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[Pause von 10 Minuten.]

VORSITZENDER: Herr Dr. Pelckmann! Sie sprechen jetzt schon zwei Stunden und 28 Minuten, so daß Ihnen noch genau 22 Minuten zur Verfügung stehen.

RA. PELCKMANN: Ich hatte zuletzt die Fragen gestellt, die mir wichtig erschienen für die Aufklärung der Verbindung der SS zu den Konzentrationslagerverbrechen. Ich hoffte, daß diese Fragen, deren Aufklärung sicher zur schnelleren Aburteilung aller Täter beitragen könnte, von den alliierten Gerichten beantwortet worden wären, die seit dem vorigen Jahre Konzentrationslagerprozesse durchgeführt haben. Deshalb, meine Herren Richter, habe ich beantragt, mir die Prozeßakten aller dieser Prozesse zur Durchsicht zur Verfügung zu stellen. Aus ihnen hätte ich vieles feststellen können, was nun mir und der gesamten Öffentlichkeit in den letzten Wochen klar geworden ist.

Ich habe nichts unversucht gelassen, um der Wahrheit doch noch näher zu kommen. Mein Antrag auf Zurverfügungstellung der Konzentrationslager-Verwaltungsakten wurde relativ spät eingereicht. Ich habe ihn nicht weiter verfolgt. Ich brauchte ihn nicht mehr weiter zu verfolgen, denn es war mir endlich Anfang Juli gelungen, einen Zeugen zu finden, der nach meiner Überzeugung zur Erforschung der Wahrheit, das heißt, der für diesen Prozeß erheblichen und historischen Wahrheit, in vieler Beziehung entscheidend war: den Zeugen Dr. Morgen.

Wir verdanken diesem Zeugen die anschauliche Begründung von drei wichtigen Erkenntnissen:

1. Die letzte Ursache der Tötung in den Konzentrationslagern war die Rechtlosigkeit des Häftlings, die Allmacht der Polizei (Gestapo) und die Ohnmacht der Justiz.

2. Anordnung und Durchführung von Massenvernichtungen von Juden in besonderen sogenannten »Vernichtungslagern« beruhen auf direkten Befehlen Hitlers. Sie wurden von ganz wenigen Eingeweihten ausgeführt.

3. Eine absolute Geheimsphäre sicherte mit raffiniertesten Täuschungsmitteln gegen Bekanntwerden der Vorgänge in Konzentrations- und Vernichtungslagern in der Öffentlichkeit und bei Strafverfolgungsbehörden.

Nie werde ich meine erste Begegnung mit diesem Zeugen Dr. Morgen vergessen. Alles in diesem riesenhaften, gebeugt dasitzenden Menschen rang danach, sich mitzuteilen, auszusprechen, was er seit etwa zwei Jahren wußte, was er in monatelangem Leben mitten in diesen Stätten des Grauens im Umgang mit Häftlingen und Personal erfahren und erlebt hatte.

Ich überspringe die nächsten Sätze.

Zweimal schon hatte er eingehend berichtet, einmal den deutschen höchsten zuständigen Stellen, damit sie Abhilfe schüfen, ein zweites Mal 1945 den amerikanischen Untersuchungsbehörden für die KZ-Greuel. Aber beide Male wurden seine Enthüllungen nicht ausgewertet.

Mit verzweifelter Hoffnung gab nun Dr. Morgen zum drittenmal seinen Bericht, durch den er wie von jeher dazu beitragen wollte, Schuldige zu finden, Unschuldige zu schützen, und jetzt die letzte Schuld der verbrecherischen Führung an den furchtbarsten Morden der Weltgeschichte dem deutschen Volk und der Welt zu zeigen. Das ist ihm gelungen.

Ich überspringe den nächsten Absatz, der die Anlange des Konzentrationslagerwesens und die Beteiligung der SS daran schilderte.

Die ersten Anfänge der Konzentrationslager sind gekennzeichnet durch absolute Rechtlosigkeit. Sie beginnt schon mit der Verhaftung, für die keine Rechtsgründe vorliegen. Es sind rein politische Zweckmäßigkeitserwägungen. Diese aber kennzeichnen von jeher dieses Machtmittel, das seit dem Beginn dieses Jahrhunderts bis in die Gegenwart von vielen Kulturstaaten, insbesondere in Zeiten politischer Hochspannung, angewendet wird – unter der verschiedensten Bezeichnungen. Ist also nach internationaler Übung in der Errichtung solcher Lager und der Einweisung von Häftlingen noch nichts Rechtswidriges zu sehen, so muß aber rücksichtslos zugegeben werden, daß sogleich nach der Machtübernahme und im Jahre 1933 bis 1934 die Durchführung dieser Haft von zahlreichen Greueln und Morden begleitet war. Die Dokumente 1216-PS und D-926 reden eine furchtbare Sprache. Es liegen auch genügend Beweise dafür vor, daß auch Mitglieder der SS hierfür verantwortlich sind.

Alsbald aber wurde die Einrichtung der Konzentrationslager und ihre Bewachung legalisiert. Ab 1933/1934 wurden sie aus dem Haushalt der einzelnen deutschen Länder finanziert und von der Politischen Polizei verwaltet. Als Leiter der Politischen Polizei aller Länder außer Preußen regelte Himmler 1934 die Bewachungsverhältnisse einheitlich. Er schuf unter Übernahme eines Teils der bisherigen Bewacher – SA- und SS-Männer – die Totenkopfverbände und ergänzte sie durch Freiwillige aus allen Volksteilen ohne Rücksicht auf Partei- und SS-Zugehörigkeit. Sie sind jetzt ausschließlich zur Bewachung der Konzentrationslager bestimmt und umfassen im Jahre 1936 400 Mann Kommandanturpersonal und 3600 Mann Wachtruppen. Diese bewachen zirka 10000 bis 12000 Häftlinge in fünf Konzentrationslagern in ganz Deutschland. Damit bitte ich den damaligen außerordentlichen hohen Mitgliederbestand der Allgemeinen SS zu vergleichen.

Ebenfalls im Jahre 1936 wurden die Konzentrationslager und ihre Bewachung in den Reichshaushalt übernommen, und zwar getrennt für Kommandantur und Wachtruppe. Zu Beginn des Krieges bestand das Kommandanturpersonal aus 600 Mann, die Wachmannschaften betrugen 7400 Mann. In ganz Deutschland gab es nur sechs Konzentrations-, und noch keine Arbeits- oder Außenlager, mit insgesamt 21300 Häftlingen. Zu dieser Zeit gab es zirka 240000 Mitglieder der Allgemeinen SS. Die Waffen-SS gab es noch nicht.

Daß die 1934 geschaffenen Totenkopf verbände als Sondertruppe des Staates nicht von der Partei, sondern vom Reich besoldet wurden und daß sie mit der Allgemeinen SS nur den Namensbestandteil »SS« und den Chef Himmler gemeinsam hatten, habe ich in den Ausführungen zur Organisationsfrage, die ich als Anlage überreiche, bewiesen. – Es folgt insbesondere aus dem Geheimerlaß Hitlers vom 17. August 1938 und dem Dokument SS-84.

Sehr wichtig, meine Herren Richter, erscheint mir nun folgende Veränderung nach Kriegsbeginn, als die Vernichtungswelle in den Konzentrationslagern langsam zu steigen beginnt.

6500 Mann der Wachmannschaften kamen an die Front mit einer neuaufgestellten Division. Damit schieden sie endgültig aus dem Konzentrationslagerwesen aus. Im Laufe des ganzen Krieges wurden nun, wie sich aus den Aussagen Brill und dem Affidavit SS-68 (Kaindl) ergibt, im Konzentrationslagerwesen zirka 30000 Mann beschäftigt, das heißt mit Zu- und Abgängen. Sie setzten sich zusammen aus 1500 Mann gebliebener Stammannschaft der Totenkopfverbände und 4500 Mann ursprünglich aus der Allgemeinen SS; diese 4500 waren ein Teil von insgesamt 36000 auf Grund der Notdienstverordnung bis 1940 einberufenen Mitgliedern der Allgemeinen SS, die Mitglieder der Waffen-SS geworden waren. Die übrigen 24000 Mann der Konzentrationslagermannschaften – also 80 Prozent – hatten zur SS ursprünglich noch keine nominelle Bindung. Es waren 7000 einberufene Volksdeutsche, 10000 Reichsdeutsche, die sich freiwillig zur Waffen-SS als Fronttruppe gemeldet hatten und 7000 vom Heer oder der Luftwaffe Überstellte. Unter den Freiwilligen waren viele aus der SA, dem Reichskriegerbund, der Partei und ähnlichen Verbänden. Alle – mit Ausnahme des Stammpersonals von 1500 Mann – waren gegen ihren Willen auf Befehl Himmlers zur Konzentrationslagerbewachung gekommen, ohne daß sie überhaupt im Kommandoamt der Waffen-SS erfaßt wurden.

Erst im Laufe des Krieges wurden die Wach- und Verwaltungseinheiten von Himmler unter Überschreitung seiner Vollmachten nominell in die Waffen-SS aufgenommen. Das geschah, um zu verhindern, daß das Personal des Konzentrationslagers ständig vom Wehrdienst freigestellt werden mußte, also aus Gründen, die die Bestimmungen der Wehrüberwachung praktisch außer Kraft setzen sollten. Daß sich dadurch aber an der staatlich-polizeilichen Aufgabe des Konzentrationslagerwesens hiermit nichts änderte, und daß insbesondere das Konzentrationslagerwesen hiermit nicht zur Angelegenheit der Waffen-SS wurde, kann nach den eindeutigen Aussagen der Zeugen Reinecke, Jüttner, Ruoff, Brill und vieler anderer nicht mehr zweifelhaft sein. Tatsächlich wurde das gesamte Konzentrationslagerwesen auch nach dieser formellen Überführung der Mannschaften in die Waffen-SS nicht von den Führungsstellen dieser Organisation, sondern von einem ganz eigenen Amt, der bekannten Amtsgruppe D im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt geleitet und verwaltet – Zeuge Stein, Affidavits SS-41 SS-100 Fanslau; SS-99, Frank.

Ich bitte, nun die folgenden drei Seiten, die sich eingehend mit der abgegrenzten Tätigkeit der Amtsgruppe D beschäftigen, lesen zu wollen und ferner den tatsächlichen Teil der Aussage Morgen über die Vernichtungslager, insbesondere auch über die Vernichtungslager Wirth und Höß.

Diese Amtsgruppe D, die nicht nur von den anderen SS-Ämtern, sondern auch von den übrigen Abteilungen des WVHA scharf getrennt war – organisatorisch, personell und auch örtlich, wie sich aus dem Affidavit SS-68, Kaindl, und SS-99, Frank, ergibt –, befehligte und beaufsichtigte die Wachmannschaften und das Kommandanturpersonal. Alle KZ-Einnahmen – besonders aus Häftlingsarbeit – wurden beim Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, Amtsgruppe D, gebucht, und zwar nur als durchlaufende Posten für das Reich, die also auch der Waffen-SS nicht zugutekamen. Der Etat der Waffen-SS wurde dem des Heeres völlig gleich behandelt. Er war nicht mit dem des Heeres verbunden, aber er wurde in der gleichen Weise festgestellt, von dem gleichen Beamten des Innenministeriums gegen den des Heeres abgestimmt und in Korrelation gebracht.

Niemals – das möchte ich noch hervorheben – ist ein geschlossener Truppenteil der Waffen-SS zur KZ-Bewachung abkommandiert worden.

Damit habe ich ihnen, meine Herren Richter, die Zuständigkeit für Kommandantur- und Wachpersonal und für den Lagerbetrieb erläutert und sie gegen die Allgemeine SS und gegen die Waffen-SS abgegrenzt.

