I. A.: Jodl.«
Die tatsächlichen Ereignisse am 11. März 1938 in Österreich gehen sodann aus zwei verschiedenen Berichten hervor. Obwohl sie in einzelnen unbedeutenden Punkten von einander abweichen, z.B. die genauen Worte, wie sie verwendet, oder die genauen Zeiten, zu denen sie verwendet wurden, ergänzen sie sich jedoch im wesentlichen vollkommen. Wir glauben, daß dem Gerichtshof ein verhältnismäßig vollständiger Bericht über den Weg unterbreitet werden sollte, nach welchem das Deutsche Reich am 11. März 1938 Österreich seiner Unabhängigkeit beraubte.
Zuerst gebe ich einen Bericht der Tagesereignisse in Österreich, wie sie durch die österreichischen Nazis dargestellt werden. Ich beziehe mich auf Urkunde 812-PS, US-61, ein Bericht des Gauleiters Rainer an den Reichskommissar Bürckel, und ich verlese von Seite 8 des englischen Textes; für den deutschen Dolmetscher beginne ich mit der folgenden Aufzählung: Erster Fall, zweiter Fall, dritter Fall, nach dem Satz: »An dieser Besprechung nahm Dr. Seyß-Inquart teil:
»Am Freitag, den 11. März, war Minister Glaise-Horstenau, vom Führer kommend, in Wien angelangt und hatte sich nach einer Besprechung mit Dr. Seyß-Inquart zu dem Bundeskanzler begeben. Mit der Landesleitung war eine Besprechung für 11.30 Uhr angesetzt worden, an der neben Klausner, Rainer und Globocnik noch Jury, Seyß-Inquart, Glaise-Horstenau, Fischböck und Mühlmann teilnahmen. Dr. Seyß-Inquart berichtete von der Aussprache bei Schuschnigg, die mit einer Ablehnung der Vorschläge der beiden Minister geendet hatte. Über Vorschlag Rainers wurde nunmehr von Klausner befohlen, daß der Regierung ein von den legalen politischen Vormännern, also den beiden Ministern sowie den Staatsräten Fischböck und Jury, unterzeichnetes Ultimatum: Abberaumung der Abstimmung und Ansetzung einer verfassungsmäßigen freien und geheimen Abstimmung binnen drei Wochen, mit Frist 14.00 Uhr, vorgelegt werde. An Hand der von Glaise-Horstenau mitgebrachten schriftlichen Unterlagen wurde ein Aufruf an die nationalsozialistische Bevölkerung Öster reichs zur Vervielfältigung in Millionen von Stücken und ein Hilfetelegramm an den Führer vorbereitet.
Klausner übertrug Rainer und Globocnik die Leitung der nun einsetzenden letzten politischen Kampfaktion. Schuschnigg berief für 14.00 Uhr einen Ministerrat ein. Rainer vereinbarte mit Seyß-Inquart, daß Rainer um 15.00 Uhr die Depesche an den Führer, den Aufruf an die Bevölkerung und die Aktion zur Machtergreifung loslassen werde, wenn er bis dahin keine Nachricht aus dem Ministerrat erhalten hätte. In der Zeit bis dahin wurden alle Maßnahmen vorbereitet. Um 14.40 Uhr telephonierte Seyß-Inquart an Rainer, daß Schuschnigg dem Druck weichend die Abstimmung absage, sich aber weigere, eine neue Abstimmung anzuberaumen und schärfste Polizeimaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe angeordnet habe. Auf Rainers Frage, ob die beiden Minister demissioniert hätten, ist Seyß-Inquarts Antwort: ›Nein‹. Rainer läßt im Wege der Deutschen Gesandtschaft die Reichskanzlei informieren und erhält durch Göring auf dem gleichen Wege die Mitteilung, daß der Führer diese halbe Lösung nicht anerkennen könne und auf der Demission Schuschnigg bestünde. Mitteilung hiervon überbringen Globocnik und Mühlmann sodann an Seyß; Besprechung Seyß-Inquarts mit Schuschnigg, Demissionserklärung Schuschniggs, Anfrage Seyß-Inquarts bei Rainer, welche Maßnahmen seitens der Partei gewünscht werden. Antwort Rainers: ›Sofortige Regierungsbildung durch Seyß-Inquart, Legalisierung der Partei und Aufbietung von SA und SS als Hilfspolizei.‹ Durchführung von Seyß-Inquart zuge sichert, jedoch bald darauf Mitteilung, daß Durchführung am Widerstand Miklas' zu scheitern droht. Inzwischen kamen im Wege der Deutschen Gesandtschaft Mitteilungen, daß der Führer die Bildung eines Kabinetts Seyß-Inquart mit nationaler Mehrheit, die Legalisierung der Partei und die Erlaubnis der Rückkehr der Legion mit Frist 19.30 Uhr erwarte, widrigens um 20.00 Uhr deutsche Truppen die Grenzen überschreiten.
