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[Pause von 10 Minuten.]

VORSITZENDER: Bevor wir fortfahren, will ich drei Anträge behandeln.

Erstens den Antrag von Dr. Kaufmann vom 20. August 1946 – er scheint ursprünglich vom 15. August datiert zu sein. Diesem Antrag wird stattgegeben; ein Affidavit des Zeugen Panzinger darf vorgelegt werden, vorausgesetzt, daß es vor dem Ende des Prozesses eingereicht wird.

Der Antrag Dr. Pelckmanns, ursprünglich datiert vom 22. August 1946, wird abgelehnt.

Die zwei Anträge von Dr. Dix vom 20. und 21. August werden beide abgelehnt.

Wünscht die Verteidigung noch ein weiteres Kreuzverhör vorzunehmen?

Wünscht die Sowjetische Anklagebehörde den Zeugen nochmals zu verhören?

OBERST POKROWSKY: Die Befragung durch die Sowjetische Anklagebehörde ist beendet, Herr Vorsitzender! Wir haben keine Fragen mehr zu stellen.

VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich dann zurückziehen.

[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]

Nun, Herr Dr. Pelckmann!

RA. PELCKMANN: Zunächst möchte ich das Hohe Gericht auf zwei Punkte mir erlauben hinzuweisen. Ich habe mit Brief vom 23. August angezeigt, daß mein Plädoyer nicht übersetzt werden kann, und zweitens möchte ich nur in Erinnerung zurückrufen, daß die Antworten auf meine...

VORSITZENDER: Herr Dr. Pelckmann! 60 Seiten sind bereits übersetzt worden, soviel ich höre.

RA. PELCKMANN: Ja. Die französische Übersetzung liegt noch gar nicht vor. Ferner erlaube ich mir, das Gericht noch darauf hinzuweisen, daß die Antworten auf den Fragebogen, den ich an den Zeugen Rauschning gesandt habe, offenbar auch noch nicht beim Gericht eingegangen sind.

Euer Lordschaft, meine Herren Richter!

Als am 27. Februar 1933 der Deutsche Reichstag in Flammen aufging, sollte nach dem Willen der Nazis aus diesen Flammen das tausendjährige Dritte Reich geboren werden. Als wenig mehr als zwölf Jahre später ganz Deutschland in ein Meer von Flammen gehüllt war, da sank dieses Reich in Schutt und Trümmer dahin. Diesen beiden welthistorischen Ereignissen, folgten Prozesse. Ihr Sinn war und ist, die Verantwortlichen für diese beiden Verbrechen der Menschheitsgeschichte festzustellen.

Das deutsche Reichsgericht hat diese Aufgabe nicht gelöst. Zwar hat es mit anerkennenswertem Mut – wie Herr Jackson sagte – die angeklagten Kommunisten freigesprochen, aber die wahren Schuldigen, die das unglückliche Werkzeug van der Lubbe gedungen und mit ihm zusammen die Tat ausgeführt haben, hat das Reichsgericht nicht ermittelt und erst recht nicht verurteilt. So ist die Wahrheit, unter dem Druck der öffentlichen Meinung geknebelt, von der Nazi-Regierung verschwiegen worden. Dem formellen Recht war Genüge getan, der Täter verurteilt, aber die Wahrheit, diese göttliche Macht und höchste menschliche Erkenntnis blieb verborgen. Sie allein hätte das deutsche Volk damals sehend machen können, hätte es zurückhalten können vor dem Marsch in den Abgrund.

Heute nun steht dieses Hohe Gericht – das Gericht der Welt – vor der Aufgabe zu urteilen: Wer war schuld an dem Weltenbrand, an der Zerstörung fremder Länder und schließlich an dem infernalischen Untergang unseres deutschen Vaterlandes? Und wieder droht auch diesem Gericht die Gefahr, daß es nur ein formelles Urteil findet, das Schuldige feststellt, daß ihm die tiefste und letzte Wahrheit verborgen bleibt unter dem Druck einer Suggestion, die die nach den Gesetzen der Psychologie und der Psychoanalyse natürliche Folge des jahrelangen Kampfes zwischen Hitler-Regime und den freien Völkern der Welt ist.

Wird dieses Gericht hier nun in der Lage sein, mit seinem Urteil Deutschland und die ganze Welt vor einem Abgrund zu bewahren, der tiefer und schauriger ist als alles zuvor Erlebte?

Dieses Verfahren ist ein Strafprozeß, zwar der größte nach der Zahl der Angeklagten, der Betroffenen und vor allem der bedeutendste, den die Rechtsgeschichte bisher bot – doch in all seinen Merkmalen doch ein typischer Strafprozeß. So richtet er sich also auch nach dem das Statut beherrschenden und in öffentlicher Verhandlung von der Anklagebehörde bestätigten Prinzip anglo-amerikanischen Rechtes, daß die Anklage nur das zusammen vorzutragen habe, was die Beschuldigten belastet – nie jedoch, was sie entlasten könnte. In diesem Bestreben wird die Anklage wirksam unterstützt durch die Massensuggestion, der alle Zeugen der größten »causes célèbres« der Weltgeschichte unterliegen, aus den Gründen, die internationale Forscher, nicht zuletzt Le Bon, eingehend dargelegt haben. Ich bekenne offen und freudig, daß ich mir bei der Führung meiner Verteidigung das entsprechende Prinzip der Schwarz-Weiß-Malerei nicht zu eigen gemacht habe. Auch ich unterlag der Gefahr der Massensuggestion durch die Hunderttausende von Stimmen, die mich aus den Internierungslagern erreichten, sich hineinsteigernd in das Gefühl der Verteidigung um jeden Preis – unter sich den Boden der Tatsachen, wie sie wirklich waren, verlierend. Allein schon diese Wirkung zeigt die gefährliche Reaktion, die eine solche Massenanklage auslöst und ihre politischen Auswirkungen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß bei solcher Schwarz-Weiß-Malerei das Hohe Gericht über die Wahrheit getäuscht worden wäre. Daran mitzuwirken habe ich nicht als meine Aufgabe betrachtet, obwohl das Prinzip dieses Statuts mir dazu das Recht gegeben hätte. In einem solchen Prozeß, in dem es um die Grundlagen der Menschlichkeit, um das Schicksal des deutschen Volkes und der Welt in aller Zukunft geht, kann es nicht der Geschicklichkeit in der Darstellung der konträren Auffassungen von Anklage und Verteidigung überlassen bleiben, ob das Gericht meint, die Wahrheit liege in der Mitte. Es konnte nicht die Aufgabe der Verteidigung sein, taktische Erfolge zu erzielen durch Herausstellen des einen und Unterdrückung eines anderen Komplexes, – nein, unbestechlich muß Klarheit geschaffen werden, eine Clarté, wie sie der Wahrheitsfanatiker Henry Barbusse forderte. So habe ich meine Zeugen ausgewählt. Ich erinnere Sie besonders an Reinecke und Morgen, deren Aussagen ich noch würdigen werde.