Noch schärfer ist die Abgrenzung der Zuständigkeit bei der Frage, wer über die Einweisung und Entlassung oder gar über die Tötung der Häftlinge zu entscheiden hatte. Das ist ausschließlich die Geheime Staatspolizei.

Bei dieser Sachlage ist kein Zweifel, daß für alle Unmenschlichkeiten und Morde, die in den Konzentrationslagern vorgekommen sind, die Täter – unmittelbar oder mittelbar – an der Spitze und in diesen beiden Ämtern und in dem Konzentrationslager-Personal zu finden sind.

Der Zeuge Dr. Morgen und viele Affidavits zum Konzentrationslagerwesen heben aber – darauf muß ich schon jetzt zur weiteren Abgrenzung hinweisen – hervor, daß die Wachmannschaften grundsätzlich mit dem internen Lagerbetrieb nichts zu tun hatten, daß ihnen der Eintritt in das eigentliche Lager verboten und nicht möglich war. Exekutionen und Erschießungen auf Anordnungen des Reichssicherheitshauptamtes, erst recht solche auf Grund angemaßten Rechts des Kommandanten, fanden durch ein Kommando des Kommandanturstabes statt, nicht durch die Wachmannschaft.

Wohl zu unterscheiden von den Konzentrationslagern sind die Vernichtungslager. Sie entstehen seit dem Jahre 1942, seitdem Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hat und nun seine blutigste Rache nehmen will für diese Entwicklung des Krieges, für die er die Juden in aller Welt verantwortlich macht. Aus den grausigen Schilderungen der Zeugen Höß und Morgen haben wir die Technik dieser Massentötungen noch in Erinnerung.

Aus den Aussagen und Affidavits von Höß und Morgen und der Vernehmung Wislicenys vor dem Tribunal und der Kommission haben wir jetzt ein umfassendes Bild von diesem ganzen Mordsystem erhalten. Hitler und bestimmte Stellen der Kanzlei des Führers – im Morden schon durch die Praxis der Vernichtung von Geisteskranken geübt – bedienten sich zweier Fachleute, des Reichsarztes Dr. Grawitz und des Kriminalkommissars Wirth. Der eine entwickelte medizinisch die beste Tötungsmethode, der andere die beste Durchführungstechnik unter Täuschung der Opfer und der Umwelt.

Außer Wirth, dem Chef des Vernichtungslagers nahe Lublin, war noch Höß vorhanden, der Chef des Vernichtungslagers in Auschwitz, richtiger Monowitz, zugleich Chef des Konzentrationslagers Auschwitz.

Einer der Zutreiber dieser Opfer war Eichmann, der in der Gestapo eingebaut war und bis Hitlers Befehl der Endlösung, das heißt der Tötung, die Juden nach dem Osten in Lager deportierte.

Die Transporte wurden – wie Wisliceny am 5., 6. und 7. Juni vor der Kommission ausgesagt hat – nur von Polizei, auch slowakischer und ungarischer, begleitet, nur ein einziges Mal von SS-Leuten, die als volksdeutsche Ungarn eingezogen worden waren.

Alle diese Vernichtungsanlagen gingen auf besondere Befehle Hitlers, der Kanzlei des Führers, zurück und fielen aus dem Rahmen des normalen Konzentrationslagersystems. Deshalb waren für sie auch nicht die normalen Befehlswege und Organisationsformen gegeben. Wirth war Kriminalkommissar, ohne SS-Mitglied zu sein, Höß wurden die Vernichtungsbefehle außer von Himmler nur noch von Eichmann persönlich übermittelt, ohne daß er seinen unmittelbaren Vorgesetzten Glücks, den Inspekteur der Konzentrationslager, davon benachrichtigen durfte. So hat Höß am 15. April ausgesagt.

Was folgt nun aus all diesem furchtbaren Geschehen – begonnen mit Konzentrationslagergreueln über die Einsatzgruppen bis zu den Massenvergasungen – für die Anklage gegen die SS?

Die Anklage behauptet, daß alle die von ihr angeführten Verbrechen in solch einem Ausmaß und auf einem so großen Gebiet verübt worden sind, daß sie und die verbrecherischen Ziele und Methoden jedem Mitglied bekanntgewesen sein müssen.

Damit sagt sie – und der Gerichtsbeschluß vom 13. März 1946 folgt ihr –, daß die Kenntnis des kriminellen Tatbestandes Voraussetzung der Verurteilung ist.

Die Behauptung der Staatsanwaltschaft geht auf folgende Überlegung zurück:

Presse- und Rundfunkmeldungen, Äußerungen offizieller Persönlichkeiten und Veröffentlichungen aller Art in den alliierten Ländern vor dem und vor allem während des Krieges haben die Öffentlichkeit dieser Staaten in weitestem Umfange über Greueltaten in den Konzentrationslagern und sonstige Verbrechen unterrichtet. Unter diesen Umständen scheint sich die Schlußfolgerung geradezu aufzudrängen, daß, wenn schon in diesen Ländern die Tatsache derartiger Verbrechen fast allgemein bekannt war, dies in um so höherem Maße in Deutschland und besonders in der SS der Fall gewesen sein müsse. Aus den vorgelegten, teilweise ausführlich begründeten Massen-Affidavits ergibt sich, daß die Masse der SS-Mitglieder jede Kenntnis bestreitet. Die Verteidigung hat aber außerdem dem Vorbringen der Anklage eine gleich umfassende Behauptung entgegensetzt:

Die im Gebiete des deutschen Machtbereichs begangenen Verbrechen wurden unter einem so bis ins einzelne durchgearbeiteten System der Geheimhaltung ausgeführt, daß die Masse der SS-Angehörigen von ihnen nicht nur nichts gewußt hat, sondern von ihnen überhaupt nichts wissen konnte. Während das Anklagevorbringen nur durch das rechtlich sehr bedenkliche Verwenden von Schlußfolgerungen glaubhaft gemacht werden kann, ist das Vorbringen der Verteidigung dem Tatsachenbeweis zugänglich. Und diesen Beweis, meine Herren Richter, hat die Verteidigung nach meiner Überzeugung erbracht.

Beginnen wir jetzt mit den Konzentrationslagern. Ich schildere auf den nächsten Seiten – ich bitte das nachzulesen – den Schleier des Geheimnisses mit sämtlichen Vorschriften und Umständen, die ein Durchdringen der Tatsachen nach außen unmöglich machten.

Der dichte Schleier des Geheimnisses und bewußter Täuschung wird uns rückschauend schon sehr bald offenbar. Es sind in dieser Zeit in ganz Deutschland nur fünf bis sechs Lager mit etwa 12000 Häftlingen im Jahre 1936 und 21000 im Jahre 1939 vorhanden. Es ist selbstverständlich, daß für diese Zeit die Behauptung der Anklage nicht zutrifft, daß jeder Deutsche bei jeder Reise an vielen Konzentrationslagern vorbeigekommen sei. Aber auch die relativ geringe Zahl des Konzentrationslagerpersonals von wenigen Tausend läßt eine Verbreitung von Nachrichten über KZ-Zustände wenig glaubhaft erscheinen. Der größte Teil dieses Personals – die Wachmannschaften – durften das eigentliche Lager nicht betreten.

Charakteristisch für die Täuschung der Öffentlichkeit sind die Ausführungen Himmlers, die er bei der Besichtigung eines Konzentrationslagers durch Wehrmachtsoffiziere machte und die in der Sammlung »Nationalpolitischer Lehrgang« (Dokument 1992 a-PS) enthalten sind.

Die Häftlinge beständen aus Kommunisten und Kriminellen, die teils nur für wenige Monate, teils für längere Zeit eingewiesen seien. Er verweist auf die Sauberkeit im Lager, auf das häufige Waschen und den Wechsel der Wäsche und den Gebrauch der Zahnbürste. So mußte in den Besuchern der Eindruck entstehen, als ob es sich bei den Kriminellen wirklich um asoziale Elemente niederster Stufe handele, die im Lager ein erträgliches Leben hätten. In zahlreichen Affidavits wird erklärt, wie die Besucher gerade aus Kreisen der SS, zum Beispiel bei Besichtigung durch Junkerschulen, geordnete Verhältnisse und Häftlinge in ausreichendem Ernährungszustand vorfanden.

Alles im Lager ist geheim. Nicht nur die offiziellen Vollstreckungen von Todesurteilen von Gerichten, auch die Exekutionsanweisungen des Reichssicherheitshauptamtes, die erst mit Beginn des Krieges einsetzen und erst recht die Morde aus eigener Machtanmaßung der Kommandanten wurden nicht öffentlich vorgenommen. Dr. Morgen schildert das in seinem Affidavit SS-66 ausführlich. Er hat in seiner Vernehmung all die raffinierten Methoden geschildert, um Morde als natürliche Todesursachen zu fingieren und damit die zivile Gerichtsbarkeit und ab 1940 die SS-Gerichtsbarkeit zu täuschen.

Ich bitte Sie, meine Herren Richter, sich bei diesen Fragen einmal vor Augen zu halten, daß Todesfälle und Mißhandlungen in größerem Umfange erst mit Beginn des Krieges einsetzen.

Die Verpflichtung zur unbedingten Geheimhaltung oblag nicht nur dem Personal, sondern wurde auch den entlassenen Häftlingen auferlegt. Die von ehemaligen Häftlingen seitens der Anklage vorgelegten Affidavits betonen zwar häufig diese Schweigegebote, aber auffallend ist, daß sie selber nicht behaupten, diesem Gebot zuwidergehandelt zu haben (zum Beispiel Dokument 2334-PS). Nach den Erfahrungen, die wir in unserem Beruf gemacht haben, haben diese Schweigegebote außerordentlich stark gewirkt, trotz des größten Vertrauensverhältnisses. Die Angst, auf Grund irgendeiner Indiskretion wieder zurück zu müssen ins Lager, war doch zu groß.

Seit Aufstellung der Totenkopfverbände als Lagerpersonal 1934 hat die Allgemeine SS und später die Waffen-SS mit diesen Konzentrationslagerbewachungen und erst recht mit dem Kommandanturpersonal personell und rechtlich nichts mehr zu tun.

Die Amtsgruppe D des WVHA war mit ihrer kleinen Gruppe von etwa 30000 Mann der sogenannten nominellen Waffen-SS ein streng in sich geschlossenes und von anderen abgeschlossenes System geworden mit eigenem Telephon- und Fernschreibnetz und eigenen Kurieren zu den Konzentrationslagern. Nur noch die Gestapo hatte einen eigenen Kanal in die Lager, und zwar zur sogenannten politischen Abteilung, die ihr unterstand, meist unter Leitung eines Kriminalsekretärs. Also auch das war keine Verbindung zur übrigen SS.

Beachtlich für die Frage der Geheimhaltung ist die Tatsache, daß, wie Kaindl im Affidavit SS-68 ausführt, die Kommandanturstäbe bis Mitte 1942 fast durchweg mit demselben Personal wie zu Beginn des Krieges besetzt blieben, so daß auch dadurch vor 1942 eine Verbreitung der Kenntnis über die Zustände nicht geschehen konnte. Dabei muß man psychologisch immer bedenken, daß die als Befehlsgeber oder Befehlsempfänger Verantwortlichen keine Veranlassung hatten, über ihr dunkles Tun zu sprechen.

Ich muß wegen des Zeitmangels die nächsten Seiten überschlagen und bitte ergebenst, sie nachzulesen. Sie beschäftigen sich eingehend mit der Gegenpropaganda, die bewußt von deutscher Seite gestartet wurde und geben dafür ausführliche Beweismittel aus Affidavits und Zeugenaussagen vor der Kommission. Dasselbe gilt für die Massenvernichtungslager in Auschwitz, Monowitz, Treblinka und so weiter.

