Nachmittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Streicher und Raeder sind abwesend.
VORSITZENDER: Die Verfügung über das Verfahren, das in den Verhandlungen gegen die Organisationen angewandt werden soll, hat folgenden Wortlaut:
Erstens: Der Gerichtshof lenkt die Aufmerksamkeit der Anwälte für die Organisationen auf die Verfügung vom 1. Juli, in der vorgeschrieben wurde, daß das gesamte Beweismaterial, das in den Kornmissionen aufgenommen wurde und das die Verteidigungsanwälte oder die Anklagebehörde zu verwenden wünschen, dem Gerichtshof als Beweismittel angeboten und damit Teil des Protokolls werden muß, vorbehaltlich etwaiger Einwände. Es wäre dem Gerichtshof genehm, wenn das gesamte Beweismaterial zu Beginn der Verhandlung vorgelegt würde.
Punkt 2: Die Verteidigungsanwälte haben dann ihre Dokumentenbücher vorzulegen, die etwaigen Einsprüchen unterworfen werden können.
Punkt 3: Die Zeugen für die Verteidigung müssen sodann gerufen und durch die Verteidigungsanwälte vernommen werden, die die vor der Kommission gemachten Aussagen, die ihnen wichtig erscheinen, sowie etwaiges neues erhebliches Beweismaterial vorzutragen haben. Jede Organisation wird der Reihe nach behandelt, und das gesamte Beweismaterial für jede einzelne Organisation – sowohl das direkte Verhör wie auch das Kreuzverhör – soll angehört werden, bevor wir zu nächsten Organisationen übergehen.
Punkt 4: Der Anwalt für jede Organisation muß sodann sein Plädoyer halten, das sich mit dem Beweismaterial befaßt, das dem Gerichtshof vorgelegt worden ist. Er hat die erforderlichen Hinweise auf die als Beweismittel eingereichten Dokumente zu geben und muß ferner die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf den Inhalt der Aussagen vor den Kommissionen lenken sowie auf die Zusammenfassungen aus den Affidavits, die ihm wichtig erscheinen und die er dem Gerichtshof zur besonderen Beratung vorlegen möchte.
Punkt 5: Die Anklagebehörde wird antworten, wenn alle Plädoyers der Verteidigungsanwälte gehalten worden sind.
Punkt 6: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Plädoyers der Anklagebehörde und der Verteidigung kurz sein und einen halben Tag für jeden Fall nicht überschreiten sollten. Wenn diese Zeit überschritten werden soll, so muß bis spätestens Montag, den 29. Juli, ein besonderer Antrag an den Gerichtshof gestellt werden, in welchem die Gründe für eine derartige Zeitüberschreitung enthalten sind. – Das ist alles.
Ich rufe Dr. Seidl für den Angeklagten Heß.
DR. ALFRED SEIDL, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN HESS UND FRANK: Herr Präsident, meine Herren Richter! Bevor ich mit den Ausführungen für den Fall des Angeklagten Heß beginne, bitte ich das Tribunal um die Erlaubnis, in Vertretung des Verteidigers des Angeklagten Göring noch zwei Beweisstücke vorlegen zu dürfen. Die beiden Beweisstücke sind vom Gericht genehmigt und beziehen sich auf den Fall Katyn, also auf die Frage der Ermordung von 11000 polnischen Offizieren in der Nähe von Smolensk.
Das erste ist Beweisstück Göring Nummer 60, ein Auszug aus dem deutschen Weißbuch, der Obduktionsbefund des italienischen Professors Palmieri und der Obduktionsbefund des bulgarischen Professors Borotin.
Das zweite ist Beweisstück Göring Nummer 61, ebenfalls ein Auszug aus dem deutschen Weißbuch zum Fall Katyn, das Protokoll der Internationalen Ärztekommission vom 30. April 1943.
Herr Präsident! Meine Herren Richter!
Als im Jahre 1919 das deutsche Volk nach einem verlorenen Weltkrieg daranging, sein öffentliches Leben nach demokratischen Grundsätzen neu zu gestalten, sah es sich Schwierigkeiten gegenüber, die nicht nur durch den Krieg selbst und dem damit verbundenen Substanzverlust bedingt waren. Der Angeklagte Rudolf Heß hat als einer der ersten Kampfgefährten Adolf Hitlers mit zu denen gehört, die das deutsche Volk immer wieder auf die großen Gefahren hinwiesen, die der deutschen Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft aus der Reparationspolitik der Siegerstaaten von 1919 erwachsen mußten. Die Folgen dieser Politik mußten für Deutschland um so verheerender sich auswirken, als Frankreich im Jahre 1923 daranging, das Ruhrgebiet, das wirtschaftliche Kraftzentrum Deutschlands, militärisch zu besetzen. In dieser Zeit des wirtschaftlichen Zusammenbruches und der völligen Wehrlosigkeit Deutschlands machte Adolf Hitler zum erstenmal den Versuch, am 9. November 1923 im Wege der Revolution die Macht im Staate an sich zu reißen. Auch der Angeklagte Rudolf Heß war an dem Marsch zur Feldherrnhalle in München beteiligt. Zusammen mit Adolf Hitler verbüßte er die gegen ihn vom Volksgericht ausgesprochene Strafe auf der Festung Landsberg, auf der Hitler sein Buch »Mein Kampf« geschrieben hat.
Als im Jahre 1925 die Partei wieder gegründet wurde, war Rudolf Heß einer der ersten, die zusammen mit Adolf Hitler den Kampf um eine nationale Wiedergeburt des deutschen Volkes aufnahmen. In den ersten Jahren nach der Neugründung sollte die Partei nur einen langsamen Aufstieg beginnen. Die deutsche Volkswirtschaft hatte sich von den schlimmsten Folgen des Ruhreinbruches wieder erholt. Die Währung war stabilisiert worden, und infolge umfangreicher Auslandskredite war es sogar gelungen, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen.
Sehr bald jedoch sollte es sich zeigen, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Jahre 1927/1928/1929 nur eine Scheinblüte war, der jedenfalls in Deutschland keine Grundlage in einer gesunden und ausgeglichenen Volkswirtschaft hatte. Es ist richtig, daß die Wirtschaftskrise, die mit dem Jahre 1930 begonnen hat, eine allgemeine Krise der Weltwirtschaft war und daß der damalige Niedergang in Deutschland nur ein Teil des allgemeinen Verfalls innerhalb der Weltwirtschaft war. Es ist aber ebenso sicher, daß es sich hier nicht lediglich um einen konjunkturellen Abstieg innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft handelte, wie ihn die einzelnen Verkehrswirtschaften der Länder und die Weltwirtschaft vorher schon wiederholt erlebt hatten, sondern daß es sich hier um strukturelle Veränderungen handelte, die verschiedene Ursachen haben mögen, von denen eine der wichtigsten aber ohne jeden Zweifel die durch die unvernünftige Reparationspolitik verursachte Störung des Güterund Zahlungsmittelaustausches ist.
