Gerichtshof wird ersucht, die Abwesenheit der Angeklagten Heß, Ribbentrop und Fritzsche zur Kenntnis zu nehmen.

DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Ich habe mich gestern am Schluß meiner Ausführungen mit dem Vorwurf der Anklage befaßt, der Angeklagte von Schirach habe die Jugend des Dritten Reiches im kriegerischen Sinn militaristisch erzogen, er habe sie auf die Führung von Angriffskriegen vorbereitet und habe an einer Verschwörung gegen den Frieden sich beteiligt. Ich fahre nunmehr fort gemäß Seite 15 meines schriftlichen Exposés, in dem ich nicht einem weiteren Vorwurf zuwende, der von der Anklagebehörde gegen den Beschuldigten von Schirach erhoben wurde:

Da die Anklagevertretung dem Angeklagten von Schirach nicht nachweisen konnte, daß er jemals vor Beginn des Krieges sich für die Kriegspolitik Hitlers eingesetzt hat, so macht man ihm einen weiteren Vorwurf daraus, er habe verschiedene Beziehungen zur SS und SA gehabt, aus der Hitler-Jugend habe insbesondere sowohl die SS und SA und auch das Führerkorps der Partei seinen Nachwuchs erhalten. Das letztere ist durchaus richtig, beweist aber nichts für die Stellungnahme Schirachs zur Kriegspolitik Hitlers und ist auch für die Frage seiner Beteiligung an einer Kriegsverschwörung Hitlers belanglos. Denn wenn 90 oder 95 Prozent oder noch mehr der deutschen Jugend in der Hitler-Jugend geeinigt waren, dann war es eine Selbstverständlichkeit, daß sowohl die Partei wie auch deren verschiedene Formationen ihren Nachwuchs von Jahr zu Jahr mehr aus der Hitler-Jugend erhielten, eine andere Jugend war praktisch nicht mehr vorhanden. Wenn aber die Anklage auf das Abkommen zwischen der Reichsjugendführung und dem Reichsführer-SS über den Streifendienst der Hitler- Jugend vom Oktober 1938 hinweist, das Ihnen als Dokument 2396-PS vorgelegt wurde, so ergibt sich daraus überhaupt kein Schluß für die Anklage; denn der Streifendienst der Hitler-Jugend war nur eine Einrichtung, welche die Disziplin der HJ-Angehörigen beim Auftreten in der Öffentlichkeit kontrollieren und überwachen sollte; es war das also eine Art Vereinspolizei, welche die Hitler-Jugend gegen ihre eigenen Mitglieder und nur gegen diese übte. Um aber hierbei seitens der allgemeinen Polizei keine Schwierigkeiten zu bekommen, war eine Regelung durch Vereinbarung mit dem Reichsführer-SS Himmler notwendig, weil dieser, Himmler, der Chef des gesamten Polizeiwesens in Deutschland war und weil er der Einrichtung des Streifendienstes der HJ hätte Schwierigkeiten machen können. Das allein war der Zweck des Abkommens vom Oktober 1938, das natürlich mit der Beschaffung eines Nachwuchses für die SS in Wirklichkeit ebensowenig etwas zu tun hatte wie mit Kriegführung und Kriegsvorbereitung. Wie sehr übrigens Schirach sich dagegen wehrte, daß irgendwelche Gliederungen der Partei auf die HJ Einfluß gewannen, das ergibt sich deutlich aus der Tatsache, daß er 1938 auf das schärfste dagegen protestierte, daß die Ausbildung der zwei letzten Jahrgänge der HJ, also von 16 bis 18 Jahren, durch die SA übernommen werden sollte; er hat diesen Plan scharf abgelehnt und hat durch persönliche Vorsprache bei Hitler erreicht, daß der betreffende Führerbefehl in der Praxis nicht durchgeführt wurde. Und was seine Stellung zur SS anlangt, so wissen wir aus der Aussage des Zeugen Gustav Höpken, der am 28. Mai 1946 hier vernommen wurde, wie aus dem Affidavit der Zeugin Maria Höpken, Dokumentenbuch Schirach Nummer 3, daß Schirach in Wien immer befürchtete, durch die SS überwacht und bespitzelt zu werden. So hatte er immer schon ein unbehagliches Gefühl, seit man für ihn zu Beginn seiner Wiener Tätigkeit für die Geschäfte des Reichsstatthalters und Reichsverteidigungskommissars einen ständigen Vertreter in der Person ausgerechnet eines höheren SS-Führers, eines Dr. Dellbrügge, aufgestellt hatte, der, wie Schirach wußte, in unmittelbaren Beziehungen zum Reichsführer-SS stand, also zu demjenigen Mann, der, wie nachgewiesen ist, im Jahre 1943 Hitler den Vorschlag machte, Schirach wegen Defaitismus verhaften zu lassen und vor den Volksgerichtshof zu stellen, was praktisch bedeutet hätte, daß Schirach auf Betreiben Himmlers aufgehängt worden wäre. Schon diese Tatsachen beweisen, wie das Verhältnis des Angeklagten von Schirach zur SS in Wirklichkeit gewesen ist, und es ist dann verständlich, daß Schirach schließlich sogar auf den »Schutz«, den sogenannten Schutz durch die ihm beigegebene Polizeimannschaft verzichtete und es vorzog, seinen persönlichen Schutz einer Abteilung der Wehrmacht zu übertragen, die dem Befehl Himmlers nicht unterstand. Ich vergleiche hierzu das Affidavit Maria Höpken im Dokumentenbuch von Schirach Nummer 3.

Ein weiterer Vorwurf, der gegen Schirach erhoben wird, betrifft seine Einstellung zur Kirchenfrage. Dem durch die bisherigen Ausführungen gezeichneten Bild des Angeklagten von Schirach, wie es sich aus der Beweisaufnahme ergeben hat, entspricht auch seine Haltung zur Kirchenfrage. Dieser Punkt spielt zwar in der Anklage eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle, erscheint aber doch für die Beurteilung der menschlichen Persönlichkeit Schirachs von erheblicher Bedeutung.

Schirach selbst und seine Frau waren stets in der Kirche verblieben. Dem ausländischen Beurteiler mag dieser Umstand vielleicht nur als nebensächliche Kleinigkeit erscheinen, aber wir Deutsche wissen, welcher Druck auf höhere Parteifunktionäre gerade auch in solchen Dingen ausgeübt wurde, und daß nur wenige in dieser Stellung einem solchen Druck sich zu widersetzen getrauten. Schirach war einer der wenigen.

Er war derjenige höhere Parteiführer, der stets und ausnahmslos mit aller Strenge einschritt, wenn kirchenfeindliche Übergriffe und Ausschreitungen seitens der Hitler-Jugend zu seiner Kenntnis kamen. Man hat ihm zwar einen Vorwurf daraus gemacht, daß in der Hitler-Jugend verschiedentlich Lieder gesungen wurden, die häßliche Bemerkungen gegen kirchliche Einrichtungen enthielten, aber Schirach konnte mit gutem Gewissen hier auf seinen Eid bestätigen, daß er zum Teil von diesen Liedern keine Kenntnis hatte, was bei einer Organisation von sieben oder acht Millionen Mitgliedern durchaus verständlich ist, ferner, daß einzelne jetzt beanstandete Lieder bereits aus dem Mittelalter stammen und schon im Liederbuch des sogenannten »Wandervogel« gestanden haben, also einer früheren Jugendorganisation, die sicher seitens der Anklagebehörde nicht beanstandet werden will. Vor allem aber hat Schirach darauf hingewiesen, daß in den Jahren 1933 bis 1936 mehrere Millionen von Jugendlichen aus einer ganz anderen Geisteswelt zur Hitler-Jugend kamen und daß in den ersten Revolutionsjahren, also in der Sturm- und Drangperiode der Bewegung, es ganz unmöglich war, alle Übergriffe dieser Art zu erfahren und zu verhindern. Wo Schirach von solchen Dingen verständigt wurde, hat er eingegriffen und derartige Mißstände abgestellt, die von vornherein sich nur als Ausschreitungen vereinzelter Elemente darstellten, jedoch nicht die Jugendorganisation als Ganzes kompromittieren konnten.

