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Der Angriff gegen Polen.

Im März 1939 war das Projekt der Annektierung Österreichs und der Tschechoslowakei, welches bei der Zusammenkunft am 5. November 1937 von Hitler besprochen worden war, ausgeführt worden. Nun war für die deutschen Führer die Zeit gekommen, weitere Angriffshandlungen, deren Ziel auf Grund dieser Erfolge leichter zu erreichen war, ins Auge zu fassen.

Am 23. Mai 1939 fand in Hitlers Arbeitszimmer in der Neuen Reichskanzlei zu Berlin eine Zusammenkunft statt. Hitler gab seinen Entschluß, Polen anzugreifen, bekannt und führte seine Gründe aus; er besprach die Wirkung, welche dieser Entschluß auf andere Länder haben könnte. Der Zeit nach war diese die zweite der wichtigen Zusammenkünfte, von welchen bereits gesprochen worden ist, und um die volle Bedeutung dessen, was gesagt und getan wurde, zu würdigen, ist es notwendig, in Kürze einige der wichtigsten Ereignisse in der Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen zu erwähnen.

Bereits im Jahre 1925 war in Locarno ein Schiedsgerichtsvertrag zwischen Deutschland und Polen abgeschlossen worden, welcher für die Regelung aller Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern galt. Am 26. Januar 1934 erfolgte eine deutsch-polnische Nichtangriffserklärung, welche im Namen der Deutschen Regierung vom Angeklagten von Neurath unterzeichnet wurde. Am 30. Januar 1934 und wieder am 30. Januar 1937 hielt Hitler im Reichstag Reden, in welchen er seine Absicht ausdrückte, daß Polen und Deutschland in Eintracht und Frieden zusammenarbeiten können. Am 20. Februar 1938 hielt Hitler im Reichstag eine dritte Rede, in deren Verlauf er bezüglich Polens folgendes sagte:

»So gelang es, den Weg für eine Verständigung zu ebnen, die, von Danzig ausgehend, heute trotz des Versuches mancher Störenfriede das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen endgültig zu entgiften und in ein aufrichtig freundschaftliches Zusammenarbeiten zu verwandeln mochte... Deutschland wird jedenfalls, gestützt auf seine Freundschaften, nichts unversucht lassen, um jenes Gut zu retten, das die Voraussetzung für jene Arbeiten auch in der Zukunft abgibt, die uns vor schweben: den Frieden.« (2357-PS, GB-30.)

Am 26. September 1938, mitten in der sudetenländischen Krise, hielt Hitler seine bereits zitierte Berliner Rede und erklärte, er habe dem britischen Ministerpräsidenten mitgeteilt, daß, wenn einmal das tschechoslowakische Problem gelöst sei, es für Deutschland keine weiteren territorialen Probleme in Europa gäbe. Nichtsdestoweniger erteilte das OKW am 24. November desselben Jahres einen Befehl an die deutsche Wehrmacht, Vorbereitungen für einen Angriff auf Danzig zu treffen; derselbe lautete:

»Der Führer hat befohlen:

1.... sind auch Vorbereitungen zu treffen, daß der Freistaat Danzig überraschend von deutschen Truppen besetzt werden kann.« (C-137, GB-133.)

Obwohl Hitler militärische Vorbereitungen für eine Besetzung Danzigs befohlen hatte, erklärte er am 30. Januar 1939 in einer Reichstagsrede:

»In den schwierigen Monaten des letzten Jahres war die Freundschaft zwischen Deutschland und Polen eines der verheißungsvollsten Momente im politischen Leben Europas.« (TC-73, GB-37.)

Fünf Tage früher, am 25. Januar 1939, hatte Ribbentrop in einer in Warschau gehaltenen Rede erklärt:

»So können Polen und Deutschland in vollem Vertrauen auf die sichere Grundlage ihrer gegenseitigen Beziehungen ihrer Zukunft entgegensehen.« (2530-PS, GB-36.)

Nach der Besetzung von Böhmen und Mähren durch Deutschland am 15. März 1939, wobei es sich um einen offenkundigen Bruch des Münchener Abkommens gehandelt hatte, gab Großbritannien am 31. März 1939 eine Zusicherung an Polen ab, daß im Fall einer Handlung, die eine offenbare Bedrohung der polnischen Unabhängigkeit darstelle, und der mit allen nationalen Kräften Widerstand zu leisten die Polnische Regierung als lebenswichtig betrachte, sich Großbritannien verpflichtet fühlen werde, Polen sofort jede nur mögliche Unterstützung zu gewähren. Die Französische Regierung nahm dieselbe Haltung ein. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, daß eines der im gegenwärtigen Prozeß häufig von der Verteidigung vorgebrachten Argumente darin besteht, daß infolge des Stillschweigens anderer Mächte die Angeklagten denken konnten, daß ihr Vorgehen keinen Bruch des Völkerrechts darstelle. Wenigstens die Erklärungen Großbritanniens und Frankreichs zeigten, daß diese Anschauung nicht länger aufrechterhalten werden könnte.

