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[Pause von 10 Minuten.]

DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Ich gestatte mir, dann auf Seite 36 meines Exposes fortzusetzen:

Man prüfe doch endlich alle die Reden und Aufsätze, die Schirach als Reichsjugendführer geschrieben hat und die im Dokumentenbuch Schirach dem Gericht vorliegen. Sie erstrecken sich auf eine lange Reihe von Jahren, aber an keiner Stelle enthalten sie ein Wort, das zum Rassenhaß aufreizen, das den Judenhaß predigen, das die Jugend zu Gewaltakten ermuntern oder das solche Taten entschuldigen würde. Wenn es gelungen ist, die in die Millionen zählenden Mitglieder der Hitler-Jugend stets von allen solchen Exzessen herauszuhalten, so spricht auch diese Tatsache dafür, daß die Führung sich bemühte, der Jugend den Geist der Toleranz, der Nächstenliebe, die Achtung vor der Menschenwürde einzuflößen. Wie Schirach über die Behandlung der Judenfrage dachte, das zeigt auch deutlich die Szene, die sich im Frühjahr 1943 auf dem Obersalzberg abspielte und die auch im Affidavit der Zeugin Maria Höpken, Dokumentenbuch von Schirach Nummer 3, geschildert ist. Ich meine jene Szene, wo Schirach auf dem Obersalzberg Hitler in dessen Wohnung berichten ließ, wie man mit eigenen Augen vom Hotelfenster in Amsterdam aus nachts mit angesehen habe, wie die Gestapo Hunderte von holländischen Jüdinnen abtransportiert habe. Schirach selbst durfte damals nicht wagen, derartige Dinge Hitler vorzutragen; ein Erlaß Bormanns hatte das den Gauleitern ausdrücklich verboten. Deshalb versuchte Schirach durch Vermittlung einer dritten Person, die selbst Augenzeuge war, eine Milderung in der Behandlung der Judenfrage bei Hitler zu erreichen. Es gelang dies nicht, Hitler wies das alles schroff ab mit dem Wort, das seien Sentimentalitäten. Durch dieses Eintreten für die holländischen Juden war aber damals die Situation für den Angeklagten von Schirach so kritisch geworden, daß er es vorzog, am frühen Morgen des nächsten Tages sofort vom Obersalzberg abzureisen, und seitdem war Hitler für Schirach grundsätzlich überhaupt nicht mehr zu sprechen.

Dieses Eintreten Schirachs für mildere Beurteilung der Judenfrage hat vielleicht auch dazu beigetragen, daß Hitler einige Monate später, nämlich im Sommer 1943, allen Ernstes daran dachte, Schirach verhaften zu lassen und vor den Volksgerichtshof zu stellen, bloß deshalb, weil Schirach es gewagt hatte, in einem Brief an Reichsleiter Bormann den Krieg als ein nationales Unglück für Deutschland zu bezeichnen.

Jedenfalls zeigt das alles, daß Schirach nach Kräften für eine Mäßigung in der Judenfrage eintrat, und zwar in einer Weise, daß er dadurch seine eigene Stellung und auch Existenz gefährdete. Er war zwar Antisemit, aber gerade deshalb verdient es Beachtung, daß er allem Druck von Berlin aus widerstand und es ablehnte, eine antisemitische Sondernummer in der offiziellen Zeitschrift der Hitler-Jugend erscheinen zu lassen, während er eigene Sondernummern für die Verständigung auch mit England, mit Frankreich und für eine humanere Behandlung der Ostvölker gebracht hatte. Es ist nicht minder beachtlich, daß Schirach mit seinem Freund Dr. Colin Ross sich bemühte, die Auswanderung der Juden in das neutrale Ausland anzustreben, um ihnen die Verbringung in ein polnisches Ghetto zu ersparen.

