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VORSITZENDER: Ich komme jetzt zu den Dokumenten.

Die Dokumente, gegen die im Verfahren gegen die SS Einwände erhoben worden sind, 69, 85, 86, 96, 101 und 102, werden alle abgelehnt.

Im Falle des SD und der Gestapo werden alle Dokumente angenommen.

Im Verfahren gegen das Oberkommando genehmigt der Gerichtshof, daß die Dokumente Nummer 8 und 9 übersetzt und in das Dokumentenbuch aufgenommen werden können. Nummer 11 ist zurückgezogen worden. Die Nummern 5, 13, 15 und 20 können in der Kommission vorgelegt werden, aber sie werden nicht für die Dokumentenbücher übersetzt werden.

Da ist alles.

Nun, Dr. Steinbauer.

DR. STEINBAUER: Ich setze fort:

Ich möchte hier vor allem das Zeugnis eines französischen Arztes bringen, der selbst lange Zeit Häftling in einem Vernichtungslager war. Es ist dies Dr. med. Goutbien aus Montgeron, Seine-et-Oise, der schreibt:

»Es ist einem normalen Menschen schwierig, sich ein genaues Bild über ein Konzentrationslager zu machen, welches in der deutschen Volkssprache durch die beiden Buchstaben K. Z. bezeichnet ist.

Es ist aus verschiedenen Gründen schwierig: Vor allem kann ein nach den Grundsätzen unserer ganz von der elementaren christlich-humanitären Lehre ausgefüllten Zivilisation erzogener Mann die Wirklichkeit der von den Opfern so vieler Greueltaten gemachten Aussagen nicht glauben; der Sadismus, die übertriebene Raffiniertheit im Leiden ist über dem normalen Empfindungsvermögen; dann haben die Nazis versucht, ihre Verbrechen scheinheilig zu verstellen, so daß ein Fremder, welcher vor zwei oder drei Jahren ein Konzentrati onslager besichtigt hätte, von der darin herrschenden Ordnung, Sauberkeit beeindruckt gewesen wäre.

Hätte ein Jurist sich über die Hinrichtungsfälle überzeugt, so hätte er stets, wenn nicht gültige, dann wenigstens ausreichende Gründe zu ihrer Rechtfertigung gefunden. Hätte schließlich ein Arzt medizinische Belege nachgeforscht, so hätte er sehr leicht auf normale Todesursachen schließen können.

So dicht war der Schleier, welcher die K. Z. umhüllte und den die SS sorgfältig und eifersüchtig gesenkt ließ. Die SS versuchte, ihren Verbrechen ein juristisches Aussehen zu geben; es handelt sich hier um einen charakteristischen Zug der hitlerischen Scheinheiligkeit.«

In ähnlichem Sinne äußert sich auch der Jesuitenpater Küble in seinem Buche: »Die Konzentrationslager, eine Gewissensfrage für das deutsche Volk.« Er schreibt auf Seite 19:

».... und die Selbstentlarvung glaubte er verhindern zu können durch einen absolut dichten Ring des Schweigens, den er um seine Werke zog. Dieser Ring war so eng geschlossen, daß ein Deutscher schon ins Ausland reisen mußte, um etwas Konkretes über die Lager zu erfahren und dort über die ›Moorsoldaten‹ zu lesen. Daheim gab es derartige Bücher nicht, und von Mund zu Mund erfuhr man sehr wenig. Aus dem schlimmsten Lager kam niemand heraus, und die Missetäter selbst wurden von Zeit zu Zeit wieder ›umgelegt‹, damit sie nichts aussagen konnten. Die Wenigen aber, die aus den milderen Lagern herauskamen, waren derartig eingeschüchtert, daß sie nur ganz allgemeine, dunkle Andeu tungen machten, gerade genug, um im ganzen Volk ein allgemeines Gefühl des Grauens vor diesen geheimnisvollen Stätten zu erzeugen.«

Aber auch das wenige, das von Mund zu Mund ging, kam nie zur Kenntnis höherer Funktionäre des Dritten Reiches. Denn, wenn diese den Dingen nachgingen, erfuhr die Polizei davon, und diese sorgte dann dafür, daß die Träger solcher »Greuelpropaganda« schwiegen. Deshalb unterließ man es mit der Zeit, solchen Funktionären etwas zu sagen.