Zur Durchführung dieses Auftrages begaben sich Rainer und Globocnik, begleitet von Mühlmann um 17.00 Uhr in das Bundeskanzleramt. Situation: Miklas verhandelt mit Ender wegen Bildung eines von Schwarzen, Roten und Nationalsozialisten getragenen Kabinetts und bietet Seyß Vizekanzlerposten an. Seyß lehnt ab und erklärt Rainer gegenüber, er könne zunächst, da es um seine Person ginge, nicht selbst verhandeln, da daraus eine für ihn schwache und sohin für die Sache ungünstige politische Situation entstehen würde. Rainer verhandelt mit Zernatto, Kabinettsdirektor Huber, Guido Schmidt, ebenso verhandeln Glaise-Horstenau, ferner der Legationsrat Stein, der Militärattaché General Muff und der inzwischen eingetroffene Gruppenführer Keppler. Ab 19.00 Uhr war Seyß wieder in die Verhandlungen eingetreten. Situation um 19.30 Uhr: Beharrliche Weigerung Micklas', Seyß zum Bundeskanzler zu ernennen, Appell an die Weltöffentlichkeit für den Fall eines deutschen Einmarsches.
Gruppenführer Keppler erklärt, daß dem Führer noch der unmittelbare Anlaß zum Einmarsch fehle, der erst geschaffen werden müsse. Lage in Wien und in den Ländern auf das höchste gefährlich, Ausbruch von Straßenkämpfen unmittelbar zu befürchten, da Rainer bereits um 3.00 Uhr an die ganze Partei Auftrag zu Demonstrationen herausgegeben hatte. Rainer schlägt Zernierung und Besetzung des Bundeskanzleramtes zum Zwecke des Sturzes der Regierung und der Erzwingung der Neubildung vor. Vorschlag wird von Keppler abgelehnt, von Rainer dennoch nach Aussprache mit Globocnik durchgeführt. Nach 20.00 Uhr marschiert SA und SS auf zur Zernierung und Besetzung des Bundeskanzleramtes sowie zur gewaltsamen Besetzung aller wichtigen Positionen in der Stadt Wien. Um 20.30 Uhr läßt Rainer mit ausdrücklicher Genehmigung von Klausner den Befehl an die Gauleiter aller übrigen acht Gaue zur Übernahme der Gewalt mit Hilfe von SA und SS hinausgehen, mit der Anweisung, sich hierbei Widerstand leistenden Regierungsmännern gegenüber auf einen Auftrag des Bundeskanzlers Seyß zu berufen.