Ich habe mich bemüht, dem Gericht das Eindringen in die historische Wahrheit zu ermöglichen.

Dabei schwebte mir das einfache und deshalb schöne deutsche Wort des Mittelalters vor: »Geschehenes hat keinen Umkehr.«

Mit ihm soll nicht nur die Tragik allen Geschehens durch die Unmöglichkeit der Wiederkehr gekennzeichnet werden, – noch ein anderer tiefer Sinn ist in diesem Wort:

Geschehenes verträgt und duldet keine Umkehr, das heißt, keine Tat kann richtig begriffen und beurteilt werden, wenn man sie »ex post« betrachtet. Nein, man muß sie so sehen, wie sie sich zur Zeit der Ausführung vom Beginn bis zum Ende darstellte.

Alle Umstände zur Zeit der Tat und die Person des Täters, auch seine psychologische Situation zur Zeit der Tat müssen geprüft werden. Die Richter müssen sich auch in die Persönlichkeit des Täters hineinleben, um seine Schuld ermessen zu können.

Das gilt auch für diesen Prozeß. Es richten Nationen über eine andere Nation, es richtet die Völkerfamilie über ein Volk, das schweres Leid über die Welt gebracht hat, über einen Staat, der Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat. Riesige Gemeinschaften, große Teile des deutschen Volkes werden angeklagt in den Organisationen, und deshalb müssen sich die Richter über diese Millionen von Menschen auch hineinversetzen in das Leben, das Wissen, Hoffen und Glauben dieser Massen zu einem Zeitpunkt, als die Ideen und Taten des Nationalsozialismus wirkten und seine verbrecherischen Entartungen begannen. Die Richter der vier größten und für die Entscheidung dieses Weltkrieges wichtigsten Nationen der ganzen Welt müssen also versuchen festzustellen – wie bei einer normalen Geschworenensache –: »Wie kam es zu der Tat? In welcher Situation befand sich damals der Angeklagte? Welche Überlegungen, welche Gefühle trieben ihn zu der Tat? Hatte er überhaupt die Absicht, etwas Gesetzwidriges zu tun? Wurde er vielleicht selber getäuscht? Konnte er überhaupt das Rechtswidrige seines Tuns erkennen, und falls er es allmählich erkannte – war er da überhaupt in der Lage, sein Handeln entsprechend dieser Einsicht zu bestimmen?« Es ist ungeheuer schwer schon für den Richter eines normalen Strafverfahrens, hier sich von der Betrachtung ex post zu lösen und die Tatumstände, das Tatmilieu und die Täterpersönlichkeit richtig zu würdigen. Welch ungeheure Anforderung an den Gerechtigkeitssinn des Richters würde gestellt werden, wenn er nun gar über einen Menschen urteilen müßte, der sich gegen ein Mitglied gerade seiner, des Richters Familie, vergangen hätte. Jede der vier hier zu Gericht sitzenden Nationen hat gewaltige Schäden durch die Verbrechen des Nazi-Regimes erlitten, für welche nun die Organisationen mit ihren Millionen Mitgliedern verantwortlich gemacht werden.

Aber ich gebe mich der Hoffnung hin – wie Herr Jackson in seiner Anklagerede ausgeführt hat –, daß Ihnen, meine Herren Richter, das titanische Werk gelingt, frei zu sein von Gefühlen der Rache und Sie das Recht und nur das Recht finden wollen. Können Sie aber als Nichtdeutsche, die nicht das geschichtlich einmalige Phänomen einer Massenpsychose und einer Tyrannei kontinentalen Ausmaßes selbst miterlebt haben, überhaupt begreifen und sich erklären, wie Derartiges möglich war? Können Sie sich vorstellen, daß Verbrechen von der Masse der Mitglieder nicht begangen, von ihnen bewußt nicht gefordert wurden, ja ihnen nicht einmal bekannt waren?

Wie das Statut mit Recht sagt, und wie das Gericht es auch bisher gehandhabt hat, ist es nicht Aufgabe dieses Forums festzustellen, welche inneren Gründe – ob berechtigt oder unberechtigt – zum Kriege geführt haben. Entscheidend ist nur die Frage: War es ein Angriffskrieg? Trotzdem ist schon bei den Einzelangeklagten der Beweis zugelassen worden, wie die geschichtliche Entwicklung innerlich seit dem Weltkrieg zu dem neuen Völkermord führte. Mit weit größerer Berechtigung muß der historische Hintergrund, die politische Gesamtsituation in und um Deutschland betrachtet werden, wenn man die Schuld, das Verbrechen etwa der Organisationen feststellen will – gerade in ihren Anfängen. Die Masse hat keine klaren Gedanken oder Gefühle, sie wird bewegt von dumpfen Empfindungen, Emanationen eines Phänomens, das die Forscher als »Massenseele« bezeichnen. Sie wird gebildet von dem, was ihre Führer ihr darstellen und versprechen.

Einer der Herren Anklagevertreter hat in seiner Schlußansprache gegen die Einzelangeklagten vorgetragen, daß die Schuld der Einzelangeklagten so groß und die Auswirkung ihrer Taten so verhängnisvoll werden konnte gerade durch die geschickte Benutzung der Massen, durch die Verführung der Volksseele, durch den schillernden Zauber der Schlagworte und das Versprechen einer paradiesischen Entwicklung. Liegt nicht in diesem Worte die beste Anerkennung der Tatsache, daß die Masse der Mitglieder das Gute, das Nichtverbrecherische wollte?

Die Grundsätze der SS stimmten in ihren ersten Anfängen – schon vor 1933 – mit dem Programm der NSDAP überein. Nicht erst vor diesem Tribunal ist die Frage erörtert worden, ob dieses Programm und die Art und Weise seiner Verwirklichung verbrecherisch sei. Diese Frage hat die Öffentlichkeit, die Behörden der deutschen Republik und die besten Köpfe und Herzen unseres Volkes viele Jahre vor 1933 bewegt. Waren es verbrecherische Motive, wenn die Massen einem Politiker folgten, der ihnen, nicht leichte Raubzüge innerhalb und außerhalb unseres Vaterlandes versprach, sondern Arbeit und Brot, wenn er sie gegenüber dem Durcheinander eines durch 41 Parteien verhöhnten Parlamentarismus, gegenüber einer sich durch Schwäche und halbe Maßnahmen selbstmordenden Demokratie zur nationalen Sammlung aufrief?

Es ist die tiefe Tragik des deutschen Volkes, daß es das Bewußtsein, bei der Verteilung der Güter der Welt zu spät gekommen zu sein, nicht dahin sublimierte, seine geachtete Stellung in der Welt des Geistes und der angewandten Wissenschaften zu sichern und zu verbessern. Der Deutsche ist ein Romantiker – gerade in der Politik. Diese Romantik kreist um nebelhafte Anschauungen von Schicksal und Verhängnis und um den Traum einstiger Macht im »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« vor tausend Jahren. Dieser Schicksalsglaube ist in einer absolut falschen Darstellung der deutschen Geschichte seit 100 Jahren so gefördert worden, daß es nur eines geschickten Zauberers bedurfte, um unter Unterdrückung der wahren Hintergründe wiederum Millionen deutscher Jugend in Tod und Verderben zu schicken.

