[Der Gerichtshof vertagt sich bis
4. Dezember 1945, 10.00 Uhr.]
Zwölfter Tag.
Dienstag, 4. Dezember 1945.
Vormittagssitzung.
VORSITZENDER: Ich erteile dem Hauptanklagevertreter für Großbritannien und Nordirland das Wort.
SIR HARTLEY SHAWCROSS, HAUPTANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Hoher Gerichtshof! Bei einer Gelegenheit, die bereits erwähnt wurde und noch später erwähnt werden wird, soll Hitler, der Führer der hier vor Ihnen angeklagten Nazi-Verschwörer, über ihre Kriegspläne gesagt haben:
»Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht darnach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg.... Der Stärkere hat das Recht.«
Das britische Weltreich mit seinen Verbündeten ist in einem Zeitraum von 25 Jahren zweimal aus Kriegen siegreich hervorgegangen, die ihm aufgezwungen wurden; aber gerade, weil wir verstehen, daß der Sieg allein nicht genügt, daß Macht nicht notwendigerweise Recht bedeutet, daß dauerhafter Friede und die Herrschaft des Völkerrechts nicht durch den starken Arm allein gesichert werden können, gerade deshalb nimmt die britische Nation an diesem Verfahren teil. Es wird Leute geben, die vielleicht sagen, man hätte mit diesen erbärmlichen Menschen summarisch, ohne Gerichtsverhandlung, durch »Exekutivaktion« verfahren sollen; man hätte sie, nachdem ihre Macht zum Bösen gebrochen worden war, einfach wegfegen und in Vergessenheit geraten lassen sollen, und zwar ohne diese ausgearbeitete und sorgfältige Untersuchung der Rolle, die sie bei der Entfesselung dieses Krieges gespielt haben. Vae victis! Laßt sie die Strafe der Niederlage tragen! Aber das war nicht die Auffassung der Britischen Regierung. Auf diese Weise würde die Herrschaft des Rechts nicht erhöht und gestärkt werden, weder auf internationalem noch auf nationalem Gebiet. Auf diese Weise würden künftige Generationen nicht erkennen, daß das Recht nicht immer auf der Seite der stärkeren Bataillone zu finden ist; auf diese Weise würde die Welt sich nicht bewußt werden, daß das Führen von Angriffskriegen nicht nur ein gefährliches, sondern auch ein verbrecherisches Unternehmen darstellt. Das menschliche Gedächtnis ist sehr kurz. Die Verteidiger besiegter Nationen sind manchmal imstande, sich das Mitgefühl und die Großmut der Sieger zunutze zu machen, so daß die wahren Tatsachen, die niemals amtlich aufgezeichnet wurden, verschleiert und vergessen werden.
Man muß sich nur die Umstände, die dem letzten Weltkrieg folgten, ins Gedächtnis rufen, um die Gefahren zu erkennen, denen ein tolerantes oder leichtgläubiges Volk ausgesetzt ist, weil kein maßgebliches gerichtliches Urteil ausgesprochen worden ist. Mit dem Ablauf der Zeit neigt man dazu, Berichte von Angriffen und Greueltaten, vielleicht gerade wegen ihrer Entsetzlichkeit, zu bezweifeln. Die Leichtgläubigen, irregeführt, sei es durch fanatische, sei es durch unehrliche Propagandisten, glauben schließlich, daß nicht sie, sondern ihre Gegner die Taten begangen haben, die sie selbst verdammen würden. Und so glauben und wissen wir, daß dieser Gerichtshof trotz seiner Einsetzung seitens der Siegermächte in vollkommener und richterlicher Objektivität handeln und damit einen zeitgenössischen Prüfstein und einen maßgeblichen und unparteiischen Bericht schaffen wird, der künftigen Geschichtsschreibern als Quelle der Wahrheit und künftigen Politikern als Warnung dienen wird. Aus diesem Bericht sollen künftige Generationen nicht nur erfahren, was unsere Generation erlitt, sondern auch, daß unsere Leiden das Ergebnis von Verbrechen gegen jene Gesetze der Völker waren, die die Völker der Welt aufrechterhalten haben und in Zukunft aufrechterhalten werden, und zwar durch eine internationale Zusammenarbeit, die nicht allein auf militärische Bündnisse, sondern fest auf die Herrschaft des Rechts gegründet sein wird.
Dieses Verfahren und die Anklage gegen Einzelpersonen mögen neuartig sein, aber in den Grundsätzen, die wir durch diese Anklage zur Geltung bringen wollen, ist nichts Neues zu finden. Obwohl sich Sanktionen als unwirksam erwiesen haben, waren die Nationen der Welt, wie ich versuchen werde nachzuweisen, bemüht, den Angriffskrieg zu einem internationalen Verbrechen zu stempeln. Obgleich es bisher herkömmlich gewesen ist, Staaten und nicht Einzelpersonen zu bestrafen, so ist es doch logisch und richtig, daß, wenn das Führen eines Krieges selbst eine Verletzung des Völkerrechts bildet, jene Individuen, die an der Entfesselung solcher Kriege mitverantwortlich gewesen sind, auch persönlich für die von ihnen veranlaßte Handlungsweise ihrer Staaten zur Verantwortung zu ziehen sind. Desgleichen sind einzelne Kriegsverbrechen nach dem Völkerrecht schon lange vor die Gerichtshöfe jener Staaten gebracht worden, deren Staatsangehörige Schaden erlitten hatten, zumindest solange ein Kriegszustand andauerte.
Es wäre tatsächlich äußerst unlogisch, wenn diejenigen, welche die Verantwortung für systematische Verletzungen des Kriegsrechts gegenüber den Staatsangehörigen vieler Nationen tragen, nur weil sie vielleicht persönlich mit eigener Hand keine Verbrechen begangen haben, entkommen sollten.
Dasselbe gilt für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Recht zur humanitären Intervention auf Grund der Menschenrechte, wenn diese von einem Staate derartig mit Füßen getreten werden, daß das Gefühl der Menschheit zutiefst verletzt wird, ist schon lange als Bestandteil des Völkerrechts betrachtet worden. Auch hier stellt das Statut lediglich eine Entwicklung eines bereits bestehenden Grundsatzes dar. Wenn Mord, Vergewaltigung und Raub nach den ordentlichen nationalen Gesetzen unserer Länder anklagbar sind, sollen dann diejenigen von der Anklage frei sein, die sich von gemeinen Verbrechen nur durch das Ausmaß und die systematische Natur ihrer Freveltaten unterscheiden?