Daraufhin Losbrechen der Revolution, die im allgemeinen binnen drei Stunden zur restlosen Besetzung von ganz Österreich und zur Übernahme aller Posten durch die Partei führte. Die Machtübernahme war sohin ein Werk der Partei, gestützt auf die Einmarschdrohung des Führers und den legalen Stützpunkt Seys-Inquart in der Regierung. Die staatliche Konsequenz in Form der Regierungsübernahme durch Seyß-Inquart war das Ergebnis der durch die Partei tatsächlich durchgeführten Machtübernahme einerseits und der politischen Leistungen des Dr. Seyß-Inquart auf seinem Sektor andererseits, beide Faktoren aber nur möglich infolge des Ent schlusses des Führers vom 9. März 1938, nunmehr die Österreich-Frage unter allen Umständen zu lösen und der daraufhin vom Führer erlassenen Befehle.«
Ich habe hier ein anderes Dokument in Händen, das es uns sozusagen möglich macht, nochmals die Ereignisse des 11. März 1938 in lebendigster und interessantester Weise zu durchleben. Dank der Tüchtigkeit des Angeklagten Göring und seiner Luftwaffen-Organisation haben wir ein höchst interessantes Dokument, offensichtlich ein offizielles Dokument des Luftwaffen-Hauptquartiers, das wie gewöhnlich als »geheime Reichssache« bezeichnet ist. Der Briefkopf ist der vom »Reichsluftfahrtministerium, Forschungsamt«. Wenn ich die Bedeutung des Wortes »Forschungsamt« richtig verstehe, so heißt es Abteilung für Forschung des Luftfahrtministeriums, Görings Ministerium. Die Urkunde befindet sich in charakteristisch deutscher Weise in einem Band mit Aufschrift auf dem Rücken »Gespräche über den Fall Österreich«.
Der Papierumschlag trägt an der Innenseite in Kurrentschrift den Vermerk, den vorzulesen ich den Dolmetscher bitten werde. Aber es scheint mir, es ist »Geheimarchiv Berlin, Gespräche über den Fall Österreich«.
Ich unterbreite diese Gruppe von Dokumenten im Originalband, wie sie im Luftfahrtministerium gefunden worden sind, identifiziert als unsere Urkunde 2949-PS, US-76.
Wenn ich sie unterbreite, entsinne ich mich an Hiobs Jammerschrei: »Oh, daß mein Feind ein Buch schreiben möge.«
Der Begleitbrief in diesem Aktenstück, der von einigen Mitgliedern dieser Forschungsorganisation im Luftfahrtministerium unterzeichnet und an den Angeklagten Göring gerichtet ist, erklärt im wesentlichen, ich lese die englische Übersetzung: »Dem Herrn Generalfeldmarschall lege ich anliegend auftragsgemäß die Abschriften der von Herrn Generalfeldmarschall geführten Gespräche vor.« Augenscheinlich wollte der Angeklagte Notizen über wichtige Telephongespräche, die er führte, haben, besonders von solchen mit wichtigen Persönlichkeiten über den »Fall Österreich«, und die Übertragungen wurden ihm vom Forschungsamt vorgelegt. Die meisten der Unterhaltungen, die übertragen wurden und in diesem Bande enthalten sind, wurden vom Angeklagten Göring geführt, obwohl auch eine interessante Unterhaltung von Hitler geführt worden ist.
Zum Zweck der Erleichterung hat unser Stab diese Telephongespräche mit Bleistift gekennzeichnet und mit Identifizierungsbuchstaben, angefangen mit »A« und bis »Z« und dann bis »AA« gehend, versehen. Elf dieser Unterhaltungen sind durch ein Prüfungsverfahren als erhebliches Beweismaterial für diese Zeit bestimmt worden.
Alle übersetzten Unterhaltungen wurden vervielfältigt und sind in den Dokumentenbüchern enthalten, die man den Angeklagten überreicht hat. Der Originalakt enthält natürlich die vollständige Reihe der Gespräche. Ein sehr ausführlicher und interessanter Bericht der Ereignisse, die uns hier beschäftigen, kann aus Zitaten dieser übersetzten Unterhaltungen entwickelt werden.
