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Christoph Rass. "Menschenmaterial":
Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer
Infanteriedivision 1939-1945. Krieg in
der Geschichte 17. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2003. 486 S.
Bibliographie. EUR 39, ISBN 3-506-74486-0.
Reviewed by Michael von Prollius,
Berlin. Zwei Jahre nach seiner Promotion an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der RWTH Aachen liegt die Dissertation von Christoph Rass zur Sozialgeschichte der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vor. Sein Anliegen ist es, das Wissen über die Soldaten der Wehrmacht, über "ihre Rolle in der deutschen Kriegführung, die institutionellen und sozialen Strukturen der Organisation, [...] die Regeln, nach denen diese Institution funktionierte" zu verbreitern.(S. 14) Gegenstand der Arbeit ist eine Fallstudie, in deren Mittelpunkt 2.300 stichprobenartig ausgewählte Mannschaften und Unteroffiziere der 253. rheinisch-westfälischen Infanteriedivision (I.D.) stehen. Im einleitenden Kapitel erhält der Leser einen interessanten Bericht über Quellenlage und -arbeit, in deren Mittelpunkt die Personalunterlagen der Soldaten stehen. Zudem zeichnet sich bereits der erhebliche Aufwand ab, den der Autor für seine quellengesättigte Studie betrieben hat. Ziel der Arbeit ist ein multikausales Erklärungsmodell für die Einbindung der Soldaten in die institutionellen Zusammenhänge der Wehrmacht, um so die Frage beantworten zu können "wie und wodurch Menschen zu Mittätern wurden" (S. 18) und "ohne Zwang und Befehl" Verbrechen begangen. Die Dissertation ist merklich inspiriert durch Arbeiten von Daniel Goldhagen oder Christopher Browning mit ihrem Fokus auf die Verbrechen, die diabolischen Aktivitäten und Triebkräfte der Deutschen im NS-Regime. Drei Leitfragen strukturieren die Analyse: "Wer waren die Soldaten der Wehrmacht? Wie wurden sie in das institutionelle Herrschaftssystem eingebunden? Was waren die institutionellen und individuellen Handlungsebenen des Krieges, den sie führten?" (S. 18). Wer aus dieser Aufgabenstellung eine soziologisch oder psychologisch fundierte Arbeit erwartet, wird enttäuscht. Christoph Rass arbeitet mit einem Konzept der Geschichte "von der Seite" (S. 22), und dieses Konzept ist über weite Strecken durch Statistik geprägt. Um den sozialen Wandel, die Lebenserfahrungen und das Verhalten der Soldaten fassen zu können, entwirft Christoph Rass eine Kollektivbiographie der Mannschaften und Unteroffiziere der 253. I.D., die während des gesamten Ostfeldzuges an der Ostfront eingesetzt war. Nach der gelungenen Einleitung und einem Überblick über die Operations- und Organisationsgeschichte der Division werden in drei Hauptabschnitten --"Die Soldaten", "Das militärische System", "Der Krieg"--die drei Leitfragen beantwortet. Hinzu kommen ein Fallbeispiel über die "Anatomie eines Kriegsverbrechens" und eine resümierende Interpretation der Ergebnisse. Im Kapitel "Die Soldaten" analysiert Christoph Rass Sozialstruktur und Determinanten des sozialen Wandels der 253 I.D. Umfassende statistische Informationen zur personellen Entwicklung der Division und zum Sozialprofil der Soldaten werden dem Leser geboten. So wies die 253. I.D. zu Feldzugbeginn eine Stärke von 16.000 Soldaten auf, verzeichnete im Kriegsverlauf 31.000 Verwundete, Gefallene und Vermisste und gehörten ihr von der Aufstellung bis ins letzte Kriegsjahr etwa 27.000 Individuen an, - weitaus weniger als bisher in der Forschung vermutet. Dass die Kampftruppen 99% der Verluste erlitten erstaunt nicht, sie machten 85% der Gesamtstärke aus. Widerlegt wird das Vorurteil, dass Offiziere ein höheres Risiko trugen. Das Sozialprofil zeigt eine hohe regionale und soziale Homogenität: "Die jungen Arbeiter der 1920er und 1930er Jahre wurden die Soldaten der 1940er Jahre" (S. 117). Die Untersuchung der nationalsozialistischen Indoktrinierung vor allem über NS-Organisationen unterstützt die These des Rezensenten von einer nationalsozialistischen "Kultur des Krieges". So urteilt Christoph Rass, die zwischen 18 und 28 Jahre alten Männer hatten im Spätsommer 1939 "ihren militärischen Marschbefehl bereits im Kopf, bevor er ihnen bei der Aufstellung der 253. Infanteriedivision Ende August 1939 zugestellt wurde" (S. 134). Die Grenzen einer Statistik geleiteten Darstellung zeigen sich bei der Schilderung der Alltagsgeschichte im Abschnitt "Leben und Sterben". Ein plastisches Bild vom alltäglichen Leben an der Front und vom sozialen Wandel entsteht nicht. Das Kapitel "Das militärische System" behandelt Führer und Geführte hinsichtlich ihrer institutionellen Einbindung und den Formen der Machtausübung. Letztere werden untersucht nach positiven Sanktionen wie Fürsorge, Orden, Machtteilhabe und negativen Sanktionen wie Bestrafung durch die Militärjustiz. Hinzu kommt die Manipulation der Soldaten durch politische Indoktrination. Christoph Rass arbeitet einen Generations- und Führungsstilwechsel heraus, quasi von klassisch militärisch zu nationalsozialistisch verbrecherisch, und zeigt das umfassende Fürsorgesystem der Wehrmacht auch für Angehörige auf. Unzutreffend erscheint die These einer rein funktionalen Rolle der Offiziere (S. 228, 406) angesichts der Erkenntnisse der modernen Führungslehre und militärischer Erfahrungswerte.