Das wichtigste Zeugnis aber ist das eines Wissenden, eines der Männer, die selbst aktiv an der Judenliquidierung teilhatten. Am 25. Juni 1946 ist als Zeuge vor dem beauftragten Richter dieses Gerichts Dieter Wisliceny, besonderer Vertreter des Eichmann, der die Judenvernichtung übernommen hatte, vernommen worden.

Er sagte aus, daß nach Theresienstadt Kommissionen des Internationalen Roten Kreuzes oder ausländische Diplomaten geführt wurden, um den normalen Status der Unterbringung vorzutäuschen. Die Juden, die nach Auschwitz gebracht wurden, wurden gezwungen, vor ihrer Ermordung Postkarten zu schreiben; diese Postkarten wurden dann in langen Zeitabständen zur Absendung gebracht, um den Anschein zu erwecken, als ab die Personen noch am Leben wären.

Er hat verschiedene Pressevertreter geladen. Auf die ausdrückliche Frage; »Wem war in den besetzten Ländern die Judenfrage unterstellt, dem Befehlshaber der Ordnungspolizei, der Sipo oder dem SD?« gab er die Antwort: »Meines Wissens war die Judenfrage in den anderen besetzten Ländern Angelegenheit des Höheren SS- und Polizeiführers auf Grund eines besonderen Befehls von Himmler!«

Um die Irreführung noch intensiver zu gestalten, seien zum Beispiel von der Slowakischen Regierung 500 Reichsmark für jeden Juden als Ansiedlungsbeitrag gefordert worden. Ich habe dies dem Angeklagten vorgehalten; er sagte mir, daß Himmler auch von ihm für jeden einzelnen niederländischen Juden einen Ansiedlungsbeitrag von 400 Reichsmark verlangt habe, was er als Reichskommissar mit Rücksicht auf die mangelhaften Angaben über die tatsächliche Ansiedlung der Juden und mit dem Hinweis, daß die schließliche Regelung dem Frieden vorbehalten bleiben müßte, abgelehnt habe.

Der Angeklagte hat auch von sich aus in seiner Vernehmung auf einzelne Sterilisierungsfälle verwiesen. Die von mir gestellten Beweisanträge auf Beischaffung der von Seyß-Inquart an Himmler geschriebenen Briefe ergaben in Zusammenhalt mit der Aussage des Angeklagten folgenden Tatbestand:

Seyß-Inquart hat, im Gegensatz zur Behauptung der damals achtzehnjährigen Auskunftsperson Hildegard Kunze, niemals auf irgendeinem Dienstweg Himmler in der Judenfrage berichtet.

Seyß-Inquart hat vielmehr von Himmler verlangt, die Lage der Juden in den Niederlanden nicht mehr zu verschärfen und hierbei auf die Maßnahmen verwiesen, die inzwischen gegen die Juden ergriffen worden waren und die über die Maßnahmen im Reich hinausgingen; hierbei verwies er auch auf die Sterilisierungsfälle.

Seyß-Inquart hat sofort Stellung genommen gegen die Sterilisierung bei Frauen und gab den christlichen Kirchen die Erklärung ab, daß ein Zwang nicht ausgeübt werden dürfe. Tatsächlich kamen in Kürze weitere Fälle nicht vor. Was den Fall an sich betrifft, kann den Angeklagten eine Haftung höchstens insofern treffen, als er nicht sofort dagegen Stellung nahm, ohne allerdings sicher zu sein, die Aktion verhindern zu können. Die Gründe für die Haltung des Angeklagten ergeben sich aus dem als Beweis beantragten Brief; es war die Sorge, daß die Lage der Juden weiter verschlechtert werden könnte und die Annahme, diese Juden wären in Hinkunft der weiteren Aufmerksamkeit der Polizei entzogen.