Am 3. April 1939 wurde der Wehrmacht ein vom OKW abgeänderter Befehl erteilt, welcher nach Erwähnung der Danziger Frage auf den Fall »Weiß« (das militärische Deckwort für die deutsche Invasion Polens) Bezug nahm und folgendes besagte:

»Zum ›Fall Weiß‹ hat der Führer noch folgendes angeordnet:

1.) Die Bearbeitung hat so zu erfolgen, daß die Durchführung ab 1. September 1939 jederzeit möglich ist.

2.) Das OKW ist beauftragt, eine genaue Zeittafel für den ›Fall Weiß‹ aufzustellen und die zeitliche Übereinstimmung zwischen den drei Wehrmachtteilen durch Besprechungen zu klären.« (L-120, GB-41.)

Am 11. April 1939 wurde ein von Hitler unterzeichneter weiterer Befehl an die Wehrmacht erteilt, und in einer der diesem Schriftstück beigefügten Anlagen finden sich folgende Worte:10

»Störungen« – mit Polen – »sind zu vermeiden. Sollte Polen... eine das Reich bedrohende Haltung einnehmen, so kann ungeachtet des geltenden Vertrages eine endgültige Abrechnung erforderlich werden.

Das Ziel ist dann, die polnische Wehrkraft zu zerschlagen und eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechende Lage im Osten zu schaffen. Der Freistaat Danzig wird spätestens mit Beginn des Konfliktes als deutsches Reichsgebiet erklärt.

Die politische Führung sieht es als ihre Aufgabe an... den Krieg auf Polen zu beschränken. Eine zunehmende krisenhafte innere Entwicklung in Frankreich und eine daraus folgernde Zurückhaltung Englands könnte eine derartige Lage... entstehen lassen.« (C-120, GB-41.)

Trotz des Inhalts dieser beiden Befehle hielt Hitler am 28. April 1939 eine Rede im Reichstag, in welcher er, nach der Schilderung einer seitens der Polnischen Regierung angeblich erfolgten Ablehnung eines von ihm bezüglich Danzigs und des Polnischen Korridors gemachten Vorschlages, folgendes erklärte:

»Ich habe die unverständliche Haltung der Polnischen Regierung tief bedauert, aber das allein ist nicht die entscheidende Tatsache; das Schlimmste ist, daß jetzt Polen, wie vor einem Jahr die Tschechoslowakei, unter dem Drucke eines internationalen Lügenfeldzuges glaubte, daß es Truppen einberufen müsse, obwohl Deutschland seinerseits nicht einen einzigen Mann einberufen und nicht daran gedacht hatte, irgendwie gegen Polen vorzugehen...

Die Absicht eines Angriffs von seiten Deutschlands, die lediglich eine von der Internationalen Presse erfundene Lüge war...« (C-72, GB-43.)

Vier Wochen nach dieser Rede, am 23. Mai 1939, hielt Hitler die bereits erwähnte wichtige militärische Zusammenkunft ab. Unter den Anwesenden waren die Angeklagten Göring, Raeder und Keitel. Der an diesem Tage diensttuende Adjutant war Oberstleutnant Schmundt, der Aufzeichnungen der Vorgänge machte und dieselben mit seiner Unterschrift als eine getreue Wiedergabe bestätigte.

Zweck dieser Zusammenkunft war, Hitler Gelegenheit zu geben, den Befehlshabern der Wehrmacht und ihren Stäben seine Ansicht bezüglich der politischen Lage sowie seine zukünftigen Ziele mitzuteilen. Nach einer Untersuchung der politischen Lage und nach einem Rückblick auf die Ereignisse seit 1933, gab Hitler seine Entscheidung, Polen anzugreifen, bekannt. Er gab zu, daß nicht der Streit mit Polen bezüglich Danzig der Grund für diesen Angriff war, sondern die für Deutschland bestehende Notwendigkeit, seinen Lebensraum zu vergrößern und seine Lebensmittelversorgung sicherzustellen. Er sagte:

»Zur Lösung der Probleme gehört Mut. Es darf nicht der Grundsatz gelten, sich durch Anpassung an die Umstände einer Lösung der Probleme zu entziehen. Es heißt vielmehr, die Umstände den Forderungen anzupassen. Ohne Einbruch in fremde Staaten oder Angreifen fremden Eigentums ist dies nicht möglich.«

An einer weiteren Stelle seiner Rede führte er aus:

»Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen. An eine Wiederholung der Tschechei ist nicht zu glauben. Es wird zum Kampf kommen. Aufgabe ist es, Polen zu isolieren. Das Gelingen der Isolierung ist entscheidend... Es ist Sache geschickter Politik, Polen zu isolieren.« (L-79, US-27.)

Oberstleutnant Schmundts Niederschrift über diese Zusammenkunft zeigt uns, daß Hitler die Möglichkeit, daß Großbritannien und Frankreich Polen zu Hilfe eilen würden, völlig begriff. Hitler vertrat den Standpunkt, daß, falls deshalb eine Isolierung Polens nicht erreicht werden konnte, Deutschland zunächst Großbritannien und Frankreich angreifen oder jedenfalls seine Kräfte in erster Linie für einen Krieg im Westen zusammenfassen sollte, um Großbritannien und Frankreich schnell zu besiegen, oder wenigstens deren Kampffähigkeit zu zerstören. Nichtsdestoweniger betonte Hitler, daß ein Krieg mit England und Frankreich ein Kampf auf Leben und Tod sein werde, welcher lange Zeit dauern könne, und daß entsprechende Vorbereitungen getroffen werden müßten.

Im Laufe der dieser Konferenz folgenden Wochen wurden andere Zusammenkünfte gehalten, und Befehle für die Vorbereitung des Krieges erteilt.

Der Angeklagte Ribbentrop wurde nach Moskau gesandt, um mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt abzuschließen.

Am 22. August 1939 fand die bedeutende Zusammenkunft statt, die bereits erwähnt worden ist. Die Anklagebehörde hat zwei Beutedokumente ohne Unterschrift als Beweismaterial vorgelegt, die Protokolle jener Besprechungen zu sein scheinen, welche von Personen, die zugegen waren, aufgenommen worden sind. Das erste Dokument trägt die Überschrift: »Die Rede des Führers an die Oberbefehlshaber am 22. August 1939«. Zweck der Rede war, den Entschluß, Polen unverzüglich mit Krieg zu überziehen, anzukündigen. Hitler begann wie folgt:

»Es war mir klar, daß es früher oder später zu einer Auseinandersetzung mit Polen kommen mußte. Ich faßte den Entschluß bereits im Frühjahr, dachte aber, daß ich mich zunächst in einigen Jahren gegen den Westen wenden würde und dann erst gegen den Osten... Ich wollte zunächst mit Polen ein tragbares Verhältnis her stellen, um zunächst gegen den Westen zu kämpfen. Dieser mir sympathische Plan war aber nicht durchführbar, da sich Wesentliches geändert hatte. Es wurde mir klar, daß bei einer Auseinandersetzung mit dem Westen, Polen uns angreifen würde.« (798-PS, US-29.)

Dann erklärte Hitler weiter, warum er zu der Überzeugung gelangt sei, daß der günstigste Augenblick für den Beginn des Krieges gekommen war. »Jetzt« – sagte Hitler – »habe ich Polen, wo ich es haben will... Ich befürchte nur, daß im letzten Augenblick irgendein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag machen wird. Der Anfang zur Zerstörung von Englands Vorherrschaft ist gemacht.«

Dieses Dokument ähnelt sehr einem der im Namen des Angeklagten Raeder als Beweismittel vorgelegten Dokumente. Letzteres ist eine Zusammenfassung derselben Rede, die an dem Tage, an dem sie gehalten wurde, von einem Admiral Böhm an Hand von Notizen, die während der Zusammenkunft gemacht wurden, verfaßt wurde. Im wesentlichen besagt diese Urkunde, daß nunmehr der Augenblick gekommen sei, den Streit mit Polen durch militärische Invasion beizulegen, daß, obwohl ein Konflikt zwischen Deutschland und den Westmächten auf die Dauer gesehen nicht zu vermeiden sei, die Wahrscheinlichkeit eines Beistandes für Polen seitens Großbritanniens und Frankreichs nicht groß sei, und daß, selbst wenn ein Krieg mit den Westmächten ausbrechen würde, das erste Ziel die Zerschlagung der polnischen Wehrmacht sein müsse. Es enthält ferner eine Erklärung Hitlers, daß ein geeigneter propagandistischer Grund für die Invasion Polens gegeben würde, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht von Bedeutung sei, da ja »das Recht auf seiten des Siegers liegt«.