Aber so weit war dieser große Verführer Hitler noch nicht.

Die Friedensbeteuerungen gegenüber den Gegnern im Innern waren zunächst wichtiger als die gegenüber dem Ausland, das damals noch gar keine Rolle spielte. Das innerpolitische Leben hatte sich durch die Schuld aller großen Parteien und ihrer Parteiarmeen und durch die Schwäche der republikanischen Regierung immer stärker in einen akuten Kriegszustand auf der Straße gewandelt. Trotz alledem wurden die geheimen Parlamentswahlen selbst ohne Terror und Fälschung durchgeführt. Der Bürger konnte in ihnen ein ständiges Zunehmen der extremen Parteien rechts und links beobachten. In seinen Augen konnte es kein Verbrechen sein, wenn er der extremen rechten Partei, der NSDAP beitrat, auch nicht ihren Schutzstaffeln, die im Gegensatz zu der die Straße eher beherrschenden SA den Schutz der Redner in den Guerillakriegen der damaligen politischen Gegner zu übernehmen hatten.

Jeder Deutsche, der die damalige Zeit erlebt hat, weiß, welche Spannung durch die Frage ausgelöst war, ob die NSDAP und ihre Gliederungen hochverräterische Unternehmungen planten, also den gewaltsamen Umsturz der republikanischen Regierung. In den frühesten Anfängen der Partei im Jahre 1923 hatte Hitler einen Putsch unternommen, der mißglückte. Nun propagierte er seit Jahren »Legalität«. Als im September 1930 drei junge Offiziere des Einhunderttausend-Mann-Heeres vor dem höchsten deutschen Gericht unter der Anklage des Hochverrates standen, weil sie nationalsozialistische Zellen in der Armee gründen wollten, schwor Hitler als Zeuge, daß seine Revolution eine geistige sei und er die Macht auf legalem Wege erstrebe. Mit riesigen Schlagzeilen ging diese Meldung durch alle Zeitungen und in die Köpfe der Gegner und Anhänger Hitlers. Zu den wenigen, die diesen Schwur für einen Meineid hielten, gehörte der damalige Oberregierungsrat im Preußischen Innenministerium, das jetzige Mitglied der Amerikanischen Anklage, Professor Dr. Kempner. Er erstattete um dieselbe Zeit dem Ministerium einen eingehenden Bericht, der mit der Feststellung schließt, die NSDAP sei des Hochverrats schuldig. Aber auch dieser Wahrheitsforscher muß in seiner Darstellung über die damalige Lage, die er in Band XIII, Nummer 2, vom Juni 1945 (Seite 120) der »Research Studies of the State College of Washington« schildert, er muß zugeben, daß sogar Ministerialbeamte der Deutschen Republik damals – 1930 – nicht geglaubt haben, daß Hitler ein Lügner sei. So wirkte schon damals die geschickte Propaganda Hitlers auf selbst so kritische gegnerische Kreise. Ist es zu verwundern, wenn die Masse der SS ihm glaubte? Es waren damals übrigens nur wenige Tausend. Ja, es ging noch weiter. Auf eine Anzeige Dr. Kempners im Jahre 1930 erging nach eingehenden Untersuchungen des höchsten deutschen Staatsanwaltes, des Oberreichsanwalts beim Reichsgericht, im August 1932 der Bescheid, daß kein Grund vorhanden sei, die NSDAP zu verfolgen oder aufzulösen. (Vergleiche Kempners Schrift, Seite 133.)

Welche Wirkung mußten solche Äußerungen höchster republikanischer Stellen auf die Masse haben? Die Wirkungen drückten sich in den ständig wachsenden Wahlziffern der Nazis aus.

Das Frappanteste aber ist nun – und das ist so entscheidend für die innere Haltung von Tausenden, die gerade nach dem 30. Januar 1933 zur SS kamen –, daß Hitler tatsächlich seinen Eid nicht gebrochen hat. So recht auch Dr. Kempner mit seinen Prophezeiungen für die weitere Entwicklung in großen Zügen behalten sollte – das hat man erst später erkannt –, so sehr hat er sich doch selbst zunächst mit seinen Vorhersagen getäuscht. Die Nazi-Partei ist tatsächlich legal geblieben, hat sich nicht durch einen Staatsstreich der Regierungsgewalt bemächtigt, sondern Hitler ist von Hindenburg nach den Spielregeln des Parlamentarismus mit der Kabinettsbildung beauftragt worden.

Was werden damals die Ministerialbeamten gesagt haben, die dem pessimistischen Dr. Kempner nicht glauben wollten? Werden sie nicht triumphiert haben, daß sie Recht behalten hatten? War ihr Gewissen nicht beruhigt? Dieser Hitler war ja gar nicht so schlimm, wie man sagt. Nun in die Regierung gekommen, würde er sich auch mäßigen – wie das jede Opposition tat, wenn sie die Regierungsgewalt hatte. Und war nicht auch damals die große Masse der Hitler-Wähler stolz darauf, daß sie die Macht friedlich errungen hatte nach einem Wahlkampf, dessen Propagandamaschine fast amerikanische Dimensionen angenommen hatte?

Schon für diesen Zeitpunkt drängt sich uns eine Frage auf: Konnte die Masse der Hitler-Anhänger, die Masse der SS-Männer damals erkennen, daß der wohl klarste Programmpunkt der Partei, der Antisemitismus, etwas Verbrecherisches enthielt?

Der Antisemitismus ist nichts Neues; er ist auch, wenn man die sogenannten geistigen Grundlagen studiert, nichts typisch Deutsches. Er beruht nach meiner Überzeugung auf dem Minderwertigkeitskomplex des Massenmenschen, auf seinem Mißtrauen gegenüber der Überlegenheit des Juden auf gewissen Intelligenzgebieten. Nicht neu ist auch die Ablehnung des Antisemitismus durch alle zivilisierten Völker und Menschen, die in den Worten des Papstes gipfelt:

»Wer einen Unterschied zwischen Juden und anderen Menschen macht, glaubt nicht an Gott und befindet sich in Widerstreit zu den göttlichen Geboten.«

Aber das Rätsel, an dem wir bei der Frage nach dem Verbrechen nicht vorübergehen können, ist, daß es überhaupt ein Judenproblem gibt, das seinen Ursprung nicht in der Verschiedenartigkeit der Religionen, sondern der Rasse hat. Ja, das Rätsel ist, daß es überhaupt noch Rassenprobleme gibt, die bis heute in unserer modernen und so klein gewordenen Welt zu dauernden Konflikten führen. Ist es nicht rätselhaft, daß gerade der polnische Kardinal Hlond, der durch alle Schrecken des Nazi-Regimes gegangen ist, erst vor wenigen Wochen den polnischen Antisemitismus unter Hinweis auf die führende Rolle der Juden in der polnischen Regierung in gewissem Maße zu rechtfertigen versuchte? Ist es nicht rätselhaft, daß noch heute, nach den grausigen Erfahrungen des Hitler-Regimes, die Araber sich gegen die Juden in ihrem angestammten Heimatland Palästina und besonders gegen ihre Zuwanderung wenden und es zu gegenseitigen Gewalttaten kommt? So ist es in Europa. Aber Rassenprobleme – nicht nur antisemitische – gibt es heute auch noch in der ganzen übrigen Welt.