[3] Warum sich die Betrachtung des Verhältnisses Soldaten--Zivilbevölkerung auf völkerrechtswidriges Verhalten (Kommissarbefehl, Diebstahl und Betrug, Sexualstraftaten) konzentriert, erschließt sich dem Rezensenten auf Grund der konstatierten Randerscheinung des Phänomens nicht. (S. 267) Die ausführliche Auseinandersetzung mit der Militärjustiz kommt zu dem Ergebnis, dass diese ein effizientes Mittel war, um Konformität zu erzeugen ohne der Front allzu viele Kämpfer zu entziehen. Die politische Indoktrination erfolgte auf vielfältige Weise, ein wirksames Aktivitätsnetz wurde gleichwohl erst im Sommer 1944 geknüpft. Im Kapitel "Der Krieg" unternimmt Christoph Rass eine institutionelle und individuelle Sicht auf vier Felder: Eroberung, Besatzung, Ausbeutung, Vernichtung. Die Betrachtung schließt neben den im Hinblick auf den sozialen Wandel dynamischen Kampftruppen und Unterstützungseinheiten auch die weit gehend statischen Feldersatz- und Ersatzeinheiten ein. Der Charakter des Ostfeldzuges als Beute- und Vernichtungskrieg kommt deutlich zum Ausdruck. Zu seinen Elementen gehörten neben einem tautologisch anmutenden Hinweis auf ein hohes Gewaltpotenzial im Gefecht, Unmenschlichkeit gegenüber Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie die umfassende Versklavung der Bevölkerung. Anschaulich geschildert wird das Ineinandergreifen kurzfristiger Ressourcennutzung und mittelfristiger Bewirtschaftung sowie der Aufbau einer umfassenden militärischen Infrastruktur. Eine blitzartige Erfassung und Verwaltung von Ressourcen, auch bei Verlegung der Division, wurde zur Kernkompetenz. (S. 357) Ob die alltäglichen Erfahrungen mit Zwangsarbeitern für die Kampftruppe wie für rückwärtige Einheiten gleichermaßen gilt, erfährt der Leser nicht. Die Fallstudie "Anatomie eines Kriegsverbrechens" zeigt eindringlich die Organisation des Schreckens und Todes. Deportation und Selektion gehörten zum Tagesgeschäft der Division urteilt Christoph Rass. Die Bewertung der Arbeit fällt ambivalent aus. Gelungen ist die methodische Fundierung durch ein Institutionenmodell, das zwischen Sozialen Gruppen--Führer und Geführte--und einem institutionellen Rahmen--Normen und Regeln--unterscheidet. Zudem birgt die Fleißarbeit erstmals im Kontext einer Division eine Fülle wichtiger Einzelergebnisse. Gleichwohl sind viele Erkenntnisse nicht nur typisch für die Wehrmacht, sondern für militärische Organisationen insgesamt (Versetzungen als Alltag, Verweildauer, hohe Verluste für Kampftruppen etc.). Unverständlich geblieben ist mir, was unter (zunehmender) Brutalisierung zu verstehen ist. (S. 331, passim) Gewalt kann damit nicht gemeint sein, da es ein Wesensmerkmal des Krieges ist. Clausewitz schrieb dazu: "Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu bringen."[4] So entsteht ein unvollständiges, schiefes Bild vom Krieg, vom Einsatz und Alltag an der Ostfront. Das ureigenste Element der Krieges, der Kampf, bleibt eigentümlicher Weise weit gehend ausgeblendet. Geschichte ist nicht hier nicht was geschieht, sondern was statistisch messbar ist. Damit sind die Möglichkeiten und Grenzen empirischer Sozialforschung aufgezeigt. Das Bild von Soldaten als willige Vollstrecker ist bei einer Studie über die Innenansichten einer Infanteriedivision nicht repräsentativ. Hier klingt das Tucholsky-Zitat an. Insofern ist Skepsis angebracht, oder Differenzierung mit Clausewitz; denn der Krieg ist ein "wahres Chamäleon", weil er in jedem konkreten Einzelfall seine Natur ändert und aus drei Elementen besteht: Erstens Gewalt, Hass und Feindschaft, zweitens Wahrscheinlichkeit und Zufall, drittens politisches Werkzeug.[5] Anmerkungen: [1]. Siehe Khüne, Thomas; Ziemann, Benjamin (Hg.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000. [2]. Beispielhaft Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, 2. Aufl. München 1996. [3]. Siehe Shils, Edward A.; Janowitz, Morris: Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II, in: M. Janowitz: Military Conflict. Essays in the Institutional Analysis of War and Peace, Beverly Hills 1975, 177f.; Kinzer Stewart, Nora: Mates and Muchachos. Unit Cohesion in the Falklands/ Malvinas War, Washington 1991. [4]. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege, Hamburg 1963, 13. [5]. Ebenda, 23. |