Wie ich darzulegen bemüht sein werde, ist es die Ansicht der Britischen Regierung, daß der Gerichtshof auf die Einzelpersonen nicht das Recht des Siegers, sondern die anerkannten Grundsätze des internationalen Brauches anwenden wird, und zwar auf eine Weise, die, wenn überhaupt möglich, die Herrschaft des Völkerrechts fördern und festigen und den künftigen Frieden und die Sicherheit dieser von Kriegen schwer heimgesuchten Welt gewährleisten wird.
Auf Grund einer Vereinbarung zwischen den Hauptanklagevertretern ist es meine Aufgabe, als Vertreter der Britischen Regierung und der anderen an dieser Verfolgung mitbeteiligten Staaten, den Tatbestand zu Anklagepunkt 2 der Anklageschrift darzulegen. Meine Aufgabe ist es ferner, nachzuweisen, wie diese Angeklagten in gemeinsamer Verschwörung und in Verschwörung mit Personen, die nicht vor diesem Gerichtshof stehen, einen Angriffskrieg planten und führten unter Bruch von Vertragsverpflichtungen, durch die im Rahmen des Völkerrechts Deutschland, wie andere Staaten, beabsichtigt hatte, derartige Kriege unmöglich zu machen.
Diese meine Aufgabe zerfällt in zwei Teile:
Erstens, die Natur und die Grundlage des Verbrechens gegen den Frieden aufzuzeigen, das nach dem Statut dieses Gerichtshofs in dem Führen von Angriffskriegen sowie von Kriegen, die Vertragsverletzungen darstellen, besteht.
Und zweitens: Über jeden möglichen Zweifel hinaus nachzuweisen, daß derartige Kriege von diesen Angeklagten geführt worden sind.
Was den ersten Teil meiner Aufgabe betrifft, so würde es zweifellos genügen, folgendes zu sagen: Es ist nicht Sache der Anklage, zu beweisen, daß Angriffskriege und Kriege unter Verletzung internationaler Verträge internationale Verbrechen darstellen oder darstellen sollten. Das Statut dieses Gerichtshofs hat bestimmt, daß sie Verbrechen sind, und daß dieses Statut das Statut und Gesetz dieses Gerichtshofs ist. Und trotzdem, obgleich dies das klare und zwingende Recht ist, das die Jurisdiktion dieses Gerichtshofs lenkt, fühlen wir doch, daß wir unsere Aufgabe im dauernden Interesse der internationalen Gerechtigkeit und Moral nicht voll erfüllen werden, es sei denn, daß wir dem Gerichtshof, ja, der Welt, nachweisen, welche Stellung diese Vorschrift des Statuts im Lichte des gesamten Völkerrechts einnimmt. Denn ebenso, wie in der Erfahrung unseres Landes einige alte englische Statutenrechte nur deklaratorischen Charakter in Bezug auf das gemeine Recht hatten, so erklärt und schafft dieses Statut lediglich eine Gerichtsbarkeit im Hinblick auf das, was bereits Völkerrecht war.
Auch ist es nicht unwichtig, diesen Gesichtspunkt für den Fall zu betonen, daß es jetzt oder später Leute geben sollte, die durch plausible Schlagworte oder durch ein unwissendes und verzerrtes Gerechtigkeitsgefühl gegenüber diesen Angeklagten ihr Urteil trüben lassen könnten. Es ist nicht schwierig, sich durch Phrasen irreführen zu lassen, wie etwa: Früher sei das Kriegführen nicht als Verbrechen angesehen worden, die Vollmacht, Krieg zu führen, gehöre zu den Vorrechten souveräner Staaten, ja sogar, daß dieses Statut, indem es Angriffskriege zu Verbrechen stempelte, einer der anstößigsten nationalsozialistischen Rechtslehren gefolgt ist, nämlich der ex post facto-Gesetzgebung, daß das Statut in dieser Hinsicht an »Bills of Attainder« (rückwirkende Ausnahme-Ächtungsgesetze) erinnert, schließlich, daß diese Verhandlungen nichts anderes als eine Rachemaßnahme darstellen, die der Sieger dem Besiegten aufzwingt, indem er sie unter dem Deckmantel des Gerichtsverfahrens geschickt verbirgt. Diese Dinge mögen glaubwürdig erscheinen, doch sind sie nicht wahr. Es ist durchaus nicht notwendig, zu zweifeln, daß in einigen Hinsichten das Statut den Stempel bedeutungsvoller und heilsamer Neuartigkeit trägt. Aber wir sind der Ansicht und der Überzeugung, die wir hier vor diesem Gerichtshof und vor der Welt bekräftigen, daß die Bestimmung des Statuts, die Kriege, solche Kriege, wie sie diese Angeklagten gemeinsam geführt und geplant haben, zum Verbrechen macht, im Grunde keine Neuerung darstellt. Diese Bestimmung des Statuts schafft nur eine zuständige Gerichtsbarkeit zur Bestrafung von Dingen, die nicht nur das aufgeklärte Gewissen der Menschheit, sondern das Völkerrecht selbst bereits zu internationalen Verbrechen gemacht hatte, bevor dieser Gerichtshof eingesetzt, und bevor dieses Statut zu einem Bestandteil des öffentlichen Rechtes der Welt geworden war.