Sie alle schreien nach einer gerechten Lösung, und sie kann nur in der Gleichberechtigung aller Rassen liegen. Einige fortschrittliche Völker haben den Antisemitismus unter Strafe gestellt. Aber ist es verbrecherisch, wenn die Gesellschaft, der Staat, unter dem Einfluß jener Wahnideen damals Lösungen versuchte, die die Vermischung der Rassen und eine Einflußnahme auf das öffentliche Leben verbieten? Auch hier muß vieles aus der Zeit erklärt werden. Das schlechte Beispiel einiger jüdischer Einwanderer aus Osteuropa mit ihren berüchtigt gewordenen Betrügern europäischen Ausmaßes, wie Barmat und Kutisker, stand gegenüber dem des großen deutschen Juden und unvergeßlichen Staatsmannes Walter Rathenau, der schon lange seine Rassegenossen zur Besinnung rief. Diese Situation bot die Grundlage für eine kollektive Stimmung, für eine mit Hilfe der äußersten wirtschaftlichen Not ausgenutzten Massenhypnose gegen Juden, wie sie immer wieder im Laufe großer politischer und sozialer Umwälzungen auftritt und wie sie gerade jetzt durch diesen vorliegenden Prozeß wiederum im Begriff ist, neues Kollektivunrecht gegenüber bestimmten Menschenkategorien zu schaffen. Die Forderung der gesetzlichen Durchführung dieses antisemitischen Prinzips für sich kann nicht verbrecherisch gewesen sein, denn es schien ja so, als ob sie eine Anwendung dieses Prinzips ohne Haß und persönliche Rache von Staats wegen verbürgte. Es war zum Teil die Übertragung und anachronistische Verschärfung des amerikanischen gesetzlichen Prinzips der...

VORSITZENDER: Herr Dr. Pelckmann! Ich möchte nicht unterbrechen, aber Sie dürfen nicht außer acht lassen, daß Sie nur einen halben Tag für Ihre Rede zugebilligt erhalten haben. Ich bemerke, daß Ihr Plädoyer 100 Seiten lang sein soll, und ich unterbreche Sie schon jetzt, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sich jetzt mit allgemeinen Dingen beschäftigen, auf welche unsere Aufmerksamkeit während dieses ganzen Verfahrens gelenkt worden ist. Es liegt wohl in Ihrem Interesse, lieber diesen Teil Ihrer Rede zu kürzen als andere Teile, Ich unterbreche Sie nur aus diesem Grunde.

RA. PELCKMANN: Euer Lordschaft! Ich habe Abkürzungen schon vorgenommen; dadurch wird sich die Rede verkürzen.

Die Forderung der gesetzlichen Durchführung dieses antisemitischen Prinzips an und für sich kann nicht verbrecherisch gewesen sein oder nicht verbrecherisch erschienen sein, denn es schien ja so, als ob sie eine Anwendung dieses Prinzips ohne Haß und persönliche Rache von Staats wegen verbürgte. Daß Hitlers ureigenste Vorstellung dabei in Wahrheit Haß war – sein vertrautester Interpret Rauschning verrät es in seinem Buch »Hitler speaks«, Seite 91 –, blieb der Masse verborgen. Verborgen blieb dieser Haß, der dem Minderwertigkeitsgefühl desjenigen entsprang, der die Überlegenheit bohrenden Verstandes über dunkle Impulse erkennt. Denn gerade dem SS-Mann wurde der Antisemitismus nur als Kehrseite der in den Vordergrund gestellten Rasseneugenik dargestellt. Unter geschickter Benutzung der einem Nichteuropäer nur schwer verständlichen Rassensentiments historischen Ursprungs, die sich an Begriffe wie »Ordensprinzip«, »Männerbünde«, »Sippengemeinschaft« knüpfen – ich verweise auf die Dokumente Nummer SS-1 bis 3 mit all ihrer versponnenen Romantik in modernem Gewande – beabsichtigte Hitler, in der SS für die Hochzüchtung des eigenen Volkes einen Stand von Männern heranzuziehen, der durch Haltung und Selbstzucht eine »Elite« darstellen sollte. Diese Tendenz, so fern sie auch dem modernen Europäer oder Kosmopoliten liegt, ist wohl nicht als verbrecherisch anzusehen – ich verweise auf gelegentliche Fragen des Gerichts – und schloß von selbst eine antisemitische Tendenz von der Prägung des »Stürmer« oder selbst der weniger vulgären SA aus. Es ist auch symptomatisch, daß die Anklage aus der Zeit vor 1933 keinen einzigen Fall einer Brutalität, begangen durch SS gegenüber Juden, behauptet und belegt hat. Die sogenannten »Leithefte«, die Monatsschrift der SS, und die Aussage des Zeugen Schwalm über die Schulung der SS vor der Kommission machen diese zurückhaltende Stellung in der Judenfrage klar. Sie wird späterhin bestätigt durch die Nichtbeteiligung der SS am Judenpogrom 1938, die ich im anderen Zusammenhang beschreiben werde. Ich werde auch noch darlegen, wie die im Laufe des Krieges begangenen Greuel an Juden und Massentötungen aus dieser ursprünglichen Tendenz der SS herausfallen und auf Grund direkter Geheimbefehle Hitlers und Himmlers durch verbrecherische Einzelpersonen oder Gruppen möglich und vor der Masse der SS geheimgehalten wurden.

Aus der Fülle der Punkte des Parteiprogramms, die die SS natürlich akzeptierte, möchte ich nur noch die der Beseitigung des Versailler Vertrags und des Anspruchs auf Lebensraum herausgreifen, die ja entscheidend sein könnten für die spätere angebliche Vorbereitung des Angriffskrieges. Mit keinem Wort sagt die Anklage, wie in einem so frühen Zeitpunkt die Masse der Mitglieder der SS annehmen konnte, diese Ansprüche sollten verbrecherisch, das heißt durch einen Angriffskrieg erreicht werden.

Ich hatte gezeigt, wie Hitler gerade durch seine legale Machtergreifung das Vertrauen nicht nur seiner SS-Männer ihm gegenüber stärkte, sondern auch das Vertrauen von solchen neuen Männern erwarb, die gerade auf einen verbrecherischen Weg sich mit ihm nie begeben hätten. Lesen Sie bitte, meine Herren Richter, die Aussage des Staatssekretärs Grauert vor der Kommission, um zu sehen, wie ein Mann mit besten Absichten in die Verwaltung Hitlers und in die SS eintrat, und wie er erst aus der Verwaltung 1936 ausschied, als er als erfahrener Verwaltungsjurist bemerkte, daß die Aufhebung des uralten Grundsatzes der Trennung der Gewalten des Staatswesens...