Die Anklagebehörde hat sich nun bemüht, eine gewisse Mitverantwortung des Angeklagten von Schirach für die in Polen und Rußland vorgekommenen Judenpogrome dadurch zu begründen, daß sie gegen ihn die sogenannten »Erfahrungs- und Lageberichte« zu verwerten suchte, die von der SS regelmäßig an den Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis XVII gingen (Dokument 3876-PS). In der Tat muß man sagen: Wenn – ich betone – wenn Schirach von diesen regelmäßigen »Erfahrungs- und Lageberichten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Osten« damals Kenntnis bekommen hätte, so würde das gegen ihn auf alle Fälle eine schwere moralische und politische Belastung darstellen; man könnte ihm dann den Vorwurf nicht ersparen, er habe aus den Berichten ersehen müssen, daß neben militärischen Operationen im Osten auch überaus grausame Massenermordungen von Kommunisten und Juden stattgefunden hatten. Das Charakterbild, das wir bisher von Schirach bekommen haben, der auch von der Staatsanwaltschaft gelegentlich als »Mann von Kultur« bezeichnet wurde, müßte eine sehr bedenkliche Trübung erfahren, wenn Schirach tatsächlich diese Berichte gesehen und gelesen hätte. Denn dann hätte er gewußt, daß in Lettland und Litauen, in Weißruthenien und in Kiew Massenermordungen stattgefunden haben, und zwar offensichtlich ohne jedes gerichtliche Verfahren und ohne Urteil.

Was ist aber in Wirklichkeit durch die Beweiserhebung erwiesen worden?

Die erwähnten Berichte sind, wie an Dutzende anderer Dienststellen, so auch an das Amt des »Reichsverteidigungskommissars im Wehrkreis XVII« gegangen, und zwar mit dem ausdrücklichen Vermerk »zu Händen des Regierungsrates Dr. Hoffmann« oder mit dem Vermerk »zu Händen des Regierungsrates Dr. Fischer«. Aus dieser Art der Adressierung der Berichte und aus der Art, wie dann das »Amt des Reichsverteidigungskommissars« die Berichte abgezeichnet hat, ergibt sich einwandfrei, daß Schirach diese Berichte nicht zu Gesicht bekam und daß er auch sonst von ihnen keine Kenntnis erhielt.

Schirach hatte bekanntlich in Wien drei umfangreiche Ämter; als Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar war er Chef der gesamten staatlichen Verwaltung, als Oberbürgermeister war er das Oberhaupt der gemeindlichen Verwaltung und als Gauleiter von Wien war er die Spitze des dortigen Parteiapparates. Es liegt nun auf der Hand, daß Schirach diese drei Aufgaben nicht alle selbst erledigen konnte, zumal er 1940 aus einem ganz anderen Aufgabenbereich gekommen war und sich in die staatliche wie in die gemeindliche Verwaltung erst einzuarbeiten hatte. Er hatte deshalb für jede seiner drei Aufgaben einen ständigen Vertreter, und das war für die hier interessierenden Geschäfte der staatlichen Verwaltung der Regierungspräsident von Wien. Dieser Regierungspräsident namens Dellbrügge hatte die laufenden Geschäfte der staatlichen Verwaltung vollkommen selbständig zu erledigen; Schirach beschäftigte sich mit Angelegenheiten der Staatsverwaltung nur hinsichtlich solcher Dinge, die ihm von seinem ständigen Vertreter, nämlich dem Regierungspräsidenten, urkundlich zugeleitet wurden oder über die ihm mündlich vom Regierungspräsidenten Bericht erstattet wurde.

Wenn nun das hinsichtlich der erwähnten »Lage- und Erfahrungsberichte« der Fall gewesen wäre, so wäre das auf den betreffenden Urkunden irgendwie vermerkt worden. Auf den vorgelegten »Erfahrungs- und Lageberichten der SS« findet sich aber nicht ein einziger Vermerk, der ersehen ließe, daß diese Berichte dem Angeklagten von Schirach vorgelegt wurden oder daß ihm darüber Vortrag gehalten worden wäre. Das ist auch ohne weiteres verständlich, denn für die Wiener Verwaltung waren ja die Erfahrungen, welche die Polizei und der SD bei den Partisanenkämpfen in Polen und Rußland gesammelt hatten, vollständig belanglos; es bestand daher nicht die geringste Veranlassung, dem ohnehin sehr mit Verwaltungsgeschäften aller Art überlasteten Angeklagten Baldur von Schirach diese Berichte irgendwie zur Kenntnis zu bringen.