Die Beweisaufnahme hat nach der Überzeugung Schirachs keinen Zweifel darüber gelassen, daß er sich in der Kirchenfrage versöhnlich verhalten hat und daß er sich bemühte, zwischen den Kirchen auf der einen Seite, dem Dritten Reich und namentlich der Reichsjugendführung auf der anderen Seite ein korrektes Verhältnis der gegenseitigen Achtung herbeizuführen und die beiderseitigen Rechte und Zuständigkeiten zu respektieren. Auf sein eigenes Ersuchen wurde Schirach seinerzeit im Jahre 1934 durch den Reichsminister des Innern in die Führung der Konkordatsverhandlungen mit der katholischen Kirche eingeschaltet, weil er hoffte, durch persönliche Mitwirkung leichter ein Übereinkommen mit der katholischen Kirche zu erzielen; er hat sich ehrlich bemüht, für die Regelung der Jugendfrage eine Formulierung zu finden, auf der eine Einigung mit der katholischen Kirche möglich gewesen wäre; seine Mäßigung und sein guter Wille in diesem Punkt wurden damals auch seitens der Vertreter der katholischen Kirche offen anerkannt; aber alles scheiterte zuletzt am Widerstand Hitlers und an der Komplikation, die gerade für diese Verhandlungen durch die Vorkommnisse des 30. Juni 1934 durch den sogenannten Röhm-Putsch geschaffen wurde.

Mit der protestantischen Kirche dagegen führte Schirach eine Einigung mit dem Reichsbischof Dr. Müller herbei, so daß die protestantischen Jugendverbände nicht im Zwangsweg, sondern im Weg beiderseitiger Vereinbarung in die Hitler-Jugend eingegliedert wurden, also nicht im Wege einer »Zerschlagung dieser Verbände« durch Staat oder Partei, wie die Anklage annimmt, sondern auf Veranlassung des protestantischen kirchlichen Oberhauptes und im vollen Einverständnis mit ihm.

Dabei muß darauf hingewiesen werden, daß es stets die Politik Schirachs gewesen ist, daß eine Beschränkung des Jugendgottesdienstes seitens der Jugendführung weder damals noch später erfolgte. Im Gegenteil, Schirach hat, wie er selbst angab und wie der Zeuge Lauterbacher bestätigt hat, im Jahre 1937 ausdrücklich erklärt, daß er es den Kirchen überlasse, die Jugend im Sinne ihrer Konfession zu erziehen, und er hat gleichzeitig angeordnet, daß grundsätzlich an Sonntagen während der Zeit des kirchlichen Gottesdienstes kein Dienst der Hitler-Jugend anzusetzen sei; er gab den Einheitsführern der HJ strenge Weisung, den Sonntagsgottesdienst in keiner Weise durch einen Formationsdienst zu stören. Wenn solche Störungen in einzelnen Fällen dann doch vorgekommen sind und wenn sich hierüber kirchliche Stellen beschwerten, wie aus dem Kreuzverhör sich ergibt, so geht das nicht zu Lasten des Angeklagten von Schirach und ändert auch nichts an der guten Absicht, die er gehabt hat.

Es konnte ihm auch während des ganzen Prozesses nicht ein einziger Fall nachgewiesen werden, wo er gegen die Kirche gehetzt oder wo er religionsfeindliche Äußerungen gebraucht hätte. Er hat im Gegenteil in zahlreichen Kundgebungen, die im Dokumentenbuch von Schirach dem Gericht vorgelegt sind, nicht nur wiederholt den Vorwurf zurückgewiesen, die Hitler-Jugend sei kirchenfeindlich oder gottlos, sondern er hat auch positiv immer wieder den Führern und Mitgliedern der Hitler-Jugend eingeschärft, ihre Pflicht gegen Gott zu erfüllen; er dulde in der Jugend niemand, der nicht an Gott glaube; jeder wahrhafte Erzieher, so sagte er ihnen, müsse zugleich ein Erzieher zu religiösem Gefühl sein, das die Grundlage jeder erzieherischen Tätigkeit sei; HJ-Dienst und religiöse Überzeugung könnten sehr wohl miteinander verbunden werden und nebeneinander bestehen; der Hitler-Jugend-Führer dürfe in seine Gefolgschaft keinerlei Gewissenskonflikte hineintragen. Für religiöse Übungen, für Exerzitien und dergleichen sei den HJ-Angehörigen Urlaub vom Dienst zu gewähren. Dies der Standpunkt von Schirachs.

Wer solche Anweisungen an seine Unterführer gibt und immer wieder aufs neue wiederholt, der kann für sich in Anspruch nehmen, daß er nicht als Feind der Kirche und als Feind religiösen Lebens beurteilt wird. In dieser Beziehung ist übrigens interessant, was ein so zuverlässiger Beurteiler wie Nevile Henderson in seinem oft zitierten Buch »Failure of a Mission« über eine Rede schrieb, die er auf dem Reichsparteitag 1937 aus dem Munde Schirachs gehört hat und die Ihnen auszugsweise im Dokumentenbuch von Schirach vorliegt. Henderson, der als Botschafter in Berlin die deutschen Verhältnisse genau kannte, hatte offenbar erwartet, daß Baldur von Schirach auf dem Reichsparteitag gegen die Kirche sprechen und die Jugend in kirchenfeindlichen Sinn beeinflussen würde, wie man es von anderen Führern der Partei oft zu hören bekam.

Henderson schreibt nun – ich zitiere diese zwei Sätze wörtlich:

»An diesem Tag war es jedoch Schirachs Rede, die... mich am meisten beeindruckte, obwohl sie ganz kurz war... Ein Teil dieser Rede überraschte mich, als er, die Jungen anredend, sagte:

Ich weiß nicht, ob Ihr Protestanten oder Katholiken seid, aber daß Ihr an Gott glaubt, das weiß ich.‹«

Und Henderson fügt bei:

»Ich hatte den Eindruck gehabt, daß alle Beziehungen zur Religion innerhalb der Hitler-Jugend abgeschafft würden, und dies schien mir diese Annahme zu widerlegen.« (Beweisstück Schirach 83.)

