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Hans Erler, Hrsg. Erinnern und Verstehen. Der
Völkermord and den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen.
Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2003. 348 S. Abb.
EUR 34.00 (gebunden), ISBN 3-593-37361-0.
Reviewed by Holger
Thünemann, Berlin.
Nach sieben Jahren nun hat die Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen einer Tagung eine erste Bilanz gezogen. Die Ergebnisse hat Hans Erler um eine gelungene Einleitung erweitert und zusammen mit weiteren Beiträgen herausgegeben. Als "Fortführung des Erbes Konrad Adenauers", so Erler (S. 348), sei der Stiftung die Suche nach zukunftsfähigen Erinnerungsformen besonders wichtig. Zum Teil wird Adenauer zwar eher kritisch beurteilt (S. 104, S. 116f., S. 202). Derartige Widersprüche bleiben aber zum Glück bestehen. So ist insgesamt eine Publikation entstanden, die sich durch eine Vielfalt von Meinungen, Methoden und Perspektiven auszeichnet und zugleich über das Thema "Gedenktag 27. Januar" weit hinausgeht. Dafür einen angemessenen Buchtitel zu finden, war offenbar problematisch. Denn anders als angekündigt geht es nicht nur um die Verortung des Völkermords "im politischen Gedächtnis der Deutschen". (Warum eigentlich nicht "kollektives" bzw. "kulturelles Gedächtnis"?) Insgesamt umfasst der Sammelband 33 Beiträge, die teilweise schon an anderer Stelle publiziert wurden und in Länge und Qualität stark variieren. Die Zuordnung zu sechs Themenblöcken erscheint manchmal etwas willkürlich. Beispielsweise steht ein besonders im Kontext der Berliner Mahnmalkontroverse sehr erhellender Essay von Salomon Korn im ersten Teil des Buches, während sich der thematisch verwandte Beitrag von Sibylle Quack im letzten Teil befindet. Unklar ist auch, was den Aufsatz von Michael Wildt zum "Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes" mit Beiträgen verbindet, die sich mit Konzepten einer "Erziehung nach Auschwitz" befassen. Inzwischen ist kaum mehr bestreitbar, dass die jüdische Perspektive der Holocaust-Erinnerung von Vertretern der deutschen Historikerzunft lange Zeit stark vernachlässigt wurde.[2] Insofern ist positiv, dass zunächst sieben jüdische Stimmen zu Wort kommen. Der im März 2000 verstorbene Alphons Silbermann (es handelt sich um den Wiederabdruck eines Vortrags von 1998) wendet sich gegen ein Gedenken an die Opfer, das "auch die Gewalttätigkeiten der Aktionen zum Schweigen [bringt], die zu ihrem Verlust geführt haben" (S. 26). Trotz "aller Asymmetrie der Geschichte und des Wahrnehmens" verpflichtet Ernst Ludwig Ehrlich Juden wie Nichtjuden auf den notwendigen Versuch, "einander besser zu verstehen" (S. 37). Emil L. Fackenheim (der im September 2003 verstorben ist) plädiert dafür, die Frage, ob "man den Holocaust verstehen" könne, immer neu zu stellen. Eine Antwort darauf hält er für "lebenswichtig" (S. 45). In eindringlicher Weise schildern dann Günter B. Ginzel, Lea Fleischmann und Hanna Rheinz--alle Vertreter der ersten "Nach-Auschwitz-Generation "--ihre persönlichen Erfahrungen mit der Suche nach jüdischer Identität. Im zweiten Kapitel des Buches wird eine "bisweilen schmerzliche Grenze" zwischen Juden und Nichtjuden thematisiert. Im Umgang mit dieser Grenze, die beispielsweise in der oft unreflektierten Rede vom "deutsch-jüdischen Verhältnis" sichtbar wird, sieht Erhard Roy Wiehn "eine der durchaus offenen ,deutschen Fragen'" (S. 70). Einer Grenzverletzung widmet sich Matthias Heyl. Sein "zweimal[iges] Nachdenken" über Martin Walsers Friedenspreisrede wirkt ziemlich redundant. Außerdem fehlen wünschenswerte Literaturhinweise.