Ebenso sicher ist, daß die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland nicht zuletzt deshalb so verheerend sein und am Ende ihren Ausdruck in einer Arbeitslosenziffer von fast sieben Millionen finden konnten, weil in Deutschland die durch die Reparationen im Gefüge der Volkswirtschaft verursachten Veränderungen besonders tiefgreifend waren.
Wenn daher in den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei einen großen Wahlsieg errungen hat und mit nicht weniger als 107 Abgeordneten in den neuen Reichstag eingezogen ist, dann ist das nicht zuletzt eine Folge der damaligen Wirtschaftskrise, der großen Arbeitslosigkeit und damit mittelbar auch der jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Reparationsleistungen und der Weigerung der Siegerstaaten, trotz eindringlicher Warnungen in eine Neuregelung einzuwilligen. Es ist zwar richtig, daß durch den Dawes- und durch den Young-Plan die im Versailler Vertrag vorgesehenen Reparationsleistungen und die Art ihrer Abwicklung abgeändert wurden. Es ist aber ebenso richtig, daß diese Änderungen zu spät erfolgten und von Deutschland weiterhin Leistungen in einem Umfang und unter Bedingungen verlangten, die unfehlbar zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen mußten und dann auch tatsächlich geführt haben. In diesem Zusammenhang ist auf folgendes hinzuweisen: Die Anklagevertretung hat umfangreiches Beweismaterial in Bezug auf den Aufstieg der NSDAP bis zu ihrer Machtübernahme vorgelegt. Ein Vergleich der Reichstagsmandate in den Jahren 1930 bis 1932 mit den Arbeitslosenziffern der gleichen Zeit würde ergeben, daß die Entwicklung dieser Ziffern ungefähr gleichlautend war. Je trostloser die durch die Arbeitslosigkeit bedingten sozialen Erscheinungen wurden – im Jahre 1932 dürften einschließlich der Familienangehörigen nicht weniger als 25 Millionen Menschen von den Folgen der Arbeitslosigkeit betroffen worden sein – desto eindrucksvoller wurden die Wahlerfolge der Nationalsozialisten. Ich glaube kaum, daß überzeugender der Beweis für das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen den Folgen der Reparationspolitik der Siegermächte von 1919 und dem Aufstieg des Nationalsozialismus geführt werden kann. Man kann diesen ursächlichen Zusammenhang auf die kurze Formel bringen: Ohne Versailler Vertrag keine Reparationen – ohne Reparationen kein wirtschaftlicher Zusammenbruch mit den besonders für Deutschland katastrophalen Folgen, wie sie in einer Arbeitslosenziffer von fast sieben Millionen ihren Ausdruck fanden – und ohne diesen Zusammenbruch keine Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die sich aus diesem ursächlichen Zusammenhang auch ergebende politische und historische Verantwortlichkeit der maßgebenden Staatsmänner der Gegenseite liegt so offen zutage, daß im Rahmen dieses Prozesses weitere Ausführungen dazu sich erübrigen.
Diese Formel mag zugespitzt erscheinen, und es mag weiterhin zutreffen, daß nicht nur die wirtschaftliche Notlage und die große Zahl der Arbeitslosen am 14. September 1930 Millionen von Deutschen veranlaßt haben, zum ersten Male nationalsozialistisch zu wählen und die dann in der Folgezeit zu dem weiteren Machtanstieg der Partei geführt haben. Sicher war das aber mit einer der Hauptgründe. Und auch die anderen Gründe, die bei vielen Wählern in ihrem Willensentschluß mit eine Rolle gespielt haben, können letzten Endes auf die unheilvollen Auswirkungen des Versailler Vertrags und die Weigerung der Siegermächte – und hier vor allem Frankreichs – in eine Revision des Vertrags einzuwilligen, zurückgeführt werden. Das gilt vor allem für den von allen späteren demokratischen Regierungen erhobenen Anspruch auf Gleichberechtigung.
Als das deutsche Volk in Erfüllung des Friedensvertrags von Versailles abgerüstet hatte, konnte es mit Recht erwarten, daß auch die Siegermächte entsprechend ihrer im Vertrag übernommenen Verpflichtung abrüsten würden. Dies ist nicht geschehen, und es keinem Zweifel unterliegen, daß die Verweigerung der Gleichberechtigung beziehungsweise die Weigerung, nun auch selbst abzurüsten, mit einer der wesentlichsten Gründe für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Jahren 1931 und 1932 darstellte. Und wenn überhaupt ein Argument Hitlers im deutschen Volk einen Widerhall gefunden hat, dann war es das, daß man einem Volk wie dem deutschen, einem Volk, das über eine Bevölkerung von mehr als 75 Millionen verfügt und im Herzen Europas gelegen ist und eine kulturelle Vergangenheit wie wenig andere Völker hat, auf die Dauer auch nach einem verlorenen Krieg die Gleichberechtigung nicht versagen kann. Es ist in diesem Saale schon einmal darauf hingewiesen worden, daß man ein Volk, das einen Luther, einen Goethe und einen Beethoven hervorgebracht hat, nicht auf unbeschränkte Zeit als Volk minderen Ranges behandeln kann. Immer wieder konnte Hitler auf die Tatsache verweisen, daß die Staatsmänner der Weimarer Republik kein Mittel unversucht ließen, um auf friedliche Weise die Revision der untragbarsten Bestimmungen des Versailler Vertrags zu erreichen. Acht Jahre lang sind die Staatsmänner des demokratischen Deutschlands, sind ein Stresemann und ein Brüning nach Genf gegangen, um die immer wieder versprochene Gleichberechtigung Deutschlands endlich zu erreichen, und immer wieder wurden sie mit leeren Händen nach Hause geschickt. Die sich daraus ergebenden Gefahren konnten niemandem verborgen bleiben. In der Tat wurde die Welt sowohl durch deutsche Staatsmänner als auch insbesondere durch einsichtige Politiker der ehemaligen Feinde Deutschlands gewarnt. Alle diese Warnungen wurden in den Wind geschlagen.
