Die Verantwortlichkeit dieses Gerichts.
Diesem Gericht ist die verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut worden, die Sühne des Gesetzes gegen die zu üben, deren Verhalten nach den hier dargelegten Begriffen als verbrecherisch befunden wird. Zum erstenmal soll hier ein Gericht die Verwirrung vieler Sprachen und den Widerstreit der Verfahrensfragen in den verschiedenen Rechtssystemen überwinden, um zu einem gemeinsamen Urteil zu kommen. Von uns allen wird viel Geduld und guter Wille gefordert. Obgleich die Notwendigkeit, schnell zu handeln, die Arbeit der Anklagebehörde, die wir zugeben, beeinträchtigt ist, unterbreiten Ihnen vier große Nationen ihr eilig zusammengetragenes Beweismaterial. Was unentdeckt bleibt, können wir nur vermuten. Wir könnten, mit Aussagen von Zeugen, die Aufzählung der Verbrechen um Jahre verlängern, – aber wozu? Wir werden, wenn wir Ihnen die nach unserer Ansicht überzeugenden und hinreichenden Beweise für die den Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen unterbreitet haben, den Fall nicht mit einer unnötigen Anhäufung von Beweismaterial belasten. Es wird wohl kaum ernsthaft bestritten werden, daß sich die Verbrechen, wie ich sie geschildert habe, tatsächlich zugetragen haben. Vielmehr wird sicherlich versucht werden, die persönliche Verantwortung abzuschwächen oder ihr ganz zu entgehen.
Von den Nationen, die sich hier zur Anklage zusammengetan haben, können die Vereinigten Staaten wohl am leidenschaftslosesten sein, denn sie sind, da sie den geringsten Schaden erlitten haben, vielleicht am wenigsten von Rache beseelt. Unsere amerikanischen Städte sind nicht bei Tag und Nacht bombardiert worden, sei es durch Menschen oder durch Roboter. Unsere Tempel sind nicht in Trümmer gelegt, unseren Landsleuten nicht die Häuser über den Köpfen zerstört worden. Die Drohung des Nazi-Angriffs ist uns, soweit unsere Männer nicht im Wehrdienst standen, weniger persönlich und unmittelbar erschienen als den Völkern Europas. Aber wenn die Vereinigten Staaten auch nicht am erbittertsten sind, stehen sie doch niemand in der Entschlossenheit nach, dafür zu sorgen, daß die Strafe des Rechts und der Ordnung Herr werden über jene internationale Gesetzlosigkeit, die ich Ihnen hier dargelegt habe.
Zweimal in meinem Leben haben die Vereinigten Staaten ihre junge Mannschaft über den Atlantischen Ozean geschickt, ihre Hilfsquellen fast erschöpft und sich mit Schulden belastet, um Deutschland niederringen zu helfen. Aber was das amerikanische Volk diese großen Anstrengungen hat ertragen lassen, war die Hoffnung und das Vertrauen, daß der Sieg für uns und unsere Verbündeten geordnete Beziehungen unter den Staaten in Europa begründet und die Jahrhunderte des Streites auf diesem von Kämpfen zerrissenen Erdteil beenden werde.
Zweimal haben wir uns zu Anfang in den europäischen Auseinandersetzungen zurückgehalten in dem Glauben, sie könnten auf eine rein europäische Angelegenheit beschränkt werden. Wir haben in den Vereinigten Staaten versucht, eine Wirtschaft aufzubauen ohne Rüstung, ein Regierungssystem ohne Militarismus und eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht gewaltsam dem Kriege dienstbar gemacht werden. Wir wissen jetzt, daß sich dergleichen niemals verwirklichen läßt, wenn die Welt periodisch in Kriege verstrickt wird. Die Vereinigten Staaten können nicht Generation auf Generation ihre Jugend und ihren Wohlstand auf die Schlachtfelder Europas werfen, um das fehlende Gleichgewicht im Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und seinen Feinden wiederherzustellen und die Kämpfe von unseren Küsten fernzuhalten.
Der amerikanische Traum von Frieden und Wohlstand kann sich, wie die Hoffnungen anderer Völker, niemals erfüllen, wenn diese Völker in jeder Generation in einen Krieg verwickelt werden, der so unermeßlich und verwüstend ist, daß er die Generation, die ihn auskämpft, zu Boden schlägt und der folgenden Generation schwere Lasten aufbürdet. Die Erfahrung hat gelehrt, daß Kriege sich nicht mehr begrenzen lassen; alle modernen Kriege werden am Ende zu Weltkriegen. Und keine der großen Nationen zumindest kann sich heraushalten. Wenn wir uns aber aus dem Kriege nicht heraushalten können, beleibt uns nur die Hoffnung, ihn zu verhüten.
Ich bin mir der Schwächen eines Gerichtsverfahrens allein zu gut bewußt, als daß ich behauptete, Ihr Urteil als solches, das Sie nach dem Statut fällen, könnte künftige Kriege verhindern. Vor Gericht wird immer erst verhandelt, wenn eine Sache geschehen ist. Kriege aber werden nur begonnen in der Überlegung und der Zuversicht, daß sie gewonnen werden könnten. Persönliche Bestrafung, die nur bei einem verlorenen Kriege zu besorgen wäre, wird nicht abschreckend genug sein, einen Krieg zu verhüten, bei dem die Kriegsmacher die Möglichkeiten einer Niederlage als unbeachtlich einschätzen.