Wie schwierig es war, hinter die Dinge zu sehen, das hat an sehr lebendigen Beispielen der Zeuge Dr. Morgen nach meiner Überzeugung glaubhaft geschildert. Er hat im einzelnen begründet, wie durch das Zusammenwirken von Kommandant, Arzt und Haftanstaltsdirektor häufig im Verein mit ergebenen Kapos jedes Verbrechen so vertuscht werden konnte, daß weder bis 1939 die Justizbehörden, noch später die SS-Gerichtsbarkeit, noch die anderen Häftlinge etwas bemerkten.

Diese Zustände haben zu furchtbaren Morden und Mißhandlungen geführt – ich muß aber im Interesse objektiver Wahrheitsfindung und zur Würdigung dieser Vorgänge im Lichte der Kollektivschuldfrage Wert auf Dr. Morgens Feststellung legen, daß er Lagerkommandanten kennengelernt habe, die das Menschenmögliche für die Häftlinge getan haben, und ebenso Ärzte.

Und dabei darf ich an die Antwort des Herrn Präsidenten an Herrn Dubost in der Sitzung vom 18. Januar erinnern, nämlich daß die Vernehmung von Häftlingen aller Lager notwendig wäre, wenn man beweisen wolle, es sei überall so mörderisch und menschenunwürdig gewesen.

Ich gedenke hier nicht, die SS-Gerichtsbarkeit zu verteidigen, auf deren Schicksal kommt es zuerst gar nicht an. Aber gibt es nicht zu denken, wenn auch sie erst im Jahre 1943 erkannte – und zwar durch einen Zufall –, daß die so gut getarnten Todesfälle in Wahrheit Morde sind? Gibt es nicht zu denken, wenn man den widerstand maßgeblicher Leute: Pohl, Kaltenbrunner, Müller sieht, der so weit ging, daß Pohl während der Untersuchungen an alle Kommandanten einen Befehl erließ, allen SS-Richtern sei das Betreten der Konzentrationslager nur mit seiner ausdrücklichen Zustimmung gestattet?

Die Anklagebehörde hat auch gar nicht den Versuch unternommen, die Aussagen Dr. Morgens zu diesem erheblichen Punkte der Geheimhaltung zu erschüttern. Sie kann es offenbar nicht, obwohl sie offenbar im Besitze aller Akten des Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes und wohl auch des Hauptamtes SS-Gericht ist, da sie ja sogar die Aussage der Frau Eleonore Hodys, die diese vor dem ehemaligen Untersuchungsrichter Dr. Morgen gegen Höß im Herbst 1944 abgegeben hat, in einer Broschüre wörtlich veröffentlichte. Daß für die Prosekution absolut keine Möglichkeit besteht, die Aussage Dr. Morgens zu widerlegen, möchte ich aber auch daraus schließen, daß sie einmal versuchte, die Vernehmung des Zeugen durch mich dadurch zu beenden, daß sie behauptete, ich handele mit dieser Vernehmung nur zugunsten der Anklage, dann aber im Widerspruch hierzu auf das Kreuzverhör des Zeugen verzichtete mit der Begründung, seine Aussage sei durch das ganze bisher vorgebrachte Beweismaterial widerlegt.

Nein, für mich besteht kein Zweifel, daß die maßgebenden Leute mit allen Fasern danach trachteten, das Geheimnis um ihre Verbrechen gerade in den Konzentrationslagern dichter und dichter zu gestalten – und ich glaube, auch beweisen zu können, daß sie damit Erfolg gehabt haben.

Ganz besonders vorsichtig mußte bei den Massentötungen vorgegangen werden. Und hierzu stimmen die Aussagen Höß, Wisliceny und Morgen in den wesentlichen punkten überein. Es gab besondere Befehlswege von der Reichskanzlei zu Wirth oder von Himmler zu Eichmann und zu Höß. Alle drei Zeugen schildern übereinstimmend, daß nur sehr wenige beschäftigt und eingeweiht waren. Höß spricht für seinen Fall von zirka 60 Mann in Auschwitz, Dr. Morgen im Affidavit SS-65 für den gesamten Vernichtungskomplex von wenigen hundert. Auch Wisliceny bestätigt eine Zahl von etwa hundert für die Aktion Eichmann.

Die von Anfang an bei Juden und Begleitpersonal bis zum schauerlichen Ende aufrecht erhaltene Fiktion von der Umsiedlung, also Deportation, und die Benutzung von Vertrauensleuten aus der Zahl der Opfer macht das Unvorstellbare möglich, daß Hunderttausende umgebracht wurden, ohne daß etwas nach außen dringt. Die Gegend ist – wie alle Zeugen angeben – öde, weiträumig und von Fabrikschornsteinen durchsetzt. Ich will es mir ersparen all die entsetzlichen Tricks aufzuzählen, mit denen man zunächst die Opfer täuschte, aber auch die Außenwelt und die eigenen Leute.

Darf ich hierfür auch die Aussage des Zeugen von Thadden heranziehen, der im Auftrage des Auswärtigen Amtes mit zahlreichen Ausländern Lager besichtigt hat, damit sie sich ebenso wie er selbst von der angeblichen Unbegründetheit von Beschwerden überzeugen konnten. Auch Theresienstadt wurde besucht als Muster einer der geplanten geschlossenen Siedlungen für Juden, und es wurde – wie der Zeuge bestätigt hat – alles wohl geordnet gefunden. 1492 erschien im sogenannten Protektorat ein Gesetz über die Schaffung einer geschlossenen Siedlung Theresienstadt (Dokument SS-95). Alle Welt mußte also annehmen, daß die Angaben über die Umsiedlung zutrafen. Warum nicht auch der SS-Mann, der mit diesen Dingen dienstlich nichts zu tun hatte und nicht mehr wußte als jeder andere? Daß allein schon die sogenannte Umsiedlung, eigentlich »Deportation«, ein Verbrechen im Sinne des Statuts ist, ist eine andere Frage und wird später zu behandeln sein.

Man darf bei allem nicht vergessen, daß Krieg war. Die Männer der Waffen-SS standen in ihrer großen Masse im ständigen Einsatz an der Front. Die Zeugen Brill und Blume haben die Stärke auf zirka 580000 am Ende des Krieges angegeben.

Durch ihre Kampfaufgaben voll in Anspruch genommen, wußten sie nichts von dem, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. Wenn ihnen überhaupt bekannt war, daß dort Männer in der gleichen Uniform in den Konzentrationslagern Dienst taten, fühlten sie sich diesen völlig wesensfremd und hatten keinerlei innere oder äußere Bindungen an sie (Zeuge Hauser, Affidavit Gille, Affidavit Steiner). Versetzungen von Konzentrationslagerpersonal zur Fronttruppe waren sehr selten.

Die Tatsache, daß es in Deutschland kein freies Nachrichtenwesen gab, fand ihre notwendige Ergänzung darin, daß die Einfuhr ausländischer Zeitungen ebenso wie das Abhören ausländischer Sender bei strengster Strafe verboten war. Mit dieser Maßnahme hatte die Regierung auch im allgemeinen Erfolg. Die amtlichen Behauptungen, die ausländischen Nachrichtendienste enthielten nichts als Propagandalügen, fanden auch in der Waffen-SS Glauben, da gelegentlich feindliche Meldungen als unwahr feststellbar waren. Das hat der Angeklagte Fritzsche dargelegt.

Dieses Verbotssystem wurde durch eine wohlabgewogene positive amtliche deutsche Propaganda ergänzt. Himmler selbst erklärte im Jahre 1942 in einer Rede auf der Junkerschule Tölz, in den Konzentrationslagern befänden sich in der Hauptsache kriminelle Elemente, die bei anständiger Behandlung durch positive Arbeitsleistung zu brauchbaren Mitgliedern des Volkes erzogen werden sollten (Affidavit SS-119 bis 122, von Saucken). Eine solche Behauptung mußte um so mehr Glauben finden, als der immer größer werdende Menschenmangel in Deutschland zu sorgfältiger Schonung jedes Menschenlebens und zu totaler Ausnutzung aller nur verfügbaren Arbeitskraft zwang. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie gerade diese Begründung bei beteiligten Stellen als besonders zweckmäßig, weil Vertrauen einflößend erschien, bietet die eidesstattliche Versicherung Rothemund (Affidavit SS-12). Dieser Zeuge hat bekundet, er habe Ende 1943 als Adjutant des Chefs des SS-Personalhauptamtes beim Reichssicherheitshauptamt, Amt IV und beim Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, Amtsgruppe D, angefragt, ob Gerüchte über die Ermordung von Juden wahr seien. Er erhielt die Antwort, es handle sich um ausgesprochene Feindpropaganda. Das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt fügte hinzu, die Häftlinge seien unentbehrliche Arbeitskräfte für die Rüstungswirtschaft, auf die Deutschland nicht verzichten könne.

Nicht einmal höchste Reichsstellen waren in der Lage, sich Klarheit über den Sachverhalt zu verschaffen. Der Zeuge von Thadden hat im einzelnen geschildert, wie durch ein raffiniertes Jonglieren zwischen Wahrheit und Unwahrheit es Eichmann verstanden hat, das Auswärtige Amt zu täuschen. Die Besichtigung von Judenlagern durch den Zeugen, sei es allein, sei es in Begleitung von Vertretern der Schutzmächte und des Roten Kreuzes, ergaben in Bezug auf Massentötungen keinen Verdacht. Weitere Nachforschungen in anderen Lagern, in denen tatsächlich Judenvernichtungen vorgenommen wurden, wußte Eichmann durch die unwiderlegbare Behauptung zu verhindern, daß dort streng geheimzuhaltende Rüstungsaufträge, nämlich die Herstellung von V-Waffen, ausgeführt würden und die Lager daher unzugänglich seien.

Ich habe ferner Beweis dafür angetreten, daß die Geheime Staatspolizei auch dem Justizministerium in der Person des Sachbearbeiters für Strafverfolgung von Gerüchteverbreitung, Kühn, auf offizielle Anfrage im Jahre 1942 oder 1943 mitgeteilt hat, daß Gerüchte über die Vernichtung von Juden in den Ostgebieten erfunden seien. Das Affidavit ist von der Kommission abgelehnt worden, da es nicht die SS beträfe. Ich bitte, das Dokument nachträglich zuzulassen.

Auch der Angeklagte Fritzsche hat in seiner Vernehmung als Zeuge eine Reihe von anschaulichen Beispielen gegeben, wie es ihm – der in seiner hohen Stellung Gerüchte über Judenvernichtung zu hören bekam – nicht gelang, eine Bestätigung zu erlangen, sondern auf Grund seiner Ermittlungen zu dem gegenteiligen Schluß kam.

Durch nichts ist auch bisher bewiesen, daß die Masse der SS von der Tätigkeit der Einsatzkommandos Kenntnis erhalten hat.

Und zur Widerlegung der Kenntnis von den biologischen Experimenten in den Konzentrationslagern darf ich nur auf die mir grotesk erscheinende Tatsache hinweisen, daß hier eine ausgedehnte Beweisaufnahme stattgefunden hat über die Frage, ob der Angeklagte Göring von ihnen gewußt hat. Ich könnte Ausführungen machen darüber, daß diese Versuche nur in einigen Lagern geschahen, daß sie nach Angabe einiger Affidavits nur nach freiwilliger Einwilligung der Häftlinge erfolgten – ich will es nicht, denn ich will die Vornahme überhaupt nicht verteidigen und auch nicht den entsprechenden Eindruck erwecken. Der Hinweis auf diesen Streit über die Kenntnis oder Unkenntnis Görings und die Frage, welche Beweisaufnahme zugunsten des unbekannten SS-Mannes vorgenommen wurde, genügt mir. Daß durch die Vornahme verbrecherischer Experimente und ihre Kenntnis durch den Geschäftsführer des »Ahnenerbes«, den Zeugen Sievers, nicht die Mitglieder und Mitarbeiter des »Ahnenerbes« belastet sind, in dessen Gesamtforschung diese Experimente vielleicht 1 Prozent bedeuteten, scheint mir nicht zweifelhaft.

