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H-NET BOOK REVIEW Published by H-Soz-u-Kult@h-net.msu.edu (February, 2000)Hans Mommsen. _Der Mythos von der Modernitaet. Zur Entwicklung der Ruestungsindustrie im Dritten Reich_. Stuttgarter Vortraege zur Zeitgeschichte, 3. Essen: Klartext, 1999. 72 S. DM 14,80 (gebunden), ISBN 3-88474-646-4. Reviewed for H-Soz-u-Kult by Mark Spoerer Dieses Buechlein ist ein Kuriosum: es tritt gegen eine These an, die erstens nie mehr als zaghaft angedeutet und zweitens dennoch schon vor einem Jahrzehnt widerlegt wurde. Mehr noch, es konzentriert sich drittens in der Argumentation auf einen Themenbereich, der mit der zu widerlegenden These wenig zu tun hat. Immerhin ist es viertens anregend, weil es den Stand der Forschung in Frage stellt. Eines der grossen Themen Hans Mommsens ist in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten die kritische Auseinandersetzung mit der These gewesen, dass der Nationalsozialismus in vielen Lebensbereichen modernisierend gewirkt habe, teils intentional, teils unbeabsichtigt. "Diese Interpretation", so Mommsen, "die dessen atavistische Zuege marginalisiert und ihm insbesondere im wirtschaftlichen Bereich ausgepraegt fortschrittliche Wirkungen zuschreibt, laesst das NS-Regime als notwendige Zwischenstufe innerhalb des Modernisierungsprozesses im 20. Jahrhundert erscheinen, ohne die der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Bundesrepublik nicht moeglich gewesen waere" (S. 5). Wer aber haette das jemals mit Bezug auf die Wirtschaft behauptet? In den von Mommsen angegebenen Textstellen bei Dahrendorf und Schoenbaum stehen nur sehr vorsichtige Aeusserungen, die sich keinesfalls eignen, einen "Mythos von der Modernitaet" im wirtschaftlichen Bereich zu begruenden. Die weitestgehende Aussage in dieser Richtung, die sich bei Zitelmann finden laesst, ist, dass sich Hitler "als bewusster Vollstrecker dieses Modernisierungsprozesses" (der die Industrialisierung mit einschliesst) gesehen habe.[1] Doch das subjektive Selbstverstaendnis eines Diktators ist wohl meilenwert entfernt von der Postulierung einer ‘objektiv’ "notwendigen Zwischenstufe". Als Rainer Zitelmann die Oeffentlichkeit 1989 mit seinem Buch "Hitler: Selbstverstaendnis eines Revolutionaers" provozierte, in dem er Hitlers Politik, insbesondere der Sozialpolitik, modernisierende Zuege zubilligte, wurden seine Thesen eifrig diskutiert - von Politik- und Sozialhistorikern, kaum aber von Wirtschaftshistorikern, eben weil sich Zitelmann auf dieses Feld allenfalls nebensaechlich begeben hatte. Nun, wo die Daemme sozusagen schon gebrochen waren, lag es allerdings in der Tat nahe, einmal zu untersuchen, ob nicht vielleicht die NS-Wirtschaftspolitik doch modernisierende Wirkung gehabt haben koennte. Dieser Frage ging Albrecht Ritschl in einem Aufsatz nach, der erstmals 1991 in einem Sammelband von Michael Prinz und Rainer Zitelmann veroeffentlicht wurde.[2] Die Antwort fiel eindeutig, und uebrigens ganz im Sinne Mommsens aus: der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik lag ein malthusianisch gepraegtes Weltbild zugrunde, das den zu befuerchtenden systemimmanenten Zusammenbruch nur durch extensive Expansion abwenden zu koennen glaubte. Sie war weder in der Intention noch im Ergebnis modernisierend. Mommsen kennt diesen Aufsatz und zitiert ihn. Warum dann noch das Buechlein? Im Unterschied zu Ritschl konzentriert sich Mommsen zur Widerlegung des "Mythos von der Modernitaet" auf die Entwicklung der Ruestungswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Mommsen hat sich im Zusammenhang mit dem VW-Projekt [3] in den letzten Jahren ausgiebig mit der Kriegswirtschaft beschaeftigt und glaubt offenbar, dass seine Ergebnisse als weitere Argumente gegen die angebliche Modernisierungsthese einsetzbar seien. Doch erscheint dies methodisch hoechst fragwuerdig: wenn man der Frage, ob der Nationalsozialismus in der Wirtschaft modernisierend gewesen sei oder sein wollte, eine Chance lassen will, so muss man sich fairerweise auf die dreissiger Jahre beschraenken. Der