Deshalb sei zunächst festgestellt: Es mag stimmen, daß es keine Sammlung internationaler Vorschriften gibt, die im Sinne von Austin Gesetzen gleichkommen, nämlich Vorschriften, die von einem Herrscher dem Untertan auferlegt werden, derart, daß dieser sie unter bestimmter Strafandrohung befolgen muß; jedoch haben seit 50 Jahren oder länger die Völker dieser Welt versucht, ein wirksames, auf der Zustimmung der Nationen aufgebautes Regelsystem aufzustellen, um die internationalen Beziehungen zu stabilisieren, um den Krieg überhaupt zu verhindern, und um die Folgen der Kriege, die stattgefunden haben, zu mildern. Darin haben die Völker der Welt vielleicht nach dem Ideal gestrebt, von dem der Dichter spricht:
»Wenn die Kriegestrommeln schweigen,
Kampfesfahnen nicht mehr weh'n;
ist im Parlament der Menschheit
dann die ganze Welt im Bund.«
Der erste derartige Vertrag war natürlich die Haager Konvention vom Jahre 1899 für die friedliche Schlichtung internationaler Streitigkeiten. Diese Konvention stellte allerdings nicht viel mehr als ein Ersuchen dar, und in Bezug auf diesen Prozeß legen wir ihm kein großes Gewicht bei; immerhin wurde darin zwischen den Signatarmächten eine Einigung erzielt, daß sie sich, für den Fall, daß zwischen ihnen ernste Streitigkeiten entstehen sollten, soweit wie möglich einem Vermittlungsverfahren unterwerfen würden. Jener Konvention folgte im Jahre 1907 eine weitere Konvention, in der das, was vorher vereinbart worden war, von neuem erklärt und etwas bestärkt wurde. Diese ersten Konventionen waren weit davon entfernt, den Krieg zu ächten oder die Anrufung eines Schiedsgerichts zur bindenden Verpflichtung zu machen. Ich werde den Gerichtshof bestimmt nicht bitten, zu erklären, daß durch die Außerachtlassung jener Konventionen ein Verbrechen begangen wurde.
Mindestens haben sie aber festgelegt, daß die vertragschließenden Parteien den allgemeinen Grundsatz annahmen, daß, soweit irgend möglich, zum Kriege nur geschritten werden sollte, wenn Vermittlungsversuche erfolglos bleiben.
Obgleich diese Konventionen in der Anklageschrift erwähnt werden, stütze ich mich nicht auf sie; sie sollen nur dazu dienen, die geschichtliche Entwicklung des Rechtes zu zeigen. Es ist daher überflüssig, über ihre Wirkung zu reden; denn die Stelle, die sie einst innehatten, ist durch viel wirksamere Abmachungen eingenommen worden. Ich erwähne sie überhaupt nur, weil sie die ersten Schritte auf dem Wege zu den Rechtsbestimmungen darstellten, die wir hier anzuwenden versuchen.
Es gab natürlich auch andere besondere Abmachungen zwischen einzelnen Staaten, Abmachungen, die die Neutralität bestimmter Länder aufrecht zu erhalten suchten, z.B. die Neutralität Belgiens. Da aber jeder wirkliche Wille fehlte, diese Vereinbarung einzuhalten, reichten sie nicht aus, um den ersten Weltkrieg im Jahre 1914 zu verhüten.
Tieferschüttert durch diese Katastrophe kamen die Nationen Europas, Deutschland nicht ausgeschlossen, und anderer Teile der Welt zu dem Schluß, daß im gleichen Interesse aller eine dauernde Organisation der Völker zur Aufrechterhaltung des Friedens errichtet werden sollte. Und so wurde die Völkerbundssatzung dem Vertrag von Versailles vorangestellt.
Nun will ich in diesem Augenblick über den allgemeinen Wert der verschiedenen Bestimmungen des Versailler Vertrags nichts sagen. Man hat sie kritisiert, zum Teil vielleicht mit Recht, und jedenfalls wurden sie in Deutschland in hohem Maße zu kriegerischer Propaganda verwendet. Es ist jedoch unnötig, das Für und Wider dieser Angelegenheit zu erörtern. Denn wie sehr man auch für diesen Zweck die Bestimmungen des Versailler Vertrags für ungerecht hält, auf keinen Fall konnten sie zum Zweck ihrer Abänderung einen Krieg rechtfertigen. Nicht allein, daß der Vertrag alle diejenigen schwierigen Gebietsfragen durch Vereinbarung regelte, die durch den Krieg selbst offengelassen worden waren, er begründete auch den Völkerbund, der, wenn er loyal unterstützt worden wäre, imstande gewesen wäre, alle jene internationalen Streitigkeiten zu lösen, die andernfalls zum Krieg hätten führen können und schließlich auch tatsächlich geführt haben. Mit dem Völkerbundsrat, mit der Versammlung und mit dem Ständigen Internationalen Gerichtshof hat der Vertrag einen Apparat ins Leben gerufen, der nicht nur der friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten, sondern auch der offenen Erörterung aller internationalen Fragen durch ehrliche und freie Aussprache diente. Zu jener Zeit, in den Jahren nach dem letzten Kriege, hatte die Welt große Hoffnungen. Millionen von Männern in allen Ländern, vielleicht sogar in Deutschland, hatten für einen Krieg ihr Leben hingegeben, der, wie sie hofften und glaubten, allen Kriegen ein Ende machen sollte. Deutschland selbst trat dem Völkerbund bei und erhielt einen ständigen Sitz im Rat; sowohl im Rat als auch in der Völkerbundsversammlung haben die Deutschen Regierungen, die der Regierung des Angeklagten von Papen im Jahre 1932 vorangingen, voll mitgewirkt. In den Jahren von 1919 bis zu der erwähnten Zeit im Jahre 1932 dauerte trotz einiger verhältnismäßig kleiner Zwischenfälle in der erregten Atmosphäre, die auf das Ende des Krieges folgte, die friedliche Tätigkeit des Völkerbundes an. Aber es war nicht allein das Wirken des Völkerbunds, das zu der Hoffnung Anlaß, berechtigten Anlaß, gab, daß nun endlich die Herrschaft des Rechtes die Herrschaft der Anarchie auf internationalem Gebiet ersetzen würde.