Wie Schirach wirklich in religiöser Hinsicht dachte und in welchem Sinn er auf die Jugend einwirkte, das beweist nicht nur sein Ausspruch, den er gelegentlich einmal auf der Ordensburg Sonthofen in einer Rede an die Erzieher der Adolf-Hitler-Schulen tat, daß Christus die größte Führerpersönlichkeit der Weltgeschichte sei, sondern in gleicher Weise auch das Ihnen vorgelegte und als Beweisstück verwertete Büchlein mit dem Titel »Weihnachtsgabe des Kriegsbetreuungsdienstes«; dieses Buch, das in großer Auflage ins Feld geschickt wurde, widmete Schirach den aus der Hitler-Jugend hervorgegangenen Frontsoldaten im Jahre 1944, also zu einer Zeit, wo der Radikalismus in Deutschland auf sämtlichen Gebieten nicht mehr zu übertreiben war.

Schirach bildete auch hier eine Ausnahme: Kein Hakenkreuz, kein Hitler-Bild, kein SA-Lied finden Sie in dem Buch des Reichsleiters von Schirach, sondern unter anderem ein ausgesprochen christliches Gedicht aus der eigenen Feder Schirachs, dann das Bild einer Madonna, daneben eine Reproduktion von van Gogh, der bekanntlich im Dritten Reich schärfstens verpönt war, und statt Hetzworten finden wir in dem Büchlein eine Mahnung zu christlichem Denken, und den Abdruck des Wessobrunner Gebets, bekanntlich des ältesten christlichen Gebets in deutscher Sprache.

Bormann tobte damals, als er das Büchlein sah, aber Schirach blieb fest und lehnte es ab, das Büchlein zurückzuziehen oder irgendwie abzuändern.

Man hat nun dem Angeklagten von Schirach vorgeworfen, daß er doch einmal eine kirchenfeindliche Handlung vorgenommen und sich dadurch an der Kirchenverfolgung beteiligt habe: Aus einem Brief des Ministers Lammers vom 14. März 1941, Dokument R-146, ergibt sich nämlich, daß Schirach den Vorschlag gemacht hatte, beschlagnahmtes Vermögen den Gauen zu erhalten und nicht dem Reich zuzuführen; allein dieser Fall rechtfertigt es in keiner Weise, den Angeklagten von Schirach mit Kirchenverfolgung irgendwie in Zusammenhang zu bringen. In dem von der Anklagebehörde angeführten Fall handelt es sich überhaupt nicht um irgendwelches Kirchenvermögen, sondern um beschlagnahmtes Vermögen eines Fürsten Schwarzenberg in seinem Wiener Palais; die Angelegenheit hatte also von vornherein mit der Kirche nichts zu tun; das wird auch eindeutig bestätigt durch das Schreiben des Ministers Lammers vorn 14. März 1941, R-146, das ich eben erwähnt habe, der nur eine... ich zitiere wörtlich den Satz, der nur eine »Einziehung von volks- und staatsfeindlichem Vermögen« erwähnt, während die weitergehende persönliche Absicht Bormanns erkennbar wird und dessen – Bormanns – kirchenfeindliche Tendenz verrät, wenn Bormann in seinem auf diesen Fall bezüglichen Begleitschreiben vom 20. März 1941 von »Kirchengütern, Klosterbesitz und dergl.« spricht.

Die Beschlagnahme des Vermögens des Fürsten Schwarzenberg war übrigens auch nicht etwa durch Schirach veranlaßt oder ausgesprochen oder durchgeführt worden. Sie ging an sich Schirach nichts an. Schirach hat sich aber im Einvernehmen mit den anderen Gauleitern der Ostmark und auf deren Ersuchen damals an Hitler persönlich gewandt und ihn gebeten, daß solche beschlagnahmte Vermögen nicht ins Reich verbracht und nicht zugunsten des Reiches verwertet werden sollten, sondern daß es in Wien zu verbleiben habe. Mit diesem Vorschlag hatte Schirach vollen Erfolg, Schirach hat seine... Hitler hatte seine Bitte genehmigt, und damit hat Schirach erreicht, daß bei späterer Wiederaufhebung der Beschlagnahme das Vermögen wieder seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden konnte, während es sonst für ihn verloren gewesen wäre. Schirach hat sich damit zweifellos ein Verdienst um den Gau Wien und um jene Person erworben, welche das Eigentum an dem beschlagnahmten Vermögen besaß. Dieser Fall kann also den Angeklagten Schirach nicht belasten, er spricht im Gegenteil zu seinen Gunsten, genau so wie der andere Fall, wo er sich unter Umgehung Bormanns für österreichische Klosterfrauen einsetzte und erreichte, daß durch einen direkten Befehl Hitlers die ganze Aktion der Beschlagnahme von Kirchen- und Klostergütern an einem Tag im ganzen Reich zur Einstellung gebracht wurde.

Wenn aber die Anklagebehörde dem Beschuldigten von Schirach daraus einen Vorwurf machen will, daß die ihm unterstellten Wiener Behörden im Jahre 1941 eine Adolf-Hitler-Schule nach Klosterneuburg verlegen wollten, so muß demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß schon vor der Beschlagnahmeaktion gegen dieses Kloster, vollkommen unabhängig von Schirach, die Wiener Polizei und verschiedene Wiener Gerichte erhebliche kriminelle Verfehlungen in diesem Kloster festgestellt hatten, ferner, daß die teilweise Beschlagnahme des Klosters dem Angeklagten Schirach durchaus gerechtfertigt erschien, weil die sehr großen Räume des Stiftes für die klösterlichen Zwecke nicht benötigt wurden.

Endlich ist auch darauf hinzuweisen, daß das Kloster, wie sich aus den vorgelegten Akten ergibt, gegen den Beschlagnahmebeschluß keine Beschwerde bei dem Reichsminister des Innern einlegte, also die Beschlagnahme damit als rechtmäßig anerkannte, obwohl es im Beschlagnahmebeschluß über die Möglichkeit einer Beschwerde ausdrücklich belehrt worden war. Übrigens wurden dann die beschlagnahmten Räume in der Folgezeit nicht zur Einrichtung einer Adolf-Hitler-Schule verwendet, sondern für Zwecke des kunsthistorischen Museums von Wien (also keiner Parteieinrichtung) in Anspruch genommen, was auch wieder dafür spricht, daß der Beschlagnahmebeschluß in keiner Weise durch eine klosterfeindliche Tendenz Schirachs ausgelöst worden war. Denn wenn es Schirach darauf angekommen wäre, das Kloster zu treffen, weil es eine kirchliche Einrichtung war, dann hätte er die für religiöse Kulthandlungen dienenden Räume auch in die Beschlagnahme einbezogen. Er hat aber diese Räume ausdrücklich von ihr ausgenommen.

Es muß übrigens bei der Würdigung dieses Falles auch beachtet werden, daß die Begründung des Beschlagnahmebeschlusses vom 22. Februar 1941 eine bemerkenswerte Zurückhaltung übte: Der Beschluß beschränkt sich darauf, die Beschlagnahme damit zu begründen, daß einerseits die Stadt Wien dringend Räume benötige, und daß andererseits die beschlagnahmten Räume für die Zwecke des Klosters überflüssig seien; mit keinem Wort wird erwähnt oder auch nur angedeutet, daß in dem Kloster kriminelle Verfehlungen vorgekommen seien, wie sie in dem Polizeibericht vom 23. Januar 1941 gemeldet worden waren, der Ihnen, dem Gericht, vorliegt. Wäre die Beschlagnahme aus einer kirchenfeindlichen Einstellung Schirachs heraus erfolgt, so wäre wohl anzunehmen, daß in der Begründung der Beschlagnahme auch irgendwie auf diese kriminellen Verfehlungen Bezug genommen worden wäre. Auf Veranlassung Schirachs wurde übrigens den geistlichen Herren, die einige der beschlagnahmten Räume benutzt hatten, hierfür eine monatliche Rente bezahlt, wofür an sich keinerlei staatliche Verpflichtung bestand.