von den Nazis nicht gewollte Abnutzungskrieg an zwei Fronten und das zunehmende Chaos der Planungsinstanzen gegen Kriegsende ist sicherlich nicht die Folie, vor der die Frage beantwortet werden kann. Oder anders gefragt: was waere von einer Analyse des angelsaechsischen Kapitalismus zu halten, die sich ausschliesslich auf die US-amerikanische und britische Kriegswirtschaft konzentrieren wuerde? Insofern ist der argumentative Ansatz schon von der Konzeption her schlicht verfehlt. Dennoch ist dieses Buechlein anregend, denn Mommsen tritt hier mit interessanten Thesen an die Oeffentlichkeit, die im ueber 1.000 Seiten dicken VW-Buch nur versteckt waren. Zum einen hinterfragt Mommsen die "geschoenten Erfolgsbilanzen" des Ministeriums Speer (S. 29), die einen enormen Anstieg der Ruestungsendfertigung zwischen 1942 und 1944 zeigen. Insinuiert Mommsen hier, dass die Zahlen gefaelscht worden seien? Seine Begruendung erfolgt eher indirekt, indem er das zunehmende Chaos beschreibt, dass letztlich aus dem Widerspruch zwischen Planungsanspruch und Verfuegbarkeit von Ressourcen entsprang, und an dem die einander oft widersprechenden Planungsinstanzen nur herumdoktern konnten, ohne das Problem grundsaetzlich loesen zu koennen. Das ist jedoch kein besonders starkes Argument angesichts der beeindruckenden Steigerung der Produktionszahlen. Interessanter ist der Verweis auf die Vernachlaessigung anderer Industriebereiche und der Produktqualitaet. Doch war die Konsumgueterindustrie nicht Speers Job. Speer haette wohl kaum bestritten, dass seine Erfolge in der Ruestungsendfertigung auf Kosten der ruestungsfernen Produktionszweige erfolgte. Was die Produktqualitaet angeht, so waere in der Tat zu pruefen, ob die Speerschen Statistiken diese Effekte gebuehrend beruecksichtigen. Insgesamt haben sich jedoch bislang die Nazi-Statistiken in der wirtschaftshistorischen Forschung ganz ueberwiegend als zuverlaessig erwiesen - jedenfalls, wenn man ins Kleingedruckte schaut, wo manchmal nicht unerhebliche Aenderungen von Definitionen versteckt sind. Schliesslich entstammten die Leute, die sie herstellten einer sich als rational verstehenden Buerokratie, die akkurate Planungsgrundlagen zu erarbeiten hatte. Auch die Amerikaner uebernahmen diese Zahlen in ihren weitgehenden Analysen nach dem Krieg im wesentlichen unkorrigiert. Die Fuelle von Argumenten, die Richard Overy in dieser Tradition zur Erklaerung des Speerschen "production miracle" zusammengetragen hat, laesst Mommsen, der das Buch zitiert, unkommentiert.[4] Overy mag vielleicht ein bisschen zu sehr die Innensicht der Speerschen Planer uebernommen haben, aber an der Tatsache eines beeindruckenden Produktionsanstiegs in der Ruestungsendfertigung, der mindestens zu grossen Teilen Rationalisierungsfortschritten zu verdanken ist, laesst sich wohl kaum ruetteln, jedenfalls nicht alleine mit der Einstellung "es kann nicht sein, was nicht sein darf". Zum anderen unterstellt Mommsen "den Einbruch der Irrationalitaet des Regimes in die Ruestungswirtschaft des Dritten Reiches" (S. 32), auch dies eine These aus dem VW-Buch. Mommsen bringt eine Reihe von Beispielen, die in der Tat auf den ersten Blick irrational erscheinen moegen. Zu bedenken waere aber, dass die Unternehmen eben nicht die gleichen Ziele verfolgten wie das Regime, was Mommsen an anderen Stellen voellig zu Recht betont. Was volkswirtschaftlich oder gesellschaftlich kontraproduktiv ist, muss deswegen nicht individuell irrational sein. Warum sollte ein Flugzeugunternehmen nicht an einem utopischen Bomberprojekt weiterbasteln, wenn es damit seine - vom Staat bezahlten - Entwicklungsingenieure halten konnte (vgl. S. 31f.)? Und das buchstaebliche Verheizen von Zwangsarbeitern in unsinnigen Untertageverlagerungen mag durchaus eine betriebswirtschaftliche ‘Rationalitaet’ gehabt haben, wenn auch eine zynische: Rettung des Sachkapitalbestands vor alliierten Luftangriffen (vgl. S. 26f.). Damit soll dieser These von Mommsen nicht grundsaetzlich widersprochen werden. Doch sollte der im Grunde rhetorisch recht bequeme Verweis auf irrationales Verhalten nur ‘argument of last resort’ sein, wenn also alle anderen denkbaren Motive sorgfaeltig durchgeprueft und verworfen worden sind.