Die Staatsmänner der Welt gingen planmäßig daran, Angriffskriege zu einem internationalen Verbrechen zu machen. Es sind nicht etwa neue Ausdrücke, die zur Aufnahme in dieses Statut von den Siegern erfunden wurden. Man findet dieselben Ausdrücke, und zwar an hervorragender Stelle, in zahlreichen Staatsverträgen, in Regierungserklärungen und in Erklärungen von Staatsmännern aus dem Zeitraum, der dem zweiten Weltkrieg voranging. In Verträgen, die zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und anderen Staaten abgeschlossen wurden, so z.B. mit Persien im Jahre 1927, mit Frankreich im Jahre 1935, mit China im Jahre 1937, haben sich die vertragschließenden Parteien verpflichtet, sich jeder Art von Angriffshandlung gegen die andere Partei zu enthalten. Im Jahre 1933 schloß die Sowjetregierung eine große Anzahl von Verträgen ab, in denen der Begriff Angriff genau definiert wurde; und im selben Jahr erschien dieselbe Begriffsbestimmung in dem amtlichen Bericht des in Verbindung mit der Abrüstungskonferenz errichteten Ausschusses für Sicherheitsfragen. Aber zu dieser Zeit gingen die Staaten schon über die Verpflichtungen hinaus, sich des Angriffskriegs zu enthalten und solchen Staaten beizustehen, die Angriffshandlungen zum Opfer fielen. In unmißverständlichen Worten verurteilten sie den Angriff überhaupt. Am 10. Oktober 1933 wurde ein gegen den Krieg gerichteter Nichtangriffs- und Schlichtungsvertrag zunächst von einer Anzahl amerikanischer Staaten unterzeichnet, dem später nahezu alle Staaten des amerikanischen Kontinents und eine Anzahl europäischer Länder beitraten. Darin erklärten die vertragschließenden Parteien feierlich, daß »sie in ihren gegenseitigen Beziehungen oder in den Beziehungen anderer Staaten zueinander Angriffskriege verurteilten«. Der Vertrag wurde vollständig in die Konvention von Buenos Aires vom Dezember 1936 übernommen; diese ist von einer großen Anzahl amerikanischer Staaten, einschließlich natürlich der Vereinigten Staaten, unterschrieben und ratifiziert worden. Vorher, im Jahre 1928, hatte die 6. Panamerikanische Konferenz einen Beschluß angenommen, in dem es hieß: »Angriffskriege stellen Verbrechen gegen die Menschheit dar... jeder Angriff ist widerrechtlich und wird deshalb für verboten erklärt.« Ein Jahr früher, nämlich schon im September 1927, hatte die Völkerbundsversammlung einen Beschluß angenommen, in dem die Überzeugung ausgesprochen wurde: »Ein Angriffskrieg kann niemals zur Regelung internationaler Streitigkeiten dienen und stellt infolgedessen ein internationales Verbrechen dar.« Und in demselben Beschluß hieß es weiter: »Alle Angriffskriege sind verboten und werden immer verboten bleiben.«
Im ersten Artikel des Vertragsentwurfs zur gegenseitigen Hilfeleistung von 1923 heißt es: »Die Hohen vertragschließenden Parteien erklären, daß der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen darstellt, und verpflichten sich feierlich, sich niemals dieses Verbrechens gegen eine andere Nation schuldig zu machen.« In der Präambel zum Genfer Protokoll von 1924 hieß es: »Der Angriffskrieg stellt einen Bruch der Solidarität und ein internationales Verbrechen dar.« Diese zuletzt genannten Abkommen sind zwar aus verschiedenen Gründen tatsächlich nicht ratifiziert worden, sie sind aber nicht ohne Wert und Bedeutung.
Diese wiederholten Erklärungen, diese wiederholten Verurteilungen der Angriffskriege bezeugen, daß die Stellung des Krieges im Völkerrecht durch die Errichtung des Völkerbunds und die darauf folgenden rechtlichen Entwicklungen eine tiefe Wandlung erfahren hatte. Der Krieg hörte auf, das unbegrenzte Vorrecht souveräner Staaten zu sein. Die Völkerbundssatzung hat das Recht der Kriegführung nicht völlig abgeschafft. Sie ließ wohl gewisse Lücken, die in der Theorie vielleicht größer waren als in der Praxis. Tatsächlich aber hat sie das Recht zum Krieg mit verfahrensmäßigen und materiellen Hindernissen und Aufschüben umgeben, die, wäre die Satzung loyal eingehalten worden, einer Beseitigung des Krieges gleichgekommen wären, und zwar mit Geltung nicht nur zwischen Völkerbundsmitgliedern, sondern auf Grund gewisser Bestimmungen der Satzung auch in den Beziehungen der Nichtmitglieder. Und so hat die Völkerbundssatzung die Rechtslage wieder hergestellt, wie sie in der frühen Zeit des Völkerrechts bestand, zu der Zeit, als Grotius die Grundlagen des modernen Völkerrechts schuf und den Unterschied zwischen einem gerechten Krieg und einem ungerechten Krieg festlegte, einen Unterschied, der z.B. auf dem Gebiet der Neutralität tiefgreifende Rechtsfolgen hatte.
Die Entwicklung blieb auch nicht bei der Annahme der Völkerbundssatzung stehen. Das Recht zum Kriege wurde weiter durch Reihen von Verträgen eingeschränkt, die sich, es ist eine erstaunliche, aber richtige Zahl, auf fast eintausend Schieds- und Vermittlungsverträge beliefen und praktisch alle Völker der Welt umfaßten. Die sogenannte Optionalklausel in Artikel 36 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, die Klausel, die dem Gerichtshof in Bezug auf die umfassendsten Kategorien von Streitfällen obligatorische Gerichtsbarkeit verlieh, und die in der Nachkriegszeit bei weitem der bedeutendste obligatorische Schiedsvertrag war, wurde in weitem Umfang unterzeichnet und ratifiziert. Deutschland selbst hat sie im Jahre 1927 unterzeichnet, und die Nazi-Regierung erneuerte diese Unterschrift im Juli 1933, und zwar für einen Zeitraum von fünf Jahren. Bezeichnenderweise wurde diese Ratifikation nach Ablauf ihrer fünfjährigen Gültigkeit im März 1938 von Deutschland nicht erneuert. Seit 1928 hat eine beträchtliche Anzahl von Staaten die Generalakte zur friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten unterschrieben und ratifiziert, die bestimmt waren, die von der Optionalklausel und den bestehenden Schieds- und Vermittlungsverträgen gelassenen Lücken auszufüllen.