Auch aus dem sonstigen Verhalten des Angeklagten von Schirach ergibt sich keinerlei kirchenfeindliche Haltung, namentlich wenn man bei der Würdigung dieses Verhaltens berücksichtigt, daß in jenen Jahren auch ein Reichsleiter unter starkem Druck seitens der Parteikanzlei und seitens Bormanns stand, und daß zu jener Zeit ein erhebliches Maß von Mut dazu gehörte, diesem Druck Widerstand zu leisten und eine Politik zu pflegen, die im Gegensatz zur offiziellen Berliner Politik stand.

Der Wiener Zeuge Wieshofer, welcher die Tätigkeit Schirachs zu beobachten Gelegenheit hatte, hat uns hier bestätigt, daß Schirach sich auch in Wien immer um die Herstellung eines korrekten Verhältnisses zur Kirche bemühte, für Beschwerden des Kardinals von Wien immer ein offenes Ohr hatte und gegen Ausschreitungen einzelner HJ-Angehöriger oder HJ-Führer scharf einschritt. Er verfolgte also in Wien eine ganz andere Kirchenpolitik als sein radikaler Vorgänger Bürckel sie beliebt hatte, und es kann nicht bezweifelt werden, daß die kirchlichen Kreise in Wien und die ganze Wiener Bevölkerung diese Haltung Schirachs gegenüber der katholischen Kirche dankbar anerkannte. Das wird auch bestätigt durch den hier vernommenen Zeugen Gustav Höpken, der mit einem Wiener Theologen, dem Dekan Professor Ens, im Auftrag Schirachs regelmäßige Besprechungen hatte, um kirchliche Wünsche und eingetretene Differenzen mit kirchlichen Stellen dem Angeklagten von Schirach zur Kenntnis bringen zu können. Mehr konnte Schirach unter den obwaltenden politischen Umständen, wie sie auch im Affidavit Maria Höpken, Dokumentenbuch Schirach Nummer 3, geschildert sind, nicht tun, wenn er sich nicht selbst in größte Gefahr bringen wollte.

Ich komme dann zu einem weiteren Punkt der Anklage, zur Frage der Konzentrationslager.

Die Anklage hat zwar nicht in der Anklageschrift, wohl aber in der Beweiserhebung den Angeklagten von Schirach auch mit Konzentrationslagern in Verbindung gebracht, und der hier vernommene Zeuge Alois Höllriegel wurde auf dem Zeugenstand darüber befragt, ob Schirach einmal im Konzentrationslager Mauthausen gewesen sei. Hierzu ist zu bemerken: Diesen seinen Besuch in Mauthausen hat der Angeklagte von Schirach schon in seiner eigenen Vernehmung durch die Amerikanische Anklagevertretung längst vor Beginn des Prozesses erwähnt gehabt; es wäre also gar nicht nötig gewesen, ihm diesen Besuch noch besonders durch den Zeugen Höllriegel zu beweisen. Sein Besuch im Konzentrationslager Mauthausen fand im Jahre 1942 statt, nicht 1944, wie der Zeuge Marsalek irrigerweise angab; das richtige Jahr 1942 wurde von dem Zeugen Höllriegel bestätigt und in gleicher Weise auch von den Zeugen Höpken und Wieshofer, von denen wir gehört haben, daß später als 1942 oder zu irgendeiner anderen Zeit Schirach kein Konzentrationslager mehr besuchte. Der Besuch in Mauthausen von 1942 kann aber den Angeklagten Schirach nicht in dem Sinne belasten, als ob er damit alle Zustände und Greueltaten in KZ-Lagern gekannt, gebilligt oder gar unterstützt hätte. Er hat 1942 in Mauthausen nichts gesehen, was auf solche Verbrechen hingewiesen hätte, Gasöfen und dergleichen hat es 1942 noch nicht gegeben. Massenhinrichtungen fanden damals in Mauthausen noch nicht statt. Die Angaben des Angeklagten von Schirach über seine Eindrücke in diesem Lager erscheinen ohne weiteres glaubhaft, weil die Bekundungen zahlreicher Zeugen, die im Rahmen dieses Prozesses gehört wurden, immer wieder bestätigten, daß bei solchen offiziellen Besuchen, die vorher angekündigt waren, sorgfältig alles vorbereitet gewesen ist, um den Besuchern nur das zu zeigen, was das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen brauchte. Mißhandlungen und Folterungen wurden bei solchen offiziellen Besuchen selbstverständlich genau so verheimlicht wie willkürliche Hinrichtungen oder grausame Experimente. So war es 1942 in Mauthausen, und so war es erst recht 1935 in Dachau, wo Schirach und die anderen Besucher nur geordnete Zustände zu sehen bekamen, Zustände, die bei oberflächlicher Betrachtung fast besser zu sein schienen als in manchen gewöhnlichen Gefängnissen.

Gewußt hat infolgedessen Schirach nur, daß es in Deutschland seit 1933 einige Konzentrationslager gab, in denen nach seiner Meinung unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher und politische Häftlinge untergebracht wurden. Schirach kann aber auch heute nicht glauben, daß die bloße Kenntnis über die Existenz von KZ-Lagern für sich allein bereits ein strafbares Verbrechen sei, nachdem er niemals irgend etwas zur Förderung der KZ-Lager getan, sich niemals für eine Billigung dieser Einrichtung ausgesprochen, niemanden ins Konzentrationslager gebracht hat, aber auch keine Möglichkeit besessen hätte, an dieser Einrichtung etwas zu ändern oder den Bestand von Konzentrationslagern zu verhindern. Dazu war der Einfluß Schirachs stets zu gering. Als Reichsjugendführer hatte er natürlich mit den KZ-Lagern von vornherein nichts zu tun, und es war ein Glück für Schirach, daß sich in seinem ganzen Gaubezirk Wien kein einziges KZ-Lager befunden hat. Seine ganzen Beziehungen zu KZ-Lagern beschränkten sich infolgedessen darauf, immer wieder sich um die Freilassung von Leuten aus den KZ-Lagern zu bemühen, und es ist ja auch bezeichnend, daß er auch seine einmalige Anwesenheit im Konzentrationslager Mauthausen dazu benützte, sich für Wiener Bürger, die in Mauthausen eingesperrt waren, einzusetzen und ihre Freilassung zu erreichen.

Meine Herren Richter! Auf viele Details, die in der Beweisführung des Falles Schirach eine größere oder kleinere Rolle gespielt haben, will ich hier im einzelnen nicht mehr eingehen. Im Interesse der Zeitersparnis werde ich mich daher nicht mehr näher beschäftigen mit seiner angeblichen Verbindung zu Rosenberg oder Streicher, auch nicht mehr mit seiner angeblichen Mitwirkung bei dem Sklavenarbeitsprogramm, für das dem Angeklagten Schirach nicht die geringste Mittätigkeit nachgewiesen werden konnte, ebensowenig mit einem Telephongespräch, das von der Anklagevertretung verwertet wurde und das irgendeiner der Wiener Beamten mit einem SS-Standartenführer über die Pflichtarbeit der Juden geführt haben soll und wovon Schirach überhaupt nichts wußte.