Aber der letzte Schritt, periodisch wiederkehrende Kriege zu verhüten, die bei internationaler Gesetzlosigkeit unvermeidlich sind, ist, die Staatsmänner vor dem Gesetz verantwortlich zu machen. Und lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen. Wir können im Innern Gewaltherrschaft, Willkür, Zwang und Überfall derer, die gegen die Rechte ihres eigenen Volkes an der Macht sind, nur beseitigen, wenn wir jedermann vor dem Gesetz verantwortlich machen. Dieser Prozeß ist der verzweifelte Versuch der Menschheit, die Strenge des Gesetzes auf die Staatsmänner anzuwenden, die ihre Macht im Staate benutzt haben, die Grundlagen des Weltfriedens anzugreifen und die Hoheitsrechte ihrer Nachbarn durch Übergriff und Überfall zu verletzen.
Um den Wert dieser Bemühung, Gerechtigkeit zu üben, abschätzen zu können, darf das Gesetz oder Ihr Urteilsspruch nicht gesondert betrachtet werden. Dieser Prozeß ist ein Teil der großen Anstrengung, den Frieden sicherer zu machen. Ein Schritt in dieser Richtung ist die Bildung der Vereinten Nationen. Sie können sich politisch zu gemeinsamem Handeln zusammentun, um einen Krieg zu verhindern, wenn das möglich ist, und können militärisch gemeinsam handeln, um gewiß zu machen, daß jede Nation, die einen Krieg beginnt, ihn auch verliert. Das Statut und dieser Prozeß hier sind – in Erfüllung des Briand-Kellogg- Pakts – ein weiterer Schritt in der gleichen Richtung: eine rechtliche Sicherung zu schaffen, daß, wer einen Krieg beginnt, auch persönlich dafür bezahlt.
Obwohl die Angeklagten und die Ankläger als Einzelpersonen vor Ihnen stehen, ist Ihrem Urteil, meine Herren Richter, nicht nur anvertraut, welcher der beiden Gruppen Sie hier den Sieg zuerkennen. Über allen Persönlichkeiten stehen namenlose und unpersönliche Kräfte, deren Widerstreit viel von der Geschichte der Menschheit ausmacht. Es steht bei Ihnen, durch die Macht des Gesetzes die eine oder die andere Seite dieser Kräfte auf mindestens eine Generation zu stärken und zu stützen.
Welches sind die wirklichen Kräfte, die hier vor Ihnen im Kampfe stehen?
Keine Nächstenliebe kann die Tatsache verhüllen, daß die Kräfte, für die die Angeklagten hier stehen – Kräfte, denen ein Freispruch förderlich und ergötzlich wäre – die finstersten und unheilvollsten Mächte der menschlichen Gesellschaft sind: Diktatur und Unterdrückung, Bosheit und Leidenschaft, Militarismus und Rechtlosigkeit. An ihren Früchten erkennen wir sie am besten: Ihre Taten haben die Welt in Blut getaucht und die Zivilisation um ein Jahrhundert zurückgeworfen. Sie haben ihre Nachbarn in Europa dem Frevel und der Folterung, der Plünderung und dem Raub preisgegeben, wie nur Anmaßung, Grausamkeit und Gier sie ersinnen konnten. Sie haben das deutsche Volk auf die tiefste Stufe des Elends geworfen, von dem freizuwerden es so bald nicht hoffen kann. In jedem Erdteil haben sie Haß aufgerührt und im Innern zur Gewalttat aufgestachelt. Zusammen mit den Gefangenen dort auf der Anklagebank stehen auch alle diese Taten hier vor Gericht.
Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation. Sie ist noch unvollkommen und ringt in allen unseren Ländern. Sie behauptet nicht, daß die Vereinigten Staaten oder irgendein anderes Land an den Zuständen schuldlos seien, die das deutsche Volk so leicht dem Schmeicheln und der Einschüchterung der Nazi-Verschwörer haben zum Opfer fallen lassen.
Aber sie deutet auf die furchtbare Folge von Angriffen und Verbrechen, die ich geschildert habe. Sie deutet auf die Wunden, die geschlagen, die Kräfte, die erschöpft sind, auf alles, was schön war oder nützlich in der Welt und nun zerstört ist, und darauf, daß die Zerstörung noch größere Möglichkeiten haben mag in künftigen Tagen, Es ist wahrlich nicht nötig, in den Trümmern dieser alten und schönen Stadt, unter deren Schutt noch zahllose ihrer Bürger begraben liegen, nach besonderer Begründung für den Satz zu suchen, daß es im Sittlichen das schlimmste Verbrechen ist, einen Angriffskrieg zu beginnen oder zu führen. Die Zuflucht der Angeklagten kann nur die Hoffnung sein, das Völkerrecht werde so weit hinter dem moralischen Bewußtsein der Menschen zurückbleiben, daß, was vor dem sittlichen Empfinden als Verbrechen gilt, vor dem Gesetz nicht als Schuld betrachtet werde.
Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. Die Zivilisation erwartet nicht, daß sie den Krieg unmöglich machen können. Wohl aber erwartet sie, daß Ihr Spruch die Kraft des Völkerrechts mit seinen Vorschriften und seinen Verboten und vor allem mit seiner Sühne dem Frieden zum Beistand geben werde, so daß Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern leben können »keinem Untertan und unter dem Schutz des Rechts«.