VORSITZENDER: Wollen Sie bitte den Namen buchstabieren?

RA. PELCKMANN: G-r-a-u-e-r-t.

VORSITZENDER: Gut.

RA. PELCKMANN: Was er als Fachmann erkannte – erst 1936 – blieb aber der Masse verborgen. Lesen Sie bitte hierfür auch die Zusammenfassung der rund 136000 Affidavits, aus denen sich erklärt, warum der Mitgliederbestand der Allgemeinen SS von 50000 am 30. Januar 1933 in wenigen Monaten auf zirka 300000 anschwoll.

Das ganz große Spiel Hitlers um die Macht und mit ihm der Riesenbetrug am deutschen Volk beginnt erst – so paradox es klingt – nach der sogenannten Machtergreifung. Nach einem Monat des Triumphes über die Kanzlerschaft, über diese parlamentarische Revolution, in deren Verlauf zweifellos Ausschreitungen vom Recht vorgekommen sind, die nicht der Masse als bewußte Planung zur Last gelegt werden können, wird der Vorwand geschaffen zur endgültigen Ausschaltung aller Gegner: Der Brand des deutschen Reichstags. Die Anklagebehörde behauptet nicht, daß das deutsche Volk, die Organisationsmitglieder, die SS-Männer gewußt oder auch nur geahnt hätten, daß dieser Brand in den Reihen der Nazis beschlossen und von Braunhemden unter Benutzung des Werkzeugs van der Lubbe ausgeführt worden sei. Diese Behauptung wäre auch absurd.

Um die Mentalität der SS-Männer zu verstehen, die nun nach dem Januar 1933 die Cadres der SS füllten und dann vier Fünftel ihres Bestandes ausmachten, muß man sich die Reichstagsrede Hitlers vom 17. März 1933 in Erinnerung rufen. Ein großer Teil der Opposition war durch das Verbot der Kommunistischen Partei und die Verhaftung zahlreicher ihrer Mitglieder unter Billigung der empörten Bevölkerung wegen ihrer angeblichen hochverräterischen Beteiligung an der Brandstiftung bei der Wahl des neuen Reichstages nach dem Brande ausgeschaltet.

Gegenüber dem von Hitler unter Beachtung aller parlamentarischen Formen geforderten Ermächtigungsgesetz machten die sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder geltend, dieses Gesetz untergrabe die Rechtssicherheit.

Angesichts der wahren oben geschilderten Hintergründe ist es schon ein tolles Gaunerstück, wenn Hitler darauf folgendes erwiderte:

»Ich muß schon wirklich sagen, wenn wir nicht das Gefühl für das Recht hätten, dann wären wir nicht hier, und Sie wären auch nicht da... Meine Herren, dazu hätten wir es nicht nötig gehabt, erst zu dieser Wahl zu schreiten, noch diesen Reichstag einzuberufen.« (Reichstagsprotokoll 1933, Seite 65 und 66.)

Aber wer, meine Herren Richter, aus der Masse des Volkes, von den alten und neuen Mitgliedern der Allgemeinen SS wußte damals, daß Hitler faustdick log? Diese Männer wurden verführt durch den Mantel des Rechts, den sich Hitler umhing. Nicht nur mit dieser Rede! Denken Sie bitte, wie das Reichsgericht – alte erfahrene, ehedem republikanische Richter – mit minutiöser Genauigkeit in monatelanger Verhandlung bis ins Jahr 1934 hinein die Schuldfrage beim Reichstagsbrand untersuchte, zwar die Kommunisten Torgler, Dimitroff und andere freisprach, aber den Kommunisten van der Lubbe verurteilte und die Mittäterschaft unbekannt gebliebener kommunistischer Kreise in aller Öffentlichkeit feststellte. Mußte nicht die Masse der SS-Mitglieder, wie weiteste Kreise des deutschen Volkes, glauben, daß Hitler Volk und Staat tatsächlich vor einer gewaltsamen Revolution bewahrt hatte, für die damals die Kommunisten verantwortlich gemacht wurden? Wer hatte schon wie ich damals die große Chance, als Verteidiger zu erfahren, daß die seit Monaten, ja Jahren vorbereitete Anklage gegen Thälmann zurückgezogen werden mußte, weil eben einfach das Beweismaterial nicht ausreichte? Die wenigen, die damals oder alsbald später die Wahrheit erfuhren und ahnten und die unter der ständig wachsenden Gefahr, verhaftet zu werden, in Diskussionen mit Freunden und Bekannten Zweifel an der Richtigkeit der offiziellen und populären These äußerten, diese wenigen wissen, daß gegenüber diesem von der Propaganda unablässig unterstützten Schein des Rechts ihnen von der Masse kein Glauben geschenkt wurde.

Es schien der Masse einleuchtend, daß angesichts dieser Bedrohung des Staates die sogenannten »Staatsfeinde« zeitlich unschädlich gemacht wurden. So gesehen erschienen selbst die Konzentrationslager berechtigt. Darauf komme ich noch später zu sprechen. Alles das waren harte, in manchen Fällen auch verbrecherische Maßnahmen, die teilweise auch SS-Angehörigen zur Last fallen, die aber insgesamt die Masse der SS nicht belasten.

Wir dürfen das eine nicht verkennen: Zu der für eine Revolution typischen Gewaltanwendung durch ihre Anhänger ist es erst nach der Erlangung der Macht durch Hitler gekommen. Das Raffinierte dabei ist, daß diese Ausschreitungen, wie zum Beispiel Festnahmen und Körperverletzungen durch Mitglieder von Nazi-Formationen, zum geringsten Teil durch SS-Mitglieder, in dem durch Täuschung der Masse hervorgerufenen Bewußtsein geschahen, es geschehe zur Sicherung und Verteidigung der legal errungenen Macht vor Angriffen oder Bedrohungen.

Diese durch Täuschung der Massen über die wahren Vorgänge erzeugte Revolutionsstimmung nach Erlangung der Macht – geschichtlich wohl etwas Einmaliges – trägt die typischen Züge aller revolutionären Ausschreitungen: Unter dem Schutze tatsächlich oder angeblich idealer Beweggründe, wie Vaterlandsliebe, Menschheitsideale, wurden Verbrechen ausgeübt. Denken Sie, meine Herren Richter – da wir zu den vielen Revolutionen der Neuzeit noch nicht den nötigen Abstand haben – an die Französische Revolution: Welche Verbrechen wurden verübt unter der Devise »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«. Mir scheint es nach den Erfahrungen moderner Psychologie überhaupt ausgeschlossen, daß Massenbewegungen durch moralisch minderwertige Wunschvorstellungen ausgelöst oder angespornt werden können. Die Masse läßt sich bewußt nicht zu Verbrechen bestimmen. Auch Gustave Le Bon neigt dieser Ansicht zu. Im Schatten hoher Ideale der Massen vollziehen sich häufig Verbrechen, dann aber immer veranlaßt oder ausgeführt von wenigen, die die Massen über die wahren Gründe und Vorgänge täuschen. Dieser Gedanke scheint mir der Angelpunkt für die später noch zu behandelnde Frage der Konzentrationslager und der Greueltaten in ihnen und die Verantwortlichkeit der Masse der SS-Mitglieder für sie.

Zu solchen die Masse begeisternden Idealen gehört auch der Begriff »Treue«. Man muß die deutsche Mentalität kennen, um ganz ermessen zu können, welch ungeheuere Möglichkeiten schamloser Mißbräuche an Hunderttausenden dieser Begriff dem psychopathologischen Volksverführer Hitler bot. Wir wissen, was dem Durchschnittsdeutschen auf Grund seiner Erziehung, beeinflußt durch romantische, rücksehende Geschichtsbetrachtung das Wort »Treue« bedeutet, das schon Tacitus an den Vorfahren der Deutschen rühmt. Hitler nutzt diese Schwäche der Deutschen aus und kettet dadurch Hunderttausende, ja Millionen an sich und sein Schicksal.

Wir wissen; Das, was im Privaten möglich und gehörig ist, das ist im Staate grundsätzlich schon Verderben, ich meine: die unbedingte Bindung an einen Menschen.

Der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers sagt in seiner Schrift »Die Schuldfrage« dazu folgendes:

»Die Treue der Gefolgschaft ist ein unpolitisches Verhältnis in engen Kreisen und in primitiven Verhältnissen. Im freien Staat gilt Kontrolle und Wechsel aller Menschen.«

Der deutsche Sozialist Bebel drückte es einmal aus:

»Mißtrauen ist die Tugend der Demokratie.«

Für die freien Völker der Welt sind diese Ansichten selbstverständlich, für ein Volk aber, das die modernen Staaten nach rückerinnernden, geschichtlichen Wunschträumen ausrichten wollte, sind sie neue Offenbarungen.

Mit Recht sieht Jaspers eine doppelte Schuld:

»Erstens sich überhaupt politisch einem Führer bedingungslos zu ergeben, und zweitens die Achtung des Führers, dem man sich unterwirft. Schon die Atmosphä re der Unterwerfung ist gleichsam eine kollektive Schuld.«

Jaspers meint damit ausdrücklich eine moralische, politische Schuld, keine kriminelle Schuld.

Im Einzelfall kann aber für den einzelnen Täter aus dieser Treue eine kriminelle Schuld erwachsen. Das wird offenbar, wenn wir die geheime Posener Rede Himmlers vor SS-Obergruppenführern der Heimat und des rückwärtigen Heeresgebietes erst spät in der Kriegszeit, Oktober 1943, hören (1919-PS, Dokument SS-98). Er sagt nach verschiedenen Ausführungen über den Gehorsam und die Möglichkeit, die Ausführung von Befehlen zu verweigern, ganz klar: Wer aber untreu wird – und sei es nur in Gedanken –, der werde ausgestoßen aus der SS und er – Himmler – werde dafür sorgen, daß er aus dem Leben verschwindet.

Das, meine Herren Richter, ist ein wichtiger Hinweis für die Frage der Zumutbarkeit im Einzelfall und dafür, wieweit Zwang und Befehl – während des Krieges – die Schuld und damit auch die Verbrecherischkeit bestimmter Einzelpersonen oder Untergruppen ausschließt, zusätzlich zu der Frage der Kriegsdienstverweigerung und ihrer Folgen nach dem Wehrgesetz.

Von welch überirdischer, ja wohl teuflischer Gewalt dieses Band der Treue war, dafür gibt Himmler mit seiner eigenen Person das beste Beispiel in seinem Verhältnis zu Hitler in den letzten Tagen des Krieges. Der Schwede Graf Bernadotte schildert in seinem Buch »Der Vorhang fällt« aus eigenem Erleben, wie Himmler den Entschluß, das deutsche Volk vor seinem Untergang durch Einstellung der Kampftätigkeit zu retten, trotz klarster Erkenntnis der Konsequenzen nicht fassen kann, weil er – wie Bernadotte gesteht – selbst in dieser aussichtslosen Situation Hitler die Treue nicht brechen dürfe. Wir wissen aber auch, wie zu allen Zeiten und bei allen Völkern die Treue die Soldaten in schwerstem Kampfe aushalten ließ bis zum letzten Blutstropfen, so wie es die Männer der Waffen-SS taten, die sich dadurch in diesem Kriege die Achtung ihrer Gegner erwarben. Und wir ersehen aus diesen zwei Beispielen, wie in diesem hypnotischen Wort »Treue« verbrecherischer Wahnsinn und höchste Tugend des Soldaten gleichermaßen beschlossen liegen.

Soweit zur Frage, was der SS-Mann von den Programmpunkten der Partei wußte, wenn er sie überhaupt genügend kannte – das ist nach den Affidavits der 136000 SS-Männer durchaus zweifelhaft – und wie er die Ideale gerade seiner Organisation sah. Aber sannen nicht die Nazi-Führer von Anfang an auf Krieg, wie Herr Jackson behauptet? – und ich antworte: Nach unserer heutigen Kenntnis zugegeben, ja! – Aber was konnte der SS-Mann davon wissen?

Warum die Umstellung eines Heeres von Berufssoldaten auf ein Volksheer Planung eines Angriffskrieges bedeuten soll, wird von der Anklage nicht gesagt. Die Schweiz, das Musterbeispiel eines Landes mit einem Volksheer, hat schon lange überhaupt keine Kriege mehr geführt. Die Befürwortung der körperlichen Ertüchtigung und der sportlichen Betätigung der Jugend sollte einen getarnten Plan zur militärischen Ausbildung darstellen? Den Beweis dafür ist Justice Jackson meines Erachtens schuldig geblieben. Die Ausbildung der Allgemeinen SS war unmilitärisch; Geländesport, der bei der SA betrieben wurde, fehlte völlig, und – ein typisches Beispiel – die Reiterstürme der SS, schon zahlenmäßig kleiner als die der SA, verhalfen den Mitgliedern nicht einmal zum Reiterschein, wie bei der SA. (Vergleiche die Aussage von Weikowsky-Biedau vor der Kommission.)

Daß Hitler den Krieg wollte, das wissen wir heute, besonders aus den intimen Gesprächen mit Rauschning und bei der Betrachtung des Gesamtgeschehens – aber wohlgemerkt: ex post, meine Herren Richter!

Es wäre ein verlorenes Unterfangen gewesen, dem deutschen Volk in der Lage, in der es sich nach dem ersten Weltkrieg befand, einen neuen Krieg als »weniger anstößig oder arg« oder gar als »edle und notwendige Beschäftigung« hinstellen zu wollen, um die Ausdrücke von Justice Jackson zu gebrauchen. Hitler, dem man alles, aber nicht Unkenntnis der Massenpsychologie vorwerfen kann, hat dementsprechend auch immer wieder – vor und nach 1933 – betont, daß er Frieden, Frieden und nichts als Frieden wolle. Er hat darauf hingewiesen, daß er die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe gespürt habe, daß der Krieg immer eine Gegenauslese zu Lasten der wertvollsten Menschen eines jeden Volkes sei. Nur damit hat er immer größere Teile des deutschen Volkes für sich und seine Idee gewonnen. Mit Kriegspropaganda, und wäre sie noch so vorsichtig geführt worden, hätte er das niemals erreicht.

Die Wiederaufrüstung wurde dem deutschen Volke nur als Bestätigung des Friedenswillens und als Defensivmaßnahme gegen die Nichtabrüstung der anderen und etwaige Versuche, den friedlichen Aufbau Deutschlands zu stören, hingestellt. Dafür sprach der Bau des Westwalls, dafür sprachen selbst Äußerungen ausländischer Militärfachleute. Die hochgestellten Hauptangeklagten und viele Zeugen, selbst der gewiß unverdächtige Zeuge Gisevius, haben bestätigt, daß nicht einmal in Führungskreisen etwas über eine Planung von Angriffskriegen gesprochen wurde. Für die SS gilt dasselbe in verstärktem Maße. Die gesamte Schulung in den Organisationen gipfelte immer wieder darin, daß die Durchführung des Parteiprogramms rechtmäßig und auf friedlichem Wege erfolgen sollte, daß der Friede auf jeden Fall notwendig sei und erhalten werden müsse. In allen SS-Organisationen wurde nicht nur keine psychologische Kriegsvorbereitung betrieben, sondern im Gegenteil der Friedenswille des Reiches betont.

Ich bitte das Hohe Gericht, in diesem Zusammenhang die Dokumente SS-70, 71, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82 aus den Jahren 1933 bis 1935 zu lesen, darunter besonders einen Artikel aus dem »Schwarzen Korps« von 1937 »Die SS liebt den Krieg nicht« und noch andere Dokumente, die ich nicht zitiere.

Der Mangel der psychologischen Kriegsvorbereitung im deutschen Volke und auch in der SS ist dem aus- und inländischen Beobachter wohl noch nie so klar geworden, wie durch die Reaktion der Menschenmassen bei dem Pakt in München 1938. Der Jubel der Massen einschließlich der absperrenden SS galt nicht Adolf Hitler, der das Sudetenland erpreßt hatte, sondern dem Hitler und fast mehr noch allen ausländischen Staatsmännern, die den Frieden gerettet hatten.

Denn das deutsche Volk und die Soldaten wollten keinen Krieg und – das muß, um der historischen Wahrheit willen, an dieser historischen Stelle gesagt werden – als es 1939 doch zum Kriege kam, nahmen sie dieses Schicksal nicht mit jubelnder Begeisterung wie 1914, sondern in ernstem Schweigen auf, in ihrer Masse in dem Irrglauben, dieser Krieg sei von der Führung nicht gewollt, also kein Angriffskrieg.

Es hieße aber die Würde aufgeben und das Gesicht verlieren, wenn ich leugnen wollte, daß der junge Deutsche – gerade auch in der SS – sein Idealbild in den männlichen Tugenden sah, in den gleichen Tugenden des Sich-Behauptens und des Sich-nichts-gefallen-lassen-wollens, wie sie auch andere Völker haben; er aber, der SS-Mann, vielleicht noch etwas betonter und nicht immer gut und klug betont. Aber keiner der alten Soldaten, der Studenten und Bauern, die zur SS gestoßen waren, stellte sich unter Krieg auch nur entfernt das vor, was Hitler darunter meinte. Wenn Hitler gewagt hätte, diesen Männern von Überfällen auf fremde Völker zu sprechen, mit denen er noch eben feierliche Freundschaftsverträge geschlossen hatte, oder von Einsatzkommandos im feindlichen Land, so hätte er außer einer Hand voll Desperados keine Gefolgsmänner gefunden. Der Krieg, vor dem – wie ich zugeben muß – der großgewachsene, blonde und vielleicht geistig nicht immer sehr geweckte typische SS-Mann nicht zurückgeschreckt wäre, war der Krieg, wie er in seiner Vorstellung seit Jahrhunderten von seinen Vorfahren geführt worden war, der letzten Endes immer auf die Anrufung des Schicksals hinauslief, auf das große Würfelspiel der Götter. Gewiß – auch dieses atavistische Gefühl; muß man dem Deutschen und besonders unserer Jugend abgewöhnen – und in dieser Hinsicht bin ich für meine Landsleute jetzt optimistischer als für manches andere Volk, aber dieser Krieg, der doch vorläufig nicht ausrottbar erscheint- der Kellogg-Pakt und das moderne Völkerrecht verwerfen den Krieg als Mittel der Verteidigung und Selbstbehauptung ja nicht – dieser Krieg ist etwas grundlegend anderes, als der Hochverrat am Frieden der Welt, der Überfall und Raub mit Ausrottungstendenz, den Hitler erfand.

Neben diesen allgemeinen Zielen und Tendenzen der Allgemeinen SS, welche die Anklagebehörde aus diesen Anfängen ihrer Tätigkeit ihr zur Last legt und mit denen sie den Charakter dieser Organisation als verbrecherisch kennzeichnen will, ist es vor allem ein Ereignis, das den verbrecherischen Charakter schlagartig angeblich enthüllt: Die Tötungen, die am 30. Juni 1934 vorgenommen worden sind.

Drei Seiten, Euer Lordschaft, welche die Beweisaufnahme zu diesen Ereignissen würdigen, muß ich aus Zeitmangel überschlagen.

Die Beweisaufnahme hat zu den Vorgängen, die sich am 30. Juni 1934 und den folgenden Tagen in Deutschland abgespielt haben, folgendes ergeben (Zeugen Hinderfeld, Grauert, Jöhnk, Reinecke, Eberstein, Affidavit SS-70 Kamp Franz, Affidavit SS-3 Schmalfeld und Affidavits SS-119 bis 122 Zusammenfassung der Massenerklärungen):

Die Allgemeine SS wurde im Laufe des Vormittags des 30. Juni fast überall im deutschen Reichsgebiet alarmiert. Dort, wo sich Kasernen der Polizei oder Reichswehr befanden, wurde sie in diesen, andernfalls in öffentlichen Gebäuden, wie Schulen und so weiter zusammengezogen und so am 30. Juni, zum Teil auch noch am 1. Juli zusammengehalten. In den meisten Fällen blieb sie völlig untätig, nur an einigen Orten wurde sie von der Polizei zur Mithilfe bei der Beschlagnahme von Waffen in SA-Dienststellen herangezogen. In Berlin wurde diese Aufgabe durch die Polizeiabteilung z. V. Wecke allein durchgeführt, während hier der Großteil der Allgemeinen SS, die in der Leibstandartenkaserne in Lichterfelde zusammengezogen war, im Laufe des 30. Juni zu Absperrmaßnahmen am Tempelhofer Flugplatz eingesetzt wurde. Zu diesem Zweck erhielt die Allgemeine SS, die sonst unbewaffnet blieb, Waffen von der Polizei beziehungsweise Reichswehr zur Verfügung gestellt. Nach Ankunft Hitlers mit dem Flugzeug aus München marschierten die Einheiten der Allgemeinen SS in die Kasernen zurück und mußten dort die Waffen unverzüglich wieder abliefern (Affidavit SS-3 Schmalfeld).

Verhaftungen und Exekutionen wurden nirgends durch Einheiten der Allgemeinen SS durchgeführt (Zeuge Eberstein). Vielmehr verhaftete in München, einem der Brennpunkte des sogenannten Röhm-Putsches, Hitler selbst die beteiligten SA-Führer. Ebenso nahm er selbst in Wiessee am Tegernsee die Verhaftung Röhms und dessen engerer Umgebung vor. Röhm und die übrigen SA-Führer wurden anschließend in das Strafgefängnis Stadelheim verbracht und noch im Laufe des Tages von einem Exekutionskommando, das sich aus Angehörigen der Leibstandarte zusammensetzte, erschossen (Zeuge Jöhnk).

Die Festnahmen in Berlin, dem zweiten Brennpunkt der Revolte, erfolgten nach Weisungen von Göring durch die Geheime Staatspolizei. Zur Aburteilung der Verhafteten wurde ein Standgericht gebildet, in dem auch die Reichswehr durch den Wehrkreisbefehlshaber beziehungsweise den Stadtkommandanten vertreten war. Vor der Hinrichtung durch ein Exekutionskommando der Leibstandarte wurde jeweils das Urteil des Standgerichts verlesen. Die Erschießungen fanden auf dem Gelände der Leibstandartenkaserne in Lichterfelde statt. Der Hinrichtungsplatz war von der Finkensteinallee aus den dort befindlichen Mietshäusern einzusehen. Nicht alle SA-Angehörigen, die vor das Standgericht gestellt worden waren, wurden hingerichtet. Dagegen wurden einige SS-Angehörige, die sich Mißhandlungen von Häftlingen hatten zuschulden kommen lassen, standrechtlich erschossen (Zeuge Jöhnk, Affidavit Schmalfeld SS-3).

Den Angehörigen der Allgemeinen SS wurden die Gründe für ihre Alarmierung erst nachträglich bekanntgegeben. Ebenso verhielt es sich mit den Angehörigen der Leibstandarte. Es liefen zwar in den Tagen vor dem 30. Juni die verschiedensten Gerüchte herum, die sich vielfach mit der Haltung der SA beschäftigten. Unterrichtet wurde die Masse der SS jedoch erst durch die Verlautbarungen von Presse und Rundfunk am 30. Juni selbst. Sie erhielt damit die gleiche amtliche Darstellung wie das deutsche Volk und die ganze Welt (Zeuge Hinderfeld).

Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung konnten der Allgemeinen SS weder damals noch in den folgenden Jahren kommen. Selbst höchste SS-Führer wurden, wie die eidlichen Aussagen des SS-Obergruppenführers von Eberstein und des SS-Brigadeführers Grauert beweisen, von Himmler beziehungsweise Göring selbst dahingehend unterrichtet, daß Röhm mit der SA einen Putschversuch unternommen hatte. Die geschilderte Art des Einsatzes der Allgemeinen SS am 30. Juni schließt weiter die Möglichkeit aus, daß die SS an den Gewalttaten, die außerhalb des standgerichtlichen Rahmens begangen wurden, beteiligt war.

Was die Meinungsbildung der Masse der SS-Angehörigen anbelangt, so waren für sie neben dem Wissen über die völlige Bedeutungslosigkeit ihres eigenen Einsatzes das Danktelegramm des Reichspräsidenten von Hindenburg (Dokument SS-74) und die Erklärung Hitlers vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 von maßgeblicher Bedeutung. In ihr wurde vom Kanzler des Deutschen Reiches eine Rechtfertigung für die Erklärung des Staatsnotstandes gegeben und der Kreis der hingerichteten Verschwörer zahlenmäßig umrissen. Besonders hervorzuheben ist der Hinweis Hitlers, daß die Gewalttaten außerhalb der zur Niederschlagung der Revolte erforderlichen Maßnahmen von den ordentlichen Gerichten abgeurteilt werden würden. Irgendwelche Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der durchgeführten Exekutionen konnten daher bei den Angehörigen der Allgemeinen SS und den Männern der Leibstandarte ebensowenig erwachsen wie Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Ankündigung, illegale Gewalttaten würden gerichtlich verfolgt.

Die Details, die Hitler von diesem angeblichen Hoch- und Landesverrat gab, insbesondere auch die Schilderungen der Verbindung der Verschwörer mit dem Ausland und der Attentatsplan gegen ihn selbst, sind geradezu verblüffend (Dokument SS-106). Sie waren auch nicht so abwegig, denn es ist eine geschichtlich bis in die neueste Zeit bekannte Tatsache, daß neue Regierungen vor ihrer Konsolidierung ganz besonders durch Opponenten und Konterrevolutionäre, sogar aus der Reihe ihrer alten Freunde, in ihrem Bestande lebensgefährlich bedroht werden und sich dagegen durch brutales Zugreifen sichern müssen. Daß in den folgenden Jahren von der SS möglichst wenig über die Vorgänge des 30. Juni geredet wurde, wie Himmler in Posen erklärte, kann als Anzeichen eines schlechten Gewissens nicht gewertet werden. Es war eine Frage des Taktes, nicht unnötig von Geschehnissen im eigenen Hause, das heißt zwischen den Parteigliederungen selbst, zu sprechen, durch die sich der eine Teil diffamiert fühlte, damit nicht immer wieder eine alte Wunde von neuem aufgerissen wurde.

Was schließlich die damals erfolgte Verselbständigung der SS und ihre Trennung von der SA anbelangt, so war hierin lediglich eine Anerkennung für die loyale Haltung der SS und ihre kompromißlose Ablehnung der Pläne Röhms, gleichzeitig aber auch eine gewollte Schwäche der Machtstellung des Stabschefs der SA zu sehen.

Den Vorgängen am 30. Juni 1934 kommt nach meinen Darlegungen keinesfalls die Bedeutung zu, die ihnen die Anklage zu geben versucht. Auf keinen Fall waren sie für die Angehörigen der SS der erkennbare Anfang einer verbrecherischen Entwicklung.

In diesem Zeitpunkt der Betrachtung der Ideenwelt und der Tätigkeit des SS-Mannes ist es wohl angebracht zu überlegen, welche sonstigen Momente zu seiner Meinungsbildung beigetragen haben.

Dabei müssen wir ohne Schönfärberei davon ausgehen, daß der SS-Mann ja nicht wie ein Opponent oder einer der damals so belächelten Intellektuellen unseres Schlages mit besonders kritischem Verstande alles prüfte, was über seinen Führer, über seinen Staat gesagt wurde. Sondern er wollte ja glauben an etwas, und dieser Glaube – das will ich nachweisen – wurde durch die Umwelt nicht erschüttert. Die Umwelt tat leider nichts, um ihn zu erschüttern.

Euer Lordschaft! Ich wäre an einem Abschnitt; wäre es recht, wenn die Pause jetzt eintreten würde?