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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

DR. BERGOLD: Hohes Gericht! Ich fahre fort auf Seite 19 in der Mitte:

Es ist richtig, daß ein Mann an einer solchen Stelle, wie ich sie heute vormittag geschildert habe, einen großen Einfluß haben kann, wenn an der obersten Spitze ein beeinflußbarer Mann steht; es ist aber ebenso richtig zu sagen, daß ein Mann in einer solchen Kanzlei eine rein formale Rolle spielen kann als Haupt einer Durchlaufstelle, wenn an der obersten Stelle ein nicht beeinflußbarer, diktatorischer Autokrat steht, und wenn der Leiter der Kanzlei keinen besonderen Ehrgeiz und keine besonderen Fähigkeiten besitzt.

Die langen Monate der Verhandlungen in diesem Saale haben gezeigt, welche der beiden Alternativen die wahrscheinlichere ist. Daß nach unten hin auch bei der zweiten Alternative der Leiter der Kanzlei als einflußreich erscheint, weil eben alles durch seine Hand geht, weil jeder Tadel für die Untergebenen diese Stelle passiert und weil dort zur Berichterstattung alle Fehler erscheinen müssen, die draußen im Lande bei den anderen Mitarbeitern aufgetreten sind. Diese Mitarbeiter und Untergebenen, wie hoch sie auch immer im Range gestanden haben mögen, die zum Teil sogar den Leiter der Parteikanzlei gefürchtet haben mögen, vielleicht aus Gründen, die nur in ihrer Person und ihren Mißgriffen gelegen haben, diese Menschen sind nicht geeignet, uns darüber aufzuklären, welche der beiden aufgezeigten Alternativen die richtige ist. Solange nicht Bormann selbst erscheint und gehört werden kann, ist daher die wahre Rolle Bormanns immer von Zwielicht umwittert. Niemand, auch das Hohe Gericht nicht, wird ein sicheres Urteil fällen können. Der Gesamtsachverhalt bleibt zweifelhaft.

Er bleibt aber auch in allen Einzelfällen zweifelhaft. Ich will dies hier nur an einigen wenigen Beispielen erörtern.

Mein geschätzter Mitverteidiger, Herr Dr. Thoma, hat darüber Ausführungen gemacht, daß Bormann den Angeklagten Rosenberg gehindert habe, seine Politik zu verfolgen. Er hat sich dafür auf das Memorandum Dr. Markulls, vorgelegt als R-36, bezogen. Dieses Schreiben aber ist nichts als eine Glosse über ein unbekanntes, nicht vorliegendes Bormann-Schreiben.

Markull erklärt, expressis verbis, daß er die Formulierungen Bormanns in die Sprache eines einfachen Angehörigen der deutschen Zivilverwaltung übersetzte und sie zugespitzt darstellte. Nur Bormann könnte daher in diesem Falle uns aufklären, ob er sein Schreiben überhaupt so verstanden haben wollte, ob nicht Markull Sinn und Geist des Bormannschen Schreibens verdreht hat, und nur Barmann könnte uns Aufschluß darüber geben, ob nicht dieses Schreiben, wie fast alle Bormann-Dokumente, die unterbreitet worden sind, lediglich die Äußerungen eines anderen Reichsleiters oder Hitlers weitergegeben hat. So erscheint also gerade auch dieser Fall völlig zweifelhaft. Eine Aufklärung wird kaum zu erwarten sein.

Ferner muß darauf hingewiesen werden, daß fast alle Dokumente, die die Anklagebehörde in ihr Dokumentenbuch aufgenommen hat, in der Regel reine Wiedergaben und Veröffentlichungen eines Hitler-Erlasses oder einer Hitler-Anordnung darstellen. Bormann hat diese Anordnungen an die untergeordneten Stellen mit Begleitschreiben weitergeleitet, damit diese Stellen als Betroffene davon Kenntnis nehmen konnten. Dies ist eine Tätigkeit, die büromäßig auch in der schlimmsten Tyrannei, in der verwerflichsten Willkürherrschaft vollzogen werden muß. Um wieviel mehr in einem modernen Staatsgebilde, das auch das nationalsozialistische Reich gewesen ist. Irgendein Mann muß alle Anordnungen und Befehle an die untergebenen Stellen weiterleiten. Das ist eine ausschließlich formale Tätigkeit, sie könnte ebensogut von einem schlichten Kanzleidiener wie von einem glänzenden Reichsleiter vollzogen werden.

Aus der büromäßigen Weitergabe solcher Anordnungen – ich nenne als Beispiele die Dokumente 069-PS, 1950-PS, 656-PS, 058-PS, 205-PS –, ja, selbst das berüchtigte Dokument 057-PS kann nur als die Weiterleitung einer Hitlerschen Weisung und Auslassung erkannt werden. Aus einer solchen Art von Weitergabe kann niemand den Schluß ziehen, daß der Weiterleitende einen Einfluß auf die Erlasse, Befehle und Entscheidungen gehabt hat. Es ist möglich, aber es ist nicht mit Sicherheit erwiesen.

Diese Frage des Einflusses müßte aber vor einem Urteil völlig geklärt sein. Denn selbst wenn in der kanzleimäßigen Weitergabe eines Befehls eine Schuld gefunden werden könnte – wobei man dann schließlich zur Verurteilung selbst der Frauen käme, die solche Befehle mit der Schreibmaschine geschrieben haben –, so wäre vor dem Spruch der Gerechtigkeit bei solcher Aktenerledigung von Befehlen die Höhe und Schwere der Strafe sehr verschieden von der zu beurteilen, die den Mann treffen müßte, der solche Befehle und Entscheidungen als Maßgebender mit verursacht und durch seinen Einfluß und Rat bei dem Staatsoberhaupt herbeigeführt hat. All dies ist bei Bormann nicht geklärt, ist und bleibt zweifelhaft. Das leere Wort der Mitangeklagten, deren Motive nie völlig enthüllt werden können, das Wort von einem großen, ja sogar diabolischen Einfluß Bormanns, ist kein Beweis.

Wieder andere Dokumente des Anklagebuches erweisen nur, daß Bormann, entsprechend der Verordnung vom 29. Mai 1941, 2099-PS, und der Verordnung vom 24. Januar 1942, 2100-PS, den Schriftverkehr zwischen den einzelnen Reichsleitern vermittelt und deren Wünsche und Anregungen weitergeleitet hat. Ich bezeichne als Beispiel die Dokumente 056-PS, 072-PS, 061-PS, 205-PS, 656-PS. Niemand kann aus dieser Vermittlertätigkeit, die büromäßig notwendig war, mit Sicherheit auf die Größe und wahre Natur eines Einflusses Bormanns schließen.

Weitere Dokumente zeigen, daß Bormann sehr häufig als bloßer Stenograph gedient hat, indem er bei Besprechungen Hitlers mit einigen der Angeklagten die erforderlichen Aufzeichnungen gemacht hat. Dies erweist das Dokument L-221 über die Ostraum-Annektion und das russische Dokument USSR-172.

Solche Dokumente klären jedenfalls nicht, ob und in welcher Weise Bormann bei solchen Sitzungen die Politik und die Maßnahmen des Dritten Reiches beeinflußt hat. Ein Stenograph ist nach aller Regel ohne jeden Einfluß. Er übt nur eine automatische Tätigkeit aus.

Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Es liegt mir ferne, abzustreiten, daß Bormann eine größere Stellung innerhalb der Führung des Dritten Reiches besessen hat. Es ist aber keine Klarheit in diesem Verfahren darüber gewonnen worden, welches wirkliche Gewicht Bormann in die Waagschale zu werfen hatte oder wie weit seine Bedeutung von dem bösen Gewissen Dritter vergrößert und vergröbert worden ist und endlich, worin eigentlich sein Einfluß bestanden hat. Erklärungen der übrigen Angeklagten, die zu ihrer eigenen Verteidigung gemacht worden sind, sind keine anerkennenswerten Beweismittel. Das Dokumentenbuch der Staatsanwaltschaft enthält jedoch fast nur Dokumente, wie ich sie eben erst näher beleuchtet habe.

Mit aller Exaktheit hat Bormann immer nur das getan, was eben in Deutschland als Gesetz gültig gewesen ist. Das ergaben die von mir vorgelegten Dokumente, zum Beispiel Bormann-Exhibit Nummer 2, 3, 5, 7, in denen er mehrfach Parteidienststellen darauf hingewiesen hat, daß irgendwelches illegale Vorgehen gegen Juden nicht erlaubt sei.

Es ist kennzeichnend für den Fall Bormann, daß ihm selbst Maßnahmen gegen die Juden nicht nachgewiesen sind. Immer nur hat er solche Anordnungen weitergegeben, zur Kenntnis gebracht oder sonst veröffentlicht, wie dies durch die Gesetze vorgeschrieben war und wie sich dies aus seiner Stellung als Parteisekretär büromäßig ergeben hat. Selbst die große Besprechung vom 12. November 1938, die unter dem Vorsitz Herrn Görings stattgefunden hat und aus der eine Reihe von Gesetzen gegen die Juden hervorgegangen ist, ist mit Bormanns Person nur soweit verknüpft, daß eben Bormann an Herrn Göring die Hitlersche Anordnung zur Abhaltung einer solchen Besprechung weitergegeben hat. Welchen Einfluß Bormann in diesen Fragen selbst genommen hat, ist jedenfalls überhaupt nicht geklärt. Wie aber soll ein gerechtes Gericht zu einem Urteil über die Höhe einer angemessenen Strafe kommen, wenn der Anteil, wenn die Mitwirkung eines einzelnen Angeklagten an einer Tat nicht geklärt ist? Niemand kann dann sagen, daß der Sachverhalt keinem Zweifel unterliegt.

