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H-NET BOOK REVIEW Published by H-Soz-u-Kult@h-net.msu.edu (January, 2000)Christian Gerlach. _Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts-und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944_. Hamburg: Hamburger Edition, 1998. 1232 S. DM 98,00 (gebunden), ISBN 3-930908-54-9. Reviewed for H-Soz-u-Kult by Isabel Heinemann In seiner Studie ueber die deutsche Besatzungspolitik in Weissrussland fragt der Historiker Christian Gerlach nach dem Zusammenhang von Wirtschaft und Vernichtung. Weissrussland entwickelte sich unter deutscher Besatzung zu einem Zentrum der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Hier wurde nicht nur ueber eine halbe Million Juden ermordet, es starben auch hunderttausende sowjetischer Kriegsgefangene, und zahllose Zivilisten wurden als Partisanen getoetet oder dem Hungertod preisgegeben. Zusaetzlich wurden grosse Teile des Landes, der Staedte, der Industrie und Infrastruktur zerstoert. Warum war Weissrussland so besonders betroffen, ein agrarisches Land mit wenig Industrie und ohne Bodenschaetze? Und warum eine solche Schreckensbilanz? Zur Erklaerung sucht Gerlach nach der Struktur der Massenmorde und schildert Weissrussland als Testfall der nationalsozialistischen Besatzungspolitik, als Extrembeispiel fuer das Zusammenwirken von Vernichtung, Hunger, ruinoeser und terroristischer Strukturpolitik. Zunaechst sind die beiden massgeblichen Praemissen der Arbeit zu nennen: Erstens betrachtet Gerlach das gesamte Weissrussland in seinen Nachkriegsgrenzen, was fuer die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung Teile weiterer Verwaltungsbezirke mit einschliesst - naemlich nicht nur das zivil verwaltete Generalkommissariat Weissruthenien und das sogenannte Rueckwaertige Heeresgebiet Mitte, welches sich unter Militaerverwaltung befand und das Hinterland der Front im Osten darstellte. Hinzu kommen Teile des 1941 Ostpreussen zugeschlagenen Bezirks Bialystok (ehemals Ostpolen) im Westen, Teile der zum Reichskommissariat Ukraine gehoerenden Generalkommissariate Wolhynien und Podolien sowie Shitomir im Sueden, sowie ein kleines Gebiet des Generalkommissariats Litauen im Nordwesten. Dieser Entschluss ueberrascht - ist man doch gewoehnt, nach deutschen Verwaltungsgebieten zu unterscheiden - bringt aber Vorteile fuer die historische Darstellung. So gewinnt der Leser nicht nur eine breitere Perspektive, sondern der Vergleich der Entwicklung des Vernichtungsgeschehens in den verschiedenen Regionen unter unterschiedlicher Verwaltung wird moeglich. Dies ist ein Vorzug, denn die bislang einzige neuere Studie zur Geschichte Weissrusslands, die eher alltagsgeschichtlich orientierte Arbeit von Bernhard Chiari [1], focussiert vor allem auf das Generalkommissariat Weissruthenien. Zweitens geht es Gerlach um eine Analyse der Faktoren Wirtschaft und Vernichtung im Zusammenhang. Dies bedeutet, dass die Geschichte von Judenvernichtung, von Krieg und Terror gegenueber der Zivilbevoelkerung und vom Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen in Weissrussland bezogen wird auf die Problematiken von Kriegswirtschaft, Agrarproduktion und Ernaehrungslage. Fuer Gerlach erklaert sich die verbrecherische Bevoelkerungspolitik der Nationalsozialisten in Weissrussland - die Opferbilanz umfasst bei Kriegsende 1,6 bis 1,7 Millionen Menschen von ehemals 9 Millionen, darunter ueber 500.000 Juden - zu einem wesentlichen Teil aus der Ernaehrungswirtschaft. Den Taetern aus SS, Polizei und Wehrmacht werden die Landwirtschaftsfunktionaere als Planer und Exekutoren der moerderischen Ausbeutung des Besatzungsgebietes und einer gezielten Hungerpolitik an die Seite gestellt. Auch fuer den Aufbau der Studie sind die beiden zu untersuchenden Faktoren Wirtschaft und Vernichtung bestimmend: Die deutsche Wirtschaftspolitik in