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[Verhandlungspause.]

VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Bergold für den Angeklagten Bormann auf.

DR. FRIEDRICH BERGOLD, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN BORMANN: Euer Lordschaft, meine hohen Herren Richter!

Der Fall des Angeklagten Martin Bormann, den zu verteidigen mir vom Hohen Gericht aufgegeben ist, ist ein ungewöhnlicher. Der Angeklagte lebte, als das nationalsozialistische Reich noch glänzte, im Schatten, er blieb in diesem Prozeß schattenhaft und weilt, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch jetzt unter den Schatten, wie in der Antike die Toten genannt worden sind. Er ist der einzige der Angeklagten, der nicht anwesend ist, gegen den der Paragraph 12 des Statuts angewandt wird. Es ist, als hätte die Geschichte die Kontinuität des genii loci wahren und gerade in Nürnberg das Problem erörtert sehen wollen, ob und inwieweit die höchste Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Angeklagter um das Leben gekommen ist, einem Verfahren in contumaciam – in absentia – gegen einen solchen Mann im Wege steht. Es ist nämlich in Nürnberg aus dem Mittelalter bis auf unsere Zeit ein Sprichwort herüber gekommen, das dahin lautet, es würden »die Nürnberger niemand hängen, sie hätten ihn denn zuvor«

Es ist also schon damals in alter Zeit gerade in Nürnberg die Frage, wie gegen einen Abwesenden ein Strafverfahren durchgeführt werden kann, in ausgezeichneter Weise besprochen worden.

VORSITZENDER: Es scheint dem Gerichtshof, als wollten Sie zunächst darlegen, daß dieser Gerichtshof nicht berechtigt ist, gegen den Angeklagten Bormann in Abwesenheit zu verhandeln, und zweitens, daß dies selbst im Falle, daß ein solches Recht bestünde, nicht angebracht sei. Beide Punkte wurden am 17. November 1945 behandelt und nach Ihrer Bestellung am 22. November 1945 entschieden. Beide Punkte wurden in dem Sinne entschieden, daß gegen Bormann trotz seiner Abwesenheit zu verhandeln sei. Das heißt, der Gerichtshof hat laut Paragraph 12 des Statuts die Ermächtigung hierzu, und es lag unter den gegebenen Umständen im Interesse der Gerechtigkeit, das Verfahren in seiner Abwesenheit durchzuführen.

DR. BERGOLD: Mein Hohes Gericht! Das ist richtig. Diese Entscheidung ist mir auch bekannt. Ich möchte hier nur vortragen, ob nicht im Laufe der Verhandlungen sich Gesichtspunkte ergeben haben, daß das Hohe Gericht diesen Beschluß abändert. Denn ich nehme an, daß die Beschlüsse des Hohen Gerichts vom Gericht selbst einer Revision unterzogen werden können. Deshalb gebe ich diese Erörterung, um aufzuzeigen, daß das Verfahren hier Gesichtspunkte erbracht hat, die diese Frage einer Überprüfung wichtig erweisen.

VORSITZENDER: Dr. Bergold! Es ist jetzt sicher ein ungeeigneter Augenblick, um diese Streitfrage zu erörtern, nachdem das Verfahren gegen Bormann bereits durchgeführt wurde. Wir haben Ihnen sehr lange Gelegenheit gegeben, einen Antrag zur Überprüfung dieser Entscheidung einzureichen.

Können Sie meinen Erklärungen nicht folgen?

DR. BERGOLD: Ich habe den letzten Satz nicht ganz genau verstanden.

VORSITZENDER: Ich habe gesagt, daß es für einen derartigen Antrag jetzt viel zu spät ist. Sie haben die ganzen Monate seit November Gelegenheit gehabt, einen solchen Antrag zur Überprüfung der Entscheidung dieses Gerichtshofs zu stellen. Aber anstatt dies zu tun, haben Sie sich auf die Verteidigung des Angeklagten Bormann eingelassen.

Sie haben möglicherweise die Wählscheibe falsch eingestellt. Wollen Sie bitte die Wählscheibe nachsehen, ob alles in Ordnung ist?

DR. BERGOLD: Herr Präsident! Die Übersetzung kommt so schlecht und unklar durch, daß ich nicht den ganzen Sinn verstehen kann. Die Übersetzung ist schlecht. Nur die Übersetzung Ihrer Ausführungen ins Deutsche ist nicht klar genug.