Durch das Dokumentenbuch der Anklagebehörde erscheint für die erste Überlegung am sichersten erwiesen zu sein, daß Bormann einer der Eifrigsten im Kampfe gegen die christlichen Kirchen gewesen ist. Hiefür hat der Trial-Brief auch die meisten Dokumente zitiert. Es ist sicherlich richtig, daß Bormann philosophisch und haltungsmäßig ein heftiger Gegner der christlichen Lehre gewesen ist. Allein eine solche geistige Haltung ist weder eine Schuld noch gar ein Verbrechen vor der Gesamtheit der Menschheit, die so vielen verschiedenen Anschauungen über die Welt und die höheren Verknüpfungen huldigt und vielleicht noch viele erzeugen wird.

In der modernen Zeit leben zahlreiche überzeugte Atheisten. Auch in anderen Staaten des Erdkreises gibt es erlaubte Organisationen, die gegen die christliche Form der Weltdeutung ankämpfen, und es hat an der Wende unseres Jahrhunderts große Vereine in vielen Ländern gegeben, die den reinen Materialismus als philosophisches System und die Verneinung seelischer Tatbestände offen auf ihr Panier geschrieben hatten. Es wird niemand deswegen dafür bestraft werden können, weil er die Lehrsätze seiner Weltanschauung Dritten beibringen und Dritte zu seinem Standpunkt bekehren möchte. Die moderne Welt kennt noch den Schauder vor der Inquisition.

Bormann könnte daher nur bestraft werden, wenn ihm die Teilnahme an einer echten religiösen Verfolgung und nicht nur an einem weltanschaulichen Kampfe nachgewiesen wäre.

Die beiden bedeutendsten Beweisdokumente, die die Staatsanwaltschaft gegen Bormann vorgebracht hat, nämlich die Dokumente D-75 und 098-PS zeigen meiner Ansicht nach nicht, daß der Angeklagte Martin Bormann gegen die Kirche als religiöse Institution herrschaftsmäßig etwas unternommen hat.

Die Quintessenz des Dokuments D-75 findet sich in dem Satz: Es sei aus der Unvereinbarkeit nationalsozialistischer und christlicher Anschauungen zu folgern, daß eine Stärkung bestehender und jede Förderung entstehender christlicher Konfessionen von der Partei abzulehnen sei. Unerheblich ist es, aus welchen zwingenden Begründungen heraus Bormann zu einer solchen Schlußtendenz seines Schreibens kommt. Daß die Unterlassung einer Stärkung einer philosophisch bekämpften religiösen Anschauung keine religiöse Verfolgung darstellt, braucht nicht erst erörtert zu werden. Niemand ist verpflichtet, eine religiöse Anschauung zu bestärken. Es ist nicht erlaubt, sein Augenmerk nur auf erregte Begründungen dafür, daß die Bestärkung einer Religion unterlassen werden solle, zu richten und die Schlußfolgerung solcher Überlegungen außer acht zu lassen.

Dabei ist weiter wichtig, daß dieses Dokument nur in einer Kopie zu uns gekommen ist, die ein protestantischer Priester, namens Eichholz, sich selbst angefertigt hat. Ob daher der Inhalt der Bormannschen Ausführungen durch das Dokument völlig richtig wiedergegeben wird, ist überhaupt nicht erwiesen. In dieser Form stellt das Dokument jedenfalls keinen echten Beweis dar.

Das Dokument 098-PS, das als echt anerkannt werden kann, enthält wohl eine sehr scharfe Stellungnahme Bormanns gegen die Kirchen, es endet aber – und das allein dürfte das Urteil prüfen – damit, daß es ausspricht, es dürfte keinem nationalsozialistischen Lehrer die Erteilung des christlichen Religionsunterrichts zum Vorwurf gemacht, und es müßte sogar in einem solchen Falle die Bibel im unverfälschten Text verwendet werden. Jede Umdeutung, Auslegung oder Auseinandertrennung des Textes der Bibel sei zu unterlassen. Bormann stellt sich also trotz seines vorhergegangenen philosophischen Angriffs auf die Kirche damit auf den gesetzlichen Standpunkt, daß die christliche Lehre unbehindert verbreitet werden dürfe. Könnte einem so starken Gegner einer Lehre eine loyalere Haltung zugemutet werden?

Auch die übrigen Beweisdokumente offenbaren keine wirklichen Verfolgungsmaßnahmen. Daß Barmann die Aufnahme von Priestern oder von Mitgliedern gewisser religiöser Vereine in die Partei auf einen Befehl Hitlers hin untersagt hat, daß er auf Befehl Hitlers es verboten hat, Priester in leitende Stellungen in der Partei zum Zwecke der Verhütung von Zwistigkeiten zu berufen, ist keine Religionsverfolgung. Daß er im Kriege verlangt hat, die Kirche müsse die gleichen geldlichen Opfer bringen wie die übrigen staatlichen Institutionen, stellt keine verbrecherische Maßnahme aus religiösen Gründen dar. Daß er im Rahmen der Schließung vieler weltlicher Lehrinstitute, die erfolgen sollte, um die Menschenreserve der Nation besser auszunützen, auch die Schließung kirchlicher Institute betrieben hat, daß er im Rahmen der Beschränkung der Auflageziffern und des Seitenumfanges weltlicher Zeitschriften auch kirchliche Zeitschriften beschränkt sehen wollte, fällt nicht unter Paragraph 6 c des Statuts.

Es ist richtig, daß er sich hier unter anderem auch von seiner antikirchlichen Einstellung hat leiten lassen. Wenn aber auch sonst in Deutschland gegen andere Institutionen und andere Zeitschriften die gleichen Maßnahmen ergriffen worden sind, Maßnahmen, die als Kriegsmaßnahmen nur vorübergehend sein sollten, so kann im eigentlichen Sinne von einer religiösen Verfolgung nicht die Rede sein. Daß Bormann die Verfolgung von Priestern auch nur mit veranlaßt hätte, ist überhaupt nicht vorgetragen und erwiesen worden.

Alle Dokumente ergeben, daß Bormann sich immer an die Bestimmungen, die rechtswirksam waren, gehalten hat, so daß sicherlich er, der so eifrig auf die Einhaltung Hitlerscher Befehle bedacht war, den Stopperlaß Hitlers auf das bestimmteste beachtet hat, der zu Anfang des Krieges angeordnet hatte, daß alle Maßnahmen gegen die Kirchen einzustellen seien.

Es kann also abschließend gesagt werden, daß auf diesem Gebiete, trotz der vielen vorgelegten Dokumente, eine wirkliche Klarheit nicht gewonnen werden konnte. Dokumente allein sind nicht ausreichend, den Sachverhalt jedem Zweifel zu entziehen. Insbesondere in Bezug auf die Bedeutung und das Schwergewicht der Bormannschen Beteiligung an kirchenverfolgerischen Maßnahmen erscheint die persönliche Verantwortung Bormanns als notwendig. So bleibt auch dieser Tatbestand in ein gewisses Dunkel gehüllt. Die Grundlage für eine gerechte Beurteilung der Strafhöhe kann nicht gewonnen werden.

Ich will die Zeit des Hohen Gerichts nicht mit der Aufweisung von weiteren Einzelheiten in Anspruch nehmen. Ich glaube, die Hinweise, die ich jetzt gegeben habe, sind genügend, um zu beleuchten, daß selbst die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Dokumente jedenfalls nur das eine mit Sicherheit beweisen, daß Bormann, »wie das Gesetz es befahl«, als Leiter der Parteikanzlei in den büromäßigen, sekretärmäßigen Verkehr zwischen der Spitze des Reiches und den untergeordneten Stellen und in den Verkehr zwischen diesen untergeordneten Stellen eingeschaltet war.

Alles andere sind Vermutungen, die nicht völlig klar erwiesen sind, jedenfalls nicht mit der Zweifellosigkeit, die dar Gerechtigkeit erforderlich erscheinen muß, um ein Urteil in Abwesenheit und ohne Anhören des Angeklagten – auch der Höhe der Strafe nach – fällen zu können. Um die Gestalt Bormanns, sein Wirken und sein Fortleben, hat sich leider schon die Legende gesponnen. Legenden aber sind für den nüchternen Blick des Juristen keine vollgültigen Grundlagen für ein sicheres, zweifelfreies Urteil.

Angesichts des vom Statut in der Rechtsgeschichte aller Zeiten und Völker geschaffenen Novums, über einen abwesenden Angeklagten ein endgültiges und irreversibles Urteil fällen zu lassen, bitte ich daher das Hohe Gericht, jetzt noch einmal sein Recht, ein solches Verfahren durchzuführen, nur unter Beachtung der bisherigen Rechtsanschauung wahrzunehmen und insbesondere bei der Prüfung die Voraussetzungen zu erwägen, die das russische Recht in einer besonders exakten Weise ausgedrückt hat.