Weissrussland von 1941 bis 1944 wird abgehandelt unter den Aspekten Landwirtschaft und Ernaehrung, Entindustrialisierung und Arbeitskraeftepolitik. Wichtigste Leitlinie fuer die Agrarpolitik war der Gedanke der Versorgung der Truppen ‘aus dem Land’. Wichtigste Voraussetzung fuer eine solche ‘Selbstversorgung’ und gleichzeitige Entlastung der deutschen Ernaehrungsbilanz war der moeglichst unumschraenkte Zugriff auf die landwirtschaftlichen Produkte, die lueckenlose ‘Erfassung’. Die Folge war die planmaessige Unterversorgung der Zivilbevoelkerung, das gezielte Hungernlassen zunaechst vor allem der Stadtbevoelkerung. Der Druck auf die weissrussischen Staedte wurde noch verstaerkt durch das Konzept der ‘Industrierueckbildung’, der geplanten Entindustrialisierung und Entstaedterung. Bereits im Sommer 1941 waren fast alle groesseren weissrussischen Staedte zu mehr als der Haelfte zerstoert und die ohnehin erst schwach entwickelte weissrussische Industrie lag voellig darnieder. Die deutschen Besatzer hatten kein Interesse an einem Wiederaufbau, sondern legten weitere Betriebe und Branchen still - Nahrungsmittel-und Rohstofferzeugung hatte absoluten Vorrang. Gerlach bilanziert einen dramatischen Rueckgang der Einwohnerzahl der groesseren Staedte (um 64% bis 1943, in der Ukraine dagegen um 55%; S. 422) - explizite Vernichtungsaktionen und vor allem der Mord an den weissrussischen Juden reichen als Erklaerung hierfuer allein nicht aus. Mangel, Hunger und gezielte Umsiedlungen taten ein uebriges. Entscheidend ist, dass es sich hier ebenso wie in Fragen der Ernaehrung um eine bewusste Bevoelkerungspolitik handelte, man plante niedrige Einwohnerzahlen zur Erwirtschaftung von Nahrungsueberschuessen, und man realisierte sie auch. Die Arbeitskraeftepolitik folgte einem Spannungsbogen von anfaenglichem Desinteresse gerade am staedtischen Arbeitskraeftepotential und hoher Arbeitslosigkeit ueber die gezielte Arbeitskraeftebeschaffung unter der Stadtbevoelkerung bis hin zur Auskaemmung der laendlichen Regionen und den Versuchen, auch waehrend des Rueckzuges unter den Evakuierten noch die letzte Arbeitskraft zu mobilisieren - immer mit dem Ziel, das meistmoegliche an Produktion und Ressourcen aus dem Besatzungsgebiet herauszuholen. Ab 1942 gewann daneben die Verschleppung von Zivilarbeitern zum Arbeitseinsatz im Reich an Bedeutung, und zwar aus den gesamten besetzten Gebieten der Sowjetunion. Aus Weissrussland wurden nach Gerlachs Berechnungen etwa 386.000 Menschen nach Deutschland gebracht (S. 462). Die deutsche Vernichtungspolitik hingegen wird beschrieben anhand der Ermordung der weissrussischen Juden, aber auch der sowjetischen Kriegsgefangenen in Weissrussland und anhand der immer brutaleren ‘Partisanenbekaempfung’. Aufbauend auf seiner These vom Primat der deutschen Ernaehrungsinteressen betont Gerlach die Planmaessigkeit des Hungertodes von annaehernd 700.000 Kriegsgefangenen in den Gefangenenlagern und setzt ihn gleichzeitig in Bezug zur Herausbildung des konkreten Massenmordprogramms an den sowjetischen Juden in den Monaten von September bis November 1941. Die Fortfuehrung des Krieges und die Ernaehrung der Truppe sollten gesichert werden - und alle ‘unnuetzen Esser’ (und rassischen Gegner) mussten sterben. Auch das Vorgehen der Besatzer gegen vermeintliche Partisanen, d.h. gegen die Zivilbevoelkerung ganzer Regionen, zeigt in Gerlachs Darstellung die Verbindung von Wirtschaftsinteressen, Jagd auf Arbeitskraefte und Terror: Im verschiedenen Wellen entwickelte sich so etwas wie eine ‘Strukturpolitik durch Terror’, die sich vor allem gegen Doerfer und Gebiete richtete, welche ihr Ablieferungssoll nicht erfuellt hatten. Zugleich ging es darum, moeglichst viele Menschen fuer den Arbeitseinsatz zu erfassen. Schliesslich wurden ganze Regionen, und zwar gerade die strategisch bedeutsamen, zu voellig entvoelkerten ‘toten Zonen’ gemacht. Zu den Leistungen des Buches gehoert es, den Judenmord in Weissrussland im Kontext der gesamten Vernichtungspolitik zu analysieren und darzustellen - was eine entscheidende Erweiterung des Blickwinkel bedeutet. Gleichzeitig ist das Kapitel ueber die Ermordung der weissrussischen Juden das umfangreichste und beste des Buches. In Weissrussland fand die Ermordung der Juden in den bekannten Schritten statt: Hier wurden die ‘verbrecherischen Befehle’ von SS und Wehrmacht umgesetzt, hier wueteten Einsatzkommandos und Polizei gemeinsam bei den Massenerschiessungen im Sommer 1941, hier vollzog sich der Uebergang zur planmaessigen Vernichtung im Herbst 1941, und schliesslich wurde hier ebenso die totale Ausloeschung der Ghettos und Lager realisiert (ab 1942 bis zur Liquidierung des Ghettos von Minsk im September 1943). Gerlach verweist ferner auf die Rolle Weissrusslands als ‘Testgebiet’ fuer neue Vernichtungstechniken, und als Ziel fuer Deportationszuege westeuropaeischer Juden (S. 646). In Minsk und Mogilew fanden 1941 Gaskammerversuche statt und zugleich existierten Plaene fuer den Ausbau Mogilews zu einem ‘europaeischen Vernichtungszentrum’, die allerdings nur ansatzweise realisiert wurden. Am Beispiel des Generalkommissariates Weissruthenien weist Gerlach nach, wie Zivilverwaltung und Sicherheitspolizei aeusserst erfolgreich als Initiatoren einer grossen Mordkampagne gegenueber den restlichen weissruthenischen Juden im Sommer 1942 zusammenarbeiteten (Zwischen Mai und August 1942 forderten die Aktionen allein ueber 50.000 Opfer. S. 705). Die Kooperation von Zivilverwaltung, Militaerverwaltung und SS zieht sich (trotz gelegentlicher Interessenkonflikte) wie ein roter Faden durch das gesamte Vernichtungsgeschehen und traegt ein Gutteil zu dessen Erklaerung bei: Vernichtungspolitik in Weissrussland - das bedeutet nicht nur die Verfolgung einer ernaehrungspolitischen Zielsetzung und das Vorhandensein eines rassistischen Grundkonsenses, sondern vor allem auch arbeitsteiliges Vorgehen - dies herausgearbeitet zu haben ist ein weiterer Vorzug der Studie. Bleibt zu hoffen, dass in Zukunft nicht nur Entscheidungstraeger der Zivil- und Militaerverwaltung verstaerkt ins Blickfeld der Historiker ruecken, sondern auch Entscheidungsprozesse und koordiniertes Vernichtungshandeln der verschiedenen Stellen. Die Hauptthese des Buches, die Annahme eines ursaechlichen Zusammenhanges von deutschen Wirtschaftsinteressen und Vernichtungspolitik wird an zahlreichen Beispielen verdeutlicht und plausibel belegt. Vernichtung erschoepfte sich nicht in Umsiedlung, Deportation und Mord, sondern hatte die Vorstufen von geplantem Hunger und bewusster Vernachlaessigung. Gleichzeitig wurde gemordet, um Ernaehrungsreserven zu sichern und in den Dienst der deutschen Kriegsfuehrung zu stellen. Gerlach gelingt es, ein weiteres wichtiges Strukturelement des Verbrechens herauszuarbeiten und gleichzeitig einen bislang noch wenig beachteten mittelbaren, aber gleichwohl wichtigen Taeterkreis zu praesentieren: denjenigen der Ernaehrungsplaner und Landwirtschaftsexperten aus dem Kreise des Reichsernaehrungsministeriums und anderer Dienststellen. Hierbei geht er in der Beschreibung ihrer Verantwortung fuer die ‘gezielte Hungerpolitik’ in Weissrussland und den besetzten Gebieten der Sowjetunion weit ueber die Anregungen hinaus, die Susanne Heim und Goetz Aly bereits 1993 gaben. [2] Es ist Gerlachs Verdienst, die Thesen von der Vernachlaessigung des wirtschaftlich nutzlosen Weissrusslands durch die deutsche Besatzung und von einer oekonomisch voellig kontraproduktiven, also rein ideologischen und willkuerlichen Vernichtungspolitik konsequent widerlegt zu haben. Deutsche Wirtschafts- und Ernaehrungsinteressen in Weissrussland erklaeren wesentliche Elemente der Besatzungs- und Vernichtungspolitik - meines Erachtens aber eben