Dieses Ergebnis, meine Herren, stützt sich vor allem auf die eidlichen Bekundungen nicht bloß des Angeklagten hier im Sitzungssaal, sondern auch auf die der beiden Zeugen Höpken und Wieshofer, die, als Chef des »Zentralbüros« der eine, beziehungsweise als Adjutant des Angeklagten der andere, über die Wiener Verhältnisse genauestens Auskunft geben konnten. Es steht fest, daß diese »Erfahrungs- und Lageberichte« niemals in den Einlauf des »Zentralbüros« in Wien kamen, sondern lediglich in den Einlauf des Regierungspräsidenten und daß sowohl Höpken als Chef des »Zentralbüros« wie auch Wieshofer als Adjutant des Angeklagten von diesen »Erfahrungs- und Lageberichten« früher, das heißt vor dem Prozeß, ebenfalls keine Kenntnis hatten, sondern sie erstmals hier im Sitzungssaal bei ihrer Vernehmung zu sehen bekamen. Wie ja auch, was ich hier einfügen möchte, diese beiden Referenten des Angeklagten von Schirach, die beiden namentlich genannten Beamten, Dr. Fischer und den anderen, überhaupt nicht gekannt haben. Ich fahre dann weiter:

Auf alle Fälle ist das Ergebnis, daß ausweislich der Aktenvermerke, die auf den Urkunden stehen, Schirach von diesen Berichten keinerlei Kenntnis gehabt hat, er ist für die darin geschilderten Greueltaten nicht mitverantwortlich und kann deshalb durch diese Tätigkeitsberichte strafrechtlich nicht belangt werden.

Für die Beurteilung der Persönlichkeit Schirachs, meine Herren Richter, ist auch nicht ohne Bedeutung sein Verhalten während der letzten Wochen in Wien. Für Schirach war es eine Selbstverständlichkeit, die verschiedenen Wahnsinnsbefehle nicht durchzuführen, die damals aus Berlin kamen. Er hat die von Bormann angeordnete Lynchjustiz gegenüber feindlichen Fliegern weit von sich gewiesen, genau so wie den Befehl, Defaitisten schonungslos aufzuhängen, mochte es Mann oder Frau sein. Sein Standgericht, das des Angeklagten von Schirach, ist überhaupt niemals zusammengetreten, sein Standgericht hat nicht ein einziges Todesurteil gefällt, an seinen Händen klebt kein Blut. Er hat im Gegenteil alles getan, um zum Beispiel notgelandete Feindflieger vor der erregten Menge zu schützen, und er hat, wie wir zum Beispiel von dem Zeugen Wieshofer hörten, er hat sofort seinen eigenen Kraftwagen entsandt, um abgesprungene amerikanische Flieger in Sicherheit zu bringen. Er setzte sich damit wiederum in bewußten Gegensatz zu einem Befehl Bormanns, daß solche Flieger nicht vor Lynchakten seitens der Bevölkerung geschützt werden dürften. Er hat sich auch nicht um die Anordnung gekümmert, daß Wien bis zum letzten Mann zu halten sei oder daß in Wien Brücken und Kirchen und Wohnviertel zerstört werden müßten, und er hat schroff den Befehl abgelehnt, Partisanenverbände in Zivil aufzustellen oder mit Hilfe des »Werwolf« den aussichtslosen Kampf in verbrecherischer Weise fortzusetzen; er lehnte derartige Zumutungen aus Pflichtbewußtsein ab, zumal er damit gegen das Völkerrecht verstoßen hätte.

Das Charakterbild des Angeklagten von Schirach bliebe unvollständig, wenn wir uns in diesem Augenblick nicht noch erinnern würden an die Erklärung, die er hier am Vormittag des 24. Mai 1946 abgegeben hat. Ich meine jene Erklärung, in der er Hitler als millionenfachen Mörder hier vor dem ganzen deutschen Volk und vor der gesamten Weltöffentlichkeit bezeichnet hat.