Ich beantrage daher ausdrücklich, das Hohe Gericht möge beschließen, entweder das Verfahren gegen Bormann wegen erwiesenen Todes einzustellen oder das Verfahren gegen den Angeklagten Bormann bis zur Ermöglichung seiner persönlichen Einvernahme und seiner persönlichen Rechtfertigung abzusetzen und von der Ausübung seines Rechtes nach Paragraph 12 abzusehen.

VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Kubuschok für den Angeklagten von Papen auf.

DR. EGON KUBUSCHOK, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON PAPEN, VERTEIDIGER FÜR DIE REICHSREGIERUNG: Ehe ich mit meiner Schlußansprache beginne, würde ich gern dem Gericht einige beantwortete Fragebogen überreichen, die inzwischen eingegangen sind und zum Teil bereits übersetzt sind. Da ich in der Schlußansprache darauf Bezug nehme, würde ich sie gerne schon zu dem jetzigen Zeitpunkt überreichen.

VORSITZENDER: Ja, Dr. Kubuschok.

DR. KUBUSCHOK: Ich überreiche zunächst den beantworteten Fragebogen des Zeugen Tschirschky als Dokument Nummer 103. Ich überreiche sofort ein Exemplar, meine Herren Richter, in englisch und französisch.

Ich darf bei der Gelegenheit vielleicht das Gericht aufmerksam machen, daß Tschirschky derjenige Sekretär des Angeklagten von Papen war, der in Wien seinerzeit nach Berlin zur Gestapo berufen war und dann nach England emigrierte, wo er jetzt wohl die englische Staatsangehörigkeit erlangt hat. Der Schriftwechsel um diesen Fall Tschirschky war Gegenstand des Kreuzverhörs. Der Zeuge hat sich zu den sehr zahlreichen Fragen, die die Vizekanzlerschaft Papens und seine Wiener Tätigkeit umfassen, eingehend und in sämtlichen Fällen bejahend geäußert.

Das Gericht legt wohl nicht Wert darauf, daß ich hier im einzelnen diese Fragen noch erörtere. Es sieht sie ja aus den überreichten Exemplaren. Vielleicht kann ich aus Frage 1 den letzten Absatz verlesen:

»Über sein Verhältnis zur NSDAP kann ich aussagen, daß von Papen in der Zeit, während ich mit ihm zusammengearbeitet habe, in jeder Beziehung ein negatives und ablehnendes, ja feindliches Verhältnis zeigte.«

Nicht unwichtig erscheint mir die Beantwortung der Frage 2, die die Sicherungen, betrifft, die bei der Regierungsgründung vom 30. Januar...

VORSITZENDER: Dr. Kubuschok! Der Gerichtshof wünscht nicht, daß der Fragebogen zweimal kommentiert wird.

Wenn Sie in Ihrem Plädoyer darauf Bezug nehmen wollen, dann können Sie das tun. Sie kommentieren aber jetzt, während Sie die Fragebogen einreichen und vermutlich werden Sie später nochmals in Ihrem Plädoyer darüber Bemerkungen machen.

DR. KUBUSCHOK: Herr Präsident! Ich verweise in meinem Plädoyer nur ganz kurz auf die speziellen Fragen, die hier im Fragebogen beantwortet sind; im übrigen werfe ich diese im Plädoyer nicht mehr auf. Ich ziehe im Plädoyer nur das Resumé aus den beantworteten Fragen, behandle die Fragen selbst aber nicht mehr.

VORSITZENDER: Dr. Kubuschok! Der Gerichtshof ist der Meinung, daß es am richtigsten wäre, wenn Sie diese Fragebogen jetzt einreichen. Wenn Sie sie dann in Ihrem Plädoyer behandeln, dann können Sie sich auf jede Stelle beziehen, auf die Sie sich beziehen wollen.

DR. KUBUSCHOK: Ja, meine Bezugnahme in der Ausarbeitung ist nur ganz kurz und besteht noch nicht einmal in einem Satz. Nebenbei erwähnt...

VORSITZENDER: Wenn Sie dazu kommen...

DR. KUBUSCHOK: Soll ich das denn vorlesen?

VORSITZENDER: Ja.

DR. KUBUSCHOK: Ich habe also überreicht dem Gericht den beantworteten Fragebogen Tschirschky als Dokument 103, dann weiterhin den beantworteten Fragebogen des Erzbischofs Groeber als Dokument 104.

Groeber betrifft das Zustandekommen des Konkordats.

Ich überreiche weiterhin den Fragebogen des Erzbischofs Roncalli als Dokument 105 und schließlich den Fragebogen des Polnischen Gesandten Jan Gawronski als Dokument 106. Das sind diejenigen Dokumente, die ich übersetzt erhalten habe. Darüber hinaus möchte ich bitten, daß das Gericht mir ein weiteres Dokument genehmigt, das ich trotz aller Bemühungen bisher noch nicht habe übersetzt bekommen. Es handelt sich dabei um ein Affidavit eines Auslandsjournalisten Rademacher von Unna. Dieser hat meinem Kollegen Dr. Dix in einem Brief vom 29. Mai 1946, der vor etwa drei Wochen hier eingegangen ist, ein Affidavit für Papen übersandt. Aus diesem Affidavit interessiert in der Hauptsache ein Absatz. Ich wäre dem Gericht dankbar, wenn ich diesen Absatz in das Mikrophon verlesen könnte, damit sich das Gericht ein Bild darüber machen kann, ob dieses Affidavit beweiserheblich ist oder nicht, und zutreffendenfalls mir dieses Dokument genehmigt. Ich würde dann das Original einreichen und die Übersetzung nach Fertigstellung nachreichen.

VORSITZENDER: Sie haben es der Anklagebehörde noch nicht vorgelegt. Nicht wahr?

DR. KUBUSCHOK: Ich hatte es seinerzeit im deutschen Text vorgelegt, aber es ist jetzt im ganzen zwei Wochen in der Übersetzungsabteilung liegengeblieben. Ich habe es bis zum heutigen Tage nicht bekommen können. Ich hatte das Dokument bei der letzten Beweisverhandlung bereits schon einmal erwähnt, und es wurde mir vom Gericht aus gesagt, ich möchte es dann gelegentlich vorlegen, wenn die Sache zur Sprache kommt.

VORSITZENDER: Ist es lang?

DR. KUBUSCHOK: Es ist nicht lang. Das Dokument besteht aus eineinhalb Seiten. Ich würde einen Absatz von nicht einmal einer halben Seite verlesen; nur dieser Absatz interessiert mich im wesentlichen.

VORSITZENDER: Hat die Anklagebehörde dagegen etwas einzuwenden?

MAJOR ELWYN JONES: Euer Lordschaft! Ich habe keine Abschrift dieses Dokuments gesehen, aber wir haben keinen prinzipiellen Einwand. Ich selbst habe das Dokument überhaupt nicht gesehen, und es ist etwas schwierig zu beurteilen, ob wir Einspruch erheben würden, falls wir Gelegenheit hätten, es zu prüfen.

VORSITZENDER: Dr. Kubuschok! Vielleicht wäre es das beste, das Dokument erst vorzulesen, und dann kann die Anklage, falls sie dagegen Einwand erhebt, den Antrag stellen, es aus dem Protokoll streichen zu lassen.

MAJOR ELWYN JONES: Ja, Euer Lordschaft! Damit ist die Anklage vollkommen einverstanden.

DR. KUBUSCHOK: Ich lese aus diesem Affidavit des Rademacher von Unna vom 29. Mai 1946, ausgestellt in Mailand, die Hälfte des vorletzten Absatzes vor. Der Aussteller des Affidavits nimmt hierbei Bezug auf eine Äußerung Papens, die wie folgt lautet:

»Er, Papen, werde sich aber von niemandem abbringen lassen, seine Mission so durchzuführen, wie er selbst sie auffasse: Vermittler und Friedensstifter zu sein, und deshalb werde er jedem die Türe weisen, der ihn in Österreich zu dunklen Zwecken mißbrauchen wolle.

In diesem Zusammenhang verdient noch erwähnt zu werden, daß ein österreichisches Regierungsmitglied, ein Staatssekretär – dessen Namen ich vergaß –, bemüht war, persönlichen, aber geheimen Kontakt mit dem deutschen Sonderbotschafter zu finden, um ihm seine Dienste für die deutsche Sache anzubieten. Herr von Papen schlug dieses Ansinnen aus mit der Begründung, daß er ablehne, sich an Konspirationen zu beteiligen, die gegen die amtliche Politik des Ballhausplatzes gerichtet seien. Er habe bisher versucht, offen und loyal mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten und einen anderen Weg werde er für seine Person nicht beschreiten.«

Erläuternd möchte ich hinzufügen, daß es sich bei dem hier erwähnten Mitglied der österreichischen Regierung um Neustädter-Stürmer handelt.

Herr Präsident, Hohes Tribunal!