doch nicht alle. Zwar ist plausibel, dass die Besatzer eine besonders brutale Politik verfolgten, um aus dem Zuschussgebiet Weissrussland ueberhaupt etwas an Agrarprodukten herauszuholen. Die Ermordung der nicht arbeitsfaehigen Kriegsgefangenen und eines Teils der Zivilbevoelkerung, zusammen etwa eine Million Menschen, erscheint so als menschenverachtende, aber ‘wirtschaftlich rationale’ Massnahme zur Entlastung der Ernaehrungsbilanz. Doch es bleibt weiterhin Erklaerungsbedarf: Warum, wenn nicht aus Gruenden der Vollendung einer rassistischen Idee, mussten ausnahmslos alle Juden sterben, beispielsweise auch die wirtschaftlich dringend benoetigten juedischer Handwerker in den Staedten? Gerlach konzediert im Schlusswort selbst eine enge Verbindung zwischen wirtschaftlichen und ideologischen Zielsetzungen im besetzten Weissrussland und fordert, Ideologie und Oekonomie nicht laenger als Gegensaetze zu begreifen (S. 1145) - allein findet diese Ueberlegung so gut wie keinen Eingang in die vorangegangene Darstellung. Doch hier, am Zusammenhang von ideologischen-rassistischen und wirtschaftlichen Interessen in der Besatzungsverwaltung sollten weitere Forschungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ansetzten. Auch koennte ein Studie ueber die Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in der viel produktiveren Ukraine, gleichsam die Nagelprobe auf die Wirtschaftsthese liefern und die Frage nach dem Zusammenhang zur Ermordung der Juden dort neu stellen. Ein anderes Kernargument der Studie ist, dass es den Deutschen in Weissrussland ueberhaupt nicht um Siedlungsinteressen, sondern ausschliesslich um wirtschaftliche Ausbeutung als eine Art Kolonialland ging. Doch angesichts der noch unzureichenden Forschung zur deutschen Siedlungspolitik in Europa ist hier Vorsicht angebracht. Richtig ist, dass die deutschen Siedlungsansaetze in Weissrussland waehrend des Krieges fragmentarisch blieben. Gegeben hat es sie aber schon, allerdings vor allem im Verantwortungsbereich der SS. Richtig ist auch, die visionaere Siedlungsplanung mit der konkreten Siedlungspolitik zu vergleichen. Aber Gerlach greift zu kurz, wenn er die nicht oder noch nicht realisierten Plaene voellig aussen vor laesst - auch der utopische ‘Hungerplan’ wurde ja (gluecklicherweise!) nicht vollstaendig verwirklicht. Nach der Variante des Generalplan Ost, die 1941 im RSHA erarbeitet wurde, hatte Weissrussland sehr wohl auch seine Nachkriegsaufgabe als deutsches Siedlungsland. Zu diesem Zweck sollten 75% seiner Bevoelkerung ausgesiedelt werden (‘nach Sibirien’) und 25% sollten (bei rassischer Eignung) eingedeutscht werden. Vollendet wurde das nicht, aber Weissrussland verlor waehrend des Krieges rund 20% seiner Bevoelkerung und 64% seiner Stadtbewohner - siedlungspolitisch ja beileibe kein Widerspruch. Gleichzeitig nahmen die Rasseexperten der SS bei den HSSPF Russland Mitte und Russland Sued ihre Taetigkeit auf und begannen mit rassischen Selektionen. Vieles spricht auch in Weissrussland fuer einen zusaetzlichen Zusammenhang zwischen geplanter Ansiedlung, Umsiedlung und Vernichtung von Zivilbevoelkerung. Wer die Muehe auf sich nimmt, die gut 1200 Seiten der dichten, quellengesaettigten Darstellung zu rezipieren, wird dafuer reich belohnt. Allerdings waere zu wuenschen, dass sich der Autor in absehbarer Zeit zu einer gestrafften Taschenbuchversion entschliesst, damit das hier ausgebreitete (und fuer unser Verstaendnis der Besatzungspolitik in der Sowjetunion dringend benoetigte Wissen) auch wirklich einem breiten Kreis von Lesern zugaenglich wird. Anmerkungen [1]. Bernhard Chiar, _Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weissrussland 1941 - 1944_. Duesseldorf 1998. [2]. Goetz Aly / Susanne Heim, _Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Plaene fuer eine neue europaeische Ordnung_. Frankfurt a.M. 1993. |