Ich will aber hier eine kurze Zwischenbemerkung machen zu einem Thema, das insbesondere im Zusammenhang mit dem Fall Rosenberg behandelt wurde, nämlich eine kurze Stellungnahme zu der sogenannten »Heu-Aktion«. Es ist das bekanntlich diejenige Aktion, durch die Tausende von Jugendlichen im östlichen Kampfgebiet gesammelt und teils nach Polen, teils nach Deutschland gebracht wurden. Diese Aktion verfolgte, soweit Schirach aus den hier vorgelegten Dokumenten entnehmen konnte, anscheinend das Hauptziel, die Jugendlichen, die im Operationsgebiet, also unmittelbar hinter der Front ohne Eltern umherirrten, zu sammeln und einer Beschäftigung und Berufsausbildung zuzuführen, damit sie vor körperlicher und sittlicher Verwahrlosung geschützt wurden. Der Angeklagte Schirach bezweifelt, ob das überhaupt unter dem Gesichtspunkt eines Verbrechens gegen die Humanität oder eines Kriegsverbrechens gewürdigt werden kann; aber feststeht, daß von dieser Angelegenheit der Angeklagte Schirach nichts wußte. Er war damals hierfür nicht zuständig, diese Angelegenheit wurde vielmehr von der Heeresgruppe Mitte zusammen mit dem Ostministerium behandelt, und es ist ja ohne weiteres glaubhaft, daß sowohl das Ostministerium wie auch die Heeresgruppe Mitte sich nicht an den Gauleiter von Wien gewandt haben, um sein Einverständnis mit dieser Aktion einzuholen oder auch nur um ihn zu verständigen. Das einzige, was längere Zeit später in dieser Richtung der Angeklagte Schirach erfahren hat und was vielleicht mit dieser »Heu-Aktion« zusammenhängt, ist eine gelegentliche Mitteilung des damaligen Reichsjugendführers Axmann, er habe soundso viele tausend Jugendliche in Dessau bei den Junkers-Werken als Lehrlinge untergebracht. Der Angeklagte Schirach hat auf die Klärung dieser Sachlage Wert gelegt, nachdem er früher Reichsjugendführer gewesen war und weil er dartun möchte, daß er auch nach dem Abgang aus diesem Amt selbstverständlich nichts gegen die Jugend gemacht hat.

Ich darf vielleicht noch eine weitere Zwischenbemerkung machen, nämlich über das Schreiben, das der Angeklagte Schirach seinerzeit von Wien aus nach der Ermordung Heydrichs an den Reichsleiter Bormann geschickt hat und worin er dem Reichsleiter Bormann eine Vergeltungsmaßnahme in Form eines Terrorangriffes auf eine englische Kulturstätte vorgeschlagen hat. Dieses Schreiben hat der Angeklagte damals tatsächlich an Bormann geschickt, er tritt auch dafür ein, und ich muß von vornherein darauf hinweisen, daß glücklicherweise es bei der Anregung geblieben ist und daß seine Anregung nicht durchgeführt worden ist. Der Angeklagte hat uns aber erzählt, er habe damals unter dem Eindruck des Attentats auf Heydrich gestanden, es sei ihm klar gewesen, daß ein Aufstand der Bevölkerung in Böhmen zu einer Katastrophe für das deutsche Heer in Rußland hätte werden können, und er hat in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Wien es für seine Pflicht gehalten, irgend etwas zu tun, um den Rücken der deutschen Armee, die in Rußland stand, zu decken. So erklärt sich dieses Fernschreiben an Bormann vom Jahre 1942, Dokument 3877-PS, das, wie ich bereits betont habe, glücklicherweise ohne Erfolg war.

Ich darf dann, meine Herren Richter, auf Seite 26 meines Exposés in der Mitte fortfahren. Ich will mich hier auch im einzelnen nicht beschäftigen mit den Adolf-Hitler-Schulen, die von Schirach gegründet wurden, auch nicht mit der Fünften Kolonne, die irgendwie, auch zu Unrecht, in Verbindung mit der Hitler-Jugend gebracht wird, ohne daß irgend etwas Bestimmtes dem Angeklagten nachgewiesen werden konnte. Ich werde auch nicht länger verweilen bei den wiederholten Friedensbemühungen des Angeklagten Schirach und seines Freundes Dr. Colin Ross, und ebensowenig bei den Verdiensten des Angeklagten um die sogenannte Kinderlandverschickung, die während des Krieges Millionen von Kindern aus bombengefährdeten Gegenden in ruhigere Gebiete brachte und ihnen dadurch Leben und Gesundheit rettete.

Über alle diese Angelegenheiten hat sich der Angeklagte von Schirach bereits persönlich eingehend ausgesprochen, ich möchte hierwegen auf seine eigenen Erklärungen verweisen und bitte, diese Ihrem Urteil zugrunde zu legen.

Ich will aber hier als Verteidiger des Angeklagten von Schirach noch auf ein einziges Problem ausführlicher eingehen, nämlich auf Schirachs Stellung und Haltung zur Judenfrage. Schirach hat hier auf dem Zeugenstand bekannt, daß er von frühester Jugend an überzeugter Nationalsozialist und damit auch Antisemit gewesen sei. Er hat uns auch klargelegt, was er in jenen jungen Jahren sich unter Antisemitismus vorgestellt habe: Er dachte an die Ausschließung der Juden aus dem Staatsdienst, an die Einschränkung des jüdischen Einflusses im Kulturleben und vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad im Wirtschaftsleben. Das war aber auch alles, was nach seiner Meinung gegen die Juden unternommen werden sollte, und es deckte sich dies mit dem Vorschlag, den er schon als Führer des Studentenbundes, also in sehr früher Zeit, auf Einführung eines numerus clausus in der Studentenschaft gemacht hat. Von Bedeutung für die Einstellung des Angeklagten ist auch zum Beispiel sein Erlaß über die Behandlung der jüdischen Jugend, den ich mit Dokumentenbuch Schirach Nummer 136 Ihnen vorgelegt habe, ein Erlaß, wo er ausdrücklich anordnete, daß die jüdischen Jugendverbände das Recht und die Möglichkeit haben sollten, sich in ihrem Rahmen frei zu betätigen; sie sollten in ihrem eigenen Leben, heißt es, nicht gestört werden.

»In der Jugend nimmt das Judentum schon heute jene abgeschlossene und in sich ungebundene Sonderstellung ein, die einmal das ganze Judentum im deutschen Staate und in der deutschen Wirtschaft erhalten wird.«

So wörtlich das Zitat aus dem angeführten Erlaß. Schirach dachte also offensichtlich überhaupt nicht an Pogrome, nicht an blutige Judenverfolgung und dergleichen; er glaubte vielmehr zunächst, daß durch die antijüdischen gesetzlichen Maßnahmen der Jahre 1933/1934 die antisemitische Bewegung bereits an ihrem Ziel angelangt sei, den jüdischen Einfluß, soweit er ihm ungesund erschien, glaubte er damit bereits beseitigt. Er war deshalb überrascht und schwer betroffen, als dann 1935 die Nürnberger Gesetze erlassen wurden, die eine vollständige Ächtung der jüdischen Bevölkerung aussprachen und mit barbarischer Härte zur Durchführung brachten. An der Planung dieser Gesetze hat Schirach in keiner Weise teilgenommen; er hat mit ihrem Inhalt und mit ihrer Formulierung nicht das geringste zu tun; das wurde hier bewiesen.