Schirach hat schon voriges Jahr Erklärungen abgegeben, die sein Verantwortungsgefühl beweisen und seine Bereitschaft, für seine Handlungen und die seiner Untergebenen in vollem Umfang einzutreten. Das war zum Beispiel am 5. Juni 1945 der Fall, als er sich in Tirol verborgen hielt und am Rundfunk hörte, daß alle Parteiführer vor ein alliiertes Gericht zu stellen seien. Schirach hat sich darauf unverzüglich gemeldet und in seinem Schreiben an den amerikanischen Ortskommandanten zum Ausdruck gebracht, er tue dies, um zu verhindern, daß für seine Handlungen andere zur Rechenschaft gezogen würden, die nur seine Befehle ausgeführt hätten. Er meldete sich freiwillig, obwohl der englische Rundfunk bereits die Nachricht von seinem Tod gebracht hatte und obwohl Schirach hätte hoffen können, in seinem Versteck nicht entdeckt zu werden. Diese Handlungsweise verdient Berücksichtigung bei der Beurteilung der Persönlichkeit eines Angeklagten.

Die gleiche Verantwortungsfreudigkeit zeigte dann Schirach im Herbst 1945, als er von der Anklagebehörde vernommen wurde; er glaubte damals, sein Nachfolger Axmann sei gefallen, er war ja totgesagt worden. Trotzdem machte Schirach nicht den Versuch, seine Schuld auf seinen Nachfolger abzuwälzen. Er erklärte vielmehr ausdrücklich, er übernehme auch für die Zeit seines Nachfolgers die volle Verantwortung, auch für alles, was unter seinem Nachfolger bei der Reichsjugendführung vorgegangen war. Den Schlußstein in dieser Linie bildete nun die Erklärung, die Schirach hier am 24. Mai 1946 abgegeben hat und die aus diesem Saal in die ganze Welt hinausgegangen ist, in alle deutschen Gaue bis in den letzten Bauernhof, bis zur letzten Arbeiterhütte.

Meine Herren Richter! Jeder Mensch kann irren, ja er kann sogar Fehler machen, die er vielleicht hinterher selbst nicht mehr begreifen kann. Auch Schirach hat geirrt. Er hat die Jugend für einen Mann erzogen, den er lange Jahre für unantastbar hielt und den er heute als diabolischen Verbrecher bezeichnen muß. Er hat in seinem Idealismus und aus Loyalität die Treue und den geleisteten Eid einem Manne gehalten, der ihn und die deutsche Jugend getäuscht und betrogen hat und der, wie wir von Speer hier erfahren haben, bis zum letzten Atemzug sein eigenes Interesse höher stellte als die Existenz und das Glück von 80 Millionen Menschen.

Schirach ist vielleicht derjenige Angeklagte, der die von ihm begangenen Fehler, man mag sie heute beurteilen wie man will, nicht nur klar eingesehen, sondern auch am ehrlichsten bekannt und der durch seine offenen Worte einer Legendenbildung um Hitler für alle Zukunft vorgebeugt hat. Einem solchen Angeklagten wird man es als ein Verdienst zuguterechnen müssen, wenn er sich bemüht, den Schaden, den er in gutem Glauben verursacht hat, wieder gut zu machen, soweit ihm das möglich ist.

Schirach hat das versucht. Er hat sich bemüht, unserem Volk die Augen zu öffnen über den »Führer«, in welchem er mit Millionen von Deutschen Jahre hindurch den Retter des Vaterlandes und den Garanten ihrer Zukunft gesehen hat. Er hat hier in aller Öffentlichkeit für seine Person die Rechenschaft abgelegt, auf die das deutsche Volk nach Hitlers Selbstmord einen Anspruch gegen jeden Unterführer des Dritten Reiches hat; schon damit das Ausland daraus ersehen kann, wie es zu den Zuständen der letzten sechs Jahre in Deutschland kommen konnte und wer dafür verantwortlich ist. Vor allem aber lag dem früheren Reichsjugendführer bei Abgabe seiner Erklärung vom 24. Mai 1946 daran, der deutschen Jugend offen zu sagen, daß er bisher unwissend und in guter Absicht sie einen falschen Weg geführt habe und daß sie nunmehr einen anderen Weg einschlagen müßte, wenn das deutsche Volk und die deutsche Kultur nicht untergehen sollen. Schirach dachte dabei nicht an sich, nicht an sein zerschlagenes Lebenswerk, er dachte an die Jugend von heute, die nicht nur vor den Ruinen unserer Städte und Wohnungen steht, sondern auch zwischen den Trümmern ihrer bisherigen Ideale umherirrt; er dachte an die deutsche Jugend, die eine neue Orientierung braucht und die ihr künftiges Leben auf eine andere Basis stellen muß. Schirach hofft, daß die ganze deutsche Jugend seine Worte gehört hat. Was an seinem Bekenntnis vom 24. Mai 1946 besonders wertvoll war, das war seine Versicherung, daß einzig und allein er die Schuld für die Jugend trage wie er früher den Befehl für sie getragen hat. Wird dieser Standpunkt als richtig anerkannt und werden die notwendigen Folgerungen daraus gezogen, so wäre das für unsere deutsche Jugend ein wertvolles Ergebnis dieses Prozesses.