Jedenfalls, soweit Maßnahmen gegen die Juden durch den Angeklagten ergingen, erfolgten sie als Maßnahmen gegen feindliche Ausländer aus den Gründen, die der Angeklagte in seiner Rede vom 21. März 1941 in Amsterdam erwähnte. Was darüber hinaus geschah, erfolgte auf direkte Weisung der Reichszentralstellen, insbesondere Heydrich, und zwar in der Hauptsache durch Organe dieser Reichszentralstellen selbst.

Ein weiterer Anklagepunkt ist die Behauptung, daß der Angeklagte als Reichskommissar im Zuge der geplanten Vernichtungs- und Schwächungspolitik den besetzten Ländern gegenüber die Ernährung der Niederländer absichtlich vernachlässigt hätte, was schließlich zu einer Hungerkatastrophe geführt habe. Die diesbezüglichen Behauptungen erscheinen durch die Zeugenaussagen des Dr. Hirschfeld und von der Wense sowie des Angeklagten selbst widerlegt. Der gesamte Ernährungsapparat blieb im Interesse der Bevölkerung von Anfang an unter niederländischer Leitung, obwohl dem Reichskommissar bekannt war, daß sich gerade auf diesem Gebiete führende Zellen der Widerstandsbewegung gebildet hatten. Die Ernährung in den Niederlanden war bestimmt nicht schlechter als in Deutschland, von wo insbesondere Brotgetreide nachgeschoben wurde. Noch im Jahre 1944 betrug die Ernährung 1800 Kalorien, bis dahin 2 500 Kalorien, wozu noch Zuschüsse verschiedenster Art kamen. Es gelang dem Reichskommissar, auch den im Kreuzverhör erwähnten Rucksackverkehr der Wehrmacht, wenn auch erst im Jahre 1943 durch Intervention beim Reichsnährstand zu unterbinden. In welchem Ausmaß die niederländische Ernährungswirtschaft durch den Angeklagten unterstützt wurde, zum Beispiel durch Förderung des Nord-Ost-Polders, durch Abwehr der übermäßigen Anforderungen des Reiches, bestätigt der Zeuge von der Wense.

Daß die niederländische Stickstofferzeugung bis September 1944 der niederländischen Landwirtschaft vorbehalten werden konnte, ist ausschließlich dem Angeklagten zu danken.

Ab Herbst 1944 wurde die Situation im Ernährungssektor wesentlich schlechter. Das Land war nach der Invasion zum großen Teil Kriegsgebiet geworden, und die Verkehrswege waren durch zahllose Fliegerangriffe zerschlagen. Das hatte zur Folge, daß insbesondere im Westen Hollands, wo auf engem Raum in drei Großstädten Millionen Menschen zusammengedrängt waren, sich eine schwierige Ernährungslage ergab. Bei dem geringen Stand der Besatzungstruppen wäre es schon an sich eine riesige Dummheit gewesen, diese zusammengeballten Massen durch Hunger absichtlich zu einem verzweifelten Widerstand zu treiben.

Als im September 1944 nun ein Eisenbahner- und Schifferstreik über Veranlassung der Londoner Exilregierung, die mit einem günstigen Ausgang der Schlacht bei Arnheim und mit dem ehesten deutschen Zusammenbruch rechnete, ausbrach, so war dies völkerrechtlich gesehen ein Notstand, in den sich das Land selbst gegenüber dem Okkupanten gesetzt hatte. Es war natürlich, daß die Wehrmacht zur eigenen Verteidigung allen erreichbaren Schiffsraum in Anspruch nahm, um ihre Ernährung zu sichern. Um Wiederholungen zu vermeiden, sei auf die Aussagen von der Wense und Dr. Hirschfeld verwiesen und als wichtigste Tatsache hier angeführt, daß der. Zeuge Dr. Hirschfeld deponierte, daß der Reichskommissar bereits am 16. Oktober 1944 den Befehl zur Aufhebung der Sperre des Schiffsverkehrs gab. Er hatte damit rechnen können, daß die nicht als Repressivmaßnahme geplante Sperre von vier Wochen nicht schaden werde, da genügend Lebensmittel vorhanden waren beziehungsweise in den Monaten November und Dezember nach Holland geschafft werden könnten.