Seine Empörung, als er dann am 10. November 1938 von den Judenpogromen und rohen Exzessen hörte, die von Goebbels und seiner fanatischen Clique inszeniert wurden, ist in der ganzen Jugend bekanntgeworden. Auch das ist durch die Beweiserhebung dargebracht worden. Wir haben von dem Zeugen Lauterbacher vernommen, wie Schirach auf die Mitteilung von diesen Exzessen reagierte: Er hat sofort seine Mitarbeiter zusammengerufen und ihnen schärfste Weisung gegeben, daß die Hitler-Jugend aus solchen Aktionen unter allen Umständen herausgehalten werden müsse. In diesem Sinn ließ er auch die Führer der Hitler-Jugend in sämtlichen deutschen Städten telephonisch sofort verständigen, und er drohte jedem Unterführer an, daß er ihn persönlich zur Verantwortung ziehen werde, wenn bei der Hitler-Jugend irgendwelche Ausschreitungen vorkommen sollten.

Aber auch nach November 1938 hat Schirach niemals an die Möglichkeit geglaubt, daß Hitler die Ausrottung der Juden plane. Er hörte vielmehr immer nur davon, daß die Juden aus Deutschland und in andere Staaten evakuiert, daß sie nach Polen abtransportiert, daß sie dort schlimmstenfalls in Ghettos, wahrscheinlich aber in einem geschlossenen Siedlungsgebiet angesiedelt werden sollten. Als Schirach von Hitler im Jahre 1940 den Befehl erhielt, den Gau Wien zu übernehmen, hat auch Hitler selbst ihm gegenüber sich in dem nämlichen Sinn ausgesprochen, nämlich dahin, er, Hitler, werde die Juden von Wien ins Generalgouvernement bringen lassen, und Schirach hat auch heute noch keinen Zweifel, daß Hitler selbst damals, im Jahre 1940, noch nicht an die sogenannte »Endlösung« der Judenfrage, also an die Ausrottung der Juden dachte. Wir erkennen aus den Hoßbach-Notizen und anderen Beweismitteln dieses Prozesses, daß Hitler zwar bereits 1937 die Aussiedlung der Juden, und zwar anscheinend nach Polen plante, aber erst im Jahre 1941 oder 1942 die Ausrottung des jüdischen Volkes beschlossen hat.

Mit der Judenevakuierung aus Wien, mit der der Angeklagte von der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang gebracht wurde, hatte Schirach überhaupt nichts zu tun. Die Durchführung dieser Maßnahme lag vielmehr ausschließlich in den Händen des Reichssicherheitshauptamtes und der Wiener Dienststelle dieses Amtes, und es ist bekannt, daß der Wiener SS-Sturmführer Brunner hiewegen in der Zwischenzeit auch bereits zum Tode verurteilt wurde. Der einzige Auftrag, den Schirach hinsichtlich der Wiener Juden erhielt und ausführte, ging lediglich dahin, an Hitler 1940 zu berichten, wie viele Juden noch in Wien seien, und diesen Bericht gab er in einem Schreiben vom Dezember 1940, worin er die Zahl der Wiener Juden für 1940 mit 60000 angab. Auf dieses Schreiben des Angeklagten Schirach hat bekanntlich der Minister Lammers mit einem Brief vom 3. Dezember 1940, 1950-PS, geantwortet, aus dem sich mit aller Deutlichkeit ergibt, daß nicht Schirach es war, der die Abschiebung der Wiener Juden ins Generalgouvernement anordnete, sondern Hitler persönlich, und daß Schirach auch nicht derjenige gewesen ist, der diese Maßnahmen durchgeführt hat, sondern der Reichsführer-SS Himmler, der damit seine Wiener Dienststelle betraute. Es muß also mit aller Entschiedenheit hier festgestellt werden, daß Schirach in keiner Weise für die Judenverschickung aus Wien irgendwie verantwortlich ist; er hat diese Aktion nicht betrieben und nicht eingeleitet; als er im Sommer 1940 als Gauleiter nach Wien kam, war der größere Teil der Wiener Juden bereits freiwillig aus Wien abgewandert oder zwangsweise aus Wien evakuiert, was übrigens auch von dem Angeklagten Seyß-Inquart bestätigt wurde. Der Rest von zirka 60000 Juden, der zu Beginn der Wiener Zeit Schirachs noch dort war, ist ohne seine Mitwirkung und ohne seine Verantwortung von dort durch die SS abtransportiert worden.

Trotzdem hat Schirach die bekannte Wiener Rede vom September 1942 gehalten, 3048-PS, in welcher er ausführte, jeder Jude, der in Europa wirke, sei eine Gefahr für die europäische Kultur, und worin er weiter sagte, wenn man ihm nun den Vorwurf machen solle, daß er aus dieser Stadt – Wien –, die einst die Metropole des Judentums gewesen sei, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins östliche Ghetto abgeschoben habe, dann müsse er antworten, er sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.

Soweit die in Betracht kommende Stelle. Schirach hat hier offen und mannhaft eingestanden, daß er sich damals in diesem Sinne tatsächlich geäußert hat, und er hat reumütig hier erklärt, ich zitiere wörtlich:

»Ich kann dieses böse Wort nicht ungeschehen machen, ich muß dafür einstehen, ich habe dieses Wort gesprochen, das ich aufrichtig bedauere.«

Wenn das Gericht in diesen Worten ein gesetzlich strafbares Verbrechen gegen die Humanität erblicken sollte, so muß Schirach für diese einzige antisemitische Äußerung, die ihm je nachgewiesen werden konnte, die Sühne auf sich nehmen, obwohl es seinerseits bei den bloßen Worten geblieben ist und obwohl diese Worte keinerlei schädliche Wirkung gehabt haben. Aber dieser Standpunkt Schirachs, den er hier einnimmt, befreit das Gericht nicht von der Verpflichtung, gewissenhaft nachzuprüfen, was Schirach tatsächlich getan hat, ferner wie er zu dieser vereinzelten Äußerung kam und endlich, ob Schirach auch sonst gehässige Ausdrücke gegen die Juden machte oder irgendwelche feindselige Handlungen gegen das Judentum tätigte.

Zunächst die Frage: Was hat Schirach wirklich getan? Die Antwort hierauf kann auf Grund der Ergebnisse dieses Prozesses nur lauten: Wenn man davon absieht, daß er diese vereinzelte judenfeindliche Bemerkung seiner Wiener Rede im September 1942 machte, hat er überhaupt nichts gegen die Juden verbrochen. Für die Judendeportationen aus Wien war er nicht zuständig, er hat sich in keiner Weise daran beteiligt, und er hätte sie mit seinen schwachen Kräften auch keinesfalls verhindern können. Es ist schon so, wie die Anklage gelegentlich sich geäußert hat. Er hat prahlerisch sich damals eine Tat zugeschrieben, die er in Wirklichkeit niemals begangen hat und die er nach seiner ganzen Einstellung auch niemals begehen konnte.