[3] Auf der Basis seiner Forschungen zu NS-Erinnerungen im Familiengedächtnis und mit Blick auf die aktuelle Diskussion über eine angemessene Repräsentation des Vertriebenenschicksals wendet sich Harald Welzer gegen eine "neue deutsche Opferkultur" (S. 104). Im dritten Kapitel geht es dann um "Wahrnehmung des Völkermords und politisches Gedächtnis". Als Auftakt liefert Julia Kölsch eine anspruchsvolle systemtheoretische Analyse des Gedächtnisparadigmas. Hervorzuheben ist auch der Beitrag von Aleida Assmann. Sie befasst sich mit der Diskrepanz zwischen individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis und bietet eine interessante Deutung der Grass-Novelle "Im Krebsgang", die sie als "analytisches Lehrstück über die Probleme der deutschen Erinnerungsdynamik" charakterisiert (S. 132). Richard Chaim Schneider zieht eine skeptische Bilanz deutscher "Vergangenheitsbewältigungsrituale". Abschließend setzt sich Julian Voloj mit "Judentum und Schoah im Denken der jüdischen Studenten Europas" auseinander. Seine an das "nichtjüdische Europa" gerichtete Forderung, "das Judentum als Teil des eigenen kulturellen Erbes zu verstehen" (S. 151), haben sich Vertreter des Europaparlaments inzwischen mit Recht zu eigen gemacht. In der zweiten Hälfte des Sammelbandes geht es vor allem um methodisch-didaktische Aspekte einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und um Formen ihrer kulturellen Vergegenwärtigung. Zunächst werden theoretische Konzepte einer "Erziehung nach Auschwitz" diskutiert (Kap. 4). Die Mehrfachlektüre bekannter Adorno-Zitate wirkt hier streckenweise ermüdend. Interessant ist dagegen der Ansatz von Clemens Albrecht, der Adornos Position mit derjenigen Max Horkheimers kontrastiert. Sein Fazit, dass "konsequente historische Universalisierung (Holocaust als ein Ereignis unter den großen Menschheitsverbrechen)" und "soziale Individualisierung" (S. 187) integrale Bestandteile einer zukunftsfähigen "Holocaust-Erziehung" sein müssen, wird allerdings nicht unwidersprochen bleiben. Lesenswert sind auch die Aufsätze von Stephan Marks, Hanns-Fred Rathenow und Matthias Heyl, der dafür plädiert, eine "vereinfachende Opfer-Täter-Dichotomie" zugunsten einer "differenzierteren Sicht der Menschen" zu revidieren (S. 216). Im fünften Kapitel werden ausgewählte "pädagogische Projekte"
vorgestellt, die zum Teil eine eigene Rezension verdient hätten. Lore
Kleiber gibt einen guten Einblick in die hervorragende Seminararbeit des
Hauses der Wannsee-Konferenz. Bevor Peter Schwiderowski ein
erfolgversprechendes Jugendprojekt der Alten Synagoge Essen zur
Diskussion stellt, präsentieren Regina Wyrwoll und Ariane Vorhang zwei
interessante Internetprojekte: Das letzte Kapitel ("Gedenken und Erinnern") ist ziemlich
heterogen. Einige Beiträge hätte man besser den pädagogischen
Projekten zugeordnet. Cilly Kugelmann beschäftigt sich in manchmal
schwer nachvollziehbarer Weise mit dem "didaktische[n] Impetus des
Jüdischen Museums Berlin". Theo Schwedmann untersucht die Funktion
der "Schoah-Erinnerung" für den Staat Israel[4]
und Rita Süssmuth zieht eine engagierte Zwischenbilanz für den
Gedenktag 27. Januar, der "noch keineswegs im öffentlichen
Bewusstsein verankert" sei (S. 310). Erlers Publikation und die
darin vorgestellten Projekte leisten insgesamt einen wichtigen Beitrag,
damit dieser Tag in Zukunft "für eine Mehrheit von Deutschen"
zu einem "NACH-DENK-TAG" wird (Michael Fürst, S. 308).
Anmerkungen:
[1]. Herzog, Roman, Ansprache zum Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, Bonn, 19.1.1996.
[2]. Vgl. Berg, Nicolas, Der Holocaust und die
westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.
[3]. Z.B. Rensmann, Lars, Enthauptung der Medusa. Zur
diskurshistorischen Rekonstruktion der Walser-Debatte im Licht
politischer Psychologie, in: ders.; Brumlik, Micha; Funke, Hajo (Hgg.),
Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere
deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000, S. 28-126.
[4]. Ergänzend vgl. Hass, Matthias, Gestaltetes
Gedenken. Yad Vashem, das U.S. Holocaust Memorial Museum und die
Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt am Main 2002. |