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Urs Altermatt. Katholizismus und
Antisemitismus. Mentalitaeten, Kontinuitaeten, Ambivalenzen Zur
Kulturgeschichte der Schweiz 1918-1945. Frauenfeld/Stuttgart/Wien:
Verlag Huber, 1999. 314 S. . No Price Listed (gebunden), ISBN
3-7193-1160-0.
Reviewed by Armin
Owzar, Historisches Seminar, Westfaelische Wilhelms-Universitaet
Muenster.
Von nationalen oder konfessionellen Ruecksichten laesst Altermatt sich nicht beirren. Exemplarisch stellt er die Frage nach den Ursachen fuer die "passive Zuschauerrolle der Europaeer" (23), ihrer Regierungen und Kirchen: Warum schwieg die Mehrzahl der Schweizer Katholiken zu den Judenverfolgungen? Warum versagten sie den Opfern die notwendige Hilfe? Welche Rolle spielten dabei Antijudaismus und Antisemitismus? Bei der Beantwortung dieser Fragen laesst er sich von der Hypothese leiten, dass es in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts einen katholischen Antisemitismus gegeben habe, der "in erster Linie auf der Tradition des christlichen Antijudaismus" gegruendet habe (26f.). Damit errichtet Altermatt eine "Kontinuitaetsbruecke" zwischen beiden Formen der Judenfeindschaft. Altermatt zufolge "lebte der christliche Antijudaismus in neuem Kleid weiter". Zwischen diesem und dem modernen Rassen-Antisemitismus bestanden "enge Verbindungen", jedoch keine Identitaet. Insofern dieser Wurzeln besass, "die eindeutig nicht aus der christlichen Lehre stammten und mit den Grundsaetzen des christlichen Glaubens letztlich unvereinbar waren", stellte er also "nicht einfach eine geradlinige Fortsetzung dar" (53f.). Wer die spezifisch katholische Judenfeindschaft analysieren will, der muss deren Elemente, Formen und Funktionen bestimmen. Mit Hilfe eines mentalitaeten- und kulturgeschichtlichen Ansatzes versucht Altermatt sich deshalb an einer "Anatomie des katholischen Antisemitismus" (24), um so die Bruecke zwischen alltaeglichem Denken und politisch relevantem Verhalten zu schlagen. Angesichts des Quellenmaterials kann er das freilich nur bedingt fuer sich beanspruchen: der aus Broschueren, Gebetbuechern, Lexika oder Periodika rekonstruierte Diskurs erlaubt lediglich vorsichtige Rueckschluesse auf die Mentalitaeten und das Verhalten der Durchschnittsbevoelkerung - ein Grundproblem diskursanalytisch arbeitender Historiker, dem Altermatt durch eine vielseitige Beleuchtung des Themas zu begegnen versucht. So ueberprueft er "Die langen Schatten des christlichen Antijudaismus" (Kapitel III) am Beispiel der Karfreitagsliturgie, der Passionsspiele und der katholischen Volksbraeuche. Die hierin immer wieder vorgenommene Stigmatisierung der Juden als Christusmoerder musste um so nachhaltiger auf glaeubige Katholiken wirken, als alle drei untersuchten Felder einer ueber Jahrhunderte kontinuierlichen Indoktrination ausgesetzt waren und zugleich die Sinnenwelt besonders intensiv ansprachen. Im Anschluss daran ordnet er die zum Teil miteinander konkurrierenden, zum Teil miteinander kompatiblen Ideologien in ein Koordinatensystem des katholischen Antisemitismus ein (Kapitel IV). Wie Blaschke unterscheidet er zwischen erlaubtem und verbotenem, christlichem und unchristlichem Antisemitismus, wodurch die ehemals von Historikern bemuehte trennscharfe Abgrenzung von religioes motiviertem Antijudaismus und modernem Antisemitismus erneut verwischt wird. So lehnten die Katholiken zwar den modernen Rassen-Antisemitismus, nicht zuletzt aus religioesen Gruenden, mehrheitlich ab. Einen sozial, politisch und kulturell argumentierenden Antisemitismus aber pflegten auch sie. Das religioese Fundament des katholischen Antijudaimus erweiterten sie um judenfeindliche Stereotype, die nicht dem traditionellen Vorrat entstammten. Immer wieder identifizierten sie das Judentum mit den verhassten 'Ismen', dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Materialismus, dem Atheismus; immer wieder liefen sie Sturm gegen den juedischen Einfluss auf die Gesellschaft, auf Presse, Literatur und Theater; immer wieder erhoben sie Protest gegen von Juden gefuehrte Banken, Warenhaeuser, Tageszeitungen. Insofern bildete der katholische Antisemitismus vor allem eine "Ersatzideologie fuer die Kritik an der modernen Gesellschaft" (99). Altermatt woertlich: "Den katholischen Judenfeinden diente der Antisemitismus als Allerweltsargument, um die Krisenerscheinungen der modernen Gesellschaft mit einem konkreten, allgemein verstaendlichen Feindbild zu deuten und in einem chaotischen Durcheinander von Ressentiments gegen Judentum und Moderne auszudruecken" (130). Altermatt fuehrt fuer seine Thesen zahlreiche Beispiele an, die ueberzeugen. Was indes ueberrascht: in diesem Kapitel, das er selbst als "Herzstueck des Buches" bezeichnet (27), da es den Schluessel fuer die Interpretation des katholischen Antisemitismus enthalte, erwaehnt er Blaschke, der diesen Deutungsrahmen in die Diskussion eingebracht hat, in diesem Zusammenhang nur beilaeufig. Darueber ist es, unmittelbar nach Erscheinen des Buches, zu einem erbitterten Streit gekommen, der weite Kreise zu ziehen beginnt. Schon hat Blaschkes Doktorvater Hans-Ulrich Wehler diesen Vorfall zum Anlass genommen, die Einsetzung einer nach amerikanischem Vorbild arbeitenden Ethik-Kommission zu fordern. Mutmassliche Plagiats-Faelle sollen so vor der Oeffentlichkeit verhandelt und symbolisch geahndet werden.[3] Nun hat Altermatt ein anderes Buch als Blaschke geschrieben: ueber ein anderes Land, eine andere Zeit. Doch das sollte ihn nicht daran hindern, die Bedeutung von Blaschkes Studie angemessen zu wuerdigen und in der zu erwartenden zweiten Auflage den 'Entdecker' des Koordinatensystems beim Namen zu nennen. Fatal waere es, durch die Nichtbeilegung solcher Zwistigkeiten von der gemeinsam vertretenen These abzulenken. Dass Altermatt durchaus bereit ist, auch mit scharfer Kritik produktiv umzugehen, hat er uebrigens durch das Schreiben gerade dieses Buches bewiesen. So war der Freiburger Historiker vom Bundesrat angefragt worden, fuer die Praesidentschaft ueber die Unabhaengige Expertenkommission "Schweiz - Zweiter Weltkrieg" zu kandidieren. Im Verlauf einer ueberhitzten Debatte ueber seine Versaeumnisse bei der Aufarbeitung des katholischen Antisemitismus sowie auf politischen Gegendruck hin zog Altermatt damals seine Kandidatur zurueck und machte sich daran, das Desiderat zu beheben.[4] Und das ist ihm gelungen. Im fuenften Kapitel beschreibt Altermatt die Auspraegungen des katholischen Antisemitismus in der veroeffentlichten Meinung. Dabei konstatiert er innerhalb des grundsaetzlich Gueltigkeit bewahrenden Koordinatensystems einen eigentuemlichen Paradigmenwechsel. Vom Kriegsende bis zu Hitlers Machtergreifung habe sich der Antisemitismus vor allem in Form antikapitalistischer, antisozialistischer oder antizionistischer Verschwoerungstheorien manifestiert. In den dreissiger Jahren sei an deren Stelle ein Ueberfremdungstopos getreten, womit eine Verschweizerung des katholischen Antisemitismus einhergegangen sei. Die Aversion gegenueber den Juden, insbesondere den Ostjuden, fuegte sich ein in die allgemeine Ideologie der geistigen Landesverteidigung. Vor auslaendischen Juden galt es sich jetzt ebenso zu schuetzen wie vor Kommunisten oder Faschisten. Im Zuge der Fluechtlingsstroeme musste sich eine solche Ideologie auf die Einwanderungspolitik auswirken. So ueberrascht es kaum mehr, dass die Schweiz mindestens 30 000 um Asyl nachsuchenden Juden die Einreise verweigerte. Altermatt zeichnet dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte nach am Beispiel der Schluesseljahre waehrend der Judenverfolgung (Kapitel VI). Dabei gelangt er zu einem (scheinbar) paradoxen Ergebnis: wohl kritisierte die Mehrheit der katholischen Schweizer die nationalsozialistische Judenpolitik; gleichzeitig aber unterstuetzte sie "die offizielle restriktive Fluechtlingspolitik der Behoerden" (205f.) - eine Doppelstrategie, die in der verhaengnisvollen Unterscheidung von 'gutem' und 'schlechtem' Antisemitismus gruendete. Erst im vorletzten Kriegsjahr gaben viele Katholiken diese 'neutrale' Haltung auf und protestierten gegen die Deportation und Ermordung der europaeischen Judenheit. Altermatts Fazit: Im katholischen Weltbild spielte der 'erlaubte' Antisemitismus eher eine untergeordnete Rolle, explizit antisozialistische und antiliberale Argumente dominierten den kritischen Diskurs ueber die Moderne. Als konstitutives Element fungierte der Antisemitismus nur im Fundamentalismus der Rechtskatholiken; fuer die breite