[Pause von 15 Minuten.]
VORSITZENDER: Wie dem Gerichtshof mitgeteilt wird, ist der Angeklagte Ernst Kaltenbrunner vorübergehend krank. Das Verfahren wird in seiner Abwesenheit fortgesetzt. Ich rufe den französischen Hauptankläger.
M. MOUNIER, HILFSANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK:
Anklagepunkt drei – Kriegsverbrechen
(Artikel 6, insbesondere 6 (b) des Statuts.)
VIII. Gegenstand der Anklage. Sämtliche Angeklagten begingen vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 Kriegsverbrechen in Deutschland und in allen von deutschen Truppen seit dem 1. September 1939 besetzten Ländern und in Österreich, der Tschechoslowakei, Italien und auf hoher See.
Sämtliche Angeklagten entwarfen und führten im Zusammenwirken mit anderen einen gemeinsamen Plan oder eine Verschwörung aus, Kriegsverbrechen zu begehen, wie sie in Artikel 6 (b) des Statuts definiert sind. Dieser Plan sah u. a. die Führung eines »totalen Krieges« vor, sowie Kampf- und militärische Okkupationsmethoden, die in direktem Widerspruch zu Kriegsrecht und Kriegsbräuchen standen, ferner die Begehung von Verbrechen auf dem Schlachtfeld beim Zusammenstoß mit feindlichen Armeen, gegen Kriegsgefangene, und in besetzten Gebieten gegen die Zivilbevölkerung dieser Gebiete.
Die besagten Kriegsverbrechen wurden von den Angeklagten begangen und von anderen Personen, für deren Handlungen die Angeklagten einzustehen haben (unter Artikel 6 des Statuts), da diese Personen bei Begehung der in Frage stehenden Kriegsverbrechen in Ausführung eines gemeinsamen Planes bzw. Verschwörung zur Begehung besagter Kriegsverbrechen handelten, und da die Angeklagten beim Entwurf und der Ausführung dieses Planes bzw. Verschwörung sämtlich als Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter beteiligt waren.
Diese Methoden und Verbrechen stellen Verletzungen internationaler Konventionen, einheimischer Strafgesetze und der allgemeinen Grundsätze des Strafrechts dar, wie sie sich aus dem Strafrecht sämtlicher zivilisierter Völker herleiten, und bilden einen Bestandteil systematischen Vorgehens.
(A) Ermordung und Mißhandlung der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten und auf hoher See.
Die Angeklagten haben während der ganzen Zeit ihrer Besetzung der von ihren Armeen überrannten Gebiete zwecks systematischer Terrorisierung der Einwohnerschaft Zivilisten ermordet und gefoltert, sie mißhandelt und ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis geworfen.
Die Ermordungen und Mißhandlungen wurden auf verschiedene Weise ausgeführt, wie durch Erschießen, Erhängen, Vergasen, Aushungern, übermäßige Zusammenpferchung, systematische Unterernährung, systematische Aufbürdung von Arbeit über die Kraft derer, die sie auszuführen hatten, durch unzureichende ärztliche Betreuung und Hygiene, durch Fußtritte, Prügel, Brutalität und Folter jeder Art, einschließlich des Gebrauchs glühender Eisen, Ausreißens von Fingernägeln und Vornahme von Experimenten durch Operationen und so weiter an lebenden Menschen. In einigen besetzten Gebieten störten die Angeklagten die Gottesdienste, verfolgten Angehörige der Geistlichkeit und von Mönchsorden und enteigneten Kirchengut. Sie verübten vorsätzlichen und systematischen Massenmord, d.h. die Ausrottung von Gruppen einer bestimmten Rasse oder Nationalität unter der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete, um bestimmte Rassen, Volksklassen und nationale, rassische oder religiöse Gruppen, insbesondere Juden, Polen und Zigeuner zu vernichten.
Zwecks Erlangung von Informationen wurden Zivilisten systematisch jeder Art Folterung unterworfen.
Zivilisten in den besetzten Gebieten wurden systematisch in »Schutzhaft« genommen, d.h. verhaftet und ohne jedes Gerichtsverfahren und unter Versagung des üblichen Rechtsschutzes ins Gefängnis geworfen und unter höchst unhygienischen und unmenschlichen Bedingungen in Haft gehalten.
In den Konzentrationslagern gab es viele Häftlinge, die man »Nacht- und Nebelhäftlinge« nannte. Diese waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten und durften weder Briefe empfangen noch schreiben. Sie verschwanden spurlos und die deutschen Behörden gaben nichts darüber bekannt, was mit ihnen geschehen war.
Diese Verbrechen und Mißhandlungen stehen im Widerspruch zu internationalen Konventionen, insbesondere zu Artikel 46 der Haager Vorschriften aus dem Jahre 1907, zum Kriegsrecht und Kriegsbräuchen, zu den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts, wie sie sich aus den Strafgesetzen aller zivilisierten Völker herleiten, zu einheimischen Strafgesetzen der Länder, in denen diese Verbrechen begangen wurden, und zu Artikel 6 (b) des Statuts.
Die folgenden und alle weiterhin in diesem Anklagepunkt aufgeführten Einzelheiten dienen nur als Beispiele und schließen nicht andere Fälle aus. Das Recht der Anklagebehörde, Beweis für andere Fälle der Ermordung und Mißhandlung von Zivilisten nachzuliefern, bleibt ausdrücklich vorbehalten.
1. In Frankreich, Belgien, Dänemark, Holland, Norwegen. Luxemburg, Italien und auf den Kanalinseln (im folgenden genannt die »westlichen Länder«) und in dem Teil Deutschlands, der westlich einer von Norden nach Süden durch die Mitte Berlins verlaufenden Linie liegt (im folgenden genannt »westliches Deutschland«).
Solche Morde und Mißhandlungen wurden verübt in Konzentrationslagern und ähnlichen von den Angeklagten geschaffenen Einrichtungen, besonders in den Konzentrationslagern von Belsen, Buchenwald, Dachau, Breendonck, Grini, Natzweiler, Ravensbrück, Vught und Amersfoort und in zahlreichen Städten, Orten und Dörfern einschließlich Oradour- sur-Glane, Trondheim und Oslo.
Verbrechen folgender Art wurden in Frankreich oder gegen französische Bürger begangen:
Willkürliche Verhaftungen wurden unter politischen oder rassischen Vorwänden, vorgenommen; sie betrafen Einzelpersonen und Gruppen, vornehmlich in Paris (Razzia gegen das 18. Arrondissement durch die Feldgendarmerie, Razzia gegen die jüdischen Bewohner des 11. Arrondissements im August 1941; Razzia im Juli 1942), in Clermont-Ferrand (Razzia gegen Professoren und Studenten der Universität Straßburg, die am 25. November 1943 nach Clermont-Ferrand gebracht wurden), in Lyon, in Marseille (Razzia auf 40000 Personen im Januar 1943), in Grenoble (Razzia am 24. Dezember 1943), in Cluny (Razzia am 24. Dezember 1943), in Figeac (Razzia im Mai 1944), in Samt Pol de Leon (Razzia im Juli 1944), in Locminé (Razzia am 3. Juli 1944), in Eysieux (Razzia im Mai 1944) und in Meaux-Moussey (Razzia im September 1944). Diesen Verhaftungen folgten brutale Behandlung und Folterungen unter Anwendung verschiedenster Methoden, wie Eintauchen in eiskaltes Wasser, Erstickung, Ausrenkung von Gliedern, Benutzung von Folterwerkzeugen, wie des eisernen Helms und elektrischen Stroms. Dies geschah in allen Gefängnissen Frankreichs, vornehmlich in Paris, Lyon, Marseille, Rennes, Metz, Clermont-Ferrand, Toulouse, Nizza, Grenoble, Annecy, Arras, Bethune, Lille, Loos, Valenciennes, Nancy, Troyes und Caen, und in den Folterkammern der Gestapo-Zentren.
In den Konzentrationslagern war das Hygiene- und Arbeitssystem derart, daß die Sterblichkeitsziffer (angeblich durch natürliche Ursachen) riesige Ausmaße erreichte, z.B.:
1. Von einem Transport von 230 französischen Frauen, die von Compiegne nach Auschwitz im Januar 1943 deportiert wurden, starben 180 an Erschöpfung innerhalb von 4 Monaten.
2. 143 Franzosen starben vor Erschöpfung zwischen dem 23. März und 6. Mai 1943 in Block 8 in Dachau.
3. 1797 Franzosen starben vor Erschöpfung zwischen dem 21. November 1943 und dem 15. März 1945 in dem Block von Dora.
4. 465 Franzosen starben an allgemeiner Schwäche im November 1944 in Dora.
5. 22761 Deportierte starben vor Erschöpfung in Buchenwald zwischen dem 1. Januar 1943 und 15. April 1945.
6. 11560 Häftlinge starben vor Erschöpfung im Lager von Dachau (die Mehrzahl in dem für Schwache und Kranke reservierten Block 30) zwischen dem 1. Januar und 15. April 1945.
7. 780 Priester starben vor Erschöpfung in Mauthausen.
8. Von 2200 Franzosen, die im Lager von Flossenburg registriert waren, starben 1600 eines angeblich natürlichen Todes.
Die zur Ausrottung angewendeten Methoden in Konzentrationslagern waren: schlechte Behandlung unter dem Vorwand pseudowissenschaftlicher Experimente (Unfruchtbarmachung von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück, Studium der Entwicklung von Gebärmutterkrebs in Auschwitz, von Typhus in Buchenwald, anatomische Untersuchungen in Natzweiler, Herzinjektionen in Buchenwald, Verpflanzung von Knochen und Entfernung von Muskeln in Ravensbrück usw.); Gaskammern, Gaswagen und Einäscherungsöfen. Von mindestens 228000 Franzosen, die aus politischen oder rassischen Gründen in Konzentrationslager verbracht worden waren, gab es nur 28000 Überlebende.
In Frankreich wurde auch eine systematische Ausrottung betrieben, insbesondere in Asq am 1. April 1944, in Colpo am 22. Juli 1944, in Buzet-sur Tarn am 6. Juli 1944 und 17. August 1944, in Pluvignier am 8. Juli 1944, in Rennes am 8. Juni 1944, in Grenoble am 8. Juli 1944, in Saint Flour am 10. Juni 1944, in Ruisnes am 10. Juni 1944, in Nimes, Tulle und in Nizza, wo im Juli 1944 die Gefolterten der Bevölkerung zur Schau gestellt wurden, und in Oradour- sur Glane, wo die gesamte Ortsbevölkerung erschossen oder lebendig in der Kirche verbrannt wurde.
Zahlreiche mit Knochen gefüllte Gruben legen Zeugnis ab von anonymen Massakern. Am bemerkenswertesten sind die Knochengruben von Paris (Cascade du Bois de Boulogne), Lyon, Saint-Genis- Laval, Besançon, Petit Saint-Bernard, Aulnat, Caen, Port-Louis, Charleval, Fontainebleau, Bouconne, Gabaudet, L'hermitage-Lorges, Morlaas, Bordelongue, Signe.
Im Verlaufe des geplanten Terrorfeldzuges, der von den Deutschen in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 in Dänemark ins Werk gesetzt wurde, wurden 600 Dänen ermordet und ferner während der deutschen Besetzung Dänemarks eine große Anzahl von Dänen Folterungen und Mißhandlungen jeder Art unterworfen. Außerdem wurden etwa 500 Dänen durch Folterungen und auf andere Weise in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern hingemordet.
In Belgien, und zwar in Brüssel, Lüttich, Mons, Gent, Namur, Antwerpen, Toumai, Arlon, Charleroi und Dinant, fanden zwischen 1940 und 1944 an jedem Platz die gleichen Folterungen mannigfaltiger Art statt.
In Vught (Holland) wurden bei Räumung des Lagers ungefähr 400 Personen durch Erschießen hingemordet.
In Luxemburg wurden während der deutschen Besetzung 500 Personen ermordet und außerdem weitere 521 auf Anordnung von besonderen Gerichtshöfen, sogenannten »Sondergerichte«, gesetzwidrig hingerichtet. Zahlreiche andere Personen in Luxemburg wurden von der Gestapo gefoltert und mißhandelt. Während der deutschen Besetzung waren nicht weniger als 4000 Luxemburger im Gefängnis, von denen zumindest 400 ermordet wurden.
Von März 1944 bis April 1945 wurden in Italien von dem deutschen Militär in Civitella, in den Ardeatinischen Höhlen in Rom und an anderen Plätzen zumindest 7500 Männer, Frauen und Kinder jeden Alters ermordet.