Dieses ganze Riesennetz von Verträgen zur friedlichen Regelung von Streitfällen bezeugt die wachsende Erkenntnis in der ganzen zivilisierten Welt, daß der Krieg aufhörte, das normale oder erlaubte Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten zu sein. Die ausdrückliche Verurteilung der Angriffskriege, die ich schon erwähnt habe, legt das gleiche Zeugnis ab. Es gab aber selbstverständlich noch unmittelbarere Beweise, die uns in dieselbe Richtung führen. Der Vertrag von Locarno vom 16. Oktober 1925, auf den ich bald zurückkommen werde, bei dem Deutschland der eine Vertragsteil war, stellte mehr als einen Schieds- und Vermittlungsvertrag dar, durch den die Parteien bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf die friedliche Erledigung etwaiger zwischen ihnen entstehender Streitigkeiten übernahmen. Unbeschadet einiger klar bezeichneter Ausnahmen in Bezug auf die Selbstverteidigung in bestimmten Fällen, stellte der Locarno- Vertrag eine allgemeinere Verpflichtung dar, derart, daß die vertragschließenden Parteien übereinkamen, sie würden »in keinem Fall zu einem Angriff, zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander schreiten«. Das bedeutete einen allgemeinen Verzicht auf den Krieg und wurde auch von internationalen Juristen und der öffentlichen Meinung der Welt so betrachtet. Der Vertrag von Locarno war nicht nur einer von vielen Schiedsverträgen, die zu jener Zeit abgeschlossen wurden. Er wurde als eine Art Grundstein für die Regelung in Europa und für die neue Rechtsordnung Europas angesehen, zum Teil als gerechter und sogar großmütiger Ersatz für die Härten des Versailler Vertrags, Mit dem Locarno-Vertrag trat der Ausdruck »Ächtung des Krieges« aus dem Bereich bloßer pazifistischer Propaganda. Er wurde in völkerrechtlichen Veröffentlichungen und in amtlichen Regierungserklärungen zum ständigen Begriff. Nach dem Locarno-Vertrag konnte niemand mehr sagen oder sich der gleisnerischen Behauptung anschließen, daß der Krieg am wenigsten zwischen den Signataren jenes Vertrags das uneingeschränkte Recht souveräner Staaten geblieben sei.
Wenn sich auch die Wirkung des Locarno-Vertrags auf die vertragschließenden Parteien beschränkte, so hatte er doch einen weiter reichenden Einfluß, indem er den Weg ebnete für jenes grundlegende, wahrhaft revolutionäre Statut des modernen Völkerrechts, den allgemeinen Vertrag zum Verzicht auf den Krieg vom 27. August 1928, den Pakt von Paris, den Kellogg- Briand-Vertrag. Dieser Vertrag, der einen wohlüberlegten und sorgfältig vorbereiteten Akt der internationalen Gesetzgebung darstellte, war im Jahre 1939 für mehr als 60 Nationen mit Einschluß von Deutschland verbindlich. Er war und blieb das von den meisten Nationen unterzeichnete und ratifizierte internationale Abkommen. Er enthielt keine Bestimmung zu seiner Beendigung, und, wie ich bereits gesagt habe, war er als der Grundstein jeder dieses Namens würdigen künftigen internationalen Ordnung gedacht. Ohne jede Einschränkung bildet dieses Abkommen heute einen Teil des Völkerrechts; es ist auch durch das Statut der Vereinten Nationen in keiner Weise abgeändert oder ersetzt worden. In dieser feierlichen Stunde der Weltgeschichte, in der die verantwortlichen Führer eines Staates angeklagt sind, mit Vorbedacht diesen großen Vertrag gebrochen zu haben, den Vertrag, der eine Quelle der Hoffnung und des Glaubens für die Menschheit bleibt, in dieser Stunde ist es angezeigt, die zwei Hauptartikel des Vertrags und seine Präambel im einzelnen wiederzugeben. Ich will sie jetzt dem Gerichtshof vorlesen, zunächst die Präambel, die wie folgt beginnt:
»Der Deutsche Reichspräsident und die anderen Staaten...«
VORSITZENDER: Werden wir dies unter den Urkunden finden?
SIR HARTLEY SHAWCROSS: Es wird vorgelegt werden. Ich glaube, Sie haben es noch nicht im Augenblick.
»Der Deutsche Reichspräsident...
tief durchdrungen von ihrer erhabenen Pflicht, die Wohlfahrt der Menschheit zu fördern, in der Überzeugung, daß die Zeit gekommen ist, einen offenen Verzicht auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik auszusprechen, um die jetzt zwischen ihren Völkern bestehenden friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen dauernd aufrecht zu erhalten,
in der Überzeugung, daß jede Veränderung in ihren gegenseitigen Beziehungen nur durch friedliche Mittel angestrebt und nur das Ergebnis eines friedlichen und geordneten Verfahrens sein sollte, und daß jede Signatarmacht, die in Zukunft danach strebt, ihre nationalen Interessen dadurch zu fördern, daß sie zum Kriege schreitet, dadurch der Vorteile, die dieser Vertrag gewährt, verlustig erklärt werden solle,
in der Hoffnung, daß, durch ihr Beispiel ermutigt, alle anderen Nationen der Welt sich diesem im Interesse der Menschheit gelegenen Bestreben anschließen werden, und durch ihren Beitritt zu diesem Vertrage, sobald er in Kraft tritt, ihre Völker an seinen segensreichen Bestimmungen teilnehmen lassen werden, daß sich so die zivilisierten Nationen der Welt in dem gemeinsamen Verzicht auf den Krieg als Werkzeug ihrer nationa len Politik zusammenfinden werden,...«
Dann Artikel I:
»Die Hohen vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.«
Dann Artikel II:
»Die Hohen vertragschließenden Parteien vereinbaren, daß die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte, die zwischen ihnen entstehen könnten, welcher Art oder welchen Ursprungs sie auch sein mögen, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden soll.«
Mit diesem Abkommen, diesem allgemeinen Abkommen zum Verzicht auf den Krieg, hat nahezu die ganze zivilisierte Welt den Krieg als rechtlich zugelassenes Mittel zur Erzwingung oder zur Abänderung eines Rechtes abgeschafft. Das Recht zur Kriegführung gehörte nicht mehr zum Wesen der Souveränität. Wie auch die Lage zur Zeit der Haager Konvention im Jahre 1914 oder im Jahre 1918 gewesen sein mag, es ist nicht notwendig, das hier zu besprechen. Kein internationaler Jurist von Ansehen, kein verantwortlicher Staatsmann, kein Soldat, der sich mit der rechtmäßigen Verwendung bewaffneter Kräfte, kein Wirtschaftler oder Industrieller, der sich mit der Kriegswirtschaft seines Landes befaßt, konnte daran zweifeln, daß, nachdem der Pakt von Paris einmal rechtens geworden war, ein Angriffskrieg gegen das Völkerrecht verstieß. Auch haben die wiederholten Verletzungen des Paktes durch die Achsenmächte in keiner Weise seine Gültigkeit beeinträchtigt. Es muß klar und deutlich erklärt werden: Außer vielleicht in den Augen zynischer und übelwollender Menschen haben gerade diese Verletzungen den Vertrag nur verstärkt; sie riefen den anhaltenden Zorn der Völker hervor, die durch die Mißachtung dieses großen Gesetzes entrüstet und entschlossen wurden, seinen Bestimmungen Geltung zu verschaffen. Der Pakt von Paris ist das Gesetz der Nationen. Dieser Gerichtshof wird es erklären. Die Welt muß ihm Geltung verschaffen.