VORSITZENDER: Dann werde ich ganz langsam sprechen. Ich habe gesagt, daß Sie, falls Sie eine Revision der Entscheidung des Gerichtshofs vom 22. November wünschten, dies früher hätten beantragen müssen. Demgegenüber sind Sie weiter als Rechtsvertreter von Bormann aufgetreten, und der Gerichtshof hat entschieden, den Fall Bormann anzuhören. Daher ist der Gerichtshof nicht bereit, jetzt eine Erörterung über die Revision seiner Entscheidung anzuhören. Wenn es Ihrer Meinung nach im Interesse Ihres Klienten liegt, hat der Gerichtshof nichts dagegen, daß dieses Schriftstück zu den Akten kommt oder daß diese Seiten Ihres Plädoyers zu den Akten genommen werden. Der Gerichtshof ist aber nicht geneigt, seine Entscheidung zu revidieren.

DR. BERGOLD: Herr Präsident! Es hat sich ein Beweisstück erst hier am Schlusse meiner Beweisführung ergeben, nämlich die Aussagen des Zeugen Kempka. Diese Aussage des Zeugen Kempka hat meines Erachtens die Wahrscheinlichkeit des Todes Bormanns so evident gemacht, daß von diesem Gesichtspunkt aus erst die Frage einer Neuprüfung vorgebracht werden kann. Ich habe angenommen, daß ich meine Argumente dann erst...

VORSITZENDER: Ich sagte, daß der Gerichtshof den Text von Seite 1 bis 10 nicht hören will. Die Frage, ob Bormann tot ist, oder nicht, ist eine Frage, die Sie später in Ihrem Plädoyer behandeln, und der Gerichtshof ist bereit, Sie darüber zu hören.

Aber von Seite 1 bis 10 behandelt das Plädoyer nicht den Tod des Angeklagten. Wenn Sie auf Seite 10 mit den Worten: »Ich kann nicht...« – es ist der letzte Absatz auf Seite 10 – beginnen wollen, so wird Sie der Gerichtshof anhören.

DR. BERGOLD: Ich muß mich wohl dieser Entschließung fügen.

Hohes Gericht! Ich will und kann das Statut nicht kritisieren. Ich wollte hier nur in meinen Rechtsausführungen, die Sie mich nun hier nicht haben vortragen lassen, die Tatsache feststellen, daß das Statut ein Novum geschaffen hat, und zwar ein Novum dahin, daß in einem Verfahren in Abwesenheit eine endgültige Entscheidung gefällt wird, ohne daß bei einem Wiederauftauchen des Angeklagten eine Neuüberprüfung des Falles stattfinden kann. Ich bin aber der bescheidenen Meinung, daß angesichts dieses ganz besonderen Novums in der Rechtsgeschichte aller Zeiten und Staaten das Hohe Gericht in der jetzigen Lage des Prozesses, angesichts des Beweises, den der Fall Kempka gebracht hat, von dem ihm verliehenen Recht, Paragraph 12, weiter Gebrauch machen will.

Es sollte meines Erachtens, weil eine Überprüfung des Urteils nicht mehr möglich ist, das Verfahren nur durchgeführt werden, wenn in entsprechender Anwendung der schönen und klaren Grundsätze des russischen Rechtes erstens erwiesen ist, daß der Angeklagte Martin Bormann sich absichtlich und wissentlich dem Gericht entzieht, und zweitens, daß der Sachverhalt in jeder Richtung keinem Zweifel unterliegt. Da das Statut eine nähere Festlegung, wann und unter welchen Voraussetzungen das Gericht von seinem Recht Gebrauch machen soll, nicht getroffen hat, muß das Gericht selbst rechtsschöpferisch tätig werden.

Die Verantwortung des Hohen Gerichts ist wegen der Unanfechtbarkeit des Urteils in diesem besonderen Falle eine sehr hohe. Meine Ansicht, daß das Urteil endgültig ist, ist ja auch die Meinung des Hohen Gerichts, da in der öffentlichen Ladung des Angeklagten Bormann im letzten Satz ausdrücklich darauf verwiesen wird, daß das Urteil für den Fall, daß der Angeklagte als schuldig befunden wird, ohne weitere Verhandlung an ihm vollstreckt werden wird, nachdem er gefunden ist.

Es ist meines Erachtens nun in keiner Weise erwiesen, daß der Angeklagte sich absichtlich dem Verfahren fernhält. Durch die Vernehmung des Zeugen Kempka ist nach meiner Ansicht sogar mit höchster Wahrscheinlichkeit geklärt, daß der Angeklagte Bormann tot ist.

