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(August, 1999) Peter Witte, et al. Der Dienstkalender
Heinrich Himmlers 1941/42. Im
Auftrag der Forschungsstelle fuer Zeitgeschichte in Hamburg bearbeitet_.
Hamburg: Christians Verlag, 1999. 789 S. Index und Zahlr. Abb.
DM 128.00 (Gebunden), ISBN 3-7672-1329-X. Reviewed for H-Soz-u-Kult by
Isabel Heinemann <iheinema@uni-freiburg.de>,
Historisches Seminar der Universitaet Freiburg Es ist ein erstaunliches Faktum, dass innerhalb der
Holocaust- und Nationalsozialismusforschung der Geschichte der SS, ihren
verschiedenen Aktionsfeldern und ihren Fuehrungspersoenlichkeiten bislang
nur ein relativ schwaches Forschungsinteresse entgegengebracht wurde. Wir
wissen vergleichsweise wenig ueber die nicht-polizeilichen Funktionen der
SS, ueber ihre Wirtschaftskonzeptionen, ueber Rassen-, Siedlungs- und
Volkstumspolitik oder gar ueber die Rolle und die Taten der Waffen-SS im
besetzten Europa. Die Aufgaben und Taetigkeiten vieler ihrer SS-Hauptaemter
(vom Reichssicherheitshauptamt einmal abgesehen) liegen nach wie vor im
Dunkeln, und laengst noch nicht ist jedem langjaehrigen Chef eines SS-Hauptamtes
eine wissenschaftliche Biographie gewidmet. Erst kuerzlich praesentierte
Richard Breitman in seiner Studie “Official Secrets”[1]
viele interessante Details zu Kurt Daluege, dem Chef des Hauptamtes
Ordnungspolizei. Es fehlen praezise Studien zu vielen der engen
Himmler-Mitarbeiter, wie zum Beispiel Gottlob Berger, dem Chef des SS-Hauptamtes,
oder Oswald Pohl, dem Leiter des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes
und Verantwortlichen fuer den Apparat der Konzentrationslager - aehnliches
gilt fuer Reinhard Heydrich. Auch die Untersuchungen zu Heinrich Himmler,
dem Reichsfuehrer SS, sind vergleichsweise duenn gesaet. Die juengste
stammt von Richard Breitman,[2] welcher ihn
pointiert als ‘Architekt der Endloesung’ charakterisiert. Daneben
existieren weitere differenzierte (jedoch bereits aeltere) Untersuchungen
zu Himmlers Jugend und zu seiner ideologischen Praegung.[3]
Doch hier ist durchaus noch Foschungsbedarf erkennbar, beispielsweise
waere es hochinteressant, mehr ueber Heinrich Himmler im Verhaeltnis zu
den einzelnen Abteilungen seines SS-Apparates zu erfahren, um so letztlich
seine Rolle an der Spitze der SS und allgemein im Nationalsozialismus
besser bewerten zu koennen. Wer in Zukunft ueber Himmler oder die Politikfelder
der SS forschen wird, dem ist nun eine ueberaus interessante und
hilfreiche Quellenedition an die Hand gegeben. Im Fruehjahr diesen Jahres
legte ein Autorenkollektiv Himmlers Dienstkalender fuer die
Schluesseljahre 1941 und 1942 in einer sorgfaeltigen Edition vor.
Das Kalendarium stellt ein wichtiges Dokument zur Geschichte des
Nationalsozialismus dar und erlaubt Rueckschluesse ueber und neue
Einsichten in die Aktionsfelder der SS aus den Jahren 1941 und 1942:
Waffen-SS, Ostkrieg und Besatzungspolitik, Siedlungsplanungen und
Vernichtung der europaeischen Juden - und natuerlich auf die politische
Person und den Fuehrungsstil Himmlers. Bei dem sogenannten Dienstkalender han-delt es sich
um die “Terminblaetter” des Reichsfuehrers SS, d.h. um Aufli-stungen
seiner Termine durch seinen Adjutanten, welche Himmler nicht selten mit
handschriftli-chen Anmerkungen versah. Stichworte zu Vortraegen und
Besprechungen Himmlers, die “Besprechungsblaetter” aus dem gleichen
Quellenbestand er-gaenzen das Bild. Das Dokument wurde 1991 im sogenannten Sonderarchiv
in Moskau entdeckt und nun von einem Autorenkollektiv junger
Zeithistoriker herausgegeben. Die Terminnotate wurden erweitert um
Hinweise aus anderen Quellen wie dem Diensttagebuch von Himmlers
persoenlichem Referenten Rudolf Brandt, dem Terminkalender, welchen sein
Adjutant Werner Grothmann fuer ihn fuehrte und Himmlers persoenlichen
Telefonaufzeichnungen. Neben der ausgezeichneten Kommentierung der knappen
Eintraege machen ein Personenglossar und die verschiedenen Register den
Band gut benutzbar. Eine umfangreiche Einleitung bietet die notwendige
Information zur Person des Reichsfuehrers, zum Apparat der SS und vor
allem zu den umfangreichen Aktivitaeten der SS. Bereits auf den ersten Blick laesst Himmlers
Dienstkalender der Jahre 1941/42 einige Akzentsetzungen klarer als bisher
hervortreten. Dokumentiert
sind die haeufigen Besprechungen Himmlers bei Hitler (und seine
aufschlussreichen Notizen hierzu), der Bedeutungsgewinn der Waffen-SS mit
dem Krieg gegen die Sowjetunion und die regelmaessige Praesenz Himmlers
“vor Ort”, in den Brennpunkten von Krieg, Umsiedlung und Mord.