Das zweite Dokument ohne Unterschrift, das von der Anklagevertretung als Beweismittel vorgelegt worden ist, trägt die Überschrift »Zweite Rede des Führers am 22. August 1939«. Es ist in Form von Notizen über die von Hitler angeführten Hauptpunkte gehalten. Einige von ihnen lauten wie folgt:

»Jeder muß die Ansicht vertreten, daß wir von vornherein auch zum Kampf gegen die Westmächte entschlossen waren, Kampf auf Leben und Tod... Vernichtung Polens im Vordergrund, Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. Auch wenn im Westen Krieg ausbricht, bleibt Vernichtung Polens im Vordergrund... Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf Recht an, sondern auf den Sieg... Auslösung wird noch befohlen, wahrscheinlich Samstag morgen.« (Das heißt der 26. August.) (1014-PS, US-30.)

Obgleich dieses Dokument als eine zweite Rede bezeichnet wird, ist doch eine so hinreichende Ähnlichkeit mit den beiden vorher erwähnten Dokumenten vorhanden, daß es sehr wahrscheinlich erscheint, daß dieses Dokument einen Bericht über die gleiche Rede darstellt, der nicht so ausführlich gehalten ist wie die beiden anderen, jedoch inhaltlich der gleiche ist.

Diese drei Dokumente beweisen, daß der endgültige Entschluß über den Zeitpunkt von Polens Zerschlagung, die zu einem früheren Zeitpunkt des gleichen Jahres beschlossen und geplant worden war, von Hitler kurz vor dem 22. August 1939 getroffen wurde. Sie beweisen ferner, daß er sich, obwohl er hoffte, einen Krieg mit Großbritannien und Frankreich vermeiden zu können, völlig darüber im klaren war, daß diese Gefahr bestand; er war jedoch entschlossen, dieses Risiko auf sich zu nehmen.

Die Ereignisse der letzten Augusttage bestätigen diese Entschlossenheit. Am 22. August 1939, am gleichen Tage, an dem die eben erwähnte Rede gehalten wurde, schrieb der britische Premierminister an Hitler einen Brief, in dem er sagte:

»Nachdem unser Standpunkt auf diese Weise vollkommen klar dargelegt ist, möchte ich Euer Exzellenz wiederholt meine Überzeugung dahingehend zum Ausdruck bringen, daß Krieg zwischen unseren beiden Völkern die größte Katastrophe darstellen würde, die überhaupt eintreten könnte.«11 (TC-74.)

Am 23. August erwiderte Hitler:

»Die Frage der Behandlung der europäischen Probleme in friedlichem Sinne kann nicht von Deutschland ent schieden werden, sondern in erster Linie von jenigen, die sich seit dem Verbrechen des Versailler Diktats jeder friedlichen Revision beharrlich und konsequent widersetzt haben. Erst nach Änderung der Gesinnung der dafür verantwortlichen Mächte kann auch eine Änderung des Verhältnisses zwischen England und Deutschland in einem positiven Sinne eintreten.«12 (TC-74.)

Es folgte eine Reihe von Appellen an Hitler, davon Abstand zu nehmen, den Streit mit Polen bis zum Kriege zu treiben. Diese kamen von Präsident Roosevelt am 24. und 25. August, von Seiner Heiligkeit denn Papst am 24. und 31. August und von Herrn Daladier, Premierminister von Frankreich, am 26. August. Keiner der Appelle fand Gehör.