Der Zeuge Kempka hat bekundet, daß er in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1945 zusammen mit dem Staatssekretär Naumann als dem ersten, dem Angeklagten Bormann als dem zweiten, dem Standartenführer Dr. Stumpfecker als dem dritten und ihm als dem vierten Mann in dieser Reihenfolge versucht hat, auf der linken Seite eines vorgehenden Panzers durch die russische Gefechtslinie zu fliehen. Dabei ist der Angeklagte Bormann dicht neben dem Panzer in dessen Mitte vorgegangen, so daß der Zeuge den Eindruck hatte, Bormann habe sich mit der Hand am Panzer festgehalten. Diese Handlung ist dem Zeugen zudem erforderlich erschienen, um mit dem rollenden Panzer Schritt halten zu können. Dieser Panzer ist schon nach 30 bis 40 Metern, als die deutsche Panzersperre durchfahren war, vermutlich infolge eines Treffers durch eine Panzerfaust in die Luft geflogen.

Der Zeuge hat außer allem Zweifel beobachtet, daß gerade dort, wo Bormann unmittelbar neben dem Panzer hergegangen ist, eine Stichflamme aus dem explodierenden Panzer hervorgeschlagen und daß in dieser Flamme Bormann, ebenso wie der nahe vor ihm gehende Staatssekretär Naumann, zusammengebrochen ist. Bormann ist also im Zentrum der Explosion gewesen, die so stark gewirkt hat, daß der Zeuge überzeugt ist, Bormann müsse bei dieser Gelegenheit unzweifelhaft den Tod erlitten haben. Es kann nicht gesagt werden, es müsse aus der Tatsache, daß der Zeuge der Gewalt der Explosion entronnen ist, geschlossen werden, auch Bormann könne mit dem Leben davongekommen sein. Es muß beachtet werden, daß Kempka links hinter dem Panzer hergelaufen und daher von der eigentlichen Explosion etwa vier Meter entfernt gewesen ist. Weiter will bedacht sein, daß er einen zusätzlichen Schutz dadurch gehabt hat, daß vor ihm noch Dr. Stumpfecker gelaufen ist, dessen Körper bei der Explosion auf ihn geschleudert worden ist und wie eine Deckung gewirkt hat. Kempka hat bezeugt, daß Bormann mit der Uniform und den Rangabzeichen eines SS-Obergruppenführers bekleidet gewesen war. Selbst wenn Bormann nicht bei dieser Gelegenheit getötet worden wäre, wäre er wohl mit Sicherheit so erheblich verletzt worden, daß ihm die Flucht nicht mehr möglich gewesen wäre. Er wäre aber dann unbedingt in die Hände der Truppen der USSR gefallen, die nach dem Affidavit der Zeugin Krüger der Reichskanzlei schon ganz nahe waren und sie wegen der Flucht der Besatzung am 2. Mai 1945 schon besetzt haben. Die USSR aber hätte Bormann selbstverständlich bei der Loyalität, mit der sie an diesem Verfahren teilnimmt, dem Hohen Gericht zur Verantwortung überstellt.

Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, wenigstens nach meiner Beurteilung, von denen die erste, nämlich die, daß Bormann verwundet in die Hände der USSR gefallen ist, erwiesenermaßen nicht eingetreten ist, so kann nur die zweite Möglichkeit sich ereignet haben, daß nämlich Bormann um das Leben gekommen ist.

Ich bin daher der Meinung, daß ich mit genügender Wahrscheinlichkeit dargetan habe, daß Bormann tot ist.

Es sollte meiner Ansicht nach nicht erlaubt sein, davon zu sprechen, daß bis zur völlig exakten Feststellung des Todes eine Lebensvermutung gilt, die ich, der Verteidiger, zu widerlegen hätte. Eine gesetzliche Lebensvermutung hat es in allen Staaten des Erdkreises nur auf dem Gebiete des Privatrechts und nur für die Regelung erbrechtlicher oder ehegüterrechtlicher Verhältnisse gegeben. Doch war eine gesetzliche Lebensvermutung nur sehr selten festgelegt, so zum Beispiel bestrittenerweise im gemeinen Recht und im preußischen Landrecht. Der Code civil kennt überhaupt keine Lebensvermutung, sondern läßt nur eine Verschollenheitserklärung zu. Das Common Law hat weder das Institut der Todeserklärung noch das einer besonderen Lebensvermutung. Das russische Recht ermöglicht schon nach kurzer Zeit eine Verschollenheitserklärung, der eine Todeserklärung nachfolgen kann. Aber auch in diesen Bestimmungen kann keine Lebensvermutung gefunden werden.