Folgendes muß hinzugefügt werden: Der Pakt von Paris war kein ungeschicktes Instrument, das etwa dem Schuldigen als eine Art Wegweiser dienen konnte. Er hat nicht etwa Deutschland ermöglicht, Polen anzugreifen und sich trotzdem Großbritannien und Frankreich gegenüber auf Grund der Bestimmungen des Paktes auf eine Straflosigkeit hinsichtlich Kriegsaktionen zu berufen. Denn der Pakt hat in seiner Präambel ausdrücklich festgelegt, daß kein Staat, der sich einer Verletzung seiner Bestimmungen schuldig gemacht hat, sich zu seinem Vorteil auf diese Bestimmungen stützen könne. Und als beim Ausbruch des zweiten Weltkriegs Großbritannien und Frankreich dem Völkerbund mitteilten, daß der Kriegszustand zwischen ihnen und Deutschland vom 3. September 1939 ab bestehe, erklärten sie gleichzeitig, daß Deutschland durch seine Angriffshandlung gegen Polen seine Verpflichtungen nicht nur Polen gegenüber, sondern auch gegenüber den anderen Signataren des Paktes verletzt habe. Eine Verletzung des Paktes gegenüber einer Signatarmacht war zugleich ein Angriff auf alle anderen Signatarmächte, und diese waren berechtigt, sie als solche zu behandeln. Ich hebe diesen Punkt besonders für den Fall hervor, daß einer dieser Angeklagten sich auf den Buchstaben der in Punkt 2 der Anklageschrift angeführten Einzelheiten beziehen und versuchen sollte, die These aufzustellen, daß es nicht Deutschland war, das am 3. September 1939 den Krieg gegen das Vereinigte Königreich und Frankreich begonnen hat. Die Kriegserklärung kam vom Vereinigten Königreich und von Frankreich; die Kriegshandlung und der Kriegsanfang kam von Deutschland, und zwar in Verletzung der grundlegenden Abmachung, der es selbst angehörte.
Der allgemeine Vertrag für den Verzicht auf den Krieg, dieses große Verfassungsinstrument einer internationalen Gesellschaft, die der todbringenden Gefahren eines neuen Armageddon gewahr geworden war, ist nicht etwa ein vereinzelter Versuch geblieben, der in der Verwirrung wiederkehrender internationaler Krisen bald vergessen werden sollte. Er wurde zusammen mit der Völkerbundssatzung, und auch unabhängig von ihr, zum Ausgangspunkt einer Neuorientierung der Regierungen in Bezug auf Frieden, Krieg und Neutralität. Ich glaube, daß es von Bedeutung ist, einige Regierungserklärungen zu zitieren, die zu jener Zeit mit Bezug auf die Wirkung des Paktes gemacht wurden. Im Jahre 1929 gab die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich, im Zusammenhang mit der Frage der Verleihung der Gerichtsbarkeit, betreffend die Ausübung der Rechte der Kriegführenden gegenüber neutralen Staaten an den Ständigen Internationalen Gerichtshof eine Erklärung ab, die den grundlegenden Umschwung im Völkerrecht, der als Ergebnis des Paktes von Paris anerkannt wurde, veranschaulicht. In der Erklärung heißt es:
»Aber die ganze Lage... beruht auf der Annahme, und das Völkerrecht ist in dieser Beziehung vollständig aufgebaut, daß die Anwendung des Krieges als Werkzeug nationaler Politik nichts Widerrechtliches bedeute; und ferner, als notwendige Begleiterscheinung, daß die Stellung und die Rechte der Neutralen von den Umständen jedes etwa in Gang befindlichen Krieges völlig unabhängig sind. Vor der Annahme der Völkerbundssatzung bildete der Satz, daß die Rechte und Verpflichtungen Neutraler gegenüber beiden kriegführenden Parteien die gleichen seien, die Grundlage des Neutralitätsrechts. Demnach waren die Rechte und Verpflichtungen Neutraler völlig unabhängig vom Recht oder Unrecht des Streitfalls, der zu dem Krieg geführt hatte, oder von der Stellung des einen oder anderen der Kriegführenden vor der öffentlichen Meinung der Welt.«
Dann setzt die Regierungserklärung fort:
»Gerade diese Annahme gilt nicht mehr in Bezug auf Staaten, die Mitglieder des Völkerbundes und Teilnehmer am Friedenspakt sind. Die Wirkung dieser beiden Abkommen, zusammengenommen, besteht darin, den Nationen das Recht zu nehmen, den Krieg als Werkzeug nationaler Politik zu verwenden und den Staaten, die sie unterzeichnet haben, zu verbieten, einem vertragsverletzenden Staate Hilfe oder Beistand zu leisten.«
Das wurde 1929 gesagt, als keine Kriegswolken sichtbar waren.