Meine Herren Richter! Damit komme ich zum Ende meiner Betrachtung des Falles von Schirach. Auch bei der Behandlung dieses Falles habe ich es unterlassen, allgemeine Ausführungen, insbesondere solche politischer Art zu machen. Ich habe mich vielmehr beschränkt auf eine Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten, seine Handlungen und seine Motive, und ich darf dazu ergänzend beifügen:

Diese Betrachtung und Würdigung durch die Verteidigung hat ergeben, daß der Angeklagte von Schirach nicht schuldig im Sinne der Anklage ist und nicht verurteilt werden kann, weil er irgendein strafrechtliches Verschulden nicht begangen hat, Sie aber als Richter nicht über politische Schuld zu urteilen haben, sondern lediglich über kriminelle Schuld im Sinne des Strafrechts. Ich fahre dann weiter. Am Schluß meiner Betrachtungen des Falles von Schirach bitte ich Sie, an dieser Stelle noch in einigen Sätzen ein paar kurze allgemeine Gedanken ausführen zu dürfen, die über die Person des Angeklagten von Schirach hinausgehen, die sich aber dem deutschen Verteidiger am Ende dieses Prozesses aufdrängen.

Meine Herren Richter! Sie sind der höchste Gerichtshof unserer Zeit; die Macht der ganzen Welt steht hinter Ihnen; die vier stärksten Völker der Erde sind durch Sie vertreten; Hunderte Millionen von Menschen nicht nur in den besiegten Ländern, sondern auch in den Siegerstaaten hören auf Ihre Meinung und erwarten mit Spannung Ihr Urteil, bereit, sich von Ihnen belehren zu lassen und Ihrem Rate zu folgen. Diese Ihre hohe Autorität gibt Ihnen, meine Herren Richter, die Möglichkeit, durch Ihr Urteil und vor allem durch seine Begründung, auch viel Gutes zu schaffen, damit aus der heutigen Katastrophe ein Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird, zum Nutzen Ihrer eigenen Völker und zum Segen des deutschen Volkes.

Heute, meine Herren Richter, liegt Deutschland am Boden, ein armes Volk, das ärmste von allen. Die deutschen Städte sind zerstört; die deutsche Industrie ist zerschlagen; auf den deutschen Schultern lastet eine Staatsschuld, die ein Vielfaches des ganzen Volksvermögens darstellt und die für ganze Generationen des deutschen Volkes Not und Armut, Hunger und Sklaverei bedeutet, wenn Ihre Völker uns nicht helfen.

Für die Hilfe aus dieser verzweifelten Lage wird die Begründung Ihres Urteils, meine Herren Richter, in vieler Hinsicht richtunggebend sein. Freilich, diesen Gedanken zu berücksichtigen und ihm gefühlsmäßig Rechnung zu tragen, mag Ihnen schwer fallen, wenn Sie an das Unglück denken, das die letzten sechs Jahre auch über Ihre eigenen Länder gebracht haben; doppelt schwer, nachdem in monatelangen Verhandlungen hier immer nur Verbrechen enthüllt wurden, Verbrechen, die lange Jahre hindurch ein Tyrann deutscher Zunge begangen hat, unter Mißbrauch deutscher Menschen, im Namen des nämlichen deutschen Volkes, an dessen Zukunft Sie als Richter jetzt mit Wohlwollen denken, dem Sie jetzt helfen sollen.

Meine Herren Richter! Hitler ist tot und mit ihm jene Werkzeuge, die in diesen Jahren millionenfache Verbrechen ohne Zahl begangen und Deutschland und fast ganz Europa tyrannisiert und den deutschen Namen vielleicht auf Generationen hinaus geschändet haben. Das deutsche Volk dagegen lebt und muß leben können, wenn nicht eine halbe Welt darüber in Trümmer gehen soll.