Als endlich im Jahre 1932 die Nationalsozialistische Partei mit 230 Reichstagsmandaten die weitaus stärkste Partei in Deutschland geworden war, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, wann Adolf Hitler und seine Partei mit der Übernahme der Regierungsgewalt beauftragt wurde. Dies konnte auf die Dauer um so weniger verhindert werden, als die vorhergehenden Regierungen des Herrn von Papen und des Generals Schleicher im Reichstag über keinerlei nennenswerte Gefolgschaft verfügten und die Regierungsgewalt ausschließlich auf dem Notverordnungsweg des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung ausübten. Als dann Adolf Hitler tatsächlich am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wurde, ist das durchaus im Einklang mit den Bestimmungen der Reichsverfassung geschehen. Hatte doch die Nationalsozialistische Partei im Jahre 1932 bei den Reichstagswahlen Wählerstimmen in einem Umfange auf sich vereinigt, wie dies vorher seit dem Bestehen des Deutschen Reiches keiner Partei gelungen war. Wenn der Führer dieser stärksten Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, so war das insbesondere im Hinblick auf die damals in Deutschland bestehenden parlamentarischen Verhältnisse durchaus nichts außergewöhnliches, und es kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß Hitler und seine Partei legal, das heißt verfassungsmäßig an die Macht gekommen sind. Richtig ist allerdings, daß sich im Laufe der folgenden Jahre die staatsrechtliche Struktur des Deutschen Reiches und insbesondere die Stellung Hitlers geändert hat. Es liegen aber keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß auch diese Entwicklung nicht legal gewesen wäre. Ich nehme dabei, um Wiederholungen zu vermeiden, Bezug auf die Ausführungen des Zeugen Dr. Lammers. Es kann dabei völlig dahingestellt bleiben, ob man diese Entwicklung zur absoluten Alleinherrschaft Hitlers erklären will mit der Bildung eines sogenannten Staatsgewohnheitsrechtes oder ob man sich eine andere Theorie zurechtlegt. Entscheidend scheint mir für den Rahmen dieses Prozesses vielmehr zu sein, daß kein einziger Staat, mit dem Deutschland diplomatische Beziehungen unterhalten hat, und zwar weder bei der Machtübernahme noch anläßlich der vor aller Welt offen sich vollziehenden Umgestaltung der staatsrechtlichen Struktur, irgendwelche Bedenken erhoben oder gar diplomatische oder völkerrechtliche Konsequenzen daraus gezogen hat. Die diplomatische und völkerrechtliche Anerkennung des nationalsozialistischen Staates hat weder bei der Machtübernahme noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt in Frage gestanden. Nur ergänzend sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß das Gesetz, das in der Folgezeit für das Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat am bedeutungsvollsten werden sollte, noch von dem Reichspräsidenten von Hindenburg auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung erlassen wurde. Ich meine die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 83). Im Paragraphen 1 dieser Verordnung wurden die wesentlichsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt und Beschränkungen der persönlichen Freiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen für zulässig erklärt. An der Rechtsgültigkeit dieser Verordnung kann in formaler Hinsicht ebensowenig ein Zweifel bestehen wie an irgendeinem andern vom Reichstag, von der Reichsregierung, vom Ministerrat für die Reichsverteidigung oder von Hitler selbst erlassenen sogenannten Verfassungs- oder Staatsgrundgesetz.
Meine Herren Richter! Ich habe im Namen des Angeklagten Rudolf Heß erklärt, daß dieser die volle Verantwortung übernimmt für alle Gesetze und Verordnungen, die er in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Führers, als Reichsminister und als Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung unterschrieben hat. Ich habe daher davon abgesehen, Beweismittel in Bezug auf Anklagen vorzulegen, die lediglich innere Angelegenheiten des Deutschen Reiches als souveränen Staat betreffen und in keinem Zusammenhang stehen mit dem von der Anklage behaupteten Verbrechen gegen den Frieden und von Verbrechen gegen die Gebräuche des Krieges.
Ich werde daher auch jetzt nur auf solche Gesetze und staatsrechtlichen und politischen Maßnahmen eingehen, die in irgendeinem erkennbaren Zusammenhang stehen mit den eigentlichen Anklagepunkten und dem von der Anklage behaupteten gemeinsamen Plan oder Verschwörung.
Die Anklageschrift macht dem Angeklagten Rudolf Heß zum Vorwurf, die militärische, wirtschaftliche und psychologische Vorbereitung auf den Krieg gefördert und an der politischen Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen teilgenommen zu haben. Zum Beweis dieser Behauptung hat die Anklage auf die Tatsache hingewiesen, daß der Angeklagte Rudolf Heß das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 in seiner Eigenschaft als Reichsminister ohne Geschäftsbereich mit unterschrieben hat. Mit diesem Gesetz wurde die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland wieder eingeführt und bestimmt, daß sich das deutsche Friedensheer in 12 Korpskommandos und 36 Divisionen gliedern solle.
Nicht minder wichtig als der Inhalt dieses Gesetzes scheint mir für das gegenwärtige Verfahren die Proklamation zu sein, die die Reichsregierung an das deutsche Volk im Zusammenhang mit der Verkündung dieses Gesetzes gerichtet und dem Gesetz im Reichsgesetzblatt vorangestellt hat.
Ich nehme auf den Inhalt dieser Proklamation, die als Beweisstück vorgelegt wurde, Bezug. Diese Proklamation vom 16. März 1935 enthält nichts an wesentlichen Argumenten, was nicht vorher schon von deutschen demokratischen Regierungen in der Zeit der Weimarer Republik in dieser Frage vorgebracht worden wäre.
Meine Herren Richter! Das Gericht hat mir zwar gestattet, zu dieser Frage wenigstens einen Teil meiner Ausführungen zu bringen. Im Hinblick aber darauf, daß der Verteidiger des Angeklagten von Neurath eingehend zu dieser Frage bereits Stellung genommen hat, nehme ich insoweit auf dessen Ausführungen Bezug, und ich verzichte darauf meinerseits, zu dieser Frage im einzelnen noch Stellung zu nehmen. Ich fahre vielmehr fort auf Seite 19 meines Exposés, und zwar auf den letzten vier Zeilen.
Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch das Gesetz vom 16. März 1935 wird in der Anklageschrift offenbar nicht als selbständige strafbare Handlung betrachtet, sondern nur als Teil des von der Anklage behaupteten gemeinsamen Planes, der darauf abgezielt haben soll, Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität zu begehen. Ob überhaupt jemals ein derartiger Plan bestanden hat ob und in welchem Umfang der Angeklagte Rudolf Heß daran beteiligt war und welche Rolle die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in diesem Plan in objektiver und in subjektiver Beziehung gespielt haben, werde ich später eingehend darlegen.
Im Rahmen des gemeinsamen Planes, einen Angriffskrieg geplant und vorbereitet zu haben, wird der Angeklagte Heß auch persönlich beschuldigt, die Auslandsorganisation der NSDAP, den Volksbund für das Deutschtum im Ausland, den Bund Deutscher Osten, den Deutsch-Amerikanischen Bund und das Deutsche Auslandsinstitut in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Führers eingesetzt zu haben. Die von der Anklagevertretung in diesem Zusammenhang vorgelegten Dokumente vermögen nicht den Nachweis zu erbringen, daß der Angeklagte Heß selbst diesen Organisationen Weisungen oder Befehle erteilt hätte, die sie zu einer Tätigkeit ähnlich der einer Fünften Kolonne hätten veranlassen können. Die Vernehmung der Zeugen Bohle, Strölin und Alfred Heß hat im Gegenteil ergeben, daß gerade der Angeklagte Heß diesen Organisationen und Leitern auf das strengste untersagt hat, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen Staaten zu mischen. Dafür, daß die genannten Organisationen tatsächlich eine Tätigkeit entwickelt hätten, die darauf gerichtet wäre, die fremden Staatsgebilde von innen heraus zu unterhöhlen, konnte vollends von der Anklage kein Nachweis erbracht werden. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, näher auf die Tätigkeit der genannten Organisationen und Einrichtungen einzugehen, insbesondere nachdem auch keinerlei Anhaltspunkt dafür vorliegt, daß zwischen den Aufgaben und Funktionen dieser Organisationen und den Ereignissen, die dann im Jahre 1939 zum Kriegsausbruch führten, irgendein ursächlicher Zusammenhang besteht.