Wie dem aber auch immer auf dem Gebiete des Privatrechts sei, jedenfalls steht fest, daß für das Gebiet des Strafrechts bei keinem Staate und bei keinem Gesetz eine Lebensvermutung besteht. Gibt es aber für das Strafrecht eine solche Lebensvermutung nicht, so obliegt es mir auch nicht, eine solche Lebensvermutung zu widerlegen. Es muß dann genügen, daß durch die Verteidigung solche Umstände erwiesen werden, aus denen in vernünftiger Würdigung der gewöhnlichen Lebensabläufe, wie ich es bereits vorgetragen habe, geschlossen werden kann, daß ein Angeklagter verstorben ist.

Ich bin also zuvorderst der Meinung, daß der Tod des Angeklagten Bormann mit genügender Wahrscheinlichkeit dargetan ist, mit einer so hohen Wahrscheinlichkeit, daß demnach das Verfahren überhaupt für immer eingestellt werden müßte, da auch das Statut ein Verfahren gegen Verstorbene nicht kennt. Es hätte sonst die Staatsanwaltschaft, gäbe es bei dem Ableben eines Täters noch ein Verfahren, logischer- und vernünftigerweise die wirklichen Häupter des Nationalsozialismus unter Anklage stellen müssen.

Aber abgesehen von allem ist meines Erachtens auf keinen Fall bewiesen, daß der Angeklagte Martin Bormann sich absichtlich dem Gericht entzieht, solange die Möglichkeit besteht, daß der Angeklagte tot ist. Es ist richtig, daß das Statut eine solche Voraussetzung für das Verfahren eines nicht auffindbaren Angeklagten nicht kennt. Allein das Statut ist in dieser Hinsicht sehr wortkarg, und ich habe schon ausgeführt, daß das Hohe Gericht nach meiner Überzeugung nach der Vernehmung des Zeugen Kempka noch einmal ernsthaft prüfen sollte, ob es in diesem besonderen Fall des Angeklagten Bormann sein Recht ausüben solle. Es dünkt mich, die Endgültigkeit des Urteils bedenkend, billig und gerecht, in dem Falle Bormann immerhin den allgemeinen Rechtsgrundsatz der zivilisierten Staaten, wonach dem Angeklagten, wenn auch erst nach seinem Ergreifen, das Gehör gesichert werden soll, zu beachten und es durch Aussetzung – jetziger Aussetzung des Verfahrens – zu vermeiden, vollendete Tatsachen zu schaffen, solange es noch möglich ist, daß das Fernbleiben Bormanns entschuldigt werden kann.

Ich darf darauf hinweisen, daß Paragraph 12 des Statuts, zweiter Satzteil, das Hohe Gericht ausdrücklich auf das Interesse der Gerechtigkeit verweist, daß es bei der Prüfung der Frage beachten solle, ob es in einem anderen Fall als den der Unauffindbarkeit des Angeklagten in Abwesenheit des Betreffenden verhandeln wolle. Diese Interessen der Gerechtigkeit sind aber keine einseitigen, sind nicht nur gegen den Angeklagten gerichtet. Die wahre Gerechtigkeit ist immer eine allseitige. Sie erfordert in allen Rechten der Welt, daß vor ihr auch die Interessen des Angeklagten gewahrt werden, soweit dies möglich ist. Das Hohe Gericht hat bereits im Falle der Erkrankung des Angeklagten Krupp seine Befugnisse wahrgenommen, das Verfahren gegen einen Abwesenden nicht durchzuführen. Auch wenn dieser Fall mit dem des Angeklagten Bormann nicht ohne weiteres zu vergleichen ist, so sollte diese Entscheidung auch hier gewürdigt werden.

Gerade, weil bei der Besonderheit des Falles und angesichts der Aussagen des Zeugen Kempka auf keinen Fall als erwiesen gelten kann, daß der Angeklagte Bormann sich absichtlich dem Gericht fernhält, weil, wie auch immer die Sache beurteilt wird, die Möglichkeit nicht unbeachtet bleiben kann, daß der Angeklagte, selbst wenn er gerettet und nicht in die Hände der Alliierten gefallen wäre, so schwer für immer verletzt worden sein kann, daß er weder physisch noch psychisch imstande ist, sich dem Gericht zu stellen, gerade deshalb sollte das Hohe Gericht nach meiner sorgfältigen Erwägung im Interesse einer echten Gerechtigkeit das Verfahren gegen den Angeklagten Bormann jetzt noch aussetzen.