In diesem Prozeß und in diesen Zeiten macht das deutsche Volk eine schwere Operation durch; sie darf nicht den Tod, sie soll die Heilung bringen. Dazu kann und dazu muß auch Ihr Urteil beitragen, damit die Welt nicht in Zukunft in jedem Deutschen einen Verbrecher sieht, sondern zu der Auffassung des Professors Arnold Nash von der Universität Chicago zurückfindet, der vor einigen Tagen, nach dem Sinn seiner derzeitigen Deutschlandreise befragt, die Antwort gab: »Jeder Gelehrte hat zwei Vaterländer, sein eigenes und Deutschland.« Und dieses Wort sollte auch eine Mahnung sein für alle jene verantwortungslosen Kritiker, die auch heute noch ihre Aufgabe darin sehen, mit allen möglichen Propagandamitteln gegen alles, was deutsch ist, zu hetzen und der Welt immer wieder einzureden, daß mindestens jeder zweite Mensch in Deutschland ein Verbrecher sei. Sie aber, als objektive Richter, wollen eines nicht vergessen:

Es gab immer und es gibt heute auch ein anderes Deutschland, ein Deutschland des Fleißes und der Sparsamkeit, ein Deutschland Goethes und Beethovens, ein Deutschland der Treue und der Ehrlichkeit und mancher Tugenden, die in früheren Jahrhunderten sprichwörtlich waren für deutsches Wesen. Glauben Sie uns, meine Herren Richter, in dieser Zeit, wo Deutschland wie aus schwerer Krankheit erwacht ist, und wo Deutschland daran geht, aus den Trümmern einer bösen Vergangenheit sich eine bessere Zukunft wieder aufzubauen, eine Zukunft für seine Jugend, die keinen Teil hat an all den begangenen Verbrechen, in dieser Zeit sehen 70 oder 80 Millionen deutscher Menschen auf Sie und erhoffen von Ihnen, meine Herren Richter, ein Urteil, das uns den Weg frei macht für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft, der deutschen Herzen und einer wahren Freiheit.

Sie, meine Herren, sind wahrhaft souveräne Richter, an kein geschriebenes Gesetz, an keinen Paragraphen gebunden, nur Ihrem Gewissen verpflichtet, und vom Schicksal dazu berufen, der Welt gleichzeitig eine neue Rechtsordnung zu geben, eine Rechtsordnung, die den kommenden Generationen jenen Frieden erhalten soll, den die Vergangenheit ihr nicht bewahren konnte. Zu dieser Ihrer großen und schweren Aufgabe hat ein bekannter Demokrat des alten Deutschland, der frühere Minister Dr. Kültz, in einem Artikel über den Nürnberger Prozeß neulich geschrieben: In einem monarchistischen Staat würde Recht gesprochen im Namen des Königs, in Republiken würden die Gerichte urteilen im Namen des Volkes, Sie aber, der Nürnberger Gerichtshof, Sie sollten Ihr Urteil erlassen im Namen der Humanität.

In der Tat, ein herrlicher Gedanke für das Gericht, ein ideales Ziel, wenn das Gericht glauben könnte, daß sein Urteil tatsächlich die Gebote der Humanität verwirklichen und für alle Zeiten Verbrechen gegen die Humanität verhindern könnte. Aber in mancher Beziehung wäre das doch ein etwas schwankendes Fundament für ein Urteil in der Bedeutung Ihres Richterspruches; denn die Vorstellungen darüber, was die Humanität im einzelnen fordert oder verbietet, können zu verschieden sein, je nach der Zeit, je nach dem Volk, je nach der Parteistellung, von der aus man urteilt. Ich glaube: Ein zuverlässiges Fundament für Ihr Urteil finden Sie, wenn Sie zu dem Satz zurückkehren, der die Jahrtausende überstanden hat und der sicher auch in Zukunft Gültigkeit haben wird:

Justitia est fundamentum regnorum.

Die Gerechtigkeit ist die Grundlage jeden Staatswesens.

So erwartet das deutsche Volk und mit ihm die ganze Welt von Ihnen, meine Herren Richter, ein Urteil, das nicht bloß heute von den Siegerstaaten begrüßt wird als ein letzter Sieg über Deutschland, sondern das auch einst von der Geschichte als richtig anerkannt werden kann, ein Urteil im Namen der Gerechtigkeit.