Papen ist der Beteiligung an einer Verschwörung zu einem Verbrechen gegen den Frieden angeklagt. Die Anklagebehörde begrenzt die Erörterung des Tatbestandes zeitlich mit der Beendigung seiner Tätigkeit in Wien. Sie gibt zu, daß für die Folgezeit, insbesondere während seiner Botschaftertätigkeit in Ankara, sich keine Anzeichen zur Stützung der Anklage ergeben hätten. Danach soll also Papen sich zwar an den von der Anklage zeitlich so weit vorausgelegten Vorbereitungshandlungen zur Entfesselung eines Angriffskrieges beteiligt, an den unmittelbaren Vorbereitungen und dem Friedensverbrechen selbst jedoch aktiv keinen Anteil genommen haben.

Die Anklage erfaßt die Tätigkeit Papens als Reichskanzler des letzten vornazistischen Kabinetts, seine Beteiligung als Vizekanzler im Kabinett Hitler bis 30. Juni 1934 und seine Tätigkeit als außerordentlicher Gesandter in Wien. Sie sah sich vor die Aufgabe gestellt, den Nachweis zu führen, daß in diesem Zeitraum Vorbereitungshandlungen zum Friedensverbrechen objektiv vorliegen und daß Papen in klarer Erkenntnis dieser Ziele vorbereitend mitgewirkt hat. Da die Anklagepunkte ein an sich legales Betätigungsfeld erfassen und das kriminelle Element erst in Form der Zielrichtung in die einzelnen Handlungen hineingelegt werden muß, liegt die Beurteilung des Falles Papen im wesentlichen auf subjektivem Gebiet.

Die Anklage sieht sich der Tatsache gegenüber, daß die oft zutage getretene Gesinnung Papens und seine tatsächlich geführte Politik nicht in Einklang mit der von ihr gegebenen Deutung zu bringen ist. Sie greift daher zur Prämisse, daß er ein doppelzüngiger Opportunist sei, der seine wahre oder zur Schau getragene Gesinnung den Gegebenheiten des Tages und dem Willen Hitlers geopfert hätte.

Die Aufgabe der Verteidigung muß es mithin sein, eine Klarstellung seiner Persönlichkeit zu bringen, um den Nachweis zu führen, daß Papens Handlungen und Äußerungen eine einheitliche konsequente Linie darstellen und daß seine gesamte Einstellung einen Zusammenhang mit den Delikten der Charte an sich schon verbietet; daß die Zielrichtung seiner erörterten Handlungen eine andere gewesen sein muß, als sie die Anklage erkennen zu können glaubt. Die Verteidigung wird weiterhin die gesamte politische Tätigkeit Papens in ihrer Legalität darlegen, die von der Anklage für strafbar angesehenen Handlungen im Rahmen dieser Tätigkeit erfassen und schließlich den Gegenbeweis dahin führen, daß er einer politischen Entwicklung im Sinne des Anklagetatbestandes aktiv entgegengearbeitet hat.

Man wird zu einer gerechten Würdigung hierbei nur dann kommen, wenn die Erörterungen sich von der Frage der politischen Zweckmäßigkeit und Richtigkeit fernhalten und sich mit dem Politiker abfinden, wie er sich uns in seinen aus Herkommen und Tradition entwickelten Anschauungen darstellt. Ein wesentliches Element für die gerechte Beurteilung wird fernerhin die Ausschaltung derjenigen Kenntnisse sein müssen, die wir aus den späteren Jahren und über diese spätere Zeit jetzt im Prozeß erhalten haben.

Wir werden unsere Betrachtungen lediglich auf die Zeit der Handlung selbst abstellen müssen und nur dann ein klares Urteil darüber bekommen, was Papen in dieser Zeit sehen und erwarten konnte.

Die Anklage verlegt den Beginn der Beteiligung Papens an der Verschwörung auf den 1. Juni 1932, den Zeitpunkt seiner Ernennung zum Reichskanzler. Sie bleibt allerdings eine Antwort auf die Frage schuldig, aus welchen Momenten der Eintritt Papens in die angeblich bereits bestehende Verschwörervereinigung ersichtlich werden soll. Diese Antwort ist auch unmöglich zu geben. Die Tätigkeit Papens als Reichskanzler kann auch nicht im entferntesten als eine Tätigkeit im Sinne Hitlerscher Konspiration angesehen werden. Zu klar liegt der Zweck der Begründung des Kabinetts, die ganze Regierungsführung während der Kanzlerschaft und schließlich auch sein Ausscheiden aus dem Amte zutage, als daß man hier eine Förderung nazistischer Ideen, eine Wegbereitung für den Nationalsozialismus oder gar eine Beteiligung an einer angeblich bereits bestehenden Konspiration hineindeuten könnte.

Das Kabinett Papen wurde gebildet zur Zeit einer ungewöhnlichen wirtschaftlichen, politischen und parlamentarischen Depression. Ungewöhnliche Mittel waren bereits bei der vorherigen Regierung notwendig geworden. Sie sollten jetzt auf zum Teil völlig neuen Wegen fortgesetzt werden. In Zeiten ungewöhnlicher Krisen ist wohl stets eine parlamentarische Legislative eine gewisse Schwierigkeit. Der Reichstag war daher bei der Gesetzgebung bereits zu Zeiten des Brüningschen Kabinetts fast völlig ausgeschlossen und die Gesetzgebung praktisch im Wege des Notverordnungsrechts in die Hände des Reichspräsidenten gelegt worden. Man glaubte, nunmehr einen völlig neuen Weg gehen zu müssen. Ein Kabinett von parteiungebundenen Fachministern sollte diese Schwierigkeiten beheben. Die Zusammenstellung des Kabinetts war daher bewußt ohne Mitwirkung der Parteien erfolgt. Die Aufgaben, vor die sich die neue Regierung gestellt sah, das sich aus den Zeitverhältnissen notwendig ergebende Programm, mußte zwangsläufig eine Abwehrstellung gegen den Nationalsozialismus mit sich bringen. Wollte man die Wurzeln der Depression erfassen, so mußte damit die Regierungspolitik die Wurzeln für das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung bekämpfen. Diese lagen in der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche und außenpolitische Lage.

Andererseits aber war an eine ruhige und gedeihliche Aufbauarbeit nur dann zu denken, wenn man irgendwie mit der Nationalsozialistischen Partei einen Modus vivendi fand. Die Partei hatte nicht nur rein verfassungsrechtlich im Parlament die Möglichkeit, praktisch jede Regierungstätigkeit zu lahmen, sie bot mit ihren propagandistischen Einwirkungsmöglichkeiten auf die breite Masse allein den Schlüssel für eine mögliche Beruhigung der innerpolitischen Verhältnisse, die erste Voraussetzung für die Inangriffnahme weittragender wirtschaftlicher Maßnahmen.

Vor diese Lage sah sich Papen gestellt, als er ohne sein Zutun und für ihn überraschend in den letzten Maitagen 1932 von Hindenburg den Auftrag zur Bildung eines Präsidialkabinetts erhielt.

Aus seiner Regierungstätigkeit beschränke ich mich in Abwehr der Anklage auf folgende Einzelheiten:

Die Regierungsbildung vom 1. Juni 1932 erfolgte entgegen bisherigen parlamentarischen Brauches ohne vorherige Fühlungnahme mit der Nationalsozialistischen Partei.

Es wurden bahnbrechende neue Wirtschaftsgesetze mit einem bisher noch nicht gekannten finanziellen Einsatz erlassen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, und damit zugleich das bisher unversiegbare Reservoir für ein Anwachsen der Nationalsozialistischen Partei zu beseitigen. Der Zweck der neuen wirtschaftlichen Maßnahmen und die begrenzten finanziellen Möglichkeiten bedingt eine zeitlich weite Ausdehnung des Rahmens dieser Gesetze. Der Arbeitsmarkt sollte durch Mittel belebt werden, die sich aus Einsparungen öffentlicher Lasten in der Zukunft bei Erfolg der Maßnahmen ergeben sollten. Die Wirtschaftsgesetze beruhten lediglich auf dieser Ausschöpfung finanzieller Möglichkeiten. Man griff bewußt nicht zu dem Mittel unproduktiver öffentlicher Arbeiten oder einer Belebung des Arbeitsmarktes durch Rüstungsaufträge. Diese Wirtschaftsmaßnahmen auf lange Sicht, die nur im Falle einer kontinuierlichen Regierungspolitik Erfolg haben konnten, machten das Problem der Tolerierung durch den Reichstag besonders dringlich.

Außenpolitisch setzt Papen den Kurs der Brüningschen Regierung fort, unter besonderer Hervorhebung der Ehrenpunkte, deren Anerkennung den Vertragsgegnern keinen Schaden gebracht, der Nationalsozialistischen Partei aber ihr werbekräftiges Propagandamittel für die Beeinflussung der großen Masse genommen hätte. Auf der Lausanner Konferenz legt Papen offen die deutsche innerpolitische Lage klar. Er weist darauf hin, daß es sich in der Substanz nur um ideelle Punkte handelt, deren Versagung den Nationalsozialisten den von ihnen gewünschten Auftrieb geben würde. Er betont ausdrücklich, daß seine Bemühungen der letzte Versuch eines bürgerlichen Kabinetts seien, und daß bei einem Scheitern seiner Politik nur der Nationalsozialismus der Nutznießer sein würde.

Papen strebte eine Mitverantwortung der Nationalsozialistischen Partei an, ohne ihr die Schlüsselstellung des Reichskanzlerpostens anvertrauen zu wollen, eine Mitverantwortung, die eine Partei der negativen Politik zu einem Anerkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten gebracht und damit die zugkräftige demagogische Propaganda ausgeschlossen hätte.

Diese ersten Versuche Papens, eine Eingliederung der nationalsozialistischen Bewegung in die Regierungsarbeit herbeizuführen, wird von der Anklage bereits als eine Wegbereitung für den Nationalsozialismus angesehen.

Tatsächlich ist dies aber doch nichts anderes als ein Versuch, überhaupt eine Grundlage für eine praktische Regierungsarbeit zu finden, ein Versuch, der die Erfahrungen des Brüningschen Kabinetts und die Entwicklung der Nationalsozialistischen Partei in Rechnung stellen mußte. Man konnte an der Tatsache nicht vorübergehen, daß bereits die Reichspräsidentenwahl im März 1932 Hitler 36,8 Prozent aller Stimmen gebracht hatte. Berücksichtigt man, daß Hindenburg Gegenkandidat war und die Persönlichkeit Hindenburgs bestimmt recht viele Anhänger der NSDAP veranlaßt hatte, in diesem speziellen Falle nicht den Parteirichtlinien gemäß ihre Stimme abzugeben, so ergibt sich die Tatsache, daß eine vorher kaum gekannte, zahlenmäßig alle anderen Parteien bei weitem überwiegende Oppositionspartei bestand, deren gegnerische Einstellung jegliche Regierungsarbeit von vornherein lahmzulegen imstande war. Es ergibt sich daher die Selbstverständlichkeit für Papen, den Versuch zu machen, diese Partei aus der Oppositionsstellung herauszubringen. Dieser Entschluß wird um so leichter, wenn die klare Überzeugung besteht, daß eine Mitverantwortung an der Regierung den radikalen Kurs der Oppositionspartei nehmen und sie insbesondere in ihrer weiteren Entwicklung erheblich eindämmen würde.

Die beste Beurteilung für die Regierungstätigkeit Papens vom Standpunkt der Nationalsozialisten aus betrachtet, ergibt sich aus der Tatsache, daß es die Nationalsozialistische Partei war, die der entscheidenden Wirtschaftsgesetzgebung Papens widersprach und mit ihrem – im Bunde mit der Kommunistischen Partei – ausgesprochenen Mißtrauensvotum das Ende des Kabinetts Papen herbeiführte.

Die nachherigen Verhandlungen des noch geschäftsführenden Reichskanzlers, insbesondere die Ereignisse des 1. und 2. Dezember 1932 zeigen erneut seine eindeutige Stellung zur NSDAP.

Papen schlägt Hindenburg einen Verfassungsbruch vor. Er will das letzte Mittel zur Vermeidung einer Hitlerschen Kanzlerschaft erschöpfen. Schleicher verhindert diese Lösung mit der Begründung, daß bei einem dann ausbrechenden Bürgerkrieg die Regierung mit den vorhandenen polizeilichen und militärischen Kräften nicht Herr der Lage bleiben werde.

Gegenüber diesen klaren historischen Ereignissen muß es ein erfolgloser Versuch der Anklage bleiben, das Gegenteil in die Tatsachen und die klar erkennbaren eindeutigen Motive hineinzulegen.

Was sind denn die Punkte, die die Anklage glaubt demgegenüber ins Feld führen zu können?

Einmal, daß Papen bei seiner ersten Verhandlung mit Hitler einige Zeit nach seiner Regierungsbildung die Aufhebung des Uniformverbots bewilligt hat, eine Maßnahme, die selbst, wenn sie lediglich als politisches Kompensationsgeschäft zur Erreichung der Tolerierung des Kabinetts getroffen worden wäre, nach parlamentarischen Regeln etwas sehr Natürliches ist. Die NSDAP war nicht nur die stärkste Partei im Reichstage, sondern insbesondere auch durch ihre allgemein politische Wirksamkeit im öffentlichen Leben ein Machtfaktor erster Ordnung. Sie durfte daher nicht von vornherein in eine Oppositionsstellung getrieben werden, wenn man überhaupt beabsichtigte, eine reale Politik auf die Dauer zu führen und ernstlich durch ein umwälzendes Wirtschaftsprogramm der Notlage Herr zu werden.

Die Aufhebung des Uniformverbotes trug im übrigen eine innere Begründung deswegen in sich, weil es ein einseitiges Verbot gegen eine Partei war; weil die gegnerischen Verbände insoweit nicht beschränkt waren und die Anerkennung des Gesetzes einer paritätischen Behandlung hier nur gefährlichen Propagandastoff nehmen konnte. Die Aufhebung des Uniformverbotes war auch keineswegs die Ankündigung eines Freibriefes für politische Gewaltakte. Die mit Erlaß der Verordnung verkündete Warnung des Reichspräsidenten, daß daraus resultierende Gewalttätigkeiten sofort ein Verbot der Organisation als solche zur Folge haben würde, mußte nach vernünftigem Ermessen nachteilige Auswirkungen vermeiden lassen.

Es ist eine völlig den Tatsachen widersprechende Behauptung der Anklage, daß die Aufhebung des Uniformverbotes die hauptsächliche Ursache für ein Anwachsen der nationalsozialistischen Mandate bei den Juliwahlen gewesen sei. Ich verweise hier auf das bereits erwähnte Ergebnis der Reichspräsidentenwahl vom März 1932, bei der die wirkliche Lage infolge der Gegenkandidatur Hindenburgs noch nicht einmal zur Gänze in Erscheinung trat. Die Wahl vom 21. Juli 1932 erbrachte 13700000 nationalsozialistische Stimmen, während bereits in der Reichspräsidentenwahl vom 10. März 1932 Hitler 13 400000 Stimmen auf sich vereinigt hatte. Es ist eine durch nichts begründete Annahme, daß das Erscheinen der Uniformen, die früher übrigens auch während der Verbotszeit durch eine getarnte Einheitskleidung ersetzt waren, irgendwie einen bestimmenden Einfluß auf den Ausgang der Wahlen gehabt haben konnte.

Viel wichtiger und negativ maßgeblicher für den Ausgang der Wahlen war sicherlich das zu Beginn des Wahlkampfes von der Regierung Papen verkündete allgemeine Demonstrationsverbot. Volksversammlungen und Demonstrationen sind für eine demagogisch geführte Partei das wichtigste Hilfsmittel. Dieses vor der Wahl zu verlieren, war für die NSDAP zweifellos ein viel größeres Minus als ein vorheriges Plus in Gestalt der Erlaubnis des Uniformtragens.

Die Anklage sieht in dem Brief Papens vom 13. November 1932, in dem Papen Hitler zur Beteiligung an der Regierung abermals zu bestimmen versucht, ein in der Form unwürdiges, sachlich zu verurteilendes Bemühen, dem Nationalsozialismus den Weg zur Macht zu ebnen. Sie vergißt, daß Papen die Novemberwahlen in scharfer Opposition gegen die NSDAP geführt hat, weil er die Partei aus der Schlüsselstellung zu entfernen versuchte, in der keine Mehrheitsbildung von den Sozialdemokraten einschließlich bis zur äußersten Rechten ohne Hitler zahlenmäßig möglich war. Sie vergißt, daß dieses Resultat nicht erreicht worden war, daß die Schlüsselstellung auch mit 196 Sitzen Hitler verblieb und daß es deshalb nötig war, noch einmal den Versuch zu machen, Hitler für ein Präsidialkabinett unter irgendeinem bürgerlichen Kanzler zu gewinnen. Sie übersieht hierbei, daß die Vorschläge Papens auch hier wieder als festen Grenzpunkt die Ausschließung der NSDAP von der Reichskanzlerschaft haben. Für den Nationalsozialismus hätte ein Kabinett unter der Kanzlerschaft eines bürgerlichen Politikers, der nach der Verfassung die Richtlinien der Politik zu bestimmen gehabt hätte, lediglich den Einfluß auf dies oder jenes Ressort gebracht, dafür aber durch die Mitbeteiligung an der Regierung auch die Mitverantwortung zur Folge gehabt. Man hätte auch, rückwirkend gesehen, vom Standpunkt der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nichts eifriger begrüßen können, als eine derartige, einflußbeschränkte, mitverantwortliche Tätigkeit der Partei an der Regierung. Das Ende einer propagandistisch so ungeheuer günstigen Oppositionspolitik hätte zweifellos das Ende des Anwachsens der nationalsozialistischen Bewegung und die Abkehr ihrer radikalen Elemente zuwege gebracht.

Die äußere höfliche Form des Briefes war eine amtliche Pflicht des Reichskanzlers gegenüber dem Führer der stärksten Parlamentspartei. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß bei dieser Form und dem Zweck des Briefes seitens des Schreibers nicht nur auf die negativen Punkte hingewiesen wird, sondern auf das Positive, das geeignet war, in eine Regierungsmitarbeit eingespannt zu werden.

Um nun wirklich aus der Reichskanzlerzeit Papens wenigstens einen Anhaltspunkt für eine Ideengemeinschaft mit dem Nationalsozialismus konstruieren zu können, hat die Anklage der zeitweisen Ausschaltung der Preußenregierung durch die Verordnung vom 20. Juli 1932 Absichten unterstellt, die in keiner Weise einer sachlichen Betrachtung der Dinge standhalten.