Schließlich will ich zu diesen Fragen des Wissens um die Verbrechen nur noch zitieren, was ich in den »Berliner Blättern«, Heft 1, 1946, in einem Aufsatz: »Der Jude im Dritten Reich«, von Oskar Goetz, auf Seite 54 las:

»Die Vergasungen von Auschwitz, die anderen Schandtaten in den Todeslagern von Mauthausen, Maidanek, Ravensbrück und Buchenwald hielten wir beispielsweise im Lager Theresienstadt nur für Gerüchte, ja sogar maßlos aufgebauschte Gerüchte. Was beispielsweise wirklich in Auschwitz geschehen war, erfuhren wir in Theresienstadt authentisch erst im Frühjahr 1945, als einige wenige Überlebende nach der Auflösung von Auschwitz zu uns zurückkamen. Man wird im Interesse einer gerechten Beurteilung seiner Mitmenschen sach lich sein müssen und sachlich sein wollen. Kein Schuldiger soll straflos ausgehen, aber kein Unschuldiger darf mit Schuld belastet werden.

Und im Sinne einer künftigen Beruhigung der Gemüter wäre hier mehr Objektivität dringend am Platze.«

Ich wünschte, dies Beispiel von Objektivität, die sich jemand trotz Erniedrigung durch das Nazi-Regime einschließlich SS erhalten hat, könnte vorbildlich werden.

Käme man also nun zu dem Ende, daß abgesehen von den bestimmten bestimmbaren oder ungefähr bestimmbaren Tätern – der Zeuge Dr. Morgen hat ja bestimmte Täterkreise im Konzentrationslagerwesen genannt – die große Masse der SS keine konkreten Vorstellungen von Verbrechen gehabt hat, daß sie aber in ihrer Masse – wie die übrigen Deutschen – zum Beispiel von Deportationen gewußt hat, so wäre auch das nach Artikel 6a des Statuts nur verbrecherisch, wenn es in Verbindung mit einem Angriffskrieg geschah. Daß die Masse der SS nicht das Bewußtsein hatte, einen Angriffskrieg zu führen – was erforderlich wäre –, hatte ich oben schon gesagt.

Meine Herren Richter! Präsident Roosevelt hat am 25. Oktober 1941 aus Anlaß von Geiselerschießungen durch deutsche Besatzungsbehörden in einer Rede erklärt:

»Zivilisierte Nationen bekennen sich seit langem zu dem Grundsatz, daß niemand für die Taten eines ande ren bestraft werden darf.«

Justice Jackson hat am 28. Februar 1946 folgendes gesagt:

»Das Ziel, die Organisation als verbrecherisch zu erklären, besteht in der Bestrafung zur Beihilfe dieser Verbrechen, obwohl die eigentlichen Täter nie gefunden oder identifiziert werden können.«

Können sie wirklich nicht gefunden werden? Beweisen nicht zum Beispiel für die Konzentrationslager-Verbrechen die große Anzahl der von mir vorhin genannten Prozesse der alliierten Kriegsgerichte mit 153 Todesurteilen bei 241 Angeklagten das Gegenteil? Will die Anklage behaupten, sie habe die eigentlichen Täter noch nicht gefunden, obwohl seit über einem Jahr sämtliche Personen, die mit dem Konzentrationslagerwesen je zu tun hatten, in Haft sind und die Häftlinge, heute in bestimmten Organisationen und namentlich erfaßt, jederzeit als Zeugen zur Verfügung stehen? Auch alle Akten und Unterlagen sind im Besitz der Alliierten.

Trotzdem und trotz der Diskrepanz dieser beiden Zitate – Roosevelt-Jackson – will ich mich einmal mit der Anklage auf den Standpunkt stellen, es gäbe solch eine kollektive Kriminalität.

Dann gilt aber auch in ihrem Rahmen wieder der Grundsatz, daß niemand für eine Tat bestraft werden kann, die er nicht begangen hat. Es bedeutet nämlich, daß in diesem Fall der Kreis der Beschuldigten so eng wie möglich gezogen wird.

Diese Begrenzung kann in zwei Richtungen erfolgen, und zwar wahlweise und auch nebeneinander:

1. in Bezug auf den Kreis der Verantwortlichkeit, das heißt die Dienststellung oder den Dienstrang;

2. in Bezug auf die Untergruppen der ganzen als SS schlechthin bezeichneten Organisation.

Die Anklagebehörde hat meines Ermessens die erste Grenzziehung schon bei der Anklageerhebung hinsichtlich der Partei und der Regierung vorgenommen. Von der Partei sollen nur die Politischen Leiter, von der Exekutivgewalt des deutschen Staates nur die Reichsregierung verurteilt werden.

Bei der Begrenzung nach der Verantwortlichkeit muß aber wohl unterschieden werden zwischen moralischer und rechtlicher Verantwortlichkeit. Es muß gefragt werden: Was hätte der einzelne in seiner Dienststellung tun müssen, wenn er Verbrechen etwa auf Befehl beging oder auch nur von ihnen wußte? Was war ihm zuzumuten?

Die Begrenzung nach Untergruppen der ganzen Organisation wird der in meinen Ausführungen eindringlich dargelegten Tatsache gerecht – die ich nochmals, da ich Stellen überspringen mußte, nachzulesen bitte –, daß diese Gruppen voneinander ganz getrennte Tätigkeitskreise und auch hinsichtlich der Kenntnis der Tätigkeiten, eventuell der Verbrechen, stark voneinander abwichen.

Auch eine Untergruppierung nach Beginn und Ende der Mitgliedschaft wäre denkbar und würde damit zugleich eine Herausnahme der eingezogenen Mitglieder kollektiv ermöglichen.

Aber auch bei solcher eingeschränkten Verurteilung erscheint es mir unbedingt erforderlich – angesichts der durch das Gesetz Nummer 10 schwerwiegenden Folgen –, in der Urteilsformel oder -begründung zum Ausdruck zu bringen, daß dem einzelnen Mitglied jede Einwendung mit Ausnahme der in Artikel 10 genannten zustehe.

Zuletzt möchte ich noch auf ein formelles Hindernis für die beantragte Verurteilung hinweisen:

Der Sinn der Akzessorität der Verurteilung eines Organisationsmitgliedes als Einzelangeklagter dieser Organisation nach Artikel 9 scheint mir folgender zu sein:

Eine Organisation soll nur dann für die Handlung eines Einzelangeklagten, der ihr Mitglied war, verantwortlich gemacht werden, wenn zwischen der Tat des Einzelangeklagten und seiner Organisation ein solcher Zusammenhang besteht, daß aus rechtlichen Gründen eine Mithaftung der Organisation notwendig erscheint.

Ein solcher Kausalzusammenhang liegt nur vor, wenn der Einzelangeklagte die Handlung als Mitglied der Organisation begangen hat, sei es, daß er damit die Zielsetzung der Organisation verwirklicht oder aber sich der Organisation zu ihrer Ausführung bedient hat. Justice Jackson hat am 28. Februar 1946 ausgeführt:

»Einzelne Angeklagte hier, zumindest einer, muß Mitglied der Organisation gewesen sein und auch wegen einer Tat verurteilt werden, auf Grund deren die Kriminalität dieser Organisation festgestellt werden kann.«

Auf die von mir vertretene SS-Organisation angewandt bedeutet das: Eine SS-Organisation kann nur dann für verbrecherisch erklärt werden, wenn ihr zumindest einer der Angeklagten als Mitglied angehört hat und wegen eines solchen Verbrechens verurteilt worden ist, das er entweder durch seine Organisation zur Ausführung gebracht hat oder das als Ausfluß der Zielsetzung seiner Organisation zu werten ist und zu ihrer Verwirklichung begangen wurde.

Mit der Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, stehen die Einzelangeklagten aber wegen solcher Handlungen vor Gericht, die sie in ihrer Eigenschaft als Leiter wichtigster Staats- und Parteistellen, nicht aber SS-Stellen, und in Ausübung ihrer dortseitigen Aufgaben durchgeführt haben. Daß einige von ihnen nebenbei auch Ehrenränge in der einen oder anderen SS-Organisation bekleidet haben, reicht nicht aus, um die SS-Organisation mitverantwortlich zu machen für Taten, an deren Durchführung sie in keiner Weise beteiligt war und die auch gar nicht zu ihren Aufgaben gehörten.

Eine Ausnahme könnte Kaltenbrunner bilden. Er ist in seiner Eigenschaft als Chef der Sicherheitspolizei, das heißt Kriminalpolizei und Gestapo und des SD auch wegen solcher Handlungen angeklagt, die durch den SD ausgeführt worden sind. Damit können aber nicht die SS-Organisationen belastet werden. Die Kriminalpolizei ist nicht angeklagt. Selbständig ist die Gestapo angeklagt. Man muß auch die Anklage gegen den SD als selbständig ansehen. Zwar war sie ursprünglich mit derjenigen gegen die SS verbunden, aber der SD hat alsbald einen eigenen Verteidiger bekommen und ist auch im ganzen Verfahren selbständig behandelt worden. Organisatorisch ist SD und SS seit 1934 getrennt. Eine Verurteilung Kaltenbrunners würde daher – wenn überhaupt – formell höchstens die Verurteilung der Organisationen Gestapo und SD ermöglichen – deren Verteidigung ich keinesfalls vorgreifen möchte –, nicht dagegen die der SS.

Verfahrenstechnisch darf ich noch darauf hinweisen, daß keiner der insoweit betroffenen Angeklagten je darüber befragt worden ist, ob und inwieweit er für die SS oder als SS-Mitglied die ihm zur Last gelegten Taten begangen habe. Das scheint mir ein Mangel zu sein.

Ich komme zum Schluß, meine Herren Richter, und bitte kurz noch um Ihr Gehör: Ich sagte einleitend, dieser Prozeß sei der gewaltigste Strafprozeß – aber doch eben ein Strafprozeß. Und deshalb frage ich auch hier: Welchen rechtspolitischen Zweck kann und wird eine Verurteilung haben? Und ich erhalte die traditionelle Antwort: Vergeltung und Abschreckung.

Gewiß ist es notwendig, das deutsche Volk und insbesondere die früheren Nazi-Gliederungen, aber auch alle Völker der Welt abzuschrecken, die je in die Versuchung kommen könnten, sich Diktaturen und antidemokratischen Methoden zuzuwenden und ihnen die schweren Folgen der Verletzung des Völkerrechts, des neuen jetzt im Statut niedergelegten Universalrechts vor Augen zu führen. Dieser Prozeß soll eine letzte Warnung sein an alle, die sich der Forderung der Welt und aller ihrer friedliebenden Bürger nach Freiheit der Rede, Freiheit der Religion, nach Freiheit von Not und Furcht verschließen. Der Krieg, die furchtbaren Folgen der Niederlage, die Verhaftung von Hunderttausenden über die Kriegsgefangenschaft hinaus, die qualvollen Monate der Verhandlungen hier, die politische Überprüfung und Erwerbsbeschränkung, alles das sind so eindringliche und abschreckende Tatsachen, daß sie für alle die Wirkung haben werden, die wir erhoffen.

Aber vor allem, meine Herren Richter: Ihre Armeen haben Deutschland befreit von der Tyrannei des Nazitums, befreien Sie die Welt jetzt von dem Fluche der Vergeltung.

Die Welt kann nur genesen, wenn einmal Schluß gemacht wird mit den verhetzenden Parolen gegen Rassen, Völker, Klassen oder Parteien.