Mit mehreren von der Anklagevertretung vorgelegten Beweisstücken wird ferner der Nachweis zu führen versucht, daß der Angeklagte Rudolf Heß auch an der Besetzung Österreichs am 12. März 1938 maßgebend beteiligt gewesen sei. Ich beabsichtige nicht, im einzelnen auf die Geschichte des Anschlusses einzugehen und die Tatsachen rechtlich zu würdigen, die im Jahre 1938 tatsächlich zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich geführt haben.
Eines muß aber hier doch festgestellt werden: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat unter den 14 Punkten des Präsidenten Wilson einen hervorragenden Platz eingenommen. Tatsächlich ist aber keine Forderung des Amerikanischen Präsidenten in den Verträgen von Versailles und St-Germain so wenig verwirklicht worden als gerade dieses Selbstbestimmungsrecht. Dem Gericht wurde bereits der Beschluß der Provisorischen österreichischen Nationalversammlung vom 12. November 1918 als Beweismittel vorgelegt. In diesem neuen Grundgesetz wurde unter anderem bestimmt: »Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt. Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.« Nicht weniger eindeutig sind die Erklärungen, die der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Dr. Karl Renner als Begründung zu diesem Verfassungsgesetz gegeben hat, indem er unter anderem ausführt: »Unser großes Volk ist in Not und Unglück, das Volk, dessen Stolz es immer war, das Volk der Dichter und Denker zu heißen, unser deutsches Volk des Humanismus', unser deutsches Volk der Völkerliebe ist im Unglück tief gebeugt! Aber gerade in dieser Stunde, wo es so leicht und bequem und vielleicht auch so verführerisch wäre, seine Rechnung abgesondert zu stellen und vielleicht von der List der Feinde Vorteile zu erhaschen, in dieser Stunde soll unser Volk in allen Gauen wissen: Wir sind ein Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft!« Entgegen dem klaren Willen der überwältigenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wurde von den Ententemächten der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten verboten. Eine von der Österreichischen Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 beschlossene Volksabstimmung über den Anschluß wurde von den Siegermächten unter Androhung einer Hungerblockade verhindert. Die trotzdem von einigen Landesregierungen selbständig durchgeführten Abstimmungen brachten eine überwältigende Mehrheit für den Anschluß. Und es ist in der Tat die Situation nicht besser zu kennzeichnen, als es Staatssekretär Lansing in seinem im Jahre 1921 erschienenen Buch »The Peace Negotiations« getan hat: »Eine klarere Verleugnung des angeblichen Selbstbestimmungsrechtes ist kaum zu denken als dieses Verbot des fast vom einmütigen Wunsche des deutsch-österreichischen Volkes getragenen Anschlusses an Deutschland.« Dieser Wunsch des österreichischen Volkes nach Anschluß an das Deutsche Reich hat nicht nur unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg bestanden, sondern er war auch in der Folgezeit lebendig. Es mag völlig dahingestellt bleiben, welche Gründe im einzelnen dafür immer maßgebend gewesen sein mögen und welche Gründe im Laufe der Zeit vorherrschend gewesen sind. Sicher ist, daß dieser Wunsch bestanden hat und daß die Verwirklichung des Anschlusses nur gescheitert ist an dem Widerstand entweder der Ententemächte oder an dem anderer Mächte, die glaubten, hier Irgendwelche angeblichen Interessen verteidigen zu müssen. In diesem Zusammenhang mag an eine Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Renner vom 12. November 1928 erinnert werden, die ebenfalls von der Verteidigung bereits vorgelegt wurde und in der es unter anderem heißt: »Heute, zehn Jahre nach dem 10. November 1918, und immerdar halten wir in Treue an diesem Beschluß fest und bekräftigen ihn durch unsere Unterschrift.... Der Friede von St-Germain hat das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Österreich vernichtet.... Laßt Österreichs Bürger frei abstimmen, und sie werden mit 99 von 100 Stimmen die Wiedervereinigung mit Deutschland beschließen...« Und in der Tat: Als am 12. März 1938 die deutschen Truppen in Osterreich einzogen, kamen sie nicht als Eroberer, sondern sie wurden unter dem Jubel der Bevölkerung in einem einzigen Triumphzug empfangen.
Um Zeit zu sparen, nehme ich auch hier Bezug auf die erschöpfenden Ausführungen des Verteidigers des Mitangeklagten Dr. Seyß-Inquart, und ich fahre in meinem Entwurf fort auf Seite 23 mit dem zweiten Absatz.
Was nun den Anteil des Angeklagten Rudolf Heß und der Partei an der Durchführung des Anschlusses anlangt, so hat auch hier die Beweisaufnahme ergeben, daß der Anschluß Österreichs ein Ereignis war, das mit der Nationalsozialistischen Partei im Reich als solcher so gut wie nichts zu tun hatte. Es genügt, in diesem Zusammenhang auf die Bekundungen der Angeklagten Göring und Dr. Seyß-Inquart im Zeugenstand hinzuweisen, aus denen sich ergibt, daß die Frage des Anschlusses ausschließlich vom Reich, also von der Staatsgewalt und nicht von der Partei gelöst worden ist. Falls darüber noch irgendwelche Zweifel bestanden haben sollten, so werden diese beseitigt durch das von der Anklage selbst vorgelegte Dokument US-61, 812-PS.
Es handelt sich hier um den Brief des Gauleiters von Salzburg, Dr. Friedrich Rainer, den dieser am 8. Juli 1939 an den Reichskommissar, Gauleiter Josef Bürckel, geschrieben hat und worin er unter anderem ausführt:
»Bald nach der Machtergreifung in der Ostmark flogen Klausner, Globocznik und ich nach Berlin, um dem Stellvertreter des Führers, dem Pg. Rudolf Heß, einen Bericht über die Vorgänge, die zur Machtergreifung geführt haben, abzustatten.«
Ein Bericht wäre selbstverständlich nicht notwendig gewesen, wenn der Stellvertreter des Führers und die Partei selbst unmittelbar bei der Lösung der Anschlußfrage maßgebend beteiligt gewesen wären. Ich erwähne dies nicht etwa, um Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund zugunsten des Angeklagten Rudolf Heß anzuführen. Die Feststellung geschieht vielmehr ausschließlich im Interesse der historischen Wahrheit.
Ich komme nunmehr zur Frage des Anschlusses des Sudetenlandes.
Dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche wurden mit achteinhalb Millionen Tschechen und Slowaken in einem Staat zusammengefaßt, ohne daß ihnen ein maßgeblicher Einfluß auf den Staat eingeräumt worden wäre. Alle Bemühungen dieser Volksgruppe, im Rahmen des tschechoslowakischen Staatsverbandes die Autonomie bewilligt zu erhalten, blieben erfolglos. Als die Anschlußfrage hinsichtlich Österreichs gelöst war, konnte es nicht ausbleiben, daß auch die künftige Stellung der Sudetendeutschen, bei denen es sich immerhin um dreieinhalb Millionen Menschen handelt und deren Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum außer jedem Zweifel steht, einer Prüfung unterzogen wurde. Ich habe nun nicht die Absicht, im einzelnen zu allen Fragen des Anschlusses des Sudetenlandes an das Reich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Im Hinblick darauf, daß die Anklagevertretung in dem von ihr dem Gericht vorgelegten Trial-Brief gegen den Angeklagten Heß auf die sudetendeutsche Frage eingegangen ist und auch einige Dokumente als Beweisstück vorgelegt hat, erscheint es doch notwendig, kurz dazu Stellung zu nehmen. In dem Dokument 3258-PS, GB-262 – es handelt sich um eine Rede des Stellvertreters des Führers auf der Tagung der Auslandsorganisation der NSDAP am 28. August 1938 – nimmt dieser lediglich in allgemeinen Ausführungen zu der sudetendeutschen Frage Stellung, und zwar unter Betonung des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Auch die übrigen von der Anklage vorgelegten Dokumente, US-126 (3061-PS) und US-26 (388-PS), lassen nichts erkennen, was auf eine entscheidende Beteiligung des Angeklagten Rudolf Heß bei der Lösung der sudetendeutschen Frage schließen lassen könnte. Es kann aber auch das Ausmaß dieser Beteiligung völlig dahingestellt bleiben, da der Anschluß des Sudetenlandes an das Reich für sich allein keinesfalls den Tatbestand einer nach internationalem Recht strafbaren Handlung erfüllen kann. Wurde doch der Anschluß des Sudetengaues nicht vollzogen auf Grund einer einseitigen Handlung Deutschlands oder auf Grund eines vielleicht anfechtbaren Vertrags zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik. Der Anschluß erfolgte vielmehr auf Grund eines Abkommens, das am 29. September 1938 in München zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien, Frankreich und Italien geschlossen worden war. In diesem Abkommen wurden genaue und ins einzelne gehende Vereinbarungen über die Räumung des abzutretenden Gebietes und die etappenweise Besetzung durch deutsche Truppen getroffen. Die endgültige Festlegung der Grenzen ist durch einen internationalen Ausschuß vorgenommen worden. Ohne auf weitere Einzelheiten des Abkommens eingehen zu wollen, kann doch soviel mit Sicherheit gesagt werden, daß es sich hier um einen Vertrag handelt, der auf Grund freier Willensübereinstimmung zustande gekommen war und von dem alle Beteiligten die Erwartung hegten, daß er die Grundlage oder doch wenigstens eine wesentliche Voraussetzung für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen in Europa abgeben könnte.
Ich komme nun zu einem anderen Gegenstand der Anklage. Sowohl im Rahmen der Gesamtanklage als auch in der von der Anklagevertretung gegen den Angeklagten Rudolf Heß erhobenen persönlichen Anklage wird dieser beschuldigt, am Ausbruch des Krieges mitbeteiligt und dafür verantwortlich zu sein. In der Tat hat der Angeklagte Rudolf Heß in mehreren Reden zu der Frage des Polnischen Korridors und zu dem Problem des Freistaates Danzig Stellung genommen. Aber hier ist doch folgendes vorauszuschicken:
Durch die Schaffung des Polnischen Korridors wurde nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt – ist doch auf diese Weise mehr als eine Million Deutscher unter polnische Herrschaft gekommen –, sondern es wurde darüber hinaus durch die Aufteilung des Staatsgebietes des Deutschen Reiches in zwei völlig voneinander getrennte Territorien ein Zustand geschaffen, der nicht nur jeder wirtschaftlichen Vernunft widerspricht, sondern darüber hinaus vom ersten Tage an die Ursache für dauernde Reibungen und Zwischenfälle werden mußte.
Tatsächlich ist vom Tage der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags an die Forderung nach einer Revision des Vertrags gerade in der Frage des Polnischen Korridors zu keiner Stunde verstummt. Es hat in Deutschland keine Partei und keine Regierung gegeben, die nicht die Notwendigkeit einer Revision des Vertrags vor allem in diesem Punkt anerkannt und verlangt hätte.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn schon überhaupt Polen unter allen Umständen einen selbständigen Zugang zur Ostsee haben sollte, dieses Problem vernünftiger hätte gelöst werden können als durch die Schaffung des sogenannten Korridors und die dadurch bedingte Aufteilung des Deutschen Reiches in zwei völlig voneinander getrennte Gebiete.
Ähnliches gilt hinsichtlich des völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Statuts des Freistaates Danzig. Es ist nicht notwendig, hier näher auf die Tatsachen einzugehen, die im Laufe der Zeit zu immer größeren Schwierigkeiten geführt haben und am Ende einen Zustand herbeiführten, der eine Änderung der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Stellung dieser rein deutschen Stadt notwendig machte.
Ebensowenig ist es notwendig, im einzelnen auf das durch den Polnischen Korridor und die Schaffung eines Freistaates Danzig aufgeworfene Minderheitenproblem näher einzugehen. Tatsache ist, daß im Laufe von zwei Jahrzehnten nicht weniger als etwa eine Million Deutscher gezwungen wurden, ihr Siedlungsgebiet zu verlassen, und zwar unter Umständen, die nicht ohne Rückwirkung auf die allgemein politischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Polen bleiben konnten. Es ist auch nicht so, als ob erst seit dem Machtantritt Adolf Hitlers die hier aufgeworfenen Probleme öffentlich behandelt worden wären.
Wenn ich das Tribunal recht verstanden habe, dann müssen die folgenden Seiten, bis Seite 29, wegbleiben.
Unter diesen Umständen konnte es niemanden überraschen, wenn nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler und seine Partei, die durch den Polnischen Korridor und die Abtrennung Danzigs vom Reich aufgeworfenen Fragen neuerdings einer Prüfung unterzogen wurden. Dies konnte um so weniger ausbleiben, als auch nach Abschluß des deutsch-polnischen Vertrags im Jahre 1934 die Bestrebungen Polens keineswegs aufhörten, in immer höherem Maße das deutsche Element auszuschalten.