Tatsächlich erfolgte durch ihn schon eine frühere Aufhebung des Embargos, die Einrichtung einer besonderen Transportorganisation und die Zufuhr von Lebensmitteln aus den nordöstlichen Provinzen mittels deutscher Transporte. Da das Versagen der niederländischen Transportorganisation, die ständigen Tag- und Nachtangriffe der feindlichen Flieger, Sabotagen der Widerstandsbewegung und zuletzt eine große Kohlennot die Versorgungsaktion störten, kann doch die durch den Streik hervorgerufene Notlage keineswegs als kriminelles Delikt dem Angeklagten angerechnet werden. Jedenfalls hat die von mir vorgelegte Statistik ergeben, daß während der ganzen Besatzungszeit bis Mitte 1944 die Bevölkerung ständig zunahm und die allgemeine Lebenslage unter Berücksichtigung der Kriegszeit durchaus keine wesentliche Verschlechterung erfuhr.

Als durch den Krieg die Ernährungslage sich immer mehr verschlechterte, sorgte der Angeklagte für die Zufuhr von Lebensmitteln aus deutschen Transportzügen und stellte auch von Beständen der deutschen Wehrmacht solche für Kinder zur Verfügung. Er förderte die Unterstützungsaktion der Kirchen und des Boten Kreuzes, obwohl das Genfer Abzeichen wiederholt von der Widerstandsbewegung mißbraucht wurde. Der Kronprinz von Schweden, als Präsident des schwedischen Roten Kreuzes, sprach dem Reichskommissar seinen besonderen Dank aus. Schließlich setzte der Reichskommissar sich über die Vertrauensmänner der Niederländischen Exilregierung mit dieser in Verbindung und veranlaßte so das Zustandekommen eines Abkommens mit dem Alliierten Oberkommando, wodurch die Ernährung Hollands sichergestellt und der Besetzung faktisch ein Ende gemacht wurde. In alliierten Militärkreisen rechnete man damals noch mit 60 Tagen Widerstand. Diesen hätte die deutsche Besatzung in den Niederlanden auch sicher leisten können, allerdings wäre hierbei das Land und seine Bevölkerung zugrunde gegangen.

Ich komme zum letzten Punkt der Französischen Anklage, zu den von der Besatzungsmacht verursachten Überschwemmungen und Zerstörungen. Wenn die Staatsanwaltschaft nicht diesen Punkt gebracht hätte, dann hätte ich als Verteidiger diese Angelegenheit vor dem Gerichtshof besprochen, weil gerade diese Sache den Angeklagten in einem anderen, für ihn sehr günstigen Licht erscheinen läßt. Indem ich auf die Aussagen der Zeugen Wimmer, Schwebel, Dr. Hirschfeld und General von Kleffel verweise, möchte ich kurz folgendes sagen: Es dürfte dem Gericht bekannt sein, daß 40 Prozent der gesamten Landoberfläche in den Niederlanden unter dem Meeresspiegel liegen. In jahrhundertelanger, mühseliger Arbeit wurde dem Meer immer wieder Boden abgerungen und in fruchtbares Ackerland verwandelt. Mächtige Deiche schützen das Land, Schleusen und Pumpwerke regeln die Wasserzufuhr und den Binnenverkehr. Der ständige Kampf gegen Sturm und Wasser hat den Niederländer zu seinem stolzen und freiheitsliebenden Charakter gewandt. »Gott hat die Erde geschaffen, aber wir haben unser Land selber geschaffen«, sagt ein niederländisches Sprichwort.

Als die kanadischen Truppen nach Norden durchstießen, hat der Reichskommissar, wie viele erwarteten, nicht von Groningen den Weg ins Reich genommen, sondern ist in den Haag zurückgekehrt, um seine Verantwortung bis zum Schluß zu tragen. Er fürchtete, daß das zusammenbrechende Reich zu einer Katastrophenpolitik gelangen könne, die in einem so empfindlichen Land wie die Niederlande, wo 271 Menschen auf einem Quadratkilometer wohnen, zur Vernichtung führen könnte.