Wie kam nun aber trotzdem Schirach zu dieser Äußerung in seiner Wiener Rede? Wie kam er dazu, eine Tat für sich in Anspruch zu nehmen und sich selbst einer Handlung zu beschuldigen, die er offenbar gar nicht verübt hatte? Auch hier ergibt sich die Antwort aus den Ergebnissen der Beweisaufnahme unseres Prozesses. Durch sie wissen wir, daß Schirach in Wien einen außerordentlich schweren Standpunkt hatte. Hitler hatte ihn als Reichsjugendführer ohne Angabe eines Grundes abgesetzt, anscheinend weil er ihm nicht mehr traute, er fürchtete von Jahr zu Jahr mehr, daß hinter Schirach die Jugend stehen werde, die ihm, Hitler, in eben dem Maße fremder wurde, je mehr die schwarze Mauer seiner SS ihn vom Volk trennte. Vielleicht sah Hitler in seinem Jugendführer die kommende Generation verkörpert, die weltweit dachte, human empfand und sich zunehmend an jene Moralbegriffe gebunden fühlte, die Hitler für sich und seine Staatsführung längst über Bord geworfen hatte, weil sie für ihn schon lange nicht mehr Begriffe wahrer Moral waren, sondern nur Schlagworte einer hohlen Propaganda. Dieses Gefühl Hitlers war vielleicht der tiefere Grund, warum er im Sommer 1940 Schirach plötzlich, ohne jedes Wort der Aufklärung, als Jugendführer absetzte und auf den besonders schwierigen Posten eines Gauleiters nach Wien sandte, in diejenige Stadt, die Hitlers Herz haßte, während sein Mund von der »österreichischen Heimat« sprach. In Wien war Schirachs Stellung unendlich schwierig. Man überwachte und bespitzelte ihn auf Schritt und Tritt; man übte immer wieder schärfste Kritik an seiner dortigen Verwaltungstätigkeit, man machte ihm Vorwürfe, daß er sich um die Partei in Wien so gut wie überhaupt nicht kümmere, daß man ihn dort fast nie in Parteiversammlungen sehe und keine politische Rede von ihm höre. Ich verweise hier auf das Affidavit Maria Höpken im Dokumentenbuch Schirach Nummer 3; gerne griff man jede Beschwerde auf, die von den Wiener Parteigenossen immer wieder über ihren neuen Gauleiter an die Parteikanzlei nach Berlin gelangte, und nur so kam es, nur so ist es erklärlich, daß Schirach die unglückliche Rede vom September 1942 hielt, die im diametralen Gegensatz zu der Haltung stand, die Schirach zeit seines Lebens auch in der Judenfrage einnahm. Über diese Art der Entstehung der Wiener Rede kann nach der Vernehmung des Zeugen Gustav Höpken hier im Sitzungssaal kein Zweifel mehr bestehen; denn aus ihr ergibt sich, daß Schirach damals seinen Pressereferenten Günther Kaufmann eigens beauftragt hat bei dem Bericht über die Wiener Rede, diesen Punkt besonders an das Deutsche Nachrichtenbüro nach Berlin durchzutelephonieren, weil er, Schirach –, ich zitiere wörtlich – »eine Konzession an Bormann in diesem Punkt machen müsse«, also ein Gedanke, den auch schon Schirach selbst bei seiner eigenen Vernehmung mit den Worten andeutete, er habe aus falscher Loyalität sich mit dieser Aktion Hitlers und Himmlers moralisch identifiziert.

Diese böse Rede Schirachs vom September 1942 ist aber immerhin in einer anderen Richtung doch auch wieder wertvoll zugunsten Schirachs; in ihr spricht nämlich Schirach von einer »Verschickung der Juden in Ghettos des Ostens«. Hätte Schirach damals gewußt, daß die Juden aus Wien abtransportiert werden, um in einem Vernichtungslager ermordet zu werden, so hätte er gerade angesichts dieses Zweckes, den er mit dieser Rede verfolgte, zweifellos nicht von einem östlichen Ghetto gesprochen, in das die Juden gebracht worden seien, sondern er hätte über eine Ausrottung der Wiener Juden berichtet. Aber auch damals, also noch im Herbst 1942, kam ihm nicht der Schatten eines Gedankens, daß Hitler die Juden ermorden wolle. Das hätte er niemals gebilligt und niemals anerkannt; soweit ist sein Antisemitismus nie, in keiner Zeit, gegangen.

Schirach hat hier ganz offen ausgesprochen, daß er damals den Plan Hitlers, die Juden in Polen anzusiedeln, für richtig hielt, nicht etwa aus Antisemitismus, nicht aus Judenhaß, sondern aus der verstandesmäßigen Erwägung heraus, daß es unter den damaligen Verhältnissen wohl vielleicht im eigenen Interesse der Juden lag, aus Wien wegzukommen, um nach Polen gebracht zu werden. Denn auf die Dauer hätten die Juden, solange das Hitler-Regime bestand, sich ja doch nicht mehr in Wien halten können, sondern wären dort nur immer noch schärferen Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Wie Schirach hier am 24. Mai 1946 darlegte, erschien es ihm – ich zitiere wörtlich – »bei dem Temperament von Goebbels« möglich, daß immer wieder derartige Aktionen, wie im November 1938, über Nacht hervorgerufen werden könnten, und in diesem Zustand der Rechtsunsicherheit konnte er sich ein Weiterleben der jüdischen Bevölkerung in Deutschland nicht vorstellen. Er dachte, daß das Judentum in einem geschlossenen Siedlungsgebiet des Generalgouvernements besser aufgehoben sei als in Deutschland und Österreich, wo es den Launen des Propagandaministers ausgesetzt war, der ja der Hauptträger des radikalen Antisemitismus in Deutschland gewesen ist. Darüber war sich Schirach vollkommen klar. Er konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß offensichtlich im Dritten Reich der Kurs gegen die Juden von Tag zu Tag noch radikaler, noch fanatischer und immer noch gewaltsamer würde.

Diese Auffassung der Wiener Rede vom September 1942 und ihrer wahren Entstehungsursache deckt sich mit den Ausführungen, die der Angeklagte Schirach in der Sitzung der Ratsherren der Stadt Wien vom 6. Juni 1942 machte, Nummer 3886-PS, nämlich dahin, daß noch im Spätsommer oder Herbst des Jahres 1942 alle Juden aus der Stadt entfernt sein würden, und sie deckt sich ebenso mit dem Aktenvermerk des Reichsleiters Bormann vom 2. Oktober 1940 – Dokument USSR-172 –, wonach Schirach bei einer Unterhaltung in der Wohnung Hitlers bemerkte, er habe in Wien noch über 50000 Juden, die der Generalgouverneur von Polen ihm abnehmen müsse. Diese Bemerkung erklärt sich aus der damaligen Zwangslage, in der sich Schirach befand. Auf der einen Seite drängte Hitler mehr und mehr auf die Abschiebung der Juden aus Wien, auf der anderen Seite sträubte sich der Generalgouverneur Frank dagegen, die Wiener Juden auch noch im Generalgouvernement aufzunehmen. Dieser Zwiespalt war offenbar der Grund, warum bei der erwähnten Zusammenkunft vom 2. Oktober 1940 Schirach diesen Punkt zur Sprache brachte, um nicht immer wieder Vorwürfen seitens Hitlers ausgesetzt zu sein. Er selbst hatte am Abtransport der Wiener Juden keinerlei Interesse, wie auch das vom Zeugen Gustav Höpken hier bekundete Gespräch zwischen Schirach und Himmler vom November 1943 beweist.