Am 25. August unterzeichnete Großbritannien einen Beistandspakt mit Polen, durch welchen die Polen gegenüber zu einem früheren Zeitpunkt des Jahres eingegangene Verpflichtung bekräftigt wurde. Dies, zusammen mit der Abgeneigtheit Mussolinis, an Deutschlands Seite in den Krieg einzutreten, ließ Hitler einen Augenblick zögern. Der Einfall in Polen, der am 26. August beginnen sollte, wurde bis nach einem weiteren Versuch, Großbritannien zur Nichteinmischung zu bewegen, verschoben. Hitler erbot sich, mit Großbritannien nach der Beilegung der polnischen Frage ein weitgehendes Abkommen zu treffen. In Erwiderung hierauf machte Großbritannien einen Gegenvorschlag für die Beilegung des polnischen Streitfalles durch Verhandlungen. Am 29. August teilte Hitler dem Britischen Botschafter mit, daß die Reichsregierung, obwohl skeptisch hinsichtlich des Ergebnisses, bereit sei, mit einem polnischen Unterhändler in direkte Verhandlungen mit einzutreten unter der Bedingung, daß dieser bis Mitternacht des darauffolgenden Tages, den 30. August, mit unbeschränkten Vollmachten in Berlin eintreffe. Die Polnische Regierung wurde davon unterrichtet. Angesichts des Beispiels von Schuschnigg und Hácha beschlossen sie jedoch, einen solchen Unterhändler nicht zu entsenden. Am 30. August Mitternacht las der Angeklagte von Ribbentrop dem Britischen Botschafter in höchster Geschwindigkeit ein Dokument vor, das die ersten genauen Formulierungen der deutschen Forderungen an Polen enthielt. Er lehnte es jedoch ab, dem Botschafter eine Abschrift des Dokuments zu geben, und erklärte, daß es sowieso schon zu spät sei, da ja kein polnischer Unterhändler eingetroffen sei.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Art und Weise, in der diese Verhandlungen von Hitler und Ribbentrop geführt wurden, zeigen, daß sie nicht mit guten Absichten oder mit dem Willen, den Frieden zu erhalten, begonnen wurden, sondern lediglich einen Versuch darstellten, Großbritannien und Frankreich an der Einhaltung ihrer Polen gegenüber eingegangenen Verpflichtungen zu hindern.

Parallel mit diesen Verhandlungen liefen die erfolglosen Versuche Görings, Großbritannien durch Vermittlung eines Schweden, Birger Dahlerus, zu veranlassen, sein gegebenes Wort zu brechen und dadurch die Isolierung Polens zu erreichen. Dahlerus, der von Göring als Zeuge bestellt wurde, kannte England und englische Belange sehr gut. Er war im Juli 1939 eifrig bestrebt, eine bessere Verständigung zwischen England und Deutschland herbeizuführen, in der Hoffnung, einen Krieg zwischen diesen beiden Ländern zu verhüten. Er setzte sich sowohl mit Göring als auch mit amtlichen Londoner Kreisen in Verbindung und Göring verwendete ihn während der zweiten Augusthälfte als inoffiziellen Mittelsmann für seinen Versuch, die Britische Regierung von ihrer Opposition gegen die Absichten Deutschlands hinsichtlich Polens abzubringen. Dahlerus wußte seinerzeit natürlich weder etwas von Hitlers am 22. August geheim verkündeten Entschluß, noch wußte er von den bereits bestehenden deutschen militärischen Weisungen für den Angriff auf Polen. Wie er in seiner Aussage angab, erkannte er erstmalig am 26. September, nachdem die Eroberung Polens im wesentlichen abgeschlossen war, daß Göring von Anfang an darauf abgezielt hatte, Großbritanniens Zustimmung zur Besitzergreifung Polens durch Deutschland zu erlangen.

Nachdem alle Versuche fehlgeschlagen waren, Deutschland dazu zu bringen, einer Beilegung des polnischen Streitfalles auf einer vernünftigen Grundlage zuzustimmen, erließ Hitler am 31. August seine endgültigen Weisungen, in denen er ankündigte, daß der Angriff auf Polen in den frühen Morgenstunden des 1. September beginnen würde und Anweisungen gab für den Fall, daß Großbritannien und Frankreich zur Verteidigung Polens in den Krieg eintreten sollten.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Ereignisse der Tage unmittelbar vor dem 1. September 1939 den Entschluß Hitlers und seiner Helfershelfer beweisen, allen Appellen zum Trotz die angekündigte Absicht, um jeden Preis in Polen einzufallen, durchzuführen. Trotz der stets steigenden Gewißheit, daß diese Absicht zum Krieg sowohl mit Großbritannien wie auch mit Frankreich führen würde, war Hitler entschlossen, von dem einmal beschrittenen Weg nicht mehr abzuweichen. Der Gerichtshof hat sich davon völlig überzeugt, daß der von Deutschland am 1. September 1939 begonnene Krieg ganz offensichtlich ein Angriffskrieg war, der sich folgerichtig in einen die ganze Welt umspannenden Krieg entwickeln mußte und die Begehung unzähliger Verbrechen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges, sowie gegen die Menschlichkeit zur Folge hatte.

VORSITZENDER: Ich bitte nun den Appellationsgerichtsrat Falco in der Verlesung fortzufahren.

APPELLATIONSGERICHTSRAT R. FALCO, STELLVERTRETENDES MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: