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H-NET BOOK REVIEW Published by H-Soz-u-Kult@h-net.msu.edu (March, 2000)Gabriel Kolko. _Das Jahrhundert der Kriege. Aus dem Amerik. v. Hans Guenter Holl_. Frankfurt/M: S. Fischer Verlag, 1999. 446 S. DM 48,00 (taschenbuch), ISBN 3-10-040010-0. Reviewed for H-Soz-u-Kult by Juergen Zimmerer Ueberblicksdarstellungen zum 20. Jahrhundert haben Konjunktur, wie die Synthesen von Eric Hobsbawm, Fran=E7ois Furet und Dan Diner beweisen. [1] Nun brachte 1999 der S. Fischer Verlag mit Gabriel Kolkos bereits 1994 in englischer Sprache erschienen Buch "Century of War" (dt.: "Das Jahrhundert der Kriege") eine weitere Darstellung auf den deutschen Markt, und mit Mark Mazowers "Der dunkle Kontinent" wartet schon das naechste Werk auf seine Leser.[2] Diese relative Haeufung von Gesamtinterpretationen liegt zum einen an derZaesur, die der Zusammenbruch des Kommunismus und das Ende der deutschen und europaeischen Teilung bietet, zum anderen regt auch das Ende des Jahrhunderts zum Nachdenken ueber die die letzten 100 Jahre beherrschenden Entwicklungen an. Kolkos Buch duerfte aber nicht nur aus dem Beduerfnis nach Synthesen zu Beginn des neuen Milleniums auf Interesse stossen. Auch der Krieg, sein thematischerSchwerpunkt, findet seit einiger Zeit wachsendes Interesse. Wie nicht zuletzt der Konflikt um den Kosovo vergangenes Jahr jedermann sichtbar vor Augen fuehrte, ist der Krieg nach 50 Jahren nach Europazurueckgekehrt.=20Das Zwanzigste Jahrhundert unter dem Signum der Kriege zu behandeln, erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Zwei Weltkriege in den ersten 50 Jahren erschuetterten Europa, brachten soziale Verwerfungen ungeahnten Ausmasses mit sich, spalteten den Kontinent und fuehrten dazu, dass er seine in den 500 Jahren zuvor gewachsene weltpolitische Stellung verlor. Darauf folgte der ebenfalls fast ein halbes Jahrhundert dauernde Kalte Krieg, ein Konflikt, der wie Kolko zu recht betont, so kalt nicht war. Ihn als Epoche des relativen Friedens zu betrachten, ergibt sich nur aus der vorherigen Erfahrung der alles verheerenden industriellen Grosskonflikte und aus der Ausblendung aller gewaltsamen Konflikte ausserhalb Europas.=20 Aus der Perspektive anderer Kontinente ergibt sich eine ganz andere Einschaetzung, nur hat noch niemand eine derartige Darstellung in deutscher Sprache vorgelegt. Auch Kolko tut dies nicht, auch wenn sein Buch durch seine Nordamerika, Europa und Asien umfassende Perspektive besticht.=20 Die grossen Strukturen, an denen Kolko sich orientiert, sind nicht originell. Der Erste Weltkrieg als "ein Katalysator, der viele Millionen Europaeer zwang, liebgewordene Gewohnheiten aufzugeben und, zuerst zoegernd, dann jedoch endgueltig ernuechtert, ihre traditionellen Werte und Ideale in Frage zu stellen" (S. 126), ist nicht neu. Auch dass er Entwicklungen ausloeste, die einen "erdrutschartigen politischen Stimmungswandel nach sich zogen" (S. 95), der schliesslich sowohl zur bolschewistischen Machtergreifung in Russland als auch zum Aufstieg des Faschismus in Italien oder Deutschland beitrug, ist keine bahnbrechende Erkenntnis. Letzteres nur aus dem Krieg zu erklaeren, wie Kolko es tut, duerfte jedoch zu kurz greifen. Schliesslich gab es auch in Laendern faschistische Regime, die am Weltkrieg nicht beteiligt waren. Darauf geht Kolko jedoch nicht ein. Dies liegt an dem logischen Zirkelschluss, der ihm unterlaeuft. Da er von der Praemisse der ueberragenden Bedeutung des Krieges als Ausloeser sozialer Veraenderungen und politischer Mobilisierung ausgeht, betrachtet er lediglich die gewaltsamen militaerischen Auseinandersetzungen oder die direkt von diesen abgeleiteten Buergerkriege wie in Russland ab 1917 oder in China im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Eine Auseinandersetzung mit potentiellen Gegenbeispielen wie Spanien oder die Laender Lateinamerikas findet nicht statt.=20 Zutreffend ist sicherlich Kolkos Beobachtung, dass der Erste Weltkrieg innerhalb der Geschichte der Kriegfuehrung paradigmatische Zuege traegt. In ihm trat der Manager der zivilen Ruestungsproduktion an die Stelle des traditionellen Offiziers und Kriegers als kriegsentscheidende Instanz. Zugleich schloss der Krieg zunehmend die Zivilbevoelkerung mit ein. Diese Entgrenzung des Krieges im industriellen Zeitalter, deren Anfaenge bereits auf den Amerikanischen Buergerkrieg zurueckgehen, war nicht mehr rueckgaengig zu machen. Interessant ist Kolkos grundsaetzliche Beobachtung, dass die tatsaechliche Ausweitung des Krieges, die zunehmende Aufhebung von Front und Heimat, einherging mit der Illusion des kurzen Krieges, des Blitzkrieges, wie es bei Hitler dann heissen sollte. Wenn auch die These, der deutsche Generalstab habe 1914 selbst an einen kurzen Feldzug geglaubt, juengst in Frage gestellt worden ist, [3] so ist es zutreffend, dass die Militaers aller Laender gerade aus den Erfahrungen des Gemetzels zwischen 1914 und 1918 den kurzen Feldzug zur Doktrin erheben mussten, um Kriege ueberhaupt noch rechtfertigen zu koennen. Dass es sich dabei um Luftschloesser handelte ist bekannt, bleibt also die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass in der militaerischen Planung Wunschdenken die realistische Einschaetzung der Lage ersetzte. Dass niemand in den jeweiligen Militaerfuehrungen, die eigenen Annahmen hinterfragte, fuehrt Kolko auf einen strukturellen Fehler des militaerischen Systems zurueck, das nur Ja-Sager produzierte. Seiner Meinung nach war die Sozialisation und die persoenlichen Kontakte, also die Netzwerke, fuer den Aufstieg der Offiziere entscheidend, Querdenker wurden ausgesondert. Dies klingt einleuchtend und regt zu weiteren Forschungen an, auch wenn Kolko bei seiner Darstellung beispielsweise des preussischen Offizierskorps Fehler unterlaufen. So war der Prozess der Verbuergerlichung 1914 schon viel weiter fortgeschritten, als er wahrhaben moechte. [4] Auch den Zweiten Weltkrieg handelt Kolko ab, ohne auf die operationsgeschichtliche Dimension einzugehen. Sein Augenmerk gilt den Folgen des Krieges in den von den Deutschen und den Japanern besetzten Laendern besonders Frankreich, Belgien, Holland, Italien und Polen. Anregend ist seine detaillierte Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklungen unter der Besatzungsherrschaft in Griechenland, in Vietnam und auf den Philippinen im Spannungsgefuege von Kollaboration und Widerstand. Schon der argumentative Zusammenschluss geographisch weit auseinanderliegender Regionen vermag fuer gemeinsame Entwicklungen die Augen zu oeffnen, die man mit der in Deutschland - aus naheliegenden Gruenden - vorherrschenden eurozentrischen Betrachtungsweise aus dem Blick zu verlieren droht. Gerade die Darstellung der spaeteren Buergerkriegsgebiete braucht Kolko fuer seine Interpretation der Nachkriegsgeschichte. In ihr weist er den USA die Hauptschuld fuer die Entstehung des Kalten Krieges in Europa und fuer die Kriege in Korea und Vietnam sowie die inneren Auseinandersetzungen in Griechenland und auf den Philippinen zu. Gefangen in ihrer Furcht vor der territorialen Ausweitung des kommunistischen Einflussbereiches, haetten die USA voellig verkannt, dass viele Konflikte aus einem genuinen Kampf um soziale Gerechtigkeit und nicht aus dem Wirken sowjetischer Agenten resultierten. Durch ihre Doktrin des ‘Containment’ haetten die Strategen in Washington in Fortsetzung ihrer Kriegspolitik, als sie in den genannten Laendern aus Angst vor einer spaeteren kommunistischen Machtergreifung Widerstandsgruppen gegeneinander aufhetzten, um die Linke zu schwaechen mit korrupten und undemokratischen Vertretern der jeweiligen Oligarchien paktiert. So erhellend Kolkos Ausfuehrungen zum Verhalten der USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gegenueber den Widerstandsgruppen auch sind, so faellt das Bild doch einseitig aus. Der Warschauer Pakt mit der Sowjetunion an der Spitze war keineswegs der Garant von Frieden und Stabilitaet, der verlaessliche Partner des Westens, als den uns Kolko ihn praesentieren moechte. Der 17. Juni in der DDR, Ungarn 1956, die Unterdrueckung des Prager Fruehlings oder der Einmarsch in Afghanistan 1979 - allesamt Ereignisse, ueber die Kolko keine oder nur wenige Worte verliert - belegen, dass sich der Westen bedroht fuehlen konnte. Das enthebt die USA nicht der Verantwortung fuer die Ausweitung des Koreakrieges oder des Vietnamkrieges, aber dass die Tendenz, den Systemkonflikt nach Asien, Afrika oder Lateinamerika zu exportieren von beiden Seiten verfolgt wurde, kann auch nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden. Als Gesamtinterpretation des 20. Jahrhunderts ist Kolkos Buch unzulaenglich. Die Konzentration auf den Krieg als Ausloeser aller weiteren Entwicklungen ueberzeugt nicht. Voellig zu kurz kommen bei ihm die ideologischen Antriebskraefte fuer die Geschehnisse in diesem Jahrhundert. Fuer ihn waren und sind die fuehrenden Militaersund Politiker nur eine opportunistische Clique, die die eigene Karrierre und die Interessen der herrschenden Schichten ueber alles stellten. Diese skrupellosen Karrieristen hat es wohl zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gegeben. Dennoch bleibt ein Unterschied beispielsweise zwischen der Planung und Duchfuehrung der Kriege des nationalsozialistischen Deutschland und der Kriegfuehrung Grossbritanniens oder der USA. Die Kriegfuehrung der Nationalsozialisten speiste sich neben den militaerischen Erfordernissen auch aus der rassistischen Ideologie. Ueberhaupt faellt auf, dass Kolko einem mindestens ebenso wie dem Krieg kennzeichnenden Signum des 20. Jahrhunderts, den Vernichtungs-, Arbeits oder Kriegsgefangenenlagern, kaum Bedeutung beimisst, kaeme er doch damit auf das Problem des grundsaetzlichen Zusammenhanges zwischen Ideologie und Politik zu sprechen, also weg von der einseitigen Schuldzuweisung an die "endemische Bornierheit der herrschenden Schichten"(S. 53), die aus rein persoenlichen Interessen Kriege vom Zaun brachen.=20 Auch Kolko geht es nicht nur um den Krieg. Wie er auf den letzten Seiten des Buches offenbart, wollte er den engen "Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Kriegsgefahr" (S. 386) herausarbeiten. Es handelt sich also um eine grundsaetzliche Kritik am Kapitalismus, fuer den "der Krieg lediglich die Erweiterung des Marktes mit anderen Mitteln" (S. 387) sei. Der Titel des Buches ist irrefuehrend. Kolkos Buch wird so zu einem durch die historische Analyse verbraemten Plaedoyer fuer die Wiederbelebung sozialistischer Ideen: "Soziale und oekonomische Ungerechtigkeiten werden ebensowenig von selbst aus der Welt verschwinden wie die radikale Opposition gegen Elend und Not. Daher bleibt die Wiederbelebung des Sozialismus ein unverwirktes Projekt. Ginge vom Kapitalismus nicht die Hauptgefahr fuer den friedlichen Fortbestand der Zivilisation aus, so muesste man die Linke wehmuetig begraben, weil sie wiederholt nicht einmal ihre Minimalziele zu erreichen vermochte. Doch nun hat der verblueffende Niedergang des Ostblocks ja immerhin reinen Tisch gemacht fuer eine grundlegende Erneuerung, frei vom Moskauer Diktat." (S. 388) Aus dieser Perspektive wird deutlich, warum er immer wieder die Unfaehigkeit bolschewistischer und sozialistischer Fuehrer betont, angefangen bei Lenin: Da sie nicht die ‘wahren’ Vertreter der Linken waren, sondern selbst nur politische Kriegsgewinnler, konnten sie Sozialismus nicht aufbauen. Aus dem Scheitern dieses Experiments, so die implizite Botschaft, kann deshalb auch nicht auf die Untauglichkeit der Idee geschlossen werden. Kolkos politisches Anliegen ist gewiss legitim, allerdings stellt er damit seine eigene These von der ausschlaggebenden Bedeutung des Krieges in Frage.Wenn soziale Ungerechtigkeit das Haupthemmnis einer friedlichen Entwicklung darstellt, was kaum zu bestreiten ist, dann verliert der Krieg seine Bedeutung als Hauptursache der gewaltsamen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Auch ohne die Weltkriege, so laesst sich vermuten, haetten sich die sozialen Konflikte Bahn gebrochen. Anmerkungen [1]. Hobsbawm, Eric J., _Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991_, London 1994 (dt: _Das Zeitalter der Extreme : Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts_, Muenchen 1995). Furet, Fran=E7ois, _Le passe d’une illusion : essai sur l’idee communiste au XXe siecle_, Paris 1995 (dt: _Das Ende der Illusion : der Kommunismus im 20. Jahrhundert_, Muenchen 1996). Diner, Dan, _Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung_, Muenchen 1999. [2]. Mazower, Mark, Dark Continent: Europe’s Twentieth Century, London 1999 (dt: Der dunkle Kontinent : Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000).=20 [3]. Siehe dazu Foerster, Stig, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871-1914. Metakritik eines Mythos, in: MGM 54 (1995), S. 61-95.=20 [4]. Zur juengsten Debatte darueber siehe Stoneman, Mark R., Buergerliche und adlige Krieger: Zum Verhaeltnis zwischen sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierkorps (unveroeffentlichtes Manuskript, erscheint in: Reif, Heinz (Hrsg.), Buergertum und Adel, Berlin 2000). |