Die Gotenschlacht, in der alles zugrunde geht, war in manchen Köpfen zur fixen Idee geworden. Goebbels hat ja großsprecherisch erklärt, wenn sie abtreten müssen, werden sie die Tür zuschlagen, daß es die Welt hört. Der Reichskommissar warnte vor solchen Ideen. Tatsächlich kam der Befehl »Verbrannte Erde«; er hätte die Zerstörung aller technischen Anlagen, einschließlich Dämme und Schleusen in Holland, die Vernichtung von zwei Dritteln des Landes bedeutet. Gemeinsam mit Minister Speer und Dönitz wurde dies alles verhindert. Dies hat auch in meinem Fragebogen der Oberbefehlshaber General von Kleffel bestätigt und der Generalstab der amerikanischen Armee Bedell Smith auch anerkannt. Auch historische Gebäude sollten zerstört werden, wie dies Schwebel bekundet hat.

Der Verteidiger des Generals Christiansen teilte mir mit, daß neben den technischen Truppen der Wehrmacht, die durch die Kriegslage gerechtfertigte Sprengungen und Überflutungen vornahmen, auch Abgesandte Himmlers erschienen sind, um Zerstörungen hinter dem Rücken der Wehrmacht durchzuführen. All dies wurde durch das verantwortungsbewußte Eingreifen des Reichskommissars verhindert und das Land vor einer nie mehr gutzumachenden Zerstörung in großem Ausmaße gerettet. Auf dem Abschlußdamm des Zuidersee, dem größten Wasserbauwerk, das jemals errichtet wurde, befindet sich seit Mai 1932 ein schlichtes Denkmal, das keinerlei Namen trägt, nur den Spruch:

»een volk dat leeft, bouwt aan zijn toekomst.«

(»Ein Volk das lebt, baut an seiner Zukunft.«)

Wie immer der Prozeß ausgehen mag, vielleicht kommt einmal die Zeit, wo man unter diesen Spruch die kurzen Worte setzen wird: »Vor der Zerstörung gerettet durch Seyß-Inquart.«

Und so bin ich auch mit dem zweiten Anklagekomplex am Ende angelangt.

Langsam senkt sich im Schauspiele der angeblichen Verschwörer der Vorhang. Ich aber frage Sie: Ist ein Mann, der mitten in einem Kampf um Leben und Tod seiner Nation an die Spitze der Verwaltung eines feindlichen Landes gestellt wird und immer und immer wiederum versuchte, Exzesse zu verhindern oder zu verringern, ein Mensch, den man deshalb als grausamen und willkürlichen Despoten und Kriegsverbrecher bezeichnen kann?

Ich möchte aber meine Ausführungen nicht schließen, ohne nicht auch einige allgemeine Gedanken zum Prozesse zum Ausdruck zu bringen. Ich schätze Frankreich und seine alte Kultur und habe es als Ehre aufgefaßt, hier im Prozeß als Anwalt mit Franzosen die Klinge kreuzen zu dürfen. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit und innerer Anteilnahme die Rede des französischen Hauptanklägers François de Menthon gehört.

Sie kann aber nicht ganz unwidersprochen bleiben. De Menthon hat von Deutschland als dem ewigen Feinde Frankreich gegenüber gesprochen und allein unterschiedslos gegen alle Angeklagten die schwerste Strafe, den Tod, beantragt. Das stellt damit eine der Schwächen dieses Prozesses in den Vordergrund, nämlich, daß es immer ein Prozeß der Sieger über die Besiegten sein wird. Es erinnert zu stark an den Gallier Brennus, der mit seinem »vae victis« das Schwert in die ungleiche Waagschale wirft. Menthon verbaut mit diesem Vorbringen ungewollt den Weg zu einem dauernden Frieden. Die Sünde, sagt er, wider den Geist, sei der Grundfehler des Nationalsozialismus und die Quelle aller Verbrechen. Der Nationalsozialismus beruhe auf der Rassentheorie, einem Produkt des deutschen Geistes. Menthon erklärt aber richtig, daß der Nationalsozialismus der Endpunkt einer langen doktrinären Entwicklung sei. In der Geschichte gibt es nämlich keine unmittelbaren Übergänge, alles wurzelt in vorausgehenden Gedanken und Strömungen. Das 20. Jahrhundert kann nur in Zusammenhang mit der Entwicklung aus dem vorangegangenen Jahrhundert erklärt werden. Es ist der überspitzte Nationalismus, der das 19. Jahrhundert im Ausklang beherrscht und ist dabei wichtig festzustellen, daß es nicht Deutsche, sondern Franzosen waren, die zuerst die Rassentheorie aufgestellt haben.