Mitte war er akzidentiell; bei den Christlich-Sozialen und den Reformkatholiken reichte das Spektrum von voelkischen Anschauungen ueber judenfeindlichen Antikapitalismus bis zum Anti-Antisemitismus. Summa summarum hinterliess der katholische Antisemitismus tiefe Spuren im Denken und Verhalten des katholischen Durchschnittschweizers und trug dazu bei, dass sich die grosse Mehrheit angesichts der Shoah viel zu lange desinteressiert, feige oder zumindest passiv verhielt. Dieser Schluss ueberzeugt. Die Auspraegungen und Auswirkungen, die Ursachen und Funktionen des "partial modernen Antisemitismus aus religioeser Motivation" (309) werden anschaulich, wenn auch nicht gleichgewichtig geschildert. Eine genauere Beschreibung des historischen Kontextes, unter vergleichender Perspektive, koennte dazu beitragen, auch die signifikanten Unterschiede, etwa zwischen Deutschland und der Schweiz, zu erklaeren. Leider verwendet Altermatt statt dessen (zu) viel Raum fuer die Beschreibung peripherer Phaenomene und ueberlastet den Haupttext mit biographischen Details. Sehr ausfuehrlich nimmt er auch die helvetische Forschung, darunter selbst ungedruckte Arbeiten, zur Kenntnis, waehrend die Wahrnehmung von Standardwerken und Forschungspositionen gelegentlich unvollstaendig, ja verzerrend geraet. Das betrifft nicht nur den Umgang mit Blaschkes Studie, mit der Altermatts Buch mehr gemeinsam hat, als es dem Anmerkungsapparat zu entnehmen ist. Das gilt auch fuer die Einschaetzung der funktionalistischen Perspektive, die laut Altermatt "in Deutschland lange Zeit unter linker Fuehrung die Forschungsszene beherrscht" und "die Rolle der persoenlichen Verantwortung in der Judenvernichtung verkleinert" hat; damit habe es der Funktionalismus dem einzelnen ermoeglicht, "die Verantwortung abzuschieben und das eigene Gewissen zu entlasten". Ein hochkomplexer Interpretationsansatz laesst sich kaum durch eine solche Unterstellung moralischer Implikationen ad absurdum fuehren. Und so sinnvoll es ist, die unterbelichtete Rolle mentaler Langzeitfaktoren fuer die Judenverfolgung einzuklagen, so sollte man doch das Erklaerungspotential der Funktionalisten ernst nehmen: den Holocaust erklaeren diese jedenfalls nicht "einfach als Verirrung des sich radikalisierenden Nazis-Staates" (17f.). Allen Einwaenden zum Trotz: Altermatt hat ein lesenswertes, ein beachtenswertes Buch geschrieben. Es zeigt die Folgen xenophoben Denkens auf. Es traegt mit dazu bei, das Schweigen der schweizerischen Geschichtsschreibung zum Antisemitismus zu beenden.[5] Und es reiht sich ein in die vielfaeltigen Versuche professioneller Historiker wie klerikaler Laien, das schwierige Verhaeltnis zwischen Antisemitismus und Katholizismus zu erklaeren. So gross die Unterschiede zwischen dem mea culpa des Papstes, den Schuldbekenntnissen der Schweizer Bischofskonferenz [6] und den Ergebnissen einer kritisch arbeitenden Geschichtswissenschaft auch sein moegen: eine naive Apologie weder der Kirche noch des Katholizismus noch der Katholiken laesst sich in der Oeffentlichkeit laenger aufrechterhalten. Anmerkungen [1]. Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 122), 2. Aufl. Goettingen 1999. [2]. Siehe dazu etwa Kurt Seifert, Das Ende einer
nationalen Legende. Schweizer Mythen und der tabuisierte Antisemitismus [3]. Siehe Michael Meier, Hat Historiker Urs
Altermatt abgekupfert? Der Historiker Urs Altermatt beansprucht, ein neues
Deutungsmuster fuer den katholischen Antisemitismus vorzulegen. Kritiker
werfen ihm vor, er habe es einer deutschen Dissertation entnommen, in:
Tages-Anzeiger (11. Maerz 2000), zitiert nach: [4]. Anmerkungen dazu bei Karl-Iversen Lapp,
Historikerstreit nach Schweizer Art. In Zeitschriften wird jetzt auch
unsere Antisemitismusforschung diskutiert. Vom Rand- zum Streitthema:
Schweizer Historiker disputieren neuerdings emotionsgeladen ueber die
Geschichte der christlichen Mehrheit und der juedischen Minderheit, in:
Tages-Anzeiger (27. Juni 1997)/ [5]. Siehe in diesem Zusammenhang auch den von Aram
Mattioli herausgegebenen Sammelband Antisemitismus in der Schweiz
1848-1960, mit einem Vorwort von Alfred A. Haesler, Zuerich 1998. |
Document compiled
by Dr S D Stein
Last update 10/07/2000
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