Ich sage das, obwohl ich weiß, daß es, ebenso wie auf der Seite der Alliierten, viele SS-Leute gibt, die den Sinn meiner Worte nicht verstehen. Aber auch sie sollen einst die ewige Wahrheit des Wortes erkennen:

»Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind wir da.«

Und so möchte ich die Verteidigung der SS zusammenfassen:

Ich klage an jeden einzelnen der Mörder und Verbrecher, die dieser Organisation oder einem ihrer Teile angehört haben – und ihrer sind nicht wenige.

Ich spreche frei die Tausende, Hunderttausende, die im guten Glauben dienten und so moralisch und metaphysisch, nicht kriminell, in die Schuld verstrickt wurden, die das ganze deutsche Volk heute bitter trägt.

Aber, ich warne –, ich warne die Welt und ihre Richter vor der Begehung eines Massenunrechts in gesetzlicher Form, vor der Schaffung einer Masse der Verdammten und Geächteten im Herzen Europas.

Ich warne –, auf daß die Sehnsucht aller Völker und Menschen erfüllt werde.

Möge Gott Ihr Urteil segnen!

VORSITZENDER: Ich glaube, der SD ist die nächste Organisation.

DR. GAWLIK: Ich werde mich streng an die Regeln des Gerichts halten und nur Teile meiner Ausführungen verlesen.

Hoher Gerichtshof! Meine Aufgabe als Verteidiger des SD erblicke ich nicht darin, ausgeübtes Unrecht irgendwie zu beschönigen oder gar die hierfür verantwortlichen Personen der Bestrafung zu entziehen.

Es geht in dem Verfahren gegen den SD nicht darum, ob einzelne Personen für begangene Verbrechen bestraft werden müssen, vielmehr ist darüber zu entscheiden, ob nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme ein Personenkreis von 3000 hauptamtlich und 30000 rein ehrenamtlich tätigen Personen, die unter dem Namen SD in den Ämtern III und VI zusammengefaßt waren, für verbrecherisch erklärt werden können.

Allein mit dieser Frage habe ich mich zu beschäftigen. Ich habe zu prüfen, ob der von der Anklagebehörde gegen den SD gestellte Antrag auf Grund des Statuts und, soweit dies nach dem Statut zulässig ist, auf Grund des Völkerrechts, der nationalen Rechte und der von der Rechtswissenschaft entwickelten Rechtsgrundsätze gerechtfertigt ist.

Ich werde zunächst zu den Rechtsproblemen Stellung nehmen, um sodann im zweiten Teil meiner Ausführungen den tatsächlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu erörtern.

Der erste Teil gliedert sich in zwei Abschnitte: In dem ersten Abschnitt behandle ich die materiell-rechtlichen, in dem zweiten Abschnitt die prozeß-rechtlichen Fragen.

In dem materiell-rechtlichen Teil werde ich erstens den Begriff der Organisationen und Gruppen und Beziehung zum SD untersuchen. Sodann werde ich zweitens prüfen:

a) welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit eine Organisation oder Gruppe für verbrecherisch erklärt werden kann,

b) welche Folgerungen sich aus diesen Feststellungen ergeben.

Anschließend werde ich untersuchen.

c) ob der Grundsatz »nulla poena sine lege« einer Verurteilung des SD entgegensteht.

Ich beginne mit der Klarstellung des Wortes »SD«, Sicherheitsdienst. Dieses Wort hatte keinen eindeutigen Sinn. Unter SD verstand man zunächst:

a) die SS-Formation SD,

b) die Ämter III, VI und VII.

Dies waren, wie sich aus der Vernehmung des Zeugen Hoeppner ergibt, zwei völlig verschiedene Zusammenschlüsse von Personen.

Zu a): Zur SS-Formation SD gehörten alle Personen, die der SS angehörten oder SS-Anwärter waren und bei der Sicherheitspolizei oder bei anderen polizeiähnlichen Organisationen – zum Beispiel Zollgrenzschutz – oder beim SD-Nachrichtendienst beschäftigt waren. Diese SS-Formation SD hatte keine Aufgaben und keine Ziele. Sie übte auch keine Tätigkeit aus, um irgendeinen gemeinsamen allgemeinen Zweck zu erfüllen. Ihre Angehörigen kamen niemals zu einem gemeinsamen Dienst oder zu sonstigen gemeinsamen Zusammenfassungen zusammen. Es fehlte ihnen jedes Zusammengehörigkeitsgefühl, da sie unabhängig voneinander in verschiedenen Organisationen Dienst taten. Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf die Aussagen des Zeugen Hoeppner vor der Kommission und vor dem Tribunal.

Es handelte sich um eine rein listenmäßige Zusammenfassung von SS-Angehörigen und SS-Anwärtern bestimmter Berufsgruppen.

Die Angehörigen dieser SS-Sonderformation SD trugen die SS-Uniform mit dem Abzeichen »SD« auf dem linken Ärmel. Sie waren also äußerlich hinsichtlich ihrer verschiedenen Sparten nicht zu unterscheiden.

Zu b) Zu den Ämtern:

Die Ämter III, VI und VII waren der Inlandsnachrichtendienst, der Auslandsnachrichtendienst und die wissenschaftliche Forschung. Sie waren in dem im Jahre 1939 errichteten Reichssicherheitshauptamt die SD-Ämter, im Gegensatz zu den Sipo-Ämtern IV und V. Das Amt VI wurde am 12. Februar 1944 mit der militärischen Abwehr zu dem einheitlichen deutschen geheimen Meldedienst vereinigt. Ich beziehe mich hierbei auf das Dokument SD-1 und Affidavit Schellenberg, SD-62.

Daneben gab es noch den Reichssicherheitsdienst, der wieder etwas anderes war; der Reichssicherheitsdienst stellte den Begleitschutz für führende Personen des Staates. Dieser Verband gehörte nicht zum Reichssicherheitshauptamt und war auch kein Teil der SS. Der Reichssicherheitsdienst unterstand dem damaligen Brigadeführer Rattenhuber, dessen unmittelbarer Vorgesetzter Himmler war.

Angeklagt sind die Ämter III und VI des Reichssicherheitshauptamtes, der Inlandsnachrichtendienst und der Auslandsnachrichtendienst.

Das Amt VII ist, obwohl es zusammen mit den Ämtern III und VI als SD bezeichnet wurde, nicht angeklagt. Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf das Kommissionsprotokoll vom 23. Juli 1946.

Wenn ich nunmehr in meinen weiteren Ausführungen vom SD spreche, so verstehe ich hierunter nur die angeklagten Ämter III und VI.

Die Ämter III und VI des RSHA sind erst im September 1939 gebildet worden. Formell kann sich die Anklage daher auch erst auf die Zeit seit diesem Zeitpunkt beziehen. Im Widerspruch hierzu sind jedoch auch gegen den SD Beschuldigungen für die Zeit vorher erhoben worden.

Entgegen dem formellen Wortlaut der Anklage werde ich daher auch die Zeit vorher zum Gegenstand meines Vortrages machen.

Die Ämter III und VI sind nicht selbständig, sondern als Teil der SS angeklagt worden.

Die Anklagebehörde sieht demnach die SS als eine Organisation oder Gruppe im Sinne von Artikel 6 des Statuts an und den SD lediglich als einen Teil hiervon.

Ist dies richtig?

Zur Entscheidung dieser Frage bedarf es einer Erörterung der Begriffe Organisation und Gruppe im Sinne des Statuts.

Der Herr amerikanische und der Herr englische Anklagevertreter haben in der grundlegenden Rede am 28. Februar 1946 folgende Voraussetzungen für den Begriff Organisation als erforderlich erachtet:

1. Einen Zusammenschluß von Personen mit einer erkennbaren Verbindung,

2. einen gemeinsamen allgemeinen Zweck,

3. Freiwilligkeit des Zusammenschlusses.

Dieser Definition, die auch der deutschen Rechtsprechung entspricht, lege ich meine weiteren Ausführungen zugrunde.

Die Entscheidung spitzt sich daher zu den Fragen zu, ob zwischen SS und SD

a) eine erkennbare Verbindung,

b) ein gemeinsamer allgemeiner Zweck bestand.

Für die Zeit bis zur Jahreswende 1933/1934 ist dies zu bejahen. Insoweit verweise ich insbesondere auf die Aussage des Zeugen Hoeppner.

Für diese Zeit gelten somit für den SD die Ausführungen des Verteidigers der SS, und ich werde daher für diesen Zeitraum keine grundsätzlichen Ausführungen machen.

Für die spätere Zeit muß die Frage, ob zwischen SS und SD eine erkennbare Verbindung bestand, jedoch verneint werden.

Das Reichssicherheitshauptamt war nicht eines der Ämter der obersten SS-Führung, wie von der Anklagebehörde behauptet worden ist. Es ist auch nicht richtig, daß das Reichssicherheitshauptamt eine Abteilung der SS war. Insoweit widerspricht sich die Anklagebehörde selbst, denn die Geheime Staatspolizei, das Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes, ist nicht als Teil der SS, sondern besonders angeklagt.

Wenn in dem Trial-Brief gegen die SS, Seite IX, vorgetragen wird, der SD sei eine Spionageabteilung der SS, so handelt es sich insoweit, als von einer Abteilung der SS die Rede ist, offensichtlich um eine Verwechslung mit der SS-Sonderformation SD.

Zwischen SD und SS bestand in der Zeit nach 1934 kein gemeinsamer Oberbefehl. Die für den Begriff der Organisation erforderliche Verbindung zwischen SS und SD ist auch nicht etwa durch die Person Himmlers hergestellt worden, denn dann hätte auch diese erkennbare Verbindung mit der Polizei und seit dem Jahre 1944 sogar mit dem Ersatzheer bestehen müssen.

Es ist richtig, daß Himmler die Zusammenfassung von SS, SD und der Polizei durch Schaffung eines Staatsschutzkorps erstrebte. Hierbei handelt es sich jedoch um Zukunftspläne, die noch nicht verwirklicht worden sind.

Auch durch die Höheren SS- und Polizeiführer ist diese erforderliche Verbindung nicht geschaffen worden, denn den Höheren SS- und Polizeiführern stand grundsätzlich weder ein sachliches noch disziplinäres Weisungsrecht gegenüber den Angehörigen der Ämter III und VI zu.

Die für den Begriff der Organisation erforderliche erkennbare Verbindung dürfte in der Zeit seit 1934 schon aus diesem Grunde nicht bestanden haben, weil nur 10 Prozent der haupt- und ehrenamtlichen Angehörigen der Organisation des SD Mitglieder der SS waren. 90 Prozent waren nicht Mitglieder der SS, die somit auch nicht die Uniform der SS-Sonderformation SD mit dem SD-Abzeichen trugen. Während des Krieges waren etwa 50 Prozent des SD Frauen.

Abgesehen von der erforderlichen, erkennbaren Verbindung zwischen SS und SD fehlte es in der Zeit nach 1934 an einem gemeinsamen Zweck. Hierfür verweise ich auf die Aussagen des Zeugen Hoeppner.

Der SD war somit nur bis zum Jahre 1934 ein Teil der SS als einer Organisation im Sinne von Artikel 9 des Statuts. Nach diesem Zeitpunkt waren SS und SD nicht mehr in einer Organisation im Sinne des Statuts zusammengeschlossen.

Waren SS und SD in der Zeit seit 1934 eine Gruppe im Sinne von Artikel 9 des Statuts?

Es kann zweifelhaft sein, ob der Gesetzgeber überhaupt einen rechtserheblichen Unterschied zwischen Gruppe und Organisation machen wollte. Gegen einen Unterschied könnte der Wortlaut des Artikels 9 des Statuts sprechen. Dort heißt es, daß Gruppen und Organisationen als verbrecherische Organisationen erklärt werden können. Auch die Gruppe soll somit als eine verbrecherische Organisation erklärt werden.