Gleichzeitig ergeben sich neue Details und Informationen zu Entscheidungen
und Planungen zur Vernichtung der europaeischen Juden im Zeitraum von
Herbst 1941 bis zum Fruehjahr 1942. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Unter dem
18.12.1941 findet sich eine - mittlerweile vielzitierte - handschriftliche
Vortragsnotiz Himmlers, welche er sich zum Vortrag bei Hitler im
Fuehrerhauptquartier gemacht hatte: “Judenfrage / als Partisanen
auszurotten.” Die Editoren deuten diese Besprechung ueberzeugend
als Folgeunterredung zu Hitlers Rede auf der Reichs- und Gauleitertagung
in Berlin am 12.12.1941. Dort hatte Hitler zur Kriegslage im Osten und zum
Kriegseintritt der USA Stellung genommen und (nach den Aufzeichnungen von
Joseph Goebbels) die Ermordung der europaeischen Juden noch waehrend des
Krieges angekuendigt. Zwei Tage spaeter fuehrte Himmler weitere Gespraeche
mit Hitler selbst, mit dem Chef der Kanzlei des Fuehrers Philipp Bouhler
und mit dessen Stellvertreter Viktor Brack. In den Verantwortungsbereich
der beiden letztgenannten fiel das Euthanasieprogramm und damit die
technische Kompetenz zur Ermordung von Menschen mit Giftgas - Fachwissen,
welches man fuer die neuen Vernichtungsaufgaben dringend benoetigte.
In der Lesart der Herausgeber des Kalendariums[4]
bedeutet Himmlers Vortragsnotiz “Judenfrage / als Partisanen auszurotten”
nun, dass sich Himmler hier “Hitlers Begruendung fuer die Ermordung der
europaeischen Juden insgesamt notierte” (S. 294), gleichsam als eine
abschliessende Verstaendigung ueber den definitiven Kurs in der Judenfrage.
Die Tage vom 12.12. bis zum 18.12.1941 erscheinen somit als Periode der
Konkretion einer laengst vorhandenen Idee und der Praezisierung bereits
angelaufener Planungen: In den verschiedenen Treffen und Unterredungen
ging es erstens um Richtlinien zur (seit Herbst 1941 im Gang befindlichen)
Ermordung aller Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten. Zweitens
wurden die Planungen, Juden mit Gas zu ermorden, intensiviert, und
drittens war die - jedoch in ersten Ansaetzen bereits begonnene -
Vernichtung der deutschen Juden ein wichtiges Thema. Dies alles ist
plausibel und wird gestuetzt durch die Erkenntnisse zahlreicher Historiker,
welche - allen unterschiedlichen Akzentuierungen zum Trotz - den Monat
Dezember 1941 als wichtigen Radikalisierungsschub hin zur planmaessigen
Vernichtung der europaeischen Juden charakterisieren. Doch der Dienstkalender zeigt noch mehr, und das
ist banal, erschreckend und aussagekraeftig zugleich: In diesen als so
entscheidend begriffenen Tagen war die ‘Judenfrage’ fuer Himmler nur
ein Thema unter vielen. Am 18.12. besprach er seinen Notizen zufolge bei
Hitler gleichzeitig auch die Neuordnung der Waffen-SS und kuemmerte sich
anschliessend ausfuehrlich um die Versorgung der an der Ostfront stehenden
Waffen-SS-Divisionen mit Winterkleidung und sonstigen
Ausruestungsgegenstaenden. In den Tagen zuvor hatte die Umsiedlung der
Suedtiroler Volksdeutschen Himmler besonders beschaeftigt und gleichzeitig
beanspruchten die verlustreichen Partisanenkaempfe in Suedkaernten (dem
heutigen Slowenien) seine verstaerkte Aufmerksamkeit. Am 17.12. notierte
er sich zu einer Besprechung mit dem neuernannten Hoeheren SS und
Polizeifuehrer Alpenland, in dessen Kompetenzbereich die
Partisanenaktionen fielen, folgende Stichworte “Ueberfall auf
O.Pol[Ordnungspolizei] in Kaernten. Geiselerschiessungen. totale
Grenzsperre. Bitte um Suchhunde. jeden 2. Tag Bericht an mich.” Dieses
Beispiel verdeutlicht, wie eng im Terminplan des Reichsfuehrers SS die
verschiedenen Bereiche Siedlungspolitik, Polizei, Partisanenkampf,
Ostkrieg und schliesslich Vernichtung der europaeischen Juden verzahnt
waren, wie sie in der Praxis zeitgleich behandelt werden mussten und sich
immer wieder gegenseitig zu bedingen schienen. Der Notiz vom 18.12.
