Der gemeinsame Plan oder die Verschwörung und der Angriffskrieg.
Nunmehr wendet sich der Gerichtshof der Betrachtung der in der Anklageschrift erwähnten Verbrechen gegen den Frieden zu. Punkt 1 der Anklageschrift beschuldigt die Angeklagten der Teilnahme an einer Verschwörung oder einem gemeinsamen Plan für das Begehen von Verbrechen gegen den Frieden. Punkt 2 der Anklageschrift beschuldigt die Angeklagten, bestimmte Verbrechen gegen den Frieden begangen zu haben, und zwar durch Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung von Angriffskriegen gegen eine Anzahl anderer Staaten. Es erscheint zweckmäßig, die Frage des Vorhandenseins eines gemeinsamen Planes und die Frage des Angriffskrieges gleichzeitig zu untersuchen und die Frage der Einzelverantwortlichkeit der Angeklagten in einem späteren Teil dieses Urteils zu behandeln.
Die Behauptung der Anklageschrift, nämlich, daß die Angeklagten Angriffskriege geplant oder geführt hätten, sind Anschuldigungen schwerster Natur. Der Krieg ist seinem Wesen nach ein Übel. Seine Auswirkungen sind nicht allein auf die kriegführenden Staaten beschränkt, sondern treffen die ganze Welt.
Die Entfesselung eines Angriffskrieges ist daher nicht nur ein internationales Verbrechen; es ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, daß es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft.
Die ersten in der Anklageschrift erwähnten Angriffshandlungen bestehen in der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei; und der erste Angriffskrieg, der unter Anklage gestellt ist, ist der am 1. September 1939 begonnene Krieg gegen Polen.
Vor Prüfung dieses Anklagepunktes ist es notwendig, einige der Ereignisse, die vor diesen Angriffshandlungen lagen, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Der Krieg gegen Polen kam nicht plötzlich aus heiterem Himmel; das Beweismaterial hat klar ergeben, daß dieser Angriffskrieg wie auch die Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei wohlüberlegt und eingehend vorbereitet war, und daß er erst begonnen wurde, als der geeignete Zeitpunkt gekommen schien, zu dem er als bestimmter Teil eines vorausgesehenen Plans ausgeführt werden konnte.
Denn die Angriffspläne der Nazi-Regierung waren keine Zufälle, die sich aus der politischen Lage des Augenblicks in Europa und der Welt ergaben; sie waren ein wohlüberlegter und notwendiger Teil der Außenpolitik der Nazis.
Die nationalsozialistische Bewegung behauptete von Anfang an, daß ihr Ziel die Einigung des deutschen Volkes im Bewußtsein seiner Mission und seines Schicksalszweckes sei, gegründet auf die ererbten Eigenschaften der Rasse und unter Leitung des Führers.
Zwei Dinge wurden für die Erreichung dieses Zieles als notwendig betrachtet: Die Zerstörung der europäischen Ordnung, die seit dem Versailler Vertrag bestanden hatte und die Schaffung eines Großdeutschen Reiches über die Grenzen von 1914 hinaus. Dieses bedeutete notwendigerweise die Besitzergreifung fremden Staatsgebietes.
Wenn diese Ziele erreicht werden sollten, so mußte ein Krieg als unvermeidlich, zumindest aber als höchstwahrscheinlich betrachtet werden. Daher sollte das deutsche Volk mit allen seinen wirtschaftlichen Hilfsquellen zu einer großen politisch-militärischen Armee ausgebaut und dazu geschult werden, einer jeglichen vom Staate angeordneten Politik widerspruchslos zu folgen.
Angriffsvorbereitungen.
In »Mein Kampf« hatte Hitler diese Ansicht ganz klar zum Ausdruck gebracht. Man muß sich daran erinnern, daß »Mein Kampf« nicht einfach ein privates Tagebuch war, in dem Hitler seine geheimen Gedanken niedergelegt hatte. Vielmehr wurde dessen Inhalt von den Dächern geschrien. Es wurde in den Schulen und Universitäten, in der Hitler-Jugend, in der SS und in der SA und vom ganzen deutschen Volk gelesen. Ein Exemplar wurde sogar allen neugetrauten Ehepaaren überreicht. Im Jahre 1945 waren bereits über 61/2 Millionen Exemplare verbreitet. Der allgemeine Inhalt ist wohlbekannt. Immer und immer wieder unterstreicht Hitler seinen Glauben an die Notwendigkeit der Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Probleme, wie zum Beispiel in dem nachfolgenden Zitat:
»Den Boden, auf dem wir heute leben, erhielten unsere Vorfahren nicht vom Himmel geschenkt. Sie mußten ihn durch Lebenseinsatz erkämpfen. So wird auch uns in Zukunft den Boden und damit das Leben für unser Volk keine völkische Gnade zuweisen, sondern nur die Gewalt eines siegreichen Schwertes.« (»Mein Kampf« Seite 556, 2662-PS, US-256.)
»Mein Kampf« enthält zahlreiche derartige Stellen und die Gewalt wird offen als Instrument der Außenpolitik gepriesen. Die genauen Ziele dieser Politik der Gewalt sind gleichfalls in allen Einzelheiten dargelegt. Die allererste Seite des Buches enthält die Erklärung, daß »Deutschösterreich wieder zum großen deutschen Mutterland« zurück müsse, und zwar nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern mit der Begründung, daß »gleiches Blut in ein gemeinsames Reich« gehöre. Die Wiedergewinnung der deutschen Grenzen von 1914 wird als gänzlich unzureichend erklärt, und wenn Deutschland überhaupt leben soll, muß es als Weltmacht auch die nötige räumliche Größe haben.
»Mein Kampf« wird sogar besonders deutlich bei der Erklärung darüber, wo dieser Gebietszuwachs zu finden sei.
»Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit... Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.
Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanenen Randstaaten denken« (»Mein Kampf«, Seite 743, 2662-PS, US-256).
»Mein Kampf« ist nicht lediglich als eine literarische Übung zu betrachten und ebensowenig als starre Politik oder als unabänderlicher Plan.
Seine Wichtigkeit liegt in der unmißverständlich aggressiven Haltung, die aus jeder Seite spricht.