Nimmt man jedoch einen Unterschied an, so ist folgendes zu sagen:

Die Anklagebehörde hat ausgeführt, der Begriff der Gruppe sei dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu entnehmen. Bei der Auslegung dieses Begriffes soll auch der gesunde und natürliche Menschenverstand angewendet werden. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist die Gruppe eine zahlenmäßig kleine Personengemeinschaft. Man spricht bei 15 bis 20 Personen von einer Gruppe aber nicht mehr bei größeren Zusammenschlüssen. Man spricht davon, daß sich innerhalb einer Partei, eines Vereins, Gruppen gebildet haben.

Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist die Gruppe ein Teil der Organisation. Die Gruppe ist mithin der Unterbegriff der Organisation.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des deutschen Reichsgerichts vom 8. Mai 1922 hinweisen. In dieser Entscheidung ist ausgesprochen worden, daß sich aus den Mitgliedern einer großen Personenmehrheit, die irgendwelche allgemeine Ziele verfolgt, eine Gruppe aussondern könne, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, ein bestimmtes Einzelziel zu verfolgen. Dies könne insbesondere dann vorliegen, wenn die große Personenmehrheit erlaubte Ziele mit erlaubten Mitteln verfolge, ein Teil der Mitglieder aber – vielleicht ohne daß die übrigen hiervon Kenntnis erlangt hätten – sich zu einer Betätigung zusammenschlössen, die auf verbotene Weise die Ziele des Ganzen zu fördern suche.

Artikel 9 des Statuts dürfte somit wie folgt auszulegen sein:

Es können als verbrecherisch erklärt werden:

1. eine Organisation oder

2. eine Gruppe als Teil einer Organisation.

Der SD könnte in der Zeit seit 1934 nur dann eine Gruppe sein, wenn er ein Teil der SS gewesen wäre. Dies ist jedoch, wie ich bereits ausgeführt habe, nicht der Fall.

Ergebnis: Der SD war seit 1934 kein Teil der SS als einer Organisation oder Gruppe im Sinne von Artikel 9 des Statuts.

Ich komme zu einer weiteren Frage:

Waren die Ämter III und VI eine einheitliche Organisation oder Gruppe, oder waren sie zwei getrennte Organisationen im Sinne des Statuts?

Die Ämter III und VI hatten weder eine erkennbare Verbindung noch einen gemeinsamen allgemeinen Zweck. Dies gilt sowohl für die Zeit nach 1939, wo die Ämter III und VI zum RSHA gehörten, als auch für die Zeit vorher, wo sie im SD-Hauptamt vereinigt waren. Amt III war der Inlandsnachrichtendienst, Amt VI der Auslandsnachrichtendienst.

Auf Grund der Beweiserhebungen kann als erwiesen angesehen werden, daß die Ziele, Aufgaben, Tätigkeiten und Methoden der Ämter III und VI stets völlig verschiedene waren.

Die Vereinigung der Ämter III und VI im Reichssicherheitshauptamt reicht nicht aus, um eine erkennbare Verbindung und eine gemeinsame allgemeine Aufgabe beider Ämter als gegeben anzusehen. Zum Reichssicherheitshauptamt gehörten auch die Geheime Staatspolizei, Amt IV, und die Kriminalpolizei, Amt V. Die Geheime Staatspolizei wird von der Anklagebehörde zutreffend als eine selbständige Organisation angesehen und ist als solche angeklagt worden. Das gleiche nimmt offensichtlich die Anklage hinsichtlich der Kriminalpolizei an, die nicht angeklagt ist. Ebensowenig wie die Geheime Staatspolizei und die Kriminalpolizei durch die Vereinigung im Reichssicherheitshauptamt ihren Charakter als selbständige Organisationen verloren haben, genauso wenig konnte diese Vereinigung der Ämter III und VI eine erkennbare Verbindung und eine gemeinsame allgemeine Aufgabe dieser beiden Ämter herstellen. Das Reichssicherheitshauptamt war nur eine Dienststellenbezeichnung. Ich verweise hierzu insbesondere auf die Aussage des Zeugen Best.

Der SD war somit keine einheitliche Organisation im Sinne des Statuts, sondern die Ämter III und VI könnten lediglich zwei getrennte Organisationen gewesen sein, wenn die weitere Voraussetzung, die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft gegeben wäre.

Nach dem Vortrag der Anklagebehörde soll es nicht notwendig sein, daß jedes Mitglied ein freiwilliges war. Die Anklagebehörde hält es für unerheblich, wenn ein kleiner Bruchteil oder kleiner Prozentsatz nicht freiwillig beigetreten ist.

Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, daß diese Rechtsansicht mit der deutschen Rechtsprechung nicht übereinstimmt. Das deutsche Reichsgericht hat in einer Entscheidung im Jahre 1928 für die Vereinigung, die dem Begriff der Organisation im Sinne des Statuts entsprechen dürfte, den freiwilligen vertragsmäßigen Zusammenschluß sämtlicher Mitglieder gefordert.

Ich lasse die Entscheidung der Frage dahingestellt, ob eine Organisation auch dann als gegeben anzusehen ist, wenn ein kleiner Prozentsatz der Mitglieder der Vereinigung nicht auf Grund eines freiwilligen vertragsmäßigen Zusammenschlusses angehörte, weil es hierauf beim SD nicht ankommt.

Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß während des Krieges die Zugehörigkeit eines erheblichen Teils der Angehörigen des SD nicht freiwillig war, sondern auf gesetzlicher Anordnung, entweder auf der Dienstverpflichtung oder auf der Notdienstverpflichtung beruhte. Ich verweise auf die Aussage des Zeugen Hoeppner, der bekundet hat, daß während des Krieges schätzungsweise 50 bis 60 Prozent der Mitglieder dem SD auf Grund gesetzlicher Anordnung angehörten.

Diese Angaben werden unterstützt durch die eidesstattlichen Erklärungen, auf denen sich für verschiedene Dienststellen im Durchschnitt die gleichen Prozentsätze ergeben. Ich verweise außerdem auf die von mir überreichte Sammelliste eidesstattlicher Erklärungen zu diesem Punkt.

Die gesetzlichen Bestimmungen, auf denen die Dienstverpflichtung und die Notdienstverpflichtung seit 1939 beruhte, ergeben sich aus den von mir überreichten Dokumenten SD-65 bis 69. Ich verweise hierbei insbesondere auf das Dokument SD-65, das den Runderlaß vom 16. Oktober 1940 in der Fassung vom 1. Juli 1942 wiedergibt. In diesem Runderlaß ist ausdrücklich bestimmt, daß als Bedarfsstelle auch die SD-Leitabschnitte die Bereitstellung von Ersatz- und Ergänzungskräften verlangen können.

Auch für diejenigen, die freiwillig in den SD eingetreten waren, war während des Krieges ein Ausscheiden nicht möglich. Ich verweise hierbei auf das Affidavit SD-22.

Es ist demnach nicht richtig, wenn von der Anklagebehörde vorgetragen wird, die Mitgliedschaft des SD sei freiwillig gewesen.

Unter Zugrundelegung der von der Anklagevertretung vorgetragenen Rechtsansicht können somit die Ämter III und VI für die Zeit des Krieges nicht als Organisation im Sinne des Statuts angesehen werden.

Sie waren auch keine Gruppen im. Sinne des Statuts, weil auch für die Gruppe als Teil der Organisation die Tatbestandsmerkmale der Organisation, mithin auch die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft erforderlich sind.

Als Ergebnis kann somit festgestellt werden:

1. Bis etwa zum Jahre 1934 war der SD ein Bestandteil der SS.

2. In der Zeit von 1934 bis 1939 waren der Inlandsnachrichtendienst und der Auslandsnachrichtendienst zwei getrennte Organisationen.

3. In der Zeit seit 1939 waren sie keine Organisation oder Gruppe im Sinne des Statuts, weil die Zugehörigkeit eines erheblichen Teiles der Mitglieder auf gesetzlicher Anordnung beruhte.

Ich komme nunmehr zu der Frage, welche Tatbestandsmerkmale gegeben sein müssen, damit eine Organisation für verbrecherisch erklärt werden kann.

1. Die Anklagebehörde hat vorgetragen, daß die Organisation

a) entweder einen nach Artikel 6 des Statuts strafbaren Zweck, oder

b) erlaubte Zwecke durch Mittel, die nach Artikel 6 unter Strafe gestellt sind, verfolgen muß.

Die Anklagebehörde hält es ferner für erforderlich, daß eine Schuld der Mitglieder festgestellt wird, das heißt, die Mitglieder müssen gewußt haben, daß die Organisationen nach Artikel 6 strafbare Ziele oder erlaubte Ziele durch nach Artikel 6 unter Strafe gestellte Mittel verfolgten.

Nach dem Vortrag der Anklagebehörde kann eine Organisation jedoch auch dann für verbrecherisch erklärt werden, wenn nicht alle Mitglieder von den verbrecherischen Zielen Kenntnis hatten.

Dieser Ansicht kann nicht zugestimmt werden.

Herr Professor Dr. Exner hat in seinem Plädoyer für den Angeklagten Jodl eingehend und überzeugend dargelegt, daß die Tat an sich kein Verbrechen sei, sondern daß die Schuld hinzukommen müsse. Ohne Schuld keine Strafe. Professor Dr. Exner hat darüber hinaus nachgewiesen, daß dieser Satz auch in ausländischen Entscheidungen zu finden sei. Ich nehme insoweit auf die Ausführungen von Herrn Professor Dr. Exner Bezug und weise in diesem Zusammenhang lediglich auf das von der Anklagebehörde erwähnte amerikanische Gesetz vom 28. Juni 1940 hin, das als Beispiel dafür angeführt worden ist, daß Organisationen für verbrecherisch erklärt werden können.

Dieses Gesetz verlangt ausdrücklich die Kenntnis der ungesetzlichen Ziele.

Auch im englischen Recht ist es eine allgemeine Rechtsregel, daß eine Person nicht strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn nicht nachzuweisen ist, daß die Schuld vorhanden war.

Die Ansicht der Anklagebehörde, daß für die Verurteilung der Organisationen die Kenntnis eines Teils der Mitglieder genüge, ließe sich vertreten, wenn das Gesetz Nummer 10 anders gefaßt worden wäre, nämlich dann, wenn in dem Verfahren auf Grund von Gesetz Nummer 10 nachgeprüft werden könnte, ob das einzelne Mitglied von den verbrecherischen Zielen und Tätigkeiten der Organisation Kenntnis hatte.

Dies ist jedoch nicht der Fall. Nach dem Gesetz Nummer 10 wird jedes Mitglied lediglich auf Grund der Tatsache bestraft, daß es zu einer Organisation, die für verbrecherisch erklärt worden ist, gehört hat. Die Mitglieder können in den nachfolgenden Verfahren nicht mehr geltend machen, daß sie die verbrecherischen Zwecke und Ziele nicht gekannt hätten. Die von der Anklagebehörde vertretene Ansicht würde somit dazu führen, daß in den nachfolgenden Verfahren Personen verurteilt werden, die von den verbrecherischen Zielen und Tätigkeiten keine Kenntnis hatten.

Dies würde dem von mir angeführten elementaren Grundsatz aller Strafrechte der Welt widersprechen, daß für die Bestrafung nicht der Nachweis des objektiven Tatbestandes genügt, sondern daß auch die Schuld nachgewiesen werden muß. Da die Schuld in den Nachverfahren nicht mehr geprüft werden kann, muß die Schuld sämtlicher Mitglieder in diesem Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof nachgewiesen werden. Nur insoweit, als diese Schuld nachgewiesen wird, könnten die Organisationen oder können einzelne Gruppen als Teile der Organisation für verbrecherisch erklärt werden.