Der sogenannte »Staatsstreich vom 20. Juli«, wie die Anklage die Durchführung der Verordnung vom 20. Juli 1932 bezeichnet, hat mit einer Förderung der Nationalsozialisten nicht das geringste zu tun. Nach Anschauung des Reichskabinetts und der entscheidenden Beurteilung des Reichspräsidenten von Hindenburg, lag die innerpolitische Notwendigkeit vor, eine fortlaufend offen zutage tretende Duldung kommunistischer Gewaltakte durch die im Amte befindliche Preußenregierung auszuschließen. Hindenburg hat aus dieser Sachlage mit seiner Notverordnung vom 20. Juli 1932 die Konsequenzen gezogen. Durch das Urteil des damals noch völlig unabhängigen Reichsgerichts ist sie als verfassungsrechtlich erlaubt im Rahmen der staatspolitischen Notwendigkeiten festgestellt worden.

Wenn in Ausführung dieser Verordnung dem von seiner Tätigkeit suspendierten Innenminister die Aufforderung zum Verlassen der Diensträume auch tatsächlich durch Polizeiorgane übermittelt wurde, so wird dieser Maßnahme mit dem Worte »Staatsstreich« doch wohl eine Bedeutung zugelegt sein, die weit über das Tatsächliche hinausgeht. Auch bei Betrachtung der Auswirkungen dieser Maßnahme ist jede Annahme, daß hier dem Nationalsozialismus die Wege geebnet wurden, durch keinerlei Tatsachen gerechtfertigt. Der eingesetzte Reichskommissar Bracht gehörte dem Zentrum an. Die Schlüsselstellung des Polizeipräsidenten in Berlin wurde einem Manne anvertraut, dem die bisherige Regierung Braun vorher die Stellung eines Polizeipräsidenten in Essen eingeräumt hatte. Kurz, die Folge der Umgestaltung bestand lediglich darin, daß einmal nunmehr ein aktionsfähiges Zusammenarbeiten mit den Reichsstellen gesichert war und daß auf der anderen Seite einige politische Stellen, die bisher in einem nach den Gesichtspunkten der Parität nicht mehr gerechtfertigten Maße fast ein ausschließliches Monopol für die Sozialdemokratische Partei waren, nunmehr neu besetzt wurden. Daß man hierbei die Nationalsozialisten überging, war ein Vorwurf, der damals Papen von seiten der Nationalsozialisten immer wieder gemacht wurde.

Die gesamte Regierungszeit Papens ist somit eine klare Linie realistischer Politik, die einerseits das Ruder zur Durchführung notwendiger, insbesondere wirtschaftlicher Maßnahmen nicht aus der Hand gab, andererseits aber versuchte, eine zahlenmäßig fast überwältigende Oppositionspartei zur Mitarbeit heranzuziehen. Noch schärfer tritt die Einstellung Papens zur NSDAP in Erscheinung, nachdem er Ende November 1932 durch den Reichspräsidenten berufen war, an den Bemühungen zur Bildung einer neuen Regierung mitzuwirken. Hier ist er derjenige, der den Mut zur äußersten Konsequenz hat, der aus der Kenntnis heraus, daß die Fortführung einer nichtnationalsozialistischen Regierung nach parlamentarischen Grundsätzen unmöglich ist, dem Reichspräsidenten den Vorschlag unterbreitet, im Wege des Verfassungsbruches auch unter Gefahr eines Bürgerkrieges, mit Hilfe der bewaffneten Macht zu regieren.

So wenig ein Anhänger verfassungsrechtlichen Denkens sich mit einem derartigen Vorschlag befreunden kann, so kann rückblickend nicht verkannt werden, daß der vorgeschlagene, zeitlich beschränkte Verfassungsbruch doch wohl die einzige Möglichkeit, war, um die am 30. Januar 1933 dann zwangsläufig gewordene Lösung zu vermeiden.

Jede andere Zwischenlösung konnte kein befriedigendes Ergebnis haben. In kürzerer oder längerer Folge mußte jede nichtnationalsozialistische Regierung von der Oppositionspartei gestürzt werden. Damit wären die politischen Unruhen mit ihren Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftsleben ein latenter Zustand geworden, ein Zustand, der nur geeignet war, in seiner Wechselwirkung wieder die nationalsozialistische Bewegung zu stärken und sie also zwangsläufig zu einer zahlenmäßigen Stärke zu bringen, die am Ende die Erfüllung ihres vollständigen Totalitätsanspruches zur uneingeschränkten Machtübernahme zur Folge gehabt hätte.

Welche Rolle Papen bei der Bildung der Regierung vom 30. Januar 1933 gespielt hat, könnte an sich dahingestellt bleiben. Es genügt die Erkenntnis, daß Bemühungen, eine parlamentarische Regierung ohne Hitler herbeizuführen, schon rein zahlenmäßig unmöglich waren und eine solche parlamentarische Lösung mit Hitler an seinem Widerspruch scheiterte. Eine Maßnahme, die aus politischer und verfassungsrechtlicher Notwendigkeit geboren wurde, kann nicht nach Maßgabe der Anklage als ein Indiz für eine beabsichtigte Vorbereitung eines Verbrechens im Sinne der Charte angesehen werden. Man bedenke die Bemühungen des Anklagepunktes. Bei Innehaltung aller parlamentarischen Regeln wird von Hindenburg als Staatsoberhaupt eine Regierung berufen, deren Chef der Führer der stärksten Partei ist. Diese Regierung findet, als sie sich dem Parlament stellt, eine überwältigende Mehrheit. Das, was man Papen zum Vorwurf macht, die Kenntnis der Tätigkeit der Nationalsozialistischen Partei in der Vergangenheit, trifft auf die anderen Beteiligten, auf Hindenburg und sämtliche zustimmenden Parlamentsmitglieder im gleichen Ausmaße zu. Der gegen Papen erhobene Vorwurf beinhaltet also auch eine Anklage gegen Hindenburg selbst und das gesamte zustimmende Parlament. Schon an dieser Überlegung muß der wohl erstmalige Versuch scheitern, einen selbstverständlichen, verfassungsrechtlich begründeten Vorgang eines souveränen Staates zur Anklage zu ziehen.

Wenn ich trotzdem auf die Ereignisse vor der Regierungsbildung eingehe, so tue ich es lediglich, um auch hier die eindeutige Stellungnahme Papens klarzustellen, der sich einerseits den realen Tatsachen nicht verschließen, andererseits aber auch alles unternehmen wollte, um der Neugestaltung die Gefahr einer aus den Ufern gehenden Entwicklung zu nehmen.

Die Anklage sieht in der Zusammenkunft Hitler- Papen im Hause Schröder am 4. Januar den Beginn der Bemühungen zur Bildung der Regierung des 30. Januar. Tatsächlich war die Zusammenkunft bei Schröder nichts anderes als ein Meinungsaustausch über die augenblickliche Lage, bei der Papen und Hitler ihre bisherigen Ansichten aufrechterhielten und Papen darauf hinwies, daß Hindenburg aus seiner geäußerten Befürchtung heraus sich keinesfalls mit der Übernahme des Reichskanzlerpostens durch Hitler einverstanden erklären würde. Hitler müsse sich mit dem Vizekanzlerposten begnügen, da Hindenburg auf dem Standpunkt stehe, daß erst eine längere Bewährung die Möglichkeit für eine weitere Entwicklung geben könne.

Diese Zusammenkunft in Köln hat auf Wunsch von Hitler stattgefunden. Ich verweise hierbei auf das in der Presse veröffentlichte Kommuniqué Schröders, das ich als Verteidigungsdokument Nummer 9 überreicht habe, und von dem ich im Kreuzverhör irrtümlicherweise angegeben habe, daß es ein gemeinsames Kommuniqué Papen-Schröder sei. Schröder stellt hier fest, daß die Initiative zu dieser Zusammenkunft lediglich von ihm ausgegangen sei.

Daß diese Zusammenkunft in keiner Weise Grundlage für die Regierungsbildung des 30. Januar gewesen ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Besprechung durch Papen sofort Schleicher und Hindenburg mitgeteilt worden ist, und daß Papen in der ganzen nun folgenden Zeit bis zum 22. Januar in keiner Weise mit der Lösung der Regierungsfrage befaßt ist. Sowohl Schleicher als auch Hindenburg bemühen sich, durch Verhandlungen mit den Parteiführern eine parlamentarische Unterstützung des Kabinetts Schleicher zu erreichen, Bemühungen, die allerdings an der Macht der Tatsachen scheitern. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht die Aufsplitterung der Nationalsozialistischen Partei durch Heranziehung des Strasserschen Flügels zur Mitarbeit an der Regierung. Diese Bemühungen scheitern, als Hitler nach dem Ausgang der Lippe-Wahlen in seiner Stellung einen derartigen Auftrieb erhält, daß er die Partei gegen alle Absplitterungsversuche wieder fest in der Hand hat. Das Ergebnis der Lippe-Wahlen vom 15. Januar 1933 wurde allgemein als ein Stimmungsbarometer für die politische Lage angesehen. Sämtliche Parteien hatten ihren gesamten Organisations- und Propagandaapparat eingesetzt, und man konnte daher aus dem Ausgang dieser Wahlen einen Rückschluß auf die Gesamtstimmung ziehen. Das Ergebnis zeigte ein fast restloses Aufholen der Verluste in den Novemberwahlen. Damit war für jedermann erkenntlich, daß der Rückgang der nationalsozialistischen Bewegung gestoppt und bei Fortdauer der augenblicklichen politischen und wirtschaftlichen Lage ein weiteres Anwachsen zu befürchten war.