Ich beabsichtige nicht, näher auf die Verhandlungen einzugehen, die vom Deutschen Reich mit der Polnischen Republik geführt wurden und die zum Ziele hatten, unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen Polens einen Modus vivendi zu finden. Immerhin erscheint es mir wesentlich, folgende Tatsachen festzuhalten; dies scheint mir schon deshalb wesentlich, weil von der Anklagevertretung immer wieder behauptet wurde, daß die Angeklagten, daß die Deutsche Regierung alles hätte tun müssen, um die Fragen einer Klärung zuzuführen, daß sie aber vor allem Verhandlungen hätte führen müssen und das eine nicht hätte tun dürfen, und zwar einen Krieg zu beginnen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, daß tatsächlich versucht wurde, auf dem Verhandlungsweg die Probleme, die nicht aus der Welt zu schaffen waren, einer Lösung zuzuführen.
Zum erstenmal hat der Reichsminister des Auswärtigen am 24. Oktober 1938 in einer Unterredung mit dem Polnischen Botschafter die durch den Korridor und die Abtrennung der Stadt Danzig aufgeworfenen Fragen behandelt und eine Lösung vorgeschlagen, die auf folgender Grundlage aufgebaut sein sollte:
»1. Der Freistaat Danzig kehrt zum Deutschen Reich zurück.
2. Durch den Korridor würde eine exterritoriale, Deutschland gehörige Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale, mehrgleisige Eisenbahn gelegt.
3. Polen erhält im Danziger Gebiet ebenfalls eine exterritoriale Straße oder Autobahn und Eisenbahn und einen Freihafen.
4. Polen erhält eine Absatzgarantie für seine Waren im Danziger Gebiet.
5. Die beiden Nationen anerkennen ihre gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder die beiderseitigen Territorien.
6. Der deutsch-polnische Vertrag wird um 10 bis 25 Jahre verlängert.
7. Die beiden Länder fügen ihrem Vertrag eine Konsultationsklausel bei.«
Die Antwort der Polnischen Regierung auf diesen Vorschlag wurde von der Anklagevertretung dem Tribunal selbst vorgelegt. Es handelt sich um das Dokument TC-73, Nummer 45, in welchem die Stellungnahme des polnischen Außenministers Beck vom 31. Oktober 1938 und sein Auftrag an den Polnischen Botschafter Lipski in Berlin enthalten ist. In diesem Dokument wird der deutsche Vorschlag rundweg abgelehnt, und zwar unter Hinweis darauf, ich zitiere:
»Daß irgendein Versuch der Eingliederung der Freien Stadt Danzig in das Reich unvermeidlich zu einem Konflikt führen werde, und zwar würden sich nicht nur örtliche Schwierigkeiten ergeben, sondern alle Möglichkeiten einer polnisch-deutschen Verständigung in allen ihren Formen würden damit unterbunden.«
Dieser Standpunkt wurde dann auch tatsächlich vom Polnischen Botschafter in einer neuerlichen Unterredung zwischen ihm und dem Reichsminister des Auswärtigen am 19. November 1938 vertreten. Auf die Frage, wie sich die Polnische Regierung zu dem deutschen Vorschlag einer exterritorialen Reichsautobahn und einer exterritorialen Eisenbahn durch den Korridor stelle, erklärte der Polnische Botschafter, daß er dazu offiziell nicht Stellung nehmen könne.
Man wird nicht bestreiten können, daß der von Deutschland gemachte Vorschlag sehr zurückhaltend ist und daß in ihm nichts enthalten ist, was mit der Ehre Polens und den lebenswichtigen Interessen dieses Staates nicht in Übereinstimmung hätte gebracht werden können. Dies wird man um so mehr zugeben müssen, als die Schaffung des Korridors und die Abtrennung Ostpreußens vom Reich dem ganzen deutschen Volk tatsächlich als die schwerste von allen durch den Versailler Vertrag bedingten territorialen Belastungen empfunden wurde. Wenn trotzdem die Polnische Regierung diesen Vorschlag abgelehnt hat, und zwar mit einer Begründung, die für weitere Verhandlungen kaum mehr irgendeine Aussicht auf eine Lösung übrig ließ, so mußte schon damals daraus der Schluß gezogen werden, daß es auf seiten Polens überhaupt an einem echten Verständigungswillen fehlte, der auch die berechtigten Belange des Deutschen Reiches berücksichtigte. Dieser Eindruck wurde bestätigt bei den Verhandlungen, die anläßlich des Besuches des polnischen Außenministers Beck in Berlin am 5. Januar 1939 und dem Gegenbesuch des Reichsaußenministers in Warschau am 21. Januar 1939 geführt wurden. Wenn trotz dieser ablehnenden polnischen Haltung in einer weiteren Unterredung zwischen dem Polnischen Botschafter und dem Reichsminister des Auswärtigen vom 21. März 1939 der letztere den am 24. Oktober 1938 gemachten Vorschlag wiederholte, so muß daraus der Schluß gezogen werden, daß die Deutsche Regierung tatsächlich von dem Willen beseelt war, die durch den Korridor und die Abtrennung der Stadt Danzig aufgeworfenen Fragen auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Es kann also ernstlich nicht bestritten werden, daß die Deutsche Regierung versucht hat, auf dem Verhandlungswege die Fragen Danzig und Polnischer Korridor zu lösen und daß sie in dieser Richtung sehr maßvolle Vorschläge gemacht hat.
Die Antwort auf die deutschen Vorschläge vom 21. März 1939 war eine Teilmobilmachung der polnischen Streitkräfte. Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Zusammenhang die von der Polnischen Regierung angeordnete Teilmobilmachung mit dem britischen Konsultationsvorschlag vom 21. März 1939 steht und ob die Britische Regierung anläßlich der Überreichung dieses Konsultationsvorschlages in Warschau die dann am 31. März erfolgte Garantieerklärung bereits zugesagt oder in Aussicht gestellt hat. Auf keinen Fall kann zweifelhaft sein, daß die auch vom britischen Premierminister Chamberlain in einer Erklärung im Unterhaus vom 10. Juli 1939 zugegebene Teilmobilmachung der polnischen Wehrmacht alles andere als geeignet war, günstige Voraussetzungen für weitere Verhandlungen zu schaffen. In der Tat beinhaltete das am 26. März 1939 vom Polnischen Botschafter Lipski übergebene Memorandum der Polnischen Regierung eine völlige Ablehnung des deutschen Vorschlages. Es wurde erklärt, daß eine Exterritorialität der Verkehrswege nicht in Frage kommen könne und daß auch eins Wiedervereinigung Danzigs mit dem Reich nicht in Erwägung gezogen werden könne. In der an die Übergabe des Memorandums sich anschließenden Unterredung zwischen dem Reichsaußenminister und dem Polnischen Botschafter erklärte der letztere ganz offen, er habe die unangenehme Pflicht, darauf hinzuweisen, daß jegliche weitere Verfolgung der deutschen Pläne, insbesondere soweit sie eine Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeuten würde.