Zur Schuld gehört auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. Auch insoweit will ich auf die Ausführungen von Professor Dr. Exner Bezug nehmen, der überzeugend dargelegt hat, daß zu jedem schweren Verbrechen – und schwere Verbrechen sind es allein, die hier zur Verhandlung stehen – zwar nicht das Bewußtsein, etwas Strafbares zu tun, wohl aber das Bewußtsein gehört, daß es unrecht sei, so zu handeln. Der Täter müsse sich bewußt sein, einem Gesetz zuwider zu handeln oder sonst in einem natürlichen Sinn Unrecht zu tun. Professor Dr. Exner hat auch nachgewiesen, daß dies keine Gedanken seien, die nur das deutsche Strafrecht beherrschen, sondern er hat eine Anzahl von Beispielen aus dem englischen Recht angeführt.

Die Mitglieder müssen daher nicht nur die Ziele oder Methoden der Organisation gekannt haben, die den Tatbestand von Artikel 6 des Statuts erfüllen, sondern die Mitglieder müssen auch das Bewußtsein gehabt haben, daß diese Ziele oder diese Methoden gesetzwidrig oder mindestens unrecht sind. In diesem Zusammenhang entsteht wiederum die Frage, ob dieses Bewußtsein alle Mitglieder gehabt haben müssen oder ob das Bewußtsein eines Teiles genügt. Da aus den von mir bereits angeführten Gründen nur derjenige bestraft werden kann, der dieses Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatte, dieses Bewußtsein in den nachfolgenden Verfahren aber nicht mehr untersucht werden kann, muß es für sämtliche Mitglieder in diesem Verfahren festgestellt werden, weil andernfalls auf Grund des Gesetzes Nummer 10 Mitglieder bestraft werden könnten, die dieses Bewußtsein nicht hatten.

Auf das Tatbestandsmerkmal des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit zu verzichten, hieße, die Anforderung an die einfachen Mitglieder erheblich überspannen.

Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit kann auch auf Grund eines dem Täter erteilten Befehls fehlen.

Die Bestimmung von Paragraph 8 des Statuts beseitigt lediglich den Befehl als allgemeinen Strafausschließungsgrund. Ein Befehl kann jedoch im Einzelfall das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ausschließen. Wer erkannt hat, daß seine Handlung rechtswidrig sei, kann sich nach Paragraph 8 nicht auf einen Befehl berufen. Hält jedoch der Täter auf Grund eines ihm erteilten Befehles seine Handlung für recht- und gesetzmäßig, so muß er für straffrei erklärt werden. Nur diesen Sinn und diese Bedeutung kann die Bestimmung von Paragraph 8 des Statuts haben.

Die Frage, ob die Berufung auf einen höheren Befehl ein Strafausschließungsgrund ist, ist in der internationalen Literatur nicht unbestritten. Durch Artikel 8 des Statuts ist diese Streitfrage dahin entschieden, daß sich der Täter auf einen Befehl nicht berufen kann. Aus diesem Grunde habe ich auf diese Streitfrage hier nicht näher einzugehen. Alle Schriftsteller, die sich jedoch mit dieser Frage beschäftigen, gehen von der Voraussetzung aus, daß der Untergebene die Gesetzwidrigkeit und Unrechtmäßigkeit des Befehls gekannt hat. Sie beschäftigen sich lediglich mit der Frage, ob der Untergebene bei Kenntnis der Unrechtmäßigkeit und Gesetzwidrigkeit des Befehls einen Strafausschließungsgrund hat.

Daraus ist zu entnehmen, daß beim Fehlen dieser Kenntnis, die auch auf einem Befehl beruhen kann, der Täter straffrei ist.

Auch der Herr Anklagevertreter Frankreichs hat erklärt, daß der höhere Befehl die Ausführung der Tat nicht deckt, deren Strafbarkeit offenbar sei.

Es würde zu einem unlogischen Ergebnis führen, wenn man es auch für unzulässig halten würde, sich auf einen Befehl zum Beweis für das Fehlen der Rechtswidrigkeit zu berufen.

Wer eine Tat ohne Befehl ausgeführt hat, wäre nicht zu bestrafen, wenn ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit fehlte. Begeht er jedoch die gleiche Handlung auf Grund eines Befehls, so müßte er, falls man der von mir vertretenen Ansicht nicht beitritt, bestraft werden. Eine derartige Auslegung würde dem Sinn und dem Zweck des Statuts widersprechen.

Befehle können aber den Täter auch in einen Zwangszustand versetzen und aus diesem Grund die Schuld ausschließen.

Es ist eine allgemeine Rechtsregel des englischen Rechts, daß derjenige vor Strafe geschützt ist, der Verbrechen unter Gewalteinwirkung anderer, das heißt, nicht als Ergebnis einer ungehemmten eigenen Willensbetätigung begangen hat.

Nach dem englischen Recht wird dieser Schutz auch in den staatlichen Beziehungen der Gesellschaft, wie er etwa zwischen Untertan und Staatsgewalt besteht, existent. Gehorsam gegenüber der bestehenden Macht entschuldigt, wenn körperlicher Zwang ausgeübt wird oder unmittelbar bevorsteht.

Ich komme somit zum folgenden Ergebnis:

Eine Organisation könnte nur für verbrecherisch erklärt werden, wenn

1. ihre Ziele oder Mittel den Tatbestand von Artikel 6 des Statuts erfüllen;

2. sämtliche Mitglieder diese Ziele und Mittel gekannt haben und

3. sämtliche Mitglieder das Bewußtsein hatten, daß diese Ziele gesetzwidrig oder unrecht seien.

Dieses Ergebnis läßt zwei weitere Fragen entstehen:

1. eine rechtliche, ob die Verurteilung einer Organisation mit den allgemeinen Normen des Völkerrechts und der nationalen Rechte in Einklang zu bringen ist,

2. eine tatsächliche, ob die geforderten Tatbestandsmerkmale für sämtliche Mitglieder des SD überhaupt festgestellt werden können und somit ein derartiges Verfahren überhaupt durchführbar ist.

Bevor ich mit der Erörterung der rechtlichen Frage beginne, erlaube ich mir, die Aufmerksamkeit des Gerichts darauf zu lenken, daß die Bestimmungen von Paragraph 9 keine zwingende Vorschrift, sondern nur eine Kann-Vorschrift sind. Selbst wenn sämtliche Voraussetzungen dafür gegeben sind, eine Organisation für verbrecherisch zu erklären, kann das Gericht hiervon absehen. Es ist anzunehmen, daß die Gesetzgeber einen Zweck damit verfolgt haben, wenn sie die Verurteilung der Organisation – selbst wenn sämtliche Voraussetzungen erfüllt wären – nicht zwingend vorgeschrieben haben. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Gesetzgeber, die das Statut erlassen haben, Paragraph 9 einer Prüfung unter die Normen des Völkerrechts unterstellen wollten.

Die Gesetzgeber des Statuts wollten somit offensichtlich dem Internationalen Militärtribunal hinsichtlich des Artikels 9 – ich betone ausdrücklich, um irgendwelche Mißverständnisse zu vermeiden, nur hinsichtlich des Artikels 9, denn im übrigen ist das Statut eine zwingende Norm – das richterliche Prüfungsrecht übertragen. Das Internationale Militärtribunal sollte den Artikel 9 daraufhin prüfen, ob diese Bestimmung eine Weiterentwicklung der Rechtsgedanken des Völkerrechts und der nationalen Rechte ist, oder ob sie mit diesen Normen in Widerspruch steht. Für eine derartige Absicht dürfte insbesondere die Tatsache sprechen, daß es sich bei Artikel 9 um eine dem bisherigen Recht unbekannte Norm handelt. Die Frage, ob ein formelles Gesetz mit anderen Gesetzen in Widerspruch steht, läßt sich nicht sogleich bei Erlaß des Gesetzes untersuchen.

Nur bei der praktischen Anwendung des Gesetzes und nach der Durchforschung durch die Wissenschaft kann dies festgestellt werden.

Das englische Staatsrecht mit seinem besonderen Verfassungsbegriff kennt das richterliche Prüfungsrecht nicht. Auch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken kennt ein richterliches Prüfungsrecht nicht. In Frankreich wird von den Gerichten das richterliche Prüfungsrecht verneint. Dagegen wird das richterliche Prüfungsrecht von der Rechtslehre fast einstimmig bejaht. In den Vereinigten Staaten ist das richterliche Prüfungsrecht allgemein anerkannt.

Die Gerichte der Vereinigten Staaten haben die erlassenen Gesetze mit der Verfassung zu vergleichen und die wahre Absicht beider Rechte zu ermitteln.

Ich glaube, daß die internationale Völkergemeinschaft den bundesstaatlichen Verhältnissen der Vereinigten Staaten näher kommt und daß daher das Internationale Militärtribunal das Verhältnis der Bestimmung von Artikel 9 des Statuts zu den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts und auch dem Recht der nationalen Staaten, die nach den Ausführungen von Justice Jackson gleichfalls die Rechtsgrundlage der Entscheidung bilden sollen, zu prüfen berechtigt ist.

Für Artikel 9 des Statuts kommt hinzu, daß es sich um eine den bisherigen Rechten unbekannte Vorschrift handelt. Es kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden und bedarf wohl keiner weiteren Begründung, daß die Staaten, die das Statut erlassen haben, die Grundgedanken des geltenden Völkerrechts weiterentwickeln und in eine gesetzliche Form bringen wollten, daß es ihnen hierbei völlig fern lag, sich mit den Normen des Völkerrechts in Widerspruch zu setzen.

Alles geschriebene Recht bedarf jedoch einer sorgfältigen wissenschaftlichen Durchdringung und Bearbeitung, damit eine vernünftige Anwendung in der Praxis möglich wird. Erst dadurch werden die Gerichtshöfe in die Lage gesetzt, zu wirklich sachgemäßen Entscheidungen zu kommen.

Das Internationale Militärtribunal wird daher auf Grund des ihm zustehenden richterlichen Prüfungsrechts das Verhältnis von Artikel 9 des Statuts mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts und der nationalen Rechte der Kulturstaaten zu prüfen haben.

Auszugehen ist hierbei von der rechtlichen Bedeutung der nach Artikel 9 des Statuts zulässigen Erklärung, daß eine Organisation verbrecherisch sei.

Die Bestimmung von Paragraph 9 unterscheidet sich grundlegend von dem Verbandsstrafrecht, wie es zum Beispiel im englischen Recht durch Abschnitt 2 des Interpretation Act von 1889 eingeführt worden ist.

Die Strafe nach dem Verbandsstrafrecht trifft den Verband. Die Verurteilung nach Artikel 9 kann nicht mehr die Organisationen treffen, weil diese ja inzwischen aufgelöst sind und nicht mehr bestehen. Die Verurteilung richtet sich vielmehr gegen die einzelnen Mitglieder, denn der Ausspruch des Gerichts ist die Grundlage für die nachfolgenden Verfahren auf Grund des Gesetzes Nummer 10.

Es kommen zwei weitere wichtige Unterschiede hinzu:

1. Nach dem Verbandsstrafrecht, insbesondere nach dem Verbandsstrafrecht des englischen Rechts, ist keine Freiheitsstrafe zulässig.

Die Verurteilung nach Paragraph 9 soll jedoch die Grundlage für die Verhängung von Freiheitsstrafen und sogar der Todesstrafe bilden, die im Gesetz Nummer 10 vorgesehen sind.

2. Nach dem Verbandsstrafrecht des englischen Rechts können keine Verbrechen und Vergehen verfolgt werden.

Überblickt man die englische Rechtsprechung, so ergibt sich, daß Korporationen nur wegen Übertretungen verurteilt worden sind, insbesondere wegen Verletzung öffentlicher Pflichten, zum Beispiel Nichtreparatur von Straßen oder Brücken, obwohl eine derartige Verpflichtung bestand, Versperrung einer Straße durch eine Eisenbahngesellschaft oder wegen Veröffentlichung einer Schmähschrift.

Gegenstand des Verfahrens von Artikel 9 sind dagegen schwerste Verbrechen.