VORSITZENDER: Dr. Servatius, bitte, für den Angeklagten Sauckel.

DR. SERVATIUS: Herr Präsident! Meine Herren Richter!

Die Verteidigung des Angeklagten Sauckel muß sich in erster Linie mit dem Vorwurf der »Sklavenarbeit« befassen.

Was ist Sklavenarbeit?

Man kann dies nicht als feststehenden Begriff hinnehmen und darunter alle Vorgänge verstehen, die dem Angeklagten Sauckel in verwirrender Fülle als Sklavenarbeit vorgehalten worden sind.

Gerade diese Handlungen müssen erst rechtlich geprüft werden. Die rechtliche Grundlage für diese Prüfung ist das Statut.

Dieses Statut sagt aber nicht, was unter »Sklavenarbeit« und was unter »Deportation« zu verstehen ist. Die Begriffe müssen darum durch Auslegung geklärt werden.

In Artikel 6 des Statuts ist an zwei Stellen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten von »Deportation« und von »Sklavenarbeit« die Rede.

Die Deportation ist sowohl als Kriegsverbrechen wie auch als Humanitätsverbrechen bezeichnet und die erzwungene Arbeit erscheint ebenfalls sowohl unter Kriegsverbrechen als »Sklavenarbeit« als auch unter Humanitätsverbrechen als »Versklavung«.

Worunter der Arbeitseinsatz des Angeklagten Sauckel fällt, ist von ausschlaggebender Bedeutung; handelt es sich um ein Kriegsverbrechen, so ist dieses allein nach Kriegsrecht zu beurteilen. Liegt ein Humanitätsverbrechen vor, so setzt dieses die Begehung eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen den Frieden erst voraus.

Daraus ergibt sich, daß die Deportationen des Artikels 6 b nicht das gleiche sein können, wie eine Deportation nach Artikel 6 c, und ebensowenig kann die erzwungene Arbeit des Artikels 6 b mit der erzwungenen Arbeit des Artikels 6 c identisch sein.

Der Unterschied zwischen beiden Arten muß darin gefunden werden...

VORSITZENDER: In dem Absatz Ihrer Rede, der im englischen Text auf Seite 2, zweiter Abschnitt steht, heißt es: »Daraus ergibt sich, daß die Deportation des Artikels 6 b nicht das gleiche sein kann wie eine Deportation nach Artikel 6 c.«

Es ist dies dem Gerichtshof nicht ganz klar. Könnten Sie das klarstellen?

DR. SERVATIUS: In Artikel 6 c ist die Rede von Humanitätsverbrechen, während im Artikel 6 b von Kriegsverbrechen die Rede ist. In beiden kehren die Ausdrücke Deportation und Zwangsarbeit wieder; sie müssen sich unterscheiden voneinander, und meine Untersuchung geht dahin, diese Unterscheidung näher festzulegen. Ich glaube, Herr Präsident, die weiteren Ausführungen werden es klarer machen, als es bis hierhin ist.

Ich komme gleich auf die Terminologie, die das Statut anwendet. Ich sprach von dem Unterschied der beiden Arten von Sklavenarbeit und Deportationen. Der Unterschied zwischen beiden Arten muß darin gefunden werden, daß zu den Kriegsverbrechen noch etwas hinzukommen muß, was humanitätswidrig ist.

Die Richtigkeit dieser Auffassung ist auch aus der Terminologie des Statuts zu erkennen, wenn diese auch schwankend ist. So wählt der russische Text für die Deportation als Kriegsverbrechen das Wort »uwod«, welches lediglich Abtransport bedeutet, dagegen benutzt er für das Humanitätsverbrechen gleicher Art den technischen Begriff »sylka«, unter dem die Strafverschickung während der Zarenzeit bekannt ist, als sinngleich mit Deportation als Strafverschickung.

VORSITZENDER: Die französische Übersetzung kommt nicht durch. Warten Sie bitte einen Augenblick, Dr. Servatius, es sind da einige Schwierigkeiten in der französischen Übersetzung.

Der Gerichtshof muß die Verhandlungspause jetzt einschalten.

GERICHTSMARSCHALL: Der Gerichtshof wird bis 13.45 Uhr eine Pause einschalten.