Wenn ich ausgeführt habe, daß der Zusammenhang zwischen der polnischen Teilmobilmachung vom 23. März 1939 und der in dem polnischen Memorandum vom 26. März 1939 enthaltenen völligen Ablehnung des deutschen Vorschlages auf der einen Seite, mit der in Aussicht gestellten britischen Garantieerklärung vom 31. März 1939 auf der anderen Seite dahingestellt bleiben kann, so erscheint dies allein schon im Hinblick auf die bereits am 21. März von der Britischen Regierung in Warschau ebenso wie in Paris und Moskau vorgeschlagenen Abgabe einer »formellen Deklaration« gerechtfertigt. Durch die »formelle Deklaration« sollte der Beginn sofortiger Besprechungen über Maßnahmen gemeinsamen Widerstandes gegen irgendwelche Bedrohung der Unabhängigkeit irgendeines europäischen Staates angekündigt werden. Darüber hinaus haben die von Premierminister Chamberlain am 17. März in Birmingham gehaltene Rede und die Rede des britischen Außenministers Lord Halifax vom 20. März, die dieser im Oberhaus gehalten hat, eine Einstellung erkennen lassen, die die Polnische Regierung erst recht zur Unnachgiebigkeit veranlassen mußte. Und in der Tat sollte die bereits am 21. März 1939 von der Britischen Regierung den Regierungen in Warschau, Paris und Moskau vorgeschlagene Abgabe einer »gemeinsamen formellen Deklaration« der Anfang von langwierigen Besprechungen werden, deren Ziel es war, um Deutschland einen eisernen Ring zu legen.
Es war daher von vornherein klar, daß unter diesen Umständen zweiseitige Verhandlungen zwischen der Deutschen und der Polnischen Regierung jedenfalls während der Dauer dieser Besprechungen nur noch geringe Aussicht auf Erfolg haben konnten. Trotzdem hat die Deutsche Regierung in einem weiteren, bereits von der Anklagevertretung vorgelegten Memorandum, welches am 28. April 1939 im Polnischen Außenministerium überreicht wurde, ihren Standpunkt völlig klargelegt und noch einmal die Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen festgestellt. Der Inhalt dieses Memorandums einschließlich der im März 1939 gemachten Vorschläge wurde von Adolf Hitler in der Reichstagsrede vom 28. April 1939 der Öffentlichkeit bekanntgegeben.
Die Polnische Regierung hat als Antwort auf das Memorandum der Deutschen Regierung vom 28. April 1939 eine Denkschrift am 5. Mai 1939 überreicht, welche ebenfalls bereits von der Anklage vorgelegt wurde. Der Inhalt dieser Denkschrift enthielt noch mehr als die früheren Noten der Polnischen Regierung eine völlige Ablehnung der von Deutschland zur Lösung des Korridorproblems und der Danziger Frage gemachten Vorschläge.
Die am 21. März 1939 zwischen London, Paris, Warschau und Moskau begonnenen Verhandlungen mit dem Ziel eines ausschließlich gegen Deutschland gerichteten Bündnisses nahmen nicht den gewünschten Verlauf. Auch die am 11. August 1939 nach Moskau gesandten französischen und britischen Militärmissionen konnten die durch offenbar weitgehende politische Meinungsverschiedenheiten entstandenen Schwierigkeiten nicht aus dem Wege räumen. Es kann dahingestellt bleiben, welchen Anteil dabei die Tatsache hatte, daß Polen, das von England, Frankreich und der Sowjetunion garantiert werden sollte, sich offenbar weigerte, militärischen Beistand seitens der Sowjetunion anzunehmen. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob es richtig ist, was der sowjetische Außenkommissar Molotow auf der außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets am 31. August 1939 behauptet hatte, daß nämlich England die Bedenken Polens nicht nur nicht zerstreut, sondern im Gegenteil unterstützt habe. Wichtiger erscheint vielmehr, auf die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten einzugehen.
Hier habe ich nun verweisen wollen auf einen Auszug aus dem bekannten Buch des früheren Britischen Botschafters in Berlin, Sir Nevile Henderson. Im Hinblick darauf, daß das Gericht die Verlesung dieses Zitats nicht wünscht, daß aber auf der anderen Seite im Beweisverfahren dieser Auszug zugelassen wurde, beschränke ich mich, darauf Bezug zu nehmen. Und ich setze fort auf Seite 35 mit dem zweiten Absatz:
Tatsächlich hatte sich inzwischen folgendes ereignet:
Auf dem 18. Kongreß der Kommunistischen Partei am 10. März 1939 hat der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der USSR, Stalin, eine Rede gehalten, in der er andeutete, daß die Sowjetregierung es für möglich oder für wünschenswert halte, auch mit Deutschland zu einem besseren Verhältnis zu gelangen. Von Hitler wurde diese Andeutung auch durchaus verstanden.
In ähnlicher Weise hat sich Außenkommissar Molotow in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Mai 1939 ausgedrückt. Die daraufhin zwischen der Deutschen und der Sowjetischen Regierung eingeleiteten Verhandlungen hatten zunächst den Abschluß eines deutsch-sowjetischen Handels- und Kreditabkommens zum Ziel. Dieses Abkommen wurde am 19. August 1939 unterzeichnet. Aber schon während dieser Wirtschaftsverhandlungen waren auch Fragen allgemein politischer Natur behandelt worden, die nach einer Meldung der sowjetrussischen Nachrichtenagentur »Tass« vom 21. August 1939 den Wunsch beider Regierungen erkennen ließen, eine Veränderung ihrer Politik herbeizuführen, und den Krieg durch Abschluß eines Nichtangriffspaktes zu bannen. Dieser Nichtangriffspakt wurde in der Nacht vom 23. auf 24. August 1939 in Moskau unterzeichnet, also, wie die Beweisaufnahme in diesem Prozeß ergeben hat, zwei Tage vor dem für die Morgenstunden des 26. August 1939 befohlenen Angriff der deutschen Armee gegen Polen. Neben diesem Nichtangriffsvertrag wurde als dessen wesentlicher Bestandteil ein »Geheimes Zusatzprotokoll« unterzeichnet. Auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme, insbesondere auf Grund der eidesstattlichen Versicherung des Botschafters und Leiters der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Dr. Friedrich Gaus, auf Grund der Zeugenaussage des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Freiherr von Weizsäcker, und auf Grund der Erklärungen der Angeklagten von Ribbentrop und Jodl kann folgender Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls als festgestellt erachtet werden: Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten gehörenden Gebieten sollten Finnland, Estland und Lettland in die Interessensphäre der Sowjetunion fallen, während das Staatsgebilde Litauen zur Interessensphäre Deutschlands gehören sollte.