Ich darf hier einschalten zu diesem Gespräch: In diesem Gespräch mit Himmler hat damals Schirach den Standpunkt vertreten, man solle die Juden ruhig in Wien belassen, zumal sie ja den Davidstern trugen. Das ist als Gesprächsinhalt, als Äußerung Schirachs von dem Zeugen Höpken hier bestätigt worden.

Ich darf dann weiterfahren: Hitler verlangte aber die Judenverschickung aus Wien, und Himmler bestand auf der Durchführung.

Die Anklagebehörde hat nun geglaubt, dem Angeklagten Schirach noch eine zweite judenfeindliche Äußerung vorwerfen zu können, nämlich eine Rede, die er Ende 1938, aber vor dem Frühjahr 1939 auf einer Studentenversammlung in Heidelberg gehalten haben soll. Er habe damals über den Neckarfluß auf die alte Universitätsstadt Heidelberg gezeigt, wo verschiedene ausgebrannte Synagogen die stummen Zeugen der judenfeindlichen Tätigkeit der Heidelberger Studenten gewesen seien, und – ich zitiere hier wörtlich aus dem Affidavit Ziemers – »der kleine dickliche Reichsstudentenführer«, so heißt es wörtlich, soll damit die Judenpogrome vom 9. November 1938 als Heldentat gebilligt und gepriesen haben. Dieser Vorwurf stützt sich, wie bereits erwähnt, auf die eidesstattliche Versicherung eines gewissen Gregor Ziemer, die Ihnen vorgelegt worden ist (2441-PS). Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, daß diese Behauptung Ziemers falsch ist. Ziemer hat niemals der deutschen Studentenbewegung oder der Hitler-Jugend angehört und war offensichtlich in der fraglichen Studentenversammlung nicht anwesend. Aus welcher Quelle er sein Wissen haben will, ist in seinem Affidavit nicht angegeben; daß aber seine Behauptung falsch ist, beweist schon seine körperliche Schilderung, wenn er von einem »kleinen dicklichen Studentenführer« spricht, denn sie paßt ganz und gar nicht auf Schirach; vielleicht würde sie einigermaßen auf seinen Nachfolger zutreffen, der Ende 1938 Reichsstudentenführer war, aber Schirach war das bestimmt nicht. Er hatte das Amt des Reichsstudentenführers bekanntlich schon 1934 in die Hände des Stellvertreters des Führers zurückgelegt gehabt, nachdem er inzwischen zum Reichsjugendführer bestellt worden war. Schirach hat weder Ende 1938 noch sonst jemals eine Rede vor Heidelberger Studenten gehalten, und durch das Affidavit der Zeugin Höpken ist einwandfrei erwiesen, daß Schirach in der angegebenen Zeit überhaupt nicht in Heidelberg war. Das hat auch Schirach selbst beschworen, und seine eigene Angabe kann deshalb Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmen, weil er bei seiner ganzen Vernehmung nichts beschönigt, nichts zu Unrecht abgeleugnet hat, sondern mannhaft und mit Wahrheitsliebe für alle seine Handlungen eingetreten ist.

Ausschlaggebend für die Feststellung, daß die Behauptung des Affidavits Ziemer unwahr ist, jedenfalls hinsichtlich dar Person Schirachs, ist aber noch eine andere Tatsache. Zufällig wurde nämlich in der Beweiserhebung festgestellt, wie Schirach auf die November-Pogrome des Jahres 1938 reagiert hat. Der Zeuge Lauterbacher hat uns hier, wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, berichtet, daß Schirach am 10. November 1938 vor seinen Mitarbeitern die Vorkommnisse des 9. November 1938 auf das schärfste verurteilt und sich dahin geäußert hat, er schäme sich deswegen für die anderen und für die ganze Partei. Der 9. November 1938, so sagt Schirach, würde in die deutsche Geschichte eingehen als eine einzige deutsche Kulturschande; diese könnten wir überhaupt nicht mehr abwaschen. So etwas hätte sich bei einem unzivilisierten Volk ereignen können, aber niemals bei uns Deutschen ereignen dürfen, die wir uns einbilden, ein hochstehendes Volk zu sein. Die Jugendführer, fuhr Schirach damals fort, müßten solche Ausschreitungen unter alten Umständen verhindern; von seiner Organisation möchte er so etwas weder jetzt noch in Zukunft hören. Die Hitler-Jugend müsse unter allen Umständen aus solchen Dingen herausgehalten werden. Soweit die beschworenen Angaben der Zeugin Höpken. Im gleichen Sinne hat dann nachher Schirach von Berlin aus sämtliche Dienststellen der Hitler-Jugend telephonisch anweisen lassen. Wenn nun im November 1938 Schirach die Ereignisse des 9. November 1938 so überaus scharf verurteilte und ablehnte, dann ist es ausgeschlossen, daß er etwa zur gleichen Zeit die vorgekommenen Bluttaten vor den Heidelberger Studenten gefeiert und damit die Heidelberger Studenten aufgehetzt hätte. Und so drängt sich die Frage auf, warum man keinen einzigen Teilnehmer jener Heidelberger Studentenversammlung hierher als Zeugen gebracht hat, sondern sich statt dessen mit einem Zeugen begnügte, der nur vom Hörensagen etwas behaupten kann. Im übrigen ist die Anklagevertretung im Kreuzverhör auf die Angelegenheit dieser angeblichen Heidelberger Rede nicht mehr zurückgekommen und hat die eigene Sachdarstellung Schirachs damit wohl als richtig anerkannt.

Es ist übrigens auch eine sehr bedeutsame Tatsache, daß die Hitler-Jugend selbst weder an den Ausschreitungen des 9. November 1938 beteiligt war, noch vorher oder später andere Exzesse dieser Art verübt hat. Die Hitler-Jugend war damals die stärkste Organisation der Partei, sie umfaßte etwa sieben bis acht Millionen Mitglieder, und trotzdem ist nicht ein einziger Fall nachgewiesen, wo die Hitler-Jugend an solchen Verbrechen gegen die Humanität teilgenommen hätte, obwohl ihre Mitglieder vorwiegend in einem Alter standen, das erfahrungsgemäß nur zu leicht in Versuchung kommt, bei Ausschreitungen und Roheitsakten mitzumachen. Die einzige Ausnahme, die bisher behauptet wurde, bezieht sich auf die Aussage der Französin Ida Vasseau, die als Leiterin eines Altersheimes in Lemberg tätig sein soll und die ausweislich des Kommissionsberichtes USSR-6 behauptet haben soll: die Hitler-Jugend habe Kinder aus dem Ghetto in Lemberg geschenkt erhalten und als lebende Zielscheiben für ihre Übungen benutzt. Allein dieser einzige Ausnahmefall, der bisher behauptet, jedoch nicht bewiesen wurde, dieser einzige Ausnahmefall konnte in keiner Weise geklärt werden, insbesondere auch nicht nach der Richtung, ob es sich dabei wirklich um Jungens der Hitler-Jugend gehandelt hat. Selbst wenn aber unter den acht Millionen Mitgliedern in zehn oder fünfzehn langen Jahren ein einziger derartiger Fall vorgekommen wäre, so könnte das nicht das geringste beweisen für einen hetzerischen Einfluß, den Baldur von Schirach geübt hätte, der, wie ich hier beifügen darf, zu jener Zeit überhaupt nicht mehr Reichsjugendführer war.

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