Artikel 9 des Statuts bedeutet daher nicht die Einführung des Verbandsstrafrechts in das Internationale Strafrecht.

Von der Anklagebehörde sind eine Anzahl ausländischer Gesetze angeführt worden, nach denen es zulässig sein soll, eine Organisation für verbrecherisch zu erklären: Aus dem amerikanischen Recht das Gesetz vom 28. Juni 1940 und der »California Act«; aus dem englischen Recht der »British India Act Nummer 30 vom 14. November 1936«; aus dem französischen Recht das Gesetz vom 18. Dezember 1893, Artikel 265 des französischen Strafgesetzbuches, Artikel 1 des Gesetzes vom 26. August 1944 und zwei Gesetzbestimmungen aus dem russischen Recht.

VORSITZENDER: Herr Dr. Gawlik! Ich glaube, Sie lesen etwas zu schnell.

DR. GAWLIK: Es ist ferner auf folgende deutsche Gesetze hingewiesen worden:

1. Die Bestimmung der Paragraphen 128, 129 des deutschen Strafgesetzbuches von 1871,

2. das Gesetz vom 22. März 1921,

3. das Gesetz vom 21. Juli 1922.

Hierbei ist jedoch zu beachten, daß nach allen diesen Gesetzen nur Einzelpersonen angeklagt werden können und daß in dem Verfahren gegen die angeklagten Einzelpersonen ohne Rechtskraftwirkung für die nichtangeklagten Mitglieder festgestellt werden kann, daß die Organisation einen verbrecherischen Charakter hat. Es kann somit in dem einen Verfahren gegen einige Mitglieder der Vereinigung festgestellt werden, daß die Organisation gesetzwidrige Ziele verfolge, und in einem weiteren Verfahren gegen andere Mitglieder kann diese Frage verneint werden.

Die Nichtausdehnung der Rechtskraft auf die nichtangeklagten Mitglieder ist jedoch das Entscheidende, das diese Gesetze von Artikel 9 des Statuts unterscheidet.

Die Entscheidung nach Artikel 9 des Statuts ist, im Gegensatz zu den von der Anklagebehörde angeführten Gesetzen, bindend in den Verfahren gegen die einzelnen Mitglieder vor den Militärgerichten, und zwar enthält die Verurteilung der Organisationen durch das Internationale Militärtribunal nicht nur die rechtskräftige Feststellung der objektiven Tatbestandsmerkmale, sondern darüber hinaus für sämtliche Mitglieder eine rechtskräftige Feststellung der Schuld, auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, das heißt, eine Rechtskraftwirkung von einer im Strafrecht bisher völlig einzigartigen Bedeutung.

Es handelt sich somit bei dem Ausspruch nach Artikel 9 weder um die Weiterentwicklung des Verbandsstrafrechts noch um eine Verurteilung einzelner Personen wegen der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Personengemeinschaft, sondern um eine Verurteilung sämtlicher Mitglieder der Organisationen, weil für sämtliche Angehörigen rechtskräftig die wesentlichen Tatbestandsmerkmale festgestellt werden, die die Grundlage für die späteren Verurteilungen in den Verfahren nach dem Gesetz Nummer 10 bilden. In den nachfolgenden Verfahren kann nur noch die Frage der Mitgliedschaft geprüft werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine kollektive Verurteilung sämtlicher Mitglieder der Organisationen.

Wie steht die Völkerrechtslehre zu der Frage der kollektiven Verurteilung?

Die Mehrzahl der amerikanischen, englischen und französischen Völkerrechtslehrer lehnen die kollektive Verurteilung als »willkürlich und den elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit zuwiderlaufend« ab – so Garner, in »International Law and the World War«, Vol. I, Seite 154. Der bekannte Völkerrechtslehrer Garner stellt mit Recht fest, daß die kollektive Verurteilung, selbst wenn sie in der mildesten Form angewendet wird, notwendig die Bestrafung von unschuldigen Personen in sich führt. Garner führt weiter aus, daß aus diesem Grunde niemals von der kollektiven Verurteilung Gebrauch gemacht werden sollte, wenn andere gerechte Maßnahmen den gleichen Zweck erfüllen würden. Die französischen Rechtsgelehrten Bonfils und de Martons haben in eingehenden Darlegungen den Grundsatz der kollektiven Bestrafung verurteilt und die Hoffnung ausgesprochen, daß die kollektive Verurteilung gänzlich verschwinden solle.

Diesen Ausführungen dürfte in vollem Umfange zuzustimmen sein.

Mit dem Verfahren gegen die Organisationen sollen die begangenen Verbrechen gesühnt werden. Um diesen Zweck zu erreichen, bedarf es jedoch nicht des Umwegs über die Verurteilung der Organisationen. Dieser Zweck kann dadurch erreicht werden, daß gegen einzelne Personen, die an diesen Verbrechen beteiligt waren, Verfahren durchgeführt werden, wie es auch in einer großen Anzahl von Fällen geschehen ist.

Auf Grund der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts und der nationalen Rechte der Kulturstaaten dürfte daher von der Kann-Vorschrift des Artikels 9 Gebrauch zu machen und davon abzusehen sein, die angeklagten Organisationen für verbrecherisch zu erklären. Die für die Verbrechen verantwortlichen Personen können in Einzelverfahren bestraft werden.

Es erhebt sich nunmehr die weitere Frage, ob es überhaupt möglich ist, in diesem Verfahren die erforderlichen Tatbestandsmerkmale zu ermitteln.

Eine derartige Feststellung dürfte unmöglich und undurchführbar sein. Schon der Nachweis, daß sämtliche Mitglieder des SD etwaige verbrecherische Ziele gekannt haben, dürfte nicht zu erbringen sein. Die Schuld ist immer nur an einer Person festzustellen. Alle Schuld ist personengebunden. Sind viele Personen an einem Vergehen oder Verbrechen beteiligt, so muß der Richter den ganzen Kreis der Beteiligten einzeln vernehmen, um konkret in fester Umgrenzung Schuld, Unschuld, Mitschuld der einzelnen Angeklagten festzustellen.

Völlig ausgeschlossen erscheint es jedoch, feststellen zu können, daß sämtliche Mitglieder sich der Gesetzwidrigkeit und Unrechtmäßigkeit der Ziele und Aufgaben bewußt waren.

Hierbei muß auch geprüft werden, welches für die Mitglieder des SD der Maßstab dafür sein sollte, daß die Ziele oder Mittel gesetzwidrig oder unrecht waren. Nach dem während des Bestehens der Organisation geltenden deutschen Recht waren die Ziele und Mittel, wie ich im tatsächlichen Teil darlegen werde, erlaubt. Es kann zugegeben werden, daß die deutschen gesetzlichen Maßnahmen zum Teil mit den Gesetzen des Völkerrechts in Widerspruch standen und daß somit Ziele und Methoden, obwohl sie nach dem Recht des deutschen Staates nicht gesetzwidrig und kein Unrecht waren, trotzdem als gesetzwidrig und unrecht im Sinne des Völkerrechts anzusehen sind. Dies ist jedoch nicht das Entscheidende. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Mitglieder, und zwar sämtliche, die Gesetzwidrigkeit und Unrechtmäßigkeit von Zielen und Methoden erkannt haben, die nach den deutschen Gesetzen rechtmäßig waren.

Der bekannte Völkerrechtslehrer Oppenheim hat ausgeführt, daß es das Recht nicht fordern könne, daß ein Einzelmensch wegen einer Tat bestraft werde, die er kraft Gesetzes zu begehen gezwungen war.

Wenn sich die bekanntesten Lehrer des Völkerrechts nicht darüber einig sind, was Recht und Unrecht ist, soll man dann von den einfachen Mitgliedern der Organisationen verlangen können, daß sie dies erkennen?

Bei den Kapitalverbrechen, die in dem Verfahren zur Sprache gekommen sind, zum Beispiel der Vernichtung der Juden und der unmenschlichen Behandlung in den Konzentrationslagern, bedarf es keiner Erörterung über Recht und Unrecht. Den Organisationen sind jedoch eine große Anzahl von Straftaten zur Last gelegt worden, für die sich die Frage, ob

1. überhaupt die Täter und

2. darüber hinaus sämtliche Mitglieder das Unrecht und die Gesetzwidrigkeit kannten, nicht ohne weiteres bejahen läßt.

Gerade bei Handlungen, die im Kriege begangen worden sind, kann die Entscheidung darüber, ob die Gesetzwidrigkeit und Unrechtmäßigkeit der Handlungen erkannt worden sind, schwierig sein. In Friedenszeiten weiß jeder, daß er seinen Mitmenschen nicht töten darf und daß fremdes Eigentum unverletzlich ist. Im Kriege jedoch sind diese Handlungen zum Teil rechtmäßig. Der Soldat darf den Feind töten. Die Wegnahme fremder Sachen ist unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Der einzelne, der die Tat begeht, und darüber hinaus die Mitglieder haben somit für Handlungen, die im Kriege begangen worden sind, nur dann das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, wenn sie die Grenzen erkennen, die durch das Recht gesetzt sind.

Gerade bei den Organisationen ist eine strenge Prüfung erforderlich, denn es handelt sich bei den Mitgliedern zum größten Teil um Personen, die keine Gesetzeskenntnis besitzen und denen die Grenzen des Völkerrechts nicht bekannt sind.

Ich glaube, daß dies auch die Ansicht des Herrn Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten ist, der in seiner grundlegenden Rede am 20. November 1945 ausgeführt hat, ein verpflichteter Soldat bei einem Erschießungskommando könne nicht eine Untersuchung abhalten, ob die Hinrichtung gesetzlich zulässig ist.

Bei der Prüfung der Kenntnis der Mitglieder von der Gesetzwidrigkeit und Unrechtmäßigkeit darf auch nicht der Fehler begangen werden, die Kenntnis, die wir jetzt in dem Prozeß auf Grund von Dokumenten aus den Geheimarchiven erlangt haben, etwa bei den einfachen Mitgliedern der Organisation für die Zeit vorher vorauszusetzen.

Es sind gerade in dem Verfahren gegen den SD eine große Anzahl von Geheimschreiben, Dokumenten und Verfügungen vorgelegt worden, die nur für den internen Betrieb einzelner Dienststellen bestimmt waren. Der Inhalt dieser Schreiben spricht somit selbst dafür, daß sie nicht zur Kenntnis sämtlicher Mitglieder gekommen, sondern nur einem kleinen bestimmten Kreis bekanntgeworden sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das bekannte Dokument L-180, den Stahlecker-Bericht über die Tätigkeit der Einsatzgruppe A hinweisen.

Schon jetzt kann daher festgestellt werden, daß ein großer Teil des von der Anklagebehörde vorgelegten Beweismaterials zur kollektiven Verurteilung der Mitglieder des SD nicht ausreicht. Die Urkunden erbringen schon nicht einmal den Beweis dafür, daß die Täter selbst das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatten, denn zu dieser Feststellung müßte man die näheren Umstände der Tat kennen. Darüber hinaus müßte jedoch noch nachgewiesen werden, daß die Mitglieder des SD

a) von den Taten Kenntnis hatten und

b) erkannten, daß die Taten gesetzwidrig oder mindestens unrecht waren.

Ich halte es nicht für erforderlich, in dem zweiten Teil meiner Ausführungen bei jeder der dem SD zur Last gelegten Handlungen diese Frage zu erörtern, sondern bin der Ansicht, daß es genügt, wenn ich allgemein das Problem aufgezeigt habe und die Prüfung in den einzelnen Fällen dem Tribunal überlasse. Das Tribunal wird jedoch in jedem einzelnen Falle, der dem SD zur Last gelegt ist und bei jedem Dokument, das gegen den SD...

VORSITZENDER: Würde das ein geeigneter Zeitpunkt sein abzubrechen?