Ich wende mich nun den Abschriften der Telephongespräche der ersten Gruppe A zu, die sich zwischen Feldmarschall Göring, der mit »F« bezeichnet ist, und Seyß-Inquart, der mit »S« bezeichnet ist, abgespielt haben. Die Niederschrift, die vom Luftfahrtministerium Forschungsamt hergestellt wurde, besteht zum Teil aus dem Wortlaut der Gespräche dieser beiden Personen und ist zum Teil eine Zusammenfassung der wirklichen Unterhaltungen. Ich zitiere von Teil »A« des Bandes, und wegen des ergänzenden Charakters dieser Niederschrift und ihrer offensichtlichen Echtheit schlage ich vor, diese Unterhaltung vollständig zu zitieren. Hiernach werde ich Göring »F« und Seyß- Inquart »S« nennen.
»Aktennotiz über die entscheidenden Telephongespräche des Feldmarschalls (F.) mit Minister Seyss-Inquart (S.).
14.15 Uhr Anruf des F.
F. Guten Tag Herr Doktor. Ist mein Schwager bei Ihnen?
S. Nein.«
Daraufhin nahm das Gespräch ungefähr folgenden Verlauf:
»F. Wie steht es bei Ihnen? Sind Sie zurückgetreten oder haben Sie etwas Neues zu melden?
S. Der Kanzler hat die Wahlen für Sonntag aufgehoben, deswegen S. und die anderen Herren in eine schwierige Lage versetzt. Neben der Aufhebung der Wahl werden auch umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen angeordnet, u. a. Ausgehverbot nach 8.00 Uhr abends.
F. sagte daraufhin, daß nach seiner Auffassung die Maßnahmen des Kanzlers Schuschnigg in keiner Form genügen würden. Er könnte zwar offiziell dazu in diesem Augenblick keine Stellung nehmen, da er dazu allein nicht berechtigt wäre. F. wird in kürzester Zeit Bescheid sagen. Er sehe in der Aufhebung der Wahl nur eine Verschiebung, aber keine Änderung des gegenwärtigen Zustandes, der durch das Verhalten des Kanzlers Schuschnigg durch den Bruch des Berchtesgadener Abkommens herbeigeführt ist.
Daraufhin fand ein Gespräch zwischen F. und dem Führer statt.
Anschließend rief F. den S. wieder an. Das Gespräch wurde um 15.05 Uhr geführt.
F. teilte S. mit, daß Berlin sich mit der Entscheidung des Kanzlers Schuschnigg in keiner Weise einverstanden erklären könnte, da der Betreffende durch den Bruch des Berchtesgadener Abkommens nicht mehr das Vertrauen der hiesigen Stellen genieße und deswegen auch kein Vertrauen zu seinen zukünftigen Handlungen mehr bestehe. Es würde von hier aus verlangt, daß die nationalen Minister S. usw. von sich aus sofort dem Kanzler ihre Demission einreichen und vom Kanzler verlangen müßten, daß er ebenfalls zurücktrete.
F. teilte noch mit, daß, falls spätestens in einer Stunde hier kein Bescheid eingegangen wäre, man annehme, daß S. nicht mehr in der Lage wäre, zu telephonieren. Das würde bedeuten, daß die Herren ihre Demission eingereicht hätten. S. wurde aufgefordert, dann das verabredete Telegramm an den Führer abzuschicken. Selbstverständlich könnte mit der Demission Schuschniggs auch nur eine unverzügliche Beauftragung des S. mit der Neubildung des Kabinetts durch den Bundespräsidenten erfolgen.«
Sie sehen, daß um 2.45 Uhr Göring Seyß-Inquart telephonisch mitteilte, daß es nicht genug sei, Wenn Schuschnigg die Wahl abberufe, und 20 Minuten später telephonierte er mit Seyß-Inquart, um zu erklären, daß Schuschnigg abdanken müsse. Das ist das zweite Ultimatum.
Als er, ungefähr eine Stunde später, von Schuschniggs Abdankung informiert wurde, wies er darauf hin, daß es notwendig sei, Seyß-Inquart an die Spitze des Kabinetts zu setzen.