Die Notwendigkeit zu einer Entscheidung wurde immer dringender, als der Ältestenrat des Reichstages am 20. Januar 1933 durch seine auf den 31. Januar festgesetzte Einberufung des Reichstages dem Kabinett Schleicher praktisch nur noch eine Lebensfrist bis zu diesem Tage gab, denn ein von der Linken und der NSDAP eingebrachtes Mißtrauensvotum bedeutete seinen sofortigen Sturz. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Zusammenkunft im Hause Ribbentrop vom 22. Januar zu verstehen, als Hindenburg über seinen Sohn und den Staatssekretär der Präsidialkanzlei Dr. Meißner die Ansicht Hitlers über die politische Lage in Erfahrung bringen wollte.

Welche Rolle Meißner hierbei und überhaupt bei der Begründung der Regierung Hitler gespielt hat, läßt sich an Hand der vorliegenden Unterlagen nicht mit Sicherheit feststellen. In jedem Falle ist er als Mann der nächsten Umgebung Hindenburgs, der ja schließlich den entscheidenden Entschluß gefaßt hat, an den Dingen keinesfalls uninteressiert. Die Beurteilung seiner Persönlichkeit ist zumindest sehr unterschiedlich. In keinem Falle wird man ihn für die Beurteilung der damaligen Vorgänge wegen seines eigenen Interesses als einen klassischen Zeugen ansehen können. Seine Aussage trägt in einem Punkte bestimmt den Stempel der Unwahrscheinlichkeit. Er behauptet, daß er ein Gegner der Entscheidung Hindenburgs gewesen sei, nachdem dieser sich zur Betrauung Hitlers mit dem Reichskanzlerposten entschlossen hatte. Das sagt derselbe Mann, der in der Kabinettssitzung über das Ermächtigungsgesetz es nicht für notwendig erachtete, das Verkündungsrecht des Reichspräsidenten aufrechtzuerhalten, derselbe Mann, der offensichtlich nach den Ereignissen des 30. Juni 1934 mitgewirkt hat, Hindenburg von allen denjenigen zu isolieren, die ihm eine wahre Darstellung über die Ereignisse hätten geben können. Ich bemerke dies deswegen, weil in der Beweisverhandlung gegen Papen ein Teil eines Affidavits Meißner verlesen worden ist. Der verlesene Teil soll zwar nach der Entscheidung des Gerichts keine Urteilsgrundlage bilden, immerhin sind jedoch aus dem Affidavit Fragen im Kreuzverhör hergeleitet worden, die Veranlassung zu einer falschen Beurteilung geben könnten. Die Entscheidung des Gerichts enthebt mich der Verpflichtung, mich im übrigen des näheren mit dem Inhalt des Affidavits auseinanderzusetzen und eine Anzahl klar zu widerlegender Unrichtigkeiten aufzuzeigen.

Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß bis zum 28. Januar 1933 keinerlei Tätigkeit Papens in Richtung einer Regierungsbildung bestanden habe. An diesem Tage mußte Schleicher mit Rücksicht auf die bevorstehende Reichstagseinberufung eine Entscheidung herbeiführen.

Am 1. Dezember 1932 hatte er Hindenburg von einem offenen Kampf gegen das Parlament abgeraten und den Einsatz der bewaffneten Macht bei einem eventuellen Bürgerkrieg für aussichtslos hingestellt. Jetzt glaubte er keine andere Lösung finden zu können, als für seine Person den Einsatz dieser vorher für ungenügend gehaltenen Kräfte zu erbitten. Da sich seit dieser Zeit keinerlei Änderung der Lage ergeben hatte, die diese Meinungsänderung Schleichers hätte begründen können, da vielmehr die Stellung der NSDAP durch die Lippe-Wahlen gefestigt und die politische Gesamtsituation durch das Verhalten der Parteien noch viel starrer geworden war, blieb Hindenburg bei seiner Entscheidung vom 2. Dezember. Damit war der Gesamtrücktritt des Kabinetts Schleicher unumgänglich. Die Dinge mußten nunmehr ihren Gang gehen, den sie notwendig und logisch gehen mußten, wenn man den eventuellen bewaffneten Kampf vermeiden wollte.

Es gab jetzt nur eine Lösung: Verhandlung mit Hitler. Hindenburg beauftragte Papen, die Verhandlungen über die Bildung der Regierung zu führen. Auf seiten Hitlers war es klar, daß er an seiner starren Forderung festhalten würde, nämlich ihm den Reichskanzlerposten zu überlassen.

Es war nun die von Papen klar erkannte Aufgabe, der neuen, in diesem Umfange noch nicht erprobten Partei in ihrer politischen Wirksamkeit Grenzen zu setzen. Zunächst mußte eine Änderung des Kurses in denjenigen Ministerien vermieden werden, in denen ein Radikalismus besonders schädlich sein mußte, im Außenministerium und im Kriegsministerium.

Die Besetzung dieser beiden Schlüsselstellungen behielt sich Hindenburg selbst vor. Um die Besetzung der übrigen Ministerien nicht, wie bisher stets üblich gewesen, dem neuen Reichskanzler anzuvertrauen, war mit dieser Aufgabe Papen als Homo regius betraut worden. Es gelang ihm, die Ministerzahl für die Nationalsozialisten auf ein Minimum zu beschränken. Drei nationalsozialistischen Regierungsmitgliedern standen acht nichtnationalsozialistische gegenüber, die größtenteils aus dem bisherigen Kabinett übernommen waren und in ihrem Ressort eine kontinuierliche Politik garantierten. Nicht genug damit, auch die Stellung des Reichskanzlers sollte im Rahmen der Verfassung in einer bisher noch nicht gekannten Weise beschränkt werden, Papen erhielt den Posten eines Vizekanzlers. Er war nicht mit einem Ressort verbunden und im wesentlichen dazu bestimmt, ein Gegengewicht zur Stellung des Reichskanzlers zu bilden. Es wurde bestimmt, daß Hitler als Reichskanzler dem Reichspräsidenten von Hindenburg nur in Gegenwart des Vizekanzlers Vortrag halten sollte. Für die Meinungsbildung des Reichspräsidenten war auf diese Weise eine gewisse Kontrollinstanz über die vorzutragenden Wünsche des Reichskanzlers geschaffen.

Bei der Persönlichkeit Hindenburgs, von der man nach menschlichem Ermessen einen nicht unerheblichen Einfluß auf Hitler erwarten konnte, versprach diese kontrollierte Unterrichtung Hindenburgs die Vermeidung eines Abgleitens in ein radikales Fahrwasser. Das war die Beteiligung des Angeklagten an der Bildung der Regierung Hitlers.

Die Anklage sieht hierin einen entscheidenden bewußten Schritt zur Übertragung der vollen Macht an den Nationalsozialismus. Bei objektiver Betrachtung, auch rückblickend, kann man jedoch wohl zu dem Ergebnis kommen, daß bei der unvermeidbaren Notwendigkeit, die Führung des Kabinetts der Nationalsozialistischen Partei zu überlassen, alle Möglichkeiten erschöpft worden sind, um die Bedeutung dieser Maßnahme in ihrer Auswirkung zu beschränken. Der dem Nationalsozialismus überlassene Reichskanzlerposten und die Besetzung von nur zwei Ministerien durch die Nationalsozialisten war die nach langen Bemühungen erreichte Begrenzung der ursprünglich viel weiter reichenden Forderungen Hitlers.

Für die Betrachtung im vorliegenden Verfahren würde es an sich nicht darauf ankommen, ob die am 30. Januar vorgenommene Lösung die einzig mögliche gewesen ist oder nicht. Selbst, wenn man anderer Meinung wäre, so kommt es für die kriminelle Betrachtung lediglich darauf an, ob Papen diese Lösung als eine Notwendigkeit oder überhaupt nur als eine politische Zweckmäßigkeit ansehen konnte oder nicht. Selbst wenn man entgegen allen Tatsachen seine Ansicht für eine Utopie halten würde, so würde strafrechtlich zu berücksichtigen sein, daß nur dann von einer Schuld gesprochen werden könnte, wenn er Kenntnis der späteren Auswirkungen und Kenntnis der späteren Aggressionspläne gehabt und trotzdem seine Mithilfe bei der Zusammensetzung der Regierung geleistet hätte. Daß hierfür auch nicht ein Schein der Vermutung vorliegt, haben die soeben erörterten Tatsachen ergeben.