Für das Staatsgebiet Polen wurde eine Aufteilung der Interessensphären in der Weise vorgenommen, daß die östlich der Flüsse Narew, Weichsel und San gelegenen Gebiete in die Interessensphäre der Sowjetunion fallen, während die westlich der durch diese Flüsse abgegrenzten Demarkationslinie liegenden Gebiete zur Interessensphäre Deutschlands gehören sollten. Im übrigen wurde hinsichtlich Polens eine Vereinbarung des Inhalts getroffen, daß die beiden Mächte bei der endgültigen Regelung der dieses Land betreffenden Fragen in beiderseitigem Einvernehmen handeln würden. Hinsichtlich des Südostens Europas wurde eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in der Weise vorgenommen, daß von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont, während von deutscher Seite das völlige politische Desinteressement an diesem Gebiet erklärt wurde. Nach den Bekundungen sämtlicher Zeugen, insbesondere aber auf Grund der Erklärungen des Botschafters Dr. Gaus und des Staatssekretärs von Weizsäcker steht fest, daß dieses Geheimabkommen eine völlige Neuregelung in Bezug auf Polen und das künftige Schicksal des polnischen Staates in sich schloß.
Die nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags und des dazugehörenden geheimen Zusatzprotokolls gemachten Anstrengungen, doch noch mit Polen zu einer Verständigung in der Frage Danzigs und des Korridors zu gelangen, sind fehlgeschlagen. Der Beistandspakt, welcher am 25. August 1939 zwischen Großbritannien und Polen geschlossen wurde, hat den Kriegsausbruch nicht verhindert, sondern nur noch einige Tage verzögert. Ich habe nicht die Absicht, im einzelnen auf die diplomatischen Verhandlungen einzugehen, die nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 23. August 1939 noch geführt wurden, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Eines kann aber wohl mit Sicherheit gesagt werden:
War schon die einseitige Garantieerklärung Englands vom 31. März 1939 dazu angetan, die an sich schon bestehende Unnachgiebigkeit der Polnischen Regierung gegenüber den deutschen Vorschlägen zu steigern, dann mußte ein Beistandspakt mit Großbritannien erst recht sich gegen eine Verhandlungsbereitschaft auf seiten der Polnischen Regierung auswirken. Der Mißerfolg der zwischen Deutschland und Polen geführten Verhandlungen kann um so weniger überraschen, wenn man sich die Bekundung des Zeugen Dahlerus vor diesem Tribunal vor Augen hält. Hat dieser Zeuge doch bestätigt, daß der Polnische Botschafter in Berlin, Lipski, am 31. August 1939 erklärt hat, daß er nicht daran interessiert sei, über die Vorschläge der Deutschen Regierung zu verhandeln. Er begründete diese ablehnende Haltung damit, daß im Falle eines Krieges in Deutschland eine Revolution ausbrechen und die polnische Armee auf Berlin marschieren würde.
Was immer auch die Nachrichten gewesen sein mögen, die die Englische Regierung mit zum Abschluß des Vertrags mit Polen veranlaßt haben und die vielleicht auf einen Riß in dem deutsch-italienischen Bündnis und auf Zersetzungserscheinungen im deutschen Staatsgefüge hindeuteten – ich nehme hier Bezug auf die Angaben des Zeugen Dahlerus und des Zeugen Gisevius –, die Zukunft sollte zeigen, daß derartige Überlegungen in den Tatsachen keine Begründung fanden.
Als am 1. September 1939 der Krieg zwischen Deutschland und Polen ausbrach, handelte es sich zunächst um einen lokalisierten Konflikt zwischen zwei europäischen Staaten. Als aber am 3. September 1939 Großbritannien und Frankreich an Deutschland den Krieg erklärten, weitete sich der Konflikt zu einem europäischen Krieg aus. Zu einem Krieg, der wie alle modernen Kriege zwischen Großmächten bei der gegenwärtigen mangelhaften internationalen Organisation und nach dem völligen Zusammenbruch des Systems der kollektiven Sicherheit von Anfang an die Tendenz in sich trug, sich zu einem allgemeinen Weltkrieg zu entwickeln. Dieser Krieg sollte unermeßliches Leid über die ganze Menschheit bringen, und als am 8. Mai 1945 der Krieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sein Ende fand, hinterließ er ein Europa in Trümmern.
Adolf Hitler hat den Zusammenbruch Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation nicht mehr erlebt. Vor den Schranken dieses Gerichts aber stehen 22 ehemalige Führer des nationalsozialistischen Deutschlands, um sich zu verantworten gegen die Anklage, in Ausführung eines gemeinsamen Planes Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Gebräuche des Krieges und gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.
Grundlage des gegenwärtigen Verfahrens ist das sogenannte Londoner Abkommen, das am 8. August 1945 zwischen der Regierung von Großbritannien und Nord-Irland, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der provisorischen Regierung der Französischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken abgeschlossen worden war. Auf Grund dieses Abkommens wurde das gegenwärtige Tribunal gebildet, dessen Zusammensetzung, Zuständigkeit und Aufgabe in dem Statut für den Internationalen Militärgerichtshof festgelegt sind, das einen wesentlichen Bestandteil des Abkommens der genannten vier Regierungen vom 8. August 1945 bildet. Das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof enthält jedoch nicht nur Bestimmungen über die Zusammensetzung, die Zuständigkeit und die Aufgaben des Tribunals. Es sind daneben – und das sind die wichtigsten Teile des Statuts – auch Vorschriften materiell-rechtlichen Inhalts enthalten. Das gilt vor allem von Artikel 6, welcher die Begriffsbestimmungen der Verbrechen gegen den Frieden, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit allen ihren einzelnen Tatbestandsmerkmalen enthält. Als strafgesetzlicher Tatbestand ist vor allem auch der Absatz 3 des Artikels 6 des Statuts anzusehen, welcher im einzelnen die Merkmale der sogenannten Verschwörung aufzählt. Als materiell-rechtliche Vorschriften sind weiter die Artikel 7, 8 und 9 des Statuts anzusehen.
Die folgenden Ausführungen wurden vom Gericht nicht genehmigt. Sie decken sich im wesentlichen mit dem Inhalt der Erklärung, die die Verteidiger zu Beginn des Prozesses am 21. November abgegeben haben, und ich kann darauf Bezug nehmen.
Ich setze fort auf Seite 40 mit dem letzten Absatz.
In der Anklageschrift selbst wird dem Angeklagten Heß zum Vorwurf gemacht, die Machtergreifung der sogenannten Nazi-Verschwörer und die Festigung ihrer Kontrolle über Deutschland, ferner die militärische, wirtschaftliche und psychologische Vorbereitung auf den Krieg gefördert zu haben. Es wird ihm weiter zur Last gelegt, an der politischen Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen und Kriegen in Verletzung internationaler Verträge, Abkommen und Zusicherungen und an der Vorbereitung und Planung außenpolitischer Pläne der sogenannten Nazi-Verschwörer teilgenommen zu haben.
Endlich wird behauptet, daß er die in Anklagepunkt 3 angeführten Kriegsverbrechen und die in Anklagepunkt 4 angeführten Verbrechen gegen die Humanität genehmigt, geleitet und an ihnen teilgenommen hat.
VORSITZENDER: Dies scheint mir ein günstiger Augenblick zu sein, um eine Pause einzuschalten.