»Zwischen diesen Staaten ist infolgedessen ein grundlegender Wandel in der ganzen Frage der Rechte der Kriegführenden und der Neutralen eingetreten. Die ganze Politik der jetzigen Regierung Seiner Majestät, und vermutlich auch jeder nachfolgenden Regierung, beruht auf dem Entschluß, ihren Verpflichtungen nach der Völkerbundssatzung und dem Friedenspakt nachzukommen. Da dem so ist, müssen wir für den Fall eines Krieges, an dem wir beteiligt wären, eine Lage ins Auge fassen, bei der die Rechte und Pflichten von Kriegführenden und Neutralen nicht von den alten Kriegs- und Neutralitätsregeln abhängen, sondern bei der die Stellung der Völkerbundsmitglieder durch die Völkerbundssatzung und durch den Pakt bestimmt wird.«
Der Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten von Amerika hat in seiner Eröffnungsrede vor diesem Gerichtshof auf die wichtige Erklärung des Kriegsministers Stimson hingewiesen, in der dieser im Jahre 1932 den drastischen Wandel zum Ausdruck brachte, den der Pakt von Paris im Völkerrecht hervorgerufen hat. Es ist vielleicht richtig, die erhebliche Stelle hier vollständig zu zitieren:
»Die Signatare des Briand-Kellogg-Paktes haben auf den Krieg zwischen den Nationen verzichtet. Das bedeutet, daß der Krieg praktisch auf der ganzen Erde rechtswidrig geworden ist. Er wird nicht länger die Quelle und den Gegenstand von Rechten bilden; er wird auch nicht länger das Prinzip bilden, um das die Pflichten, das Verhalten und die Rechte der Nationen kreisen. Er ist etwas Rechtswidriges. Wenn sich von nun an zwei Nationen in bewaffnetem Streit befinden, so muß eine oder müssen beide Übeltäter sein. Sie haben dieses allgemeine Vertragsrecht verletzt. Nicht länger werden wir einen Kreis um sie herumziehen und sie nach den vom Duellkodex vorgeschriebenen Formen behandeln. Statt dessen werden wir sie als Rechtsbrecher anklagen.«
Und beinahe zehn Jahre später, als zahlreiche unabhängige Staaten, von der Wucht der Kriegsmaschine des Nazi-Staates zerschmettert oder in ihrer Existenz bedroht darniederlagen, hat der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten, später ein hervorragendes Mitglied des Höchsten Gerichtshofs jenes großen Landes, in einer Rede, für die ihm die freiheitsliebenden Völker der Welt immer dankbar sein werden, hervorragend zum Ausdruck gebracht, wie sich als Ergebnis des Paktes von Paris ein Wandel im Recht vollzogen hatte. Ich erwähne diese Rede jetzt nicht nur als die eines Staatsmannes, obgleich sie das sicher war, sondern als die wohlüberlegte Meinung eines angesehenen Juristen. Am 27. März 1941 sagte er folgendes:
»Der Kellogg-Briand-Pakt von 1928, durch den Deutschland, Italien und Japan sich sowohl uns als auch anderen Nationen gegenüber verpflichteten, auf den Krieg als Werkzeug der Politik zu verzichten, machte die Ächtung des Krieges endgültig und änderte notwendigerweise den von ihm abhängigen Begriff der neutralen Verpflichtungen.
Das Abkommen über den Verzicht auf den Krieg sowie der Argentinische Vertrag gegen den Krieg beraubten ihre Signatare des Rechtes, sich des Krieges als Werkzeug nationaler Politik oder des Angriffs zu bedienen, und machten alle Kriege, die in Verletzung dieser Bestimmungen etwa unternommen werden sollten, zu rechtswidrigen Handlungen. Infolgedessen haben jene Verträge die geschichtlichen und juristischen Grundlagen derjenigen Neutralitätslehre zerstört, die den Neutralen vollkommene Unparteilichkeit in Bezug auf Angriffskriege vorschreibt....«
Daraus folgt, daß der Staat, der in Verletzung seiner Verpflichtungen Krieg führt, kein Recht auf Gleichheit der Behandlung durch andere Staaten erwirbt, es sei denn, daß Vertragsverpflichtungen ein anderes Verhalten erfordern. Der Staat kann aus seiner rechtswidrigen Handlung keine Rechte herleiten.
»In flagranten Fällen von Angriffen, bei denen die Tatsachen so unzweideutig sprechen, daß die Weltmeinung sie sozusagen als erwiesen ansieht, dürfen wir nicht das Völkerrecht kaltstellen und zulassen, daß diese großen Verträge zu toten Buchstaben werden. Die intelligente öffentliche Meinung der Welt, die nicht fürchtet ihre Stimme zu erheben, sowie das Vorgehen der amerikanischen Staaten, haben entschieden, daß die Achsenmächte in den heutigen Kriegen die Angreifer sind, und damit ist bei der gegenwärtigen Lage der internationalen Organisationen eine angemessene Grundlage für unsere Politik geschaffen.«
Es kann daher kein Zweifel darüber bestehen, daß zu der Zeit, als der nationalsozialistische deutsche Staat die Vorbereitungen zu dem Angriffskrieg gegen die zivilisierte Welt begonnen und zu der Zeit, als er diesen Plan ausgeführt hatte, der Angriffskrieg auf Grund des Paktes von Paris und der anderen von mir erwähnten Verträge und Erklärungen, mit absoluter Gewißheit und ohne jeden Zweifel zu einer rechtswidrigen Handlung, ja zu einem Verbrechen geworden war. Und auf dieser Annahme, insbesondere auf jenem Universalvertrag, dem Briand-Kellogg-Pakt, beruht in der Hauptsache Punkt 2 dieser Anklageschrift.
Die Anklagevertretung hat es für notwendig, ja geradezu für zwingend erachtet, über jeden Zweifel hinaus, wie ich befürchte in übertrieben erscheinender Ausführlichkeit festzustellen, daß nur oberflächliche Kenntnisse oder schuldhafte Sentimentalität zu der Behauptung führen können, der Entschluß der Urheber des Statuts, den Angriffskrieg als eine Tat zu behandeln, die das Völkerrecht verboten und als verbrecherisch gekennzeichnet hat, sei in irgendwie bedeutsamer Weise einem Gesetz mit rückwirkender Kraft gleichzusetzen. Wir haben die zunehmende Begrenzung des Rechts zur Kriegführung, den Verzicht auf Angriffskriege und deren Verurteilung; sowie vor allem das vollkommene Verbot und die Verurteilung aller als Werkzeug nationaler Politik gedachten Kriege aufgezeigt. Welcher Staatsmann oder Politiker in führender Stellung konnte vom Jahre 1928 an daran zweifeln, daß Angriffskriege oder überhaupt alle Kriege mit Ausnahme der zur Selbstverteidigung oder zur kollektiven Durchführung des Rechts geführten Kriege, oder der Kriege gegen einen Staat, der selbst den Pakt von Paris verletzt hatte, als widerrechtlich und geächtet anzusehen seien? Welcher Staatsmann oder Politiker, der einen derartigen Krieg entfesselte, konnte vernünftiger und berechtigter Weise auf eine andere Straflosigkeit rechnen, als die durch Erfolg des verbrecherischen Unternehmens? Könnte irgendein Jurist klarere Beweise für ein vom positiven Völkerrecht vorgeschriebenes Verbot fordern als die, die diesem Gerichtshof vorgelegt worden sind?
Es gibt allerdings einige Kleinstadtadvokaten, die das Bestehen eines Völkerrechts überhaupt verneinen; und wie ich bereits gesagt habe, es ist möglich, daß die Bestimmungen des Völkerrechts die Austinsche Probe nicht bestehen, weil sie nicht von einem Herrscher erlassen sind.
Aber die rechtmäßigen Beziehungen, oder vielmehr die rechtmäßige Regelung der internationalen Beziehungen beruht auf ganz anderen rechtlichen Grundlagen. Sie beruht auf Zustimmung, aber auf einer Zustimmung, die durch einseitige Handlung nicht zurückgezogen werden kann, wenn sie einmal gewährt worden ist. Auf dem internationalen Rechtsgebiet ist die Rechtsquelle nicht der Befehl eines Herrschers, sondern das vertragliche Abkommen, das jeden Staat bindet, der ihm beigetreten ist. Des weiteren ist es wahr, und die Anerkennung dieser Wahrheit durch alle Großmächte der Welt ist heute für unseren künftigen Frieden lebenswichtig, es ist wahr, wie Herr Litwinoff einmal sagte und wie Großbritannien ohne weiteres akzeptiert, daß »absolute Souveränität und vollkommene Handlungsfreiheit nur solchen Staaten, die keine internationalen Verpflichtungen übernommen haben, zukommen. Sobald ein Staat internationale Verpflichtungen übernimmt, schränkt er seine Souveränität ein.«
Auf diesem Wege, und nur auf diesem Wege, liegt der künftige Frieden der Welt.
Es könnte jedoch vorgebracht werden, daß der Krieg zwar geächtet und verboten, aber nicht als Verbrechen geächtet und verboten war. Man könnte vielleicht sagen, das Völkerrecht halte Staaten nicht für verbrecherisch, noch weniger Einzelpersonen. Aber kann denn wirklich zugunsten dieser Angeklagten gesagt werden, daß diese rechtswidrigen Angriffskriege, die Millionen von Menschen das Leben kosteten, die durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Folterung und die Ausrottung zahlloser Tausende von unschuldigen Zivilpersonen herbeiführten, die viele Städte in Trümmer legten und die Annehmlichkeiten des Lebens, ja die primitivsten Erfordernisse der Zivilisation in vielen Ländern zerstörten, die die Welt an den Rand des Verderbens brachten, so daß sie sich erst nach Generationen wird erholen können, dürfen diese Angeklagten wirklich behaupten, daß ein derartiger Krieg nur einer Gesetzesübertretung gleichkommt, nur eine Widerrechtlichkeit bedeute, die vielleicht durch Schadensersatz geahndet werden kann, daß sie aber kein vom Gericht abzuurteilendes Verbrechen darstellt? Kein Recht, das des Namens würdig ist, kann es zulassen, daß es auf diese Weise zu einer Absurdität herabgesetzt wird, und auf keinen Fall würden die für dieses Statut verantwortlichen Großmächte Derartiges zugeben. Sie ziehen die zwingenden Konsequenzen aus dem Verzicht auf den Krieg, aus dem Verbot und der Verurteilung des Krieges, die Bestandteile des Völkerrechts geworden waren, und sie lehnten es ab, die Gerechtigkeit zur Machtlosigkeit zu verurteilen, indem sie den überlebten Lehren beipflichten, die dahin gehen, daß kein souveräner Staat und keine im Namen eines souveränen Staates handelnde Einzelperson ein Verbrechen begehen könne. Sie lehnten es ab, sich zum Narren halten zu lassen, und ihre Ablehnung und ihr Entschluß waren für das Recht dieses Gerichtshofs maßgebend.
Wenn dies eine Neuerung darstellt, so handelt es sich um eine längst überfällige Neuerung, eine wünschenswerte und segensreiche Neuerung, die mit der Gerechtigkeit, mit dem gesunden Menschenverstand und mit den ewigen Zielen des Völkerrechts voll übereinstimmt. Aber ist es denn wirklich eine Neuerung, oder ist es nicht vielmehr nichts weiter als eine folgerichtige Entwicklung des Rechtes? Es gab allerdings eine Zeit, in der internationale Juristen behaupteten, daß sich infolge der Souveränitätslehre die Verantwortlichkeit eines Staates auf eine vertragliche Haftbarkeit beschränke. Internationale Gerichte haben sich dieser Ansicht nicht angeschlossen. Sie haben wiederholt bestätigt, daß ein Staat ein Unrecht begehen kann; daß er sich eines Vergehens, der Schädigung, und der Nachlässigkeit schuldig machen kann. Sie sind auch noch weitergegangen. Sie haben entschieden, daß ein Staat verurteilt werden kann, Zahlungen zu leisten, die in Wirklichkeit strafrechtlichem Schadensersatz gleichkommen. Bei einem vor kurzem, 1935, entschiedenen Fall zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada hat ein Schiedsgericht mit Zustimmung des amerikanischen Schiedsrichters entschieden, daß die Vereinigten Staaten verpflichtet seien, wegen Beleidigung der kanadischen Souveränität eine Summe zu zahlen, die dem strafrechtlichen Schadensersatz gleichkam. Und auf größerem Gebiet hat die Völkerbundssatzung, als sie Sanktionen vorschrieb, den Grundsatz der Durchführung des Rechts gegen kollektive Einheiten anerkannt, wobei die Durchführung, wenn notwendig, einen strafrechtlichen Charakter annehmen sollte. Daher bildet die Annahme des Grundsatzes, daß der Staat als solcher für seine verbrecherischen Taten verantwortlich ist, nichts erstaunlich Neues. Tatsächlich, wenn man von der nicht stichhaltigen Souveränitätslehre absieht, gibt es keinen rechtlichen Grund, weshalb ein Staat für die in seinem Namen begangenen Verbrechen nicht verantwortlich sein soll. Schon vor hundert Jahren weigerte sich Dr. Lushington, ein großer englischer Admiralitätsrichter, zuzugeben, daß ein Staat kein Seeräuber sein könne. Die Geschichte, die allerjüngste Geschichte, rechtfertigt nicht die Ansicht, daß ein Staat kein Verbrecher sein kann. Im Gegenteil, die unermeßlichen Möglichkeiten zum Bösen, die in diesem Zeitalter der Wissenschaft und der Organisation dem Staate innewohnen, erheischen zur Unterdrückung verbrecherischen Verhaltens noch drastischere und noch wirksamere Mittel als sie für Einzelpersonen erforderlich sind. Soweit daher dieses Statut den Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates aufgestellt hat, muß es als eine weise und weit vorausschauende Maßnahme der internationalen Gesetzgebung mit Beifall aufgenommen werden.