[5] Nicht gerade hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass Mommsen neben dem Buch von Neil Gregor ueber Daimler-Benz [6] zwar nicht nur, aber doch ganz ueberwiegend immer wieder das Volkswagenwerk als Beleg heranzieht. Das Volkswagenwerk war ein Staatsunternehmen, das bis mindestens zur konsequenten Umstellung auf lukrative Ruestungsprojekte 1942 ganz andere Unternehmensziele verfolgte als privatwirtschaftliche Unternehmen (vgl. auch S. 21). Als unternehmenshistorische Studien sind sowohl das Buch von Mommsen und Grieger als auch das von Gregor sehr gelungen. Nur inwieweit daraus induktiv auf die Kriegswirtschaft als Ganzes geschlossen werden kann, ist fraglich. Das Volkswagenwerk gar als "eine Art Mikrokosmos der deutschen Ruestungswirtschaft" (VW-Buch S. 40) darzustellen, ist aeusserst gewagt und beduerfte einer sorgfaeltigen wirtschafts- oder komparativ-unternehmenshistorischen Analyse, die Mommsen auch in dem zu besprechenden Buechlein schuldig geblieben ist. Abschliessend bleibt zu fragen, was denn eigentlich unter Modernisierung im wirtschaftlichen Bereich zu verstehen ist. Mommsen liefert dafuer bestenfalls sehr indirekte Antworten. Rationalisierung scheint erstaunlicherweise nicht dazuzugehoeren (S. 12), eher schon der Ausbau industrieller Kapazitaeten (S. 41) und wohl auch der Weg zur marktwirtschaftlich organisierten Konsumgesellschaft (S. 42). Letzteres duerfte wohl noch am ehesten konsensfaehig sein, doch zeigt sich hier wiederum, wie verfehlt es ist, dafuer ausgerechnet die Kriegswirtschaft zu untersuchen.[7] An der unscharfen inhaltlichen Bestimmung des Modernisierungsbegriffs zeigt sich einmal mehr, wie problematisch das ganze Konzept heute erscheinen muss. Modernisierung ist ein teleologisches Konzept; der die Vergangenheit analysierende Historiker oder Sozialwissenschaftler glaubt zu wissen, wohin die Reise geht. Im Planungsoptimismus der sechziger und siebziger Jahren mag man diese Illusion gehabt haben, auch in Bezug auf die Wirtschaft. Aber heute? In der Betriebswirtschaft wuerde Modernisierung heute als Anpassung des unternehmerischen Zielsystems an den shareholder value verstanden, doch wer weiss, was die Management-Gurus in zehn Jahren als modern propagieren? In Hinsicht auf die Wirtschaft(sgeschichte) ist das Modernisierungskonzept, das vor 20 oder 30 Jahren heuristischen Nutzen gehabt haben mag, hoffnungslos veraltet. Mommsen attackiert Windmuehlen, die laengst durch einen Komplex von Kraftwerken ersetzt worden sind, die in starker Konkurrenz auf unterschiedliche Energietraeger setzen. Und niemand weiss, wohin die Reise gehen wird. Anmerkungen: [1]. Rainer Zitelmann: _Hitler: Selbstverstaendnis eine Revolutionaers_, 3. Aufl., Stuttgart 1990, S. 496. [2]. Albrecht Ritschl: "Die NS-Wirtschaftsideologie - Modernisierungsprogramm oder revolutionaere Utopie?," in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hgg.): _Nationalsozialismus und Modernisierung_, 2. Aufl., Darmstadt 1994, S. 48-70. [3]. Hans Mommsen/Manfred Grieger: _Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich_, Duesseldorf 1996. [4]. Richard Overy: "Rationalization and the ‘Production Miracle’ in Germany during the Second World War," in: ders.: _War and Economy in the Third Reich_, Oxford 1994, S. 343-375. [5]. Ein schoenes Beispiel dafuer ist der Aufsatz von Lutz Budrass/Manfred Grieger: Die Moral der Effizienz. Die Beschaeftigung von KZ-Haeftlingen am Beispiel des Volkswagenwerks und der Henschel Flugzeug-Werke, in: Jahrbuch fuer Wirtschaftsgeschichte (1993), Bd. 2, S. 89-136. [6]. Neil Gregor: _Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich_, Berlin 1997. [7]. Am Rande sei bemerkt, dass sich gerade im Bereich der Konsumpolitik in den dreissiger Jahren Kontinuitaetslinien zu den zwanziger und fuenfziger Jahren aufzeigen lassen. Ein sehr schoenes Beispiel ist uebrigens gerade das von Mommsen so kenntnisreich untersuchte Volkswagenwerk. |