Graf Gobineau in seinem Essay »Sur l'inégalité des races humaines« und Georges Sorel in seiner »Réflexion sur la violence«.

Herr Menthon zitiert am Schluß seiner Ausführungen das auch von mir erwähnte Werk Politis »La morale internationale«. Politis nun bezeichnet den übertriebenen Nationalismus als eine wahrhaft internationale Krankheit, die aus dem 19. Jahrhundert entstand. Er erwähnt speziell den Fall des Franzosen Maurice Barrès. Er sieht in dem Satz: »Que la patrie eût-elle tort, il faut lui donner raison« die Negation jedes Moralgesetzes.

Ich will Herrn Menthon gegenüber aber noch einen Franzosen anführen. Es ist ein kleiner Geschichtsprofessor. Die Gestapo, deutsche und französische Polizei ist hinter ihm her, er wechselt oft Aussehen und Namen. Er ist überall.

Wir finden ihn im Massif Central, in der Auvergne, in den Bergen von Grenoble, an der Küste in Bordeaux und in Paris. Wo er auftaucht, entgleisen Wehrmachtszüge, gehen Munitionsdepots in die Luft und werden wichtige Industriewerke stillgelegt. Er hat stets de Gaulles Worte vor seinen Augen: »Unser Land ist in Todesgefahr, kommt alle zu uns, kämpft für Frankreich.« Der Mann ist George Bidault. Als der Feind aus dem Lande vertrieben ist, da ist sein erstes Tun, im Spital die schwerverwundeten Kämpfer zu besuchen. Er geht aber nicht nur zu den Franzosen, er geht auch in die Zimmer der deutschen Verwundeten und sagt ihnen: »Kameraden, ich wünsche euch eine baldige Gesundung und glückliche Rückkehr in die Heimat.«

Diese Worte des Mannes, der heute Frankreich führt, zeigen uns den Weg des Friedens in einer ehrlichen und offenen Zusammenarbeit der Völker und Nationen. Hitler wollte ein neues Europa schaffen, er ist dabei durch seine Methoden gescheitert. Deutschland liegt wehrlos am Boden, seine Städte sind zerstört, seine Wirtschaft ist vernichtet. Frankreich, eines der ältesten Länder der Christenheit, das Land, das uns am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Menschenrechte geoffenbart hat, ist daher heute im besonderen Maß berufen und verantwortlich, die abendländische Kultur zu bewahren. Dazu ist aber vor allem notwendig, daß das Mißtrauen, das das Leben der Völker vergiftet, verschwindet. Soviel ganz kurz und allgemein zum Prozeß.

Ich lege nun das Schicksal meines Klienten Ihnen, meine verehrten Herren Richter, vertrauensvoll in Ihre Hände. Ich weiß ja, daß Sie auch alles, was für Seyß- Inquart spricht, genau erwägen werden.

Ich selbst aber will noch einmal, wie ich es so oft in den langen Monaten des Prozesses getan habe, durch die Straßen von Nürnberg gehen und von der zerstörten Kaiserburg ins deutsche Land schauen.

Aus den Trümmern der Altstadt ragt fast unbeschädigt das Denkmal des Malers Albrecht Dürer und des Geographen Martin Behaim empor. Es sind dies die Künder deutscher Kunst und deutscher Wissenschaft. Mögen diese beiden Namen ein Symbol für die Zukunft sein und wie Leuchtfeuer das deutsche Volk herausführen aus finsterer Not zu den lichten Höhen eines dauernden Friedens!

VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich für einige Minuten.