hingegen verleiht die Tatsache, dass Himmler sich am Vortag intensiv mit
Partisanenbekaempfung in Slowenien befasst hatte, eine andere Nuancierung:
Wenn auch am Vernichtungswillen Himmlers und Hitlers - und an ihrem
Einverstaendnis hierueber - keinerlei Zweifel bestehen kann, so verweist
der Gedanke, “Juden als Partisanen” zu behandeln, doch auf den noch
eher experimentellen Charakter der fuer notwendig erachteten Massnahmen.
So betrachtet hatte zu diesem Zeitpunkt wohl auch Himmler noch keine
definitive Vorstellung ueber die Praxis der ‘Ausrottung’. Diese
stellte sich erst bis zum Fruehsommer des Jahres 1942 ein. Und damit
erscheint auch der 18.12.1941 mehr als eine (wichtige) Etappe auf dem Weg
zum Genozid und weniger als Ausdruck einer abschliessenden Verstaendigung
oder einer allgemeinen Grundsatzentscheidung Hitlers. Generell gilt: die Auswertung des Dienstkalenders
wirft mehr Fragen auf als sie zufriedenstellend beantworten kann - und
darin liegt gerade das eigentliche Verdienst dieser Edition. Das Studium
des Himmlerschen Itinerars, der Personen, die er traf, der Bespre-chungen,
die er fuehrte, der Beschluesse, die er fasste - all dies macht nur Sinn,
wenn man daran die Entwicklung weiterfuehrender Fragestellungen knuepft.
Und diese Ueberlegung fuehrt zurueck zum eingangs konstatierten
Forschungsdefizit. Man sollte weiter nachdenken ueber Heinrich Himmler als
politische Per-son und ueber die Machtverhaeltnisse der SS nach innen. War
Himmler wirklich “der Architekt der Endloesung”, wie es Richard
Breitman vorgeschlagen hat? War er der “zweitmaechtigste Mann” im
nationalsozialistischen Staat, gesichert durch einen engen Kontakt zu
Hitler, getrieben von seiner rassistischen Weltanschauung und gestuetzt
auf den Machtappa-rat der SS? Wie handlungsfaehig und wie eigenstaendig
war er wirklich, wo reagierte er nur? Daneben muessen der Einfluss der SS
auf die Besatzungspolitik und ihr Stellenwert im Nationalsozialismus
genauer erforscht werden. Zwar spielten SS und Polizei bei der Plannung
und der Durchfuehrung der “Endloesung” die Schluesselrolle, doch vor
Ort waren Himmlers Stellvertreter immer auf die Mitwirkung der
Zivilverwaltung angewiesen. Waehrend die vermeintliche Notwendigkeit der
Judenvernichtung breiter Konsens war, traf die SS in der Wirtschafts- und
Siedlungspolitik auf die scharfe Konkurrenz anderer Parteigliederungen und
Reichsbehoerden. Inwiefern
und in welchen Bereichen konnte die SS sich durchsetzen, wo wurde sie -
durch die Konkurrenz anderer Institutionen oder durch die Kriegslage - zur
Modifikation ihrer Planungen gezwungen? An der Beantwortung solcher oder aehnlicher Fragen
und an der Anregung weiterfuehrender Forschungen wird sich auch in Zukunft
der Wert dieser grossen Editionsleistung erweisen. Anmerkungen: [1]. In deutscher Uebersetzung:
Richard Breitman: Staatsgeheimnisse.
Die Verbrechen der Nazis - von den Alliierten toleriert, Muenchen
1999. [2]. Richard Breitman: Der
Architekt der ‘Endloesung’. Himmler und die Vernichtung der
europaeischen Juden, Paderborn 1996. [3]. Bradley F. Smith: Heinrich
Himmler 1900 - 1926. Sein Weg in den deutschen Faschismus, Muenchen 1979.
Josef Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe, Goettingen 1970. [4]. Besonders exponiert Christian
Gerlach: Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und
Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden.
In: Werkstatt Geschichte 6 (1997) H. 8, S. 7 - 44. Copyright © 1999 by H-SOZ-U-KULT (H-NET),
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