Ganz besonders entscheidend kommt es bei dieser Betrachtung auch darauf an, daß die beiden Ministerien, die im Zusammenhange mit der Anklage wegen Friedensbruchs die wichtigsten sind oder überhaupt allein eine Rolle spielen, das Auswärtige und das Kriegsministerium, in die Hand von Vertrauensleuten Hindenburgs gelegt wurden, in die Hand von Leuten, die in keiner Weise in Verbindung zu Hitler gestanden hatten und bei denen man eine unbeeinflußte Führung der Ministerien erwarten durfte. Nicht unwichtig ist es, bei dieser Gelegenheit darauf einzugehen, welche Erwartungen man von Hitlers Persönlichkeit und seiner künftigen Politik haben konnte.

Der Führer der Oppositionspartei tritt erstmalig in die Verantwortung, einer Partei, deren Aufbau und Entwicklung gewiß Veranlassung zu manchen Beanstandungen und Befürchtungen geben konnte, einer Partei, die sich entwickelt hatte auf Grund einer absolut negativen Einstellung zu der bisherigen Regierungsführung, einer Partei, die mit ihrem lärmenden Auftreten zweifellos manche Konzession an die Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft gemacht hatte, einer Partei, die ein neues Programm aufgestellt hatte mit Punkten, die zum Teil wirklichkeitsfremd und undurchführbar erschienen und manche Bedenken erregen mußten, die aber – und das ist im Rahmen unserer Betrachtung ja das allein Wesentliche – offensichtlich nichts Verbrecherisches beinhalteten.

Andererseits kann man aber die Erfahrung aus der Geschichte und dem Leben nicht außer acht lassen, daß Propaganda und verantwortliche Arbeit zwei sehr verschiedene Dinge sind, daß eine Partei, die sich aus dem Nichts entwickelt, eine negative und geräuschvolle Propaganda erfahrungsgemäß mehr gebraucht als eins altbestehende Partei. Selbst wenn das Kabinett vom 30. Januar ausschließlich aus Nationalsozialisten bestanden hätte, selbst wenn ein retardierendes Element in der Persönlichkeit Hindenburgs nicht vorhanden gewesen wäre, so hätte man nach den Regeln der Vernunft und der Erfahrung annehmen können, daß Hitler, durch Propaganda zur Macht gekommen, in der praktischen verantwortlichen Arbeit den vorhandenen Gegebenheiten Rechnung tragen und in seiner Wirksamkeit sich wesentlich anders zeigen würde als bei der propagandistischen Vorbereitung zur Machterlangung. Ein kleines Beispiel hatte bereits vorher schon den Unterschied zwischen der oppositionellen Partei und einer verantwortlichen Regierungstätigkeit gezeigt: Dieselben Nationalsozialisten mit dem gleichen Programm und ihrer gleichen Propaganda, die jetzt am 30. Januar im Reiche den Reichskanzlerposten besetzt hatten, hatten bereits in einigen deutschen Ländern die Führung beziehungsweise Mitführung der Regierung innegehabt. Wir sehen Frick, den Führer der Reichstagsfraktion, arbeiten als verantwortlichen Minister in Thüringen. In sein Aufgabenbereich fiel sogar die Polizeigewalt, und wir sahen in diesen Ländern die Nationalsozialisten mit Eifer an manches wirtschaftliche Programm herangehen. Wir sahen sie aber nicht bei Ausschreitungen oder nur unvernünftiger Politik, die auch nur annähernd mit ihrer Propaganda in Übereinstimmung gestanden hätte. Konnte da nicht zu erwarten sein, daß auch jetzt im Reiche mit den noch größer gestellten Aufgaben das natürliche Verantwortungsgefühl wachsen würde und daß die Dinge, zumal mit Berücksichtigung der eingebauten Sicherungen, einen nicht gefährlichen Verlauf nehmen würden?

Es ist hierbei auch nicht überflüssig, insoweit auf die Persönlichkeit Hitlers einzugehen. Hitler war zwar insbesondere nach dem mißglückten Versuch, den Strasser-Flügel abzuspalten, der unumschränkte Autokrat über seine Partei. Zweifellos hatte er sich in der Führung der Partei, in seinen Reden und in seinem Auftreten nicht die Zurückhaltung auferlegt, die bei dem Führer einer so großen Partei an sich eine Selbstverständlichkeit wäre. Alle Anzeichen sprachen jedoch dafür, daß Hitler seine Partei so in der Hand hatte, daß er in der Lage war, auch unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, die unter dem Druck der Realität zu treffen waren. Er hatte in den Fragen der Regierungsbeteiligung, oft unpopulär gegenüber den drängenden Massen, eine in seinem Sinne taktisch kluge Politik durchgeführt, weil er den Tatsachen Rechnung trug. Konnte man nun nicht erwarten, daß dieser Mann, der nun sein Ziel, die Führung des Kabinetts zu übernehmen, erreicht hatte, die wirklichkeitsfremden Gedanken einer Oppositionsstellung aufgeben und sich den realen Erfordernissen des staatlichen und internationalen Lebens beugen würde?

Es ist auch eine allgemeine Erfahrungstatsache, daß ein Mensch, vor eine besonders große Verantwortung gestellt, mit diesen Zielen und dieser Verantwortung als Regierender und als Mensch wächst. Gegenüber dieser allgemeinen historischen Erfahrung konnte man nicht vermuten, daß ein Mann, vor die Verantwortung gestellt, nach gewissen, vielleicht hoffnungsreich zu deutenden Anfängen, bald zu den Thesen seiner früheren Oppositionsideen zurückfinden würde; daß dieser Mann nach einigen Jahren alles das, was er an Positivem betont – ich erinnere unter anderem an seine Bekenntnisse zum christlichen Fundament des Staates –, über Bord werfen und was er an Negativem früher propagierte, noch übertreffen und seine Ziele und Methoden ins Unermeßliche steigern würde. Wir haben jetzt Hitler in seiner ganzen Entwicklung vor uns und sind vielleicht verführt, seine Handlungen aus den letzten Jahren, weil sie so etwas Ungeheuerliches und dadurch so besonders Eindrucksvolles darstellen, als den Ausfluß seiner Gesamtpersönlichkeit zu deuten, und zwar in der Annahme, daß er in der vorhergehenden Zeit unverändert bereits der gleiche gewesen sei.

Es ist im Rahmen dieses Prozesses nicht möglich, an Hand der Ereignisse, der Reden und insbesondere der Handlungen Hitlers ihn vom Beginn seines politischen Auftretens an bis zu seinem Ende auszudeuten und psychologisch zu erfassen. Seine bekannte Furcht, sich zu offenbaren, und sein immer stärker bemerkbares Mißtrauen gegen fast jeden Menschen seiner Umgebung erschweren in besonderem Maße seine Beurteilung. Die einzelnen in Erscheinung getretenen Tatsachen lassen jedoch den sicheren Schluß zu, daß auch für Papen, trotz naher Perspektive, Hitler im Jahre 1933 noch nicht als der Mann voraussehbar war, als der er sich in den späteren Jahren dann zeigte.

Hatte Papen in Übereinstimmung mit den Wünschen Hindenburgs in Ausführung seines Auftrages als Homo regius alles getan, um verantwortungsbewußt der Möglichkeit einer radikalen Entwicklung zu steuern, so hat er über diesen Auftrag hinaus auch sonst sich mit aller Energie für das gleiche Ziel eingesetzt.

Er hat nach Gründung des Kabinetts nicht die Hände in den Schoß gelegt und ist nicht den bequemen und für ihn opportunistisch günstigen Weg gegangen. Er hat es unternommen, durch einen Zusammenschluß der bürgerlichen Rechtsparteien für die Wahlen vom 5. März 1933 ein Gegengewicht gegen die Nationalsozialisten zu bilden. Für jemanden, der sich den nationalsozialistischen Gedanken oder gar einer blinden Gefolgschaft ihres Führers verschrieben hätte, wäre es das Nächstliegende gewesen, die Opposition dieser jetzt erfaßten breiten bürgerlichen Schicht zu beenden und sie den damals vielen ganz natürlich erscheinenden Weg zum Anschluß an die neue, zur Macht gekommene Partei gehen zu lassen.

Papen trat als Führer und Organisator des Oppositionsblocks »Schwarz-Weiß-Rot« in den Wahlkampf. Seine Reden aus der damaligen Zeit, von denen ich Auszüge im Dokumentenbuch überreicht habe, geben ein klares Bild über seine Ziele und Absichten. Es war die Bejahung eines nationalen Gedankens, frei von der propagandistischen Zügellosigkeit des Nationalsozialismus und seinen Doktrinen. In jedem Falle stand sein Programm in unvereinbarem Gegensatz zu dem, was sich später als unvorhersehbare Ausweitung und uferlose Überschreitung der verbrieften Ziele der NSDAP einmal herausstellen sollte.

Die Bildung des Kampfblockes »Schwarz-Weiß- Rot« sollte das sicherstellen, was Papen mit der Zusammenstellung des Kabinetts vom 30. Januar angestrebt hatte: Ein Koalitionskabinett, bei dem als unvermeidliche Folge der parlamentarischen Regeln und der politischen Gesamtsituation der Reichskanzlerposten dem Führer der stärksten Partei überlassen war, der aber gezwungen war, im Rahmen eines Koalitionskabinetts mit den sich daraus ergebenden Beschränkungen zu regieren.

VORSITZENDER: Wäre es nicht angebracht, jetzt zu unterbrechen?