Ein solcher Beschluß ist aber auch noch nach dem zweiten Grundsatz gerechtfertigt, den das russische Gesetz formuliert hat, daß nämlich ein Verfahren in der Regel nur zugelassen werden soll, wenn der Sachverhalt keinem Zweifel mehr unterliegt.

Der Angeklagte Bormann ist abwesend. Er hat sich nicht selbst gegen die ihm gemachten Vorwürfe verteidigen können. Er hat mir keinerlei Aufschlüsse vermitteln können, und ich habe keine Zeugen finden können, die genügende Sachkenntnisse besessen hätten und imstande gewesen wären, mir bezüglich der erhobenen Anklagen die Entlastungsbeweise aufzuschließen.

Die Gestalt Bormanns und seine Tätigkeit sind auch in diesem langen Verfahren nach wie vor in dem Dunkel geblieben, in dem der Angeklagte sich aus Charakterveranlagung schon bei Lebzeiten gehalten hat. Die Beschuldigungen, die viele Mitangeklagte, vielleicht aus ganz besonderen Gründen und offensichtlich zu ihrer eigenen besseren Verteidigung und Entlastung, gegen ihn erhoben haben, können billigerweise einem Gerichtsurteil nicht zugrunde gelegt werden. Schon die Staatsanwaltschaft hat durch ihre Vertreter des öfteren ausgesprochen, daß die Angeklagten sich bestreben würden, die Hauptlast der Taten, die der Beurteilung durch das Hohe Gericht unterstehen, auf tote oder abwesende Männer zu wälzen. Manche meiner Kollegen sind bei ihren Verteidigungsansprachen dieser Taktik der Angeklagten gefolgt. Vielleicht ist dies alles zu Recht geschehen. Ich kann es nicht beurteilen. Es steht mir die Befugnis zu einem Urteil auch nicht zu.

Niemand aber weiß, was der Angeklagte Bormann diesen Männern hätte erwidern können, wenn er anwesend gewesen wäre. Er hätte vielleicht dartun können, daß seine gesamte Tätigkeit für die Geschehnisse, die die Anklage behandelt, nicht verursachend gewesen ist, daß er auch den Einfluß nicht besessen hat, der ihm als dem Sekretär des Führers und der Partei angedichtet wird. Es ist eine in aller Welt bekannte Erfahrung, daß Sekretären und Leitern von Zentralkanzleien, ähnlich wie den fürstlichen Kammerdienern des Absolutismus, immer ein erheblicher Einfluß auf ihre Vorgesetzten und Herren zugeschrieben wurde, weil eben nach der Natur der Sache durch die Hände eines solchen Sekretärs alles laufen muß, was nur büromäßig erledigt werden kann. Was aber kann in einem modernen Staat sich dem Moloch des Bürokratismus entziehen?

Das von der Anklagebehörde unterbreitete Dokumentenbuch und der Trial-Brief enthalten in keinem Falle den schlüssigen Nachweis darüber, ob Bormann von sich aus bei den inkriminierten Ereignissen und Maßnahmen einen hervorragenden und wirksamen Einfluß auf die Handlungen und Geschäfte des Dritten Reiches, der NSDAP oder gar Hitlers genommen hat und welche Stärke dieser Einfluß etwa gewonnen hat.

In dem Erläuterungserlaß Bormanns, abgedruckt in dem zweiten Band der amtlichen Sammlung »Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben der Parteikanzlei« Seite 228, vorgelegt als Exhibit-Nummer Bormann 11 in meinem Dokumentenbuch, wird geklärt, daß die Parteikanzlei eine Dienststelle Hitlers gewesen ist, deren er sich zur Führung der NSDAP bedient hat. Es ist ausdrücklich hervorgehoben, daß Hitler seit dem 12. Mai 1941 die Leitung der Partei vollständig und ausschließlich wieder selbst übernommen hat. Der Leiter der Parteikanzlei, zu dieser Zeit Bormann, war beauftragt gewesen, Hitler ständig über die jeweilige Lage der Parteiarbeit zu unterrichten und ihm alle für die Entscheidungen in Parteiangelegenheiten wichtigen Umstände zur Kenntnis zu bringen, und zwar sollte dies nach Hitlers grundsätzlichen Weisungen geschehen, deren Festlegung, insbesondere bezüglich der politischen Linien, das Parteioberhaupt sich selbst vorbehalten hatte.

Damit ist angeordnet, daß die Parteikanzlei für die innerpolitische Linie der Reichsführung die Zentralkanzlei gewesen ist, durch die alle Anregungen und Informationen von unten her an Hitler und durch die alle Anordnungen und Weisungen von Hitler her nach unten hin gelaufen sind.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich.