[Der Gerichtshof setzt die Verhandlung für 10 Minuten aus.]
SIR HARTLEY SHAWCROSS: Vor der Pause sagte ich, es könne über den Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Staates, der einen Angriffskrieg führt, kein Zweifel bestehen.
Es sei zugegeben, daß das. Gewissen vor den Härten kollektiver Strafen zurückschreckt, die die Unschuldigen ebenso treffen können wie die Schuldigen, obwohl dazu zu bemerken ist, daß die meisten dieser unschuldigen Opfer nicht gezögert hätten, im Falle des Erfolges die Früchte der verbrecherischen Tat zu ernten. Die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit werden Mittel finden, jede Ungerechtigkeit der Kollektivstrafe zu mildern. Vor allem können viele Härten abgewendet werden durch eine so geartete Gestaltung der Strafe, daß nur diejenigen Einzelpersonen getroffen werden, die für das verbrecherische Verhalten ihres Staates unmittelbar verantwortlich waren. In dieser Beziehung haben die Mächte, die dieses Statut aufstellten, einen Schritt unternommen, den die Gerechtigkeit, das gesunde Rechtsgefühl und eine aufgeklärte Auffassung vom Wohle der Menschheit ohne Kritik und ohne Einschränkung begrüßen müssen. Das Statut stellt ausdrücklich fest, daß für Verbrechen, die im Namen des Staates begangen werden, einschließlich der Verbrechen gegen den Frieden, Einzelpersonen verantwortlich gemacht werden sollen. Der Staat ist kein abstraktes Wesen, seine Rechte und Pflichten sind die Rechte und Pflichten von Menschen. Seine Handlungen sind die Handlungen von Menschen. Es ist ein heilsamer Grundsatz, ein Rechtsgrundsatz, daß es Politikern, die eine bestimmte Politik, hier die des Angriffskriegs, verfolgen, versagt sein soll, Straffreiheit zu suchen, indem sie sich hinter den nicht faßbaren Begriff des Staates verbergen. Es ist ein heilsamer Rechtssatz, daß Personen, die in rechtswidriger Weise ihr eigenes Land und andere Länder in einen Angriffskrieg stürzen, dies mit einem Strick um den Hals tun müssen.
Nach unserem eigenen Landesrecht ist es selbstverständlich, daß wir sagen, diejenigen, die beim Begehen eines Verbrechens Rat und Hilfe leisten oder es anstiften, sind selbst Verbrecher. Auch ist der Grundsatz der internationalen Verantwortlichkeit des einzelnen wegen eines Verstoßes gegen das Völkerrecht nicht völlig neu. Er ist nicht nur auf Seeräuber angewendet worden. Das gesamte Recht, das sich auf Kriegsverbrechen bezieht, die von dem Verbrechen des Krieges zu unterscheiden sind, beruht auf dem Grundsatz der Einzelverantwortlichkeit. Die Zukunft des Völkerrechts, ja die Zukunft der Welt, hängt von der Anwendung dieses Prinzips auf weit größerem Gebiete ab, insbesondere was die Gewährleistung des Friedens der Welt betrifft. Es müssen nicht nur, wie in dem Statut der Vereinten Nationen, die grundlegenden Menschenrechte, sondern auch, wie in dem Statut dieses Gerichtshofs, grundlegende Menschenpflichten anerkannt werden. Und von diesen ist keine lebenswichtiger, keine grundlegender als die Pflicht, den Völkerfrieden nicht unter Verletzung klarster rechtlicher Verbote und Verpflichtungen zu stören. Wenn das eine Neuerung darstellt, so ist es eine Neuerung, die wir bereit sind, zu verteidigen und zu rechtfertigen. Aber es ist keine Neuerung, die ein neues Verbrechen schafft; vor Schaffung des Statuts hatte das Völkerrecht bereits den Angriffskrieg als verbrecherische Tat gekennzeichnet.
Somit sind die Bestimmungen des Statuts nicht wesentlich rückwirkend. Das Statut bestimmt nur, daß diejenigen, die tatsächlich eine vom positiven Recht bereits klar und deutlich als Verbrechen gekennzeichnete Tat begangen haben, auch dafür verantwortlich gemacht werden. Es füllt eine Lücke im internationalen Strafverfahren aus. Es liegt ein sehr großer Unterschied darin, ob man zu jemandem sagt: »Du wirst jetzt für etwas bestraft werden, was gar kein Verbrechen war, als du es begingst« oder ob man ihm sagt: »Du wirst jetzt das büßen, was damals, als du es begingst, rechtswidrig und ein Verbrechen war, wenn es auch wegen der Unvollkommenheit des internationalen Rechtsapparats damals keinen zuständigen Gerichtshof gab, der dich hätte verurteilen können.« Wir befolgen diesen letzteren Weg, und wenn das als ein Gesetz von rückwirkender Kraft angesehen wird, so behaupten wir, daß es mit jener höheren Gerechtigkeit voll übereinstimmt, die in der Rechtsübung der zivilisierten Staaten der rückwirkenden Rechtsanwendung eine bestimmte Grenze gesetzt hat. Mögen die Angeklagten und ihre Vorkämpfer sich darüber beschweren, daß das Statut in dieser Hinsicht ein ex parte fiat der Sieger darstelle. Da diese Sieger die überwältigende Mehrheit der Völker der Welt bilden, vertreten sie auch den Gerechtigkeitssinn der Welt, der auf das gröblichste verletzt würde, wenn das Verbrechen der Kriegführung nach diesem zweiten Weltkonflikt unbestraft bleiben sollte. Indem diese Staaten auf diese Weise das bestehende Recht auslegen, erklären und ergänzen, sind sie gern bereit, das Urteil der Geschichte- auf sich zu nehmen. Securus judicat orbis terrarum. Soweit das Statut dieses Gerichtshofs neues Recht einführt, haben seine Schöpfer für die Zukunft einen Präzedenzfall aufgestellt, eine Präzedenz, die für alle, auch für sie selbst bindend ist. Im wesentlichen aber bestand bereits jenes Recht, das das Führen eines Angriffskriegs zum internationalen Verbrechen machte, als dieses Statut angenommen wurde. Nur wenn man die Sprache entstellt, kann man das Statut als ein Gesetz mit rückwirkender Kraft bezeichnen.
Nun verbleibt noch die Frage, mit der ich den Gerichtshof nicht lange aufhalten will, ob diese von Deutschland und seinen Führern in Verletzung von Verträgen, Vereinbarungen oder Zusicherungen geführten Kriege auch gleichzeitig Angriffskriege darstellten. Ein Angriffskrieg ist ein Krieg, der in Verletzung einer internationalen Verpflichtung, nicht zum Krieg zu schreiten, entfesselt wird; oder, im Falle, daß kein vollkommener Verzicht auf den Krieg vorliegt, ein Krieg, der unter Mißachtung der Verpflichtung, ein Verfahren zur friedlichen Regelung einzuschlagen, geführt wird. Tatsächlich bestand in dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen eine Meinungsverschiedenheit unter Juristen und Staatsmännern darüber, ob es vorzuziehen sei, den Versuch zu machen, im voraus eine rechtliche Begriffsbestimmung des Angriffs zu versuchen, oder es den beteiligten Staaten und den Kollektivorganen der internationalen Gemeinschaft zu überlassen, in jedem etwa entstehenden Fall die Tatsachen frei zu werten. Diejenigen, die letztere Ansicht vertraten, behaupteten, daß eine starre Begriffsbestimmung von einem bösgläubigen Staat mißbraucht, und seinen Angriffsplänen angepaßt werden könnte; sie befürchten, und die Britische Regierung war zeitweise dieser Ansicht, daß eine automatische Definition des Angriffs zu einer Falle für die Unschuldigen und zum Wegweiser für die Schuldigen werden könnte. Andere waren der Ansicht, daß im Interesse der Gewißheit und der Sicherheit eine Begriffsbestimmung des Angriffs, ebenso wie die landesrechtliche Begriffsbestimmung irgendeines Verbrechens, geeignet und nützlich sei. Sie erklärten, man müsse in die zuständigen politischen und richterlichen internationalen Organe das Vertrauen setzen, daß sie in jedem Einzelfall eine Definition des Angriffs vermeiden, die zu Obstruktion oder Lächerlichkeit führen könnte. Im Mai 1933 hat der Ausschuß für Sicherheitsfragen der Abrüstungskonferenz eine Definition des Angriffs vorgeschlagen, die etwa so lautete:
»Als Angreifer in einem internationalen Streitfall soll, vorbehaltlich der zwischen den Parteien bestehenden Vereinbarungen, der Staat angesehen werden, der als erster eine der folgenden Handlungen begeht:
1. Kriegserklärung an einen anderen Staat.
2. Einfall mit bewaffneten Streitkräften in das Gebiet eines anderen Staates, ob mit oder ohne Kriegserklärung.
3. Angriff durch Land-, See- oder Luftstreitkräfte, mit oder ohne Kriegserklärung, auf das Gebiet, die Schiffe oder die Luftfahrzeuge eines anderen Staates.
4. Die Seeblockade der Küsten oder Häfen eines anderen Staates.
5. Die Unterstützung von bewaffneten, im eigenen Gebiet aufgestellten Banden, die in das Gebiet eines anderen Staates eingefallen sind; oder die Weigerung, entgegen dem Ersuchen des überfallenen Staates, auf eigenem Gebiete alle irgend möglichen Maßnahmen zu treffen, um diesen Banden Schutz und Hilfe zu entziehen.«
Die verschiedenen Verträge, die im Jahre 1933 von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und anderen Staaten abgeschlossen wurden, hielten sich eng an jene Begriffsbestimmung. Das gleiche trifft auf den Konventionsentwurf zu, der im Jahre 1933 von der Regierung Seiner Majestät der Abrüstungskonferenz vorgelegt wurde. Es wäre jedoch unvorteilhaft, hier die Einzelheiten dieses Problems oder der Definition des Angriffs zu erörtern. Der Gerichtshof wird sich von seinem Ziel nicht durch Versuche abbringen lassen, hier vor Gericht einen akademischen und unter den vorliegenden Umständen völlig wirklichkeitsfremden Streit über die Natur eines Angriffskriegs zu führen; denn es gibt keine allgemeine oder besondere Begriffsbestimmung des Angriffs, die den vorbedachten Angriff Deutschlands auf die territoriale Unverletzlichkeit und die politische Unabhängigkeit so vieler souveräner Staaten nicht zur Genüge und in jeder Einzelheit unwiderlegbar deckte.
Da dies nun rechtens ist, wie es nach unserem Vorbringen vor diesem Gerichtshof der Fall ist, daß die Völker der Welt durch den Pakt von Paris den Krieg endgültig geächtet und zum Verbrechen gestempelt haben, wende ich mich jetzt den Tatsachen zu, um zu zeigen, wie diese Angeklagten unter ihrem Führer und zusammen mit ihren Genossen die großen Hoffnungen der Menschheit zunichte machten und versuchten, zur internationalen Anarchie zurückzukehren. Zunächst sei festgestellt, und die Urkunden, die wir vorlegen werden, beweisen es über jeden Zweifel hinaus, daß von dem Augenblick an, da Hitler im Jahre 1933 Reichskanzler wurde, mit dem Angeklagten von Papen als Vizekanzler und dem Angeklagten von Neurath als Außenminister, die ganze Atmosphäre der Welt sich verdüsterte. Die Hoffnungen der Menschen begannen zu schwinden. Verträge schienen nicht länger feierliche Verpflichtungen darzustellen und wurden im Gegenteil mit vollkommenem Zynismus zu dem Zweck abgeschlossen, andere Staaten über Deutschlands kriegerische Absichten zu täuschen. Internationale Konferenzen hatten nicht länger als Mittel friedlicher Regelungen zu dienen, sondern Gelegenheit zu bieten, durch Erpressung die Erfüllung von Forderungen zu erzwingen, Forderungen, die gegebenenfalls durch Krieg vergrößert werden sollten. Die Welt lernte den »Nervenkrieg« kennen, sowie die Diplomatie des fait accompli, der Erpressung und der Einschüchterung.
Im Oktober 1933 eröffnete Hitler seinem Kabinett, daß, da die vorgeschlagene Abrüstungskonvention Deutschland nicht volle Gleichheit der Rechte gewähre, »es notwendig sein würde, die Abrüstungskonferenz zu torpedieren. Von Verhandlungen könne keine Rede sein; Deutschland würde die Konferenz und den Völkerbund verlassen«. Am 21. Oktober 1933 hat Deutschland dieses Vorhaben ausgeführt und hat dadurch dem Gewebe der Sicherheit, das auf der Grundlage der Völkerbundssatzung aufgebaut worden war, einen tödlichen Riß zugefügt. Von jener Zeit an besteht die Geschichte der Außenpolitik der Nazis aus vollkommener Mißachtung internationaler Verpflichtungen, und nicht zum wenigsten solcher Verpflichtungen, die sie selbst feierlich eingegangen waren. Hitler selbst hat seinen Genossen ausdrücklich erklärt: »Vereinbarungen werden nur so lange eingehalten, als sie einem bestimmten Zweck dienen.« Er hätte hinzufügen können, daß jener Zweck immer wieder lediglich darin bestand, das vorgesehene Opfer in ein falsches Sicherheitsgefühl einzuschläfern. Dies wurde schließlich so offenkundig, daß eine Einladung des Angeklagten Ribbentrop an einen Staat, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abzuschließen, ein fast sicheres Zeichen dafür war, daß Deutschland den betreffenden Staat angreifen wollte. Es waren nicht nur formelle Verträge, die diese Leute benutzten und verletzten, wie die Umstände es gerade zweckdienlich erscheinen ließen. Diese Angeklagten stehen auch wegen Verletzung von weniger formellen Zusicherungen unter Anklage, die Deutschland nach diplomatischem Brauch gegenüber seinen Nachbarstaaten abgegeben hat. Sie werden hören, welche Art von Bedeutung Hitler selbst in aller Öffentlichkeit derartigen Zusicherungen beigemessen hat. Heute, da die Wissenschaft vorangeschritten ist, stehen der Welt Verkehrs- und Verbindungsmittel zur Verfügung, die früher unbekannt waren; und, wie Hitler selbst in seinen öffentlichen Reden ausdrücklich anerkannt hat, hängen internationale Beziehungen nicht mehr allein von Verträgen ab. Die Methoden der Diplomatie ändern sich. Der Führer einer Nation kann zur Regierung und zum Volke einer anderen Nation unmittelbar sprechen, und dieser Weg ist nicht selten von den Nazi- Verschwörern eingeschlagen worden. Obgleich sich die Methoden ändern, bleiben die Grundsätze des guten Glaubens und der Ehrenhaftigkeit, die sowohl auf nationalem als auch auf internationalem Gebiet die Grundlagen der zivilisierten Gesellschaft bilden, unverändert. Schon seit sehr langer Zeit wurde gesagt, daß jeder von uns ein Teil des anderen ist, und wenn heute die verschiedenen Staaten enger denn je verbunden sind und daher mehr als je die Bestandteile der Weltgesellschaft bilden, so ist auch mehr denn je die Notwendigkeit vorhanden, daß zwischen ihnen guter Glaube und Ehrlichkeit regieren.
Betrachten wir einmal, wie diese Angeklagten, Minister und hohe Würdenträger der Nazi-Regierung, sich einzeln und gemeinsam in diesen Angelegenheiten verhalten haben.
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 sind die bewaffneten Streitkräfte des Deutschen Reiches, unter künstlich zurechtgemachten und in jedem Fall unzulänglichen Vorwänden in Polen, entlang der ganzen Grenze, eingefallen. Hierdurch entfesselten sie den Krieg, der so viele Stützen unserer Zivilisation niederreißen sollte.
Er war ein Bruch der Haager Konventionen. Er war ein Bruch des Versailler Vertrags, der die Grenzen zwischen Deutschland und Polen festgelegt hatte. Und wie unliebsam Deutschland dieser Vertrag auch gewesen sein mochte, obgleich Hitler ausdrücklich erklärt hatte, daß er seine territorialen Bestimmungen achten würde, wie unliebsam er auch immer Deutschland gewesen sein mochte, Deutschland hatte nicht das Recht, ihn durch einseitige Handlung zu brechen. Er war ein Bruch des Schiedsvertrags zwischen Deutschland und Polen, der am 16. Oktober 1925 zu Locarno abgeschlossen worden war. Durch diesen Vertrag haben Deutschland Und Polen ausdrücklich vereinbart, daß sie alle Streitfragen, die nicht auf dem Wege des gewöhnlichen diplomatischen Verfahrens geregelt werden können, der Entscheidung eines Schiedsgerichts oder des Ständigen Internationalen Gerichtshofs überlassen würden. Der Krieg war ein Bruch des Paktes von Paris. Aber das ist nicht alles. Er war auch ein Bruch einer Verpflichtung jüngeren Datums, einer Verpflichtung Nazi-Deutschlands gegenüber Polen, die in gewisser Weise noch wichtiger war, da Hitler auf sie wiederholt großen Nachdruck gelegt hatte. Nachdem die Nazi-Regierung zur Macht gekommen war, hatten die Deutsche und die Polnische Regierung am 26. Januar 1934 einen zehnjährigen Nichtangriffspakt geschlossen. Er sollte, wie die Signatarmächte selbst erklärten, eine neue Aera der politischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland einleiten. In dem Text des Paktes selbst hieß es, daß »die Aufrechterhaltung und die Sicherung eines dauernden Friedens zwischen den beiden Ländern eine wesentliche Voraussetzung für den allgemeinen Frieden in Europa« sei. »Die beiden Regierungen sind daher entschlossen, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die im Pakt von Paris enthaltenen Grundsätze zu stützen.« Sie erklärten feierlich, daß sie »unter keinen Umständen zum Zwecke der Austragung solcher Streitfragen zur Anwendung von Gewalt schreiten« werden.
Diese Erklärung und diese Vereinbarung sollten mindestens zehn Jahre in Kraft bleiben; und auch später sollten sie in Geltung bleiben, es wäre denn, daß der Vertrag durch eine der beiden Regierungen sechs Monate vor Ablauf der zehn Jahre oder später mit einer Frist von sechs Monaten gekündigt werde. Sowohl zur Zeit des Vertragsabschlusses als auch während der folgenden vier Jahre hat Hitler öffentlich von dem Deutsch-Polnischen Abkommen so gesprochen, als wäre es der Grundstein seiner Außenpolitik. Durch den Abschluß dieses Abkommens überzeugte er viele Leute, daß seine Absichten wirklich friedlich seien, denn die Wiederauferstehung eines neuen unabhängigen Polen nach dem Kriege hatte Deutschland viel Land gekostet und Ostpreußen vom Reiche getrennt. Daß Hitler nun aus eigenem Antrieb mit Polen friedliche Beziehungen anbahnte, daß er in seinen außenpolitischen Reden die Anerkennung Polens und seines Anrechts auf einen Zugang zum Meere aussprach, sowie die Notwendigkeit für Deutsche und Polen, in Freundschaft nebeneinander zu leben – alle diese Tatsachen schienen der Welt überzeugende Beweise zu liefern, daß Hitler keine »revisionistischen« Ziele verfolge, die den Frieden Europas bedrohen würden, daß er vielmehr aufrichtig bestrebt wäre, der jahrhundertealten Feindschaft zwischen Teutonen und Slawen ein Ende zu bereiten. Wenn seine Beteuerungen, wie sie dieser Vertrag und diese Erklärungen enthalten, echt waren, so schloß seine Politik eine Erneuerung des sogenannten »Dranges nach dem Osten« aus; sie war daher geeignet, zum Frieden und zur Stabilität Europas beizutragen. Das war es, was die Menschen verführte, eben dies zu glauben. Wir werden Gelegenheit haben, zu sehen, wie wenig Wahrheit in diesen friedlichen Beteuerungen wirklich enthalten war.
Die Geschichte der verhängnisvollen Jahre von 1934 bis 1939 zeigt ganz deutlich, daß die Deutschen diesen Vertrag wie auch andere Verträge lediglich als ein Werkzeug ihrer Politik zur Förderung ihrer Angriffspläne benutzten. Aus den dem Gerichtshof vorzulegenden Urkunden geht deutlich hervor, daß diese fünf Jahre hinsichtlich der Verwirklichung der stets grundlegenden Angriffsziele der Nazi-Politik in zwei bestimmte Phasen zerfielen.
Zunächst kam der Zeitraum der Machtergreifung durch die Nazis im Jahre 1933 bis zum Herbst 1937. Das war das Vorbereitungsstadium. In diese Zeit fallen die Verstöße gegen den Versailler und Locarno- Vertrag, die fieberhafte Aufrüstung Deutschlands, die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Wiederbesetzung und Remilitarisierung des Rheinlandes, und alle jene anderen notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen für künftige Angriffe, die meine amerikanischen Kollegen dem Gerichtshof schon in so trefflicher Weise geschildert haben.
In jenem Zeitabschnitt, das heißt der Vorbereitungszeit, schläferte Deutschland Polen in ein falsches Sicherheitsgefühl ein. Nicht nur Hitler, sondern auch die Angeklagten Göring und Ribbentrop gäben Erklärungen ab, in denen sie den Nichtangriffspakt rühmten. Im Jahre 1935 sagte Göring:
»Der Pakt ist nicht für einen Zeitabschnitt von zehn Jahren gedacht, sondern für immer. Man braucht nicht die geringste Furcht zu haben, daß er nicht verlängert werden wird.«
Und obgleich Deutschland unaufhörlich an der größten Kriegsmaschine baute, die Europa je gekannt hat, und obgleich bereits im Januar 1937 die deutsche militärische Position stark und so sicher war, daß Hitler trotz der Vertragsverletzung, die er damit zugab, offenkundig von seiner starken Armee sprechen konnte, bemühte er sich doch gleichzeitig, zu erklären; ich zitiere:
»Durch eine Reihe von Vereinbarungen haben wir bestehende Spannungen beseitigt und dadurch eine bemerkenswerte Verbesserung der europäischen Atmosphäre herbeigeführt. Ich erinnere nur an die Vereinbarung mit Polen, die sich zum beiderseitigen Vorteil ausgewirkt hat.«
Und so ging es weiter: Nach außen hin Beteuerungen friedlicher Absichten; daheim »Kanonen statt Butter«.
Im Jahre 1937 ging diese Vorbereitungsperiode zu Ende, und die Nazi-Politik ging von der allgemeinen Vorbereitung für künftige Angriffshandlungen zur besonderen Planung für die Erreichung bestimmter besonderer Angriffsziele über. Zwei Urkunden insbesondere kennzeichnen diesen Wandel.
Die erste dieser Urkunden enthält »Allgemeine Richtlinien für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht«, herausgegeben im Juni 1937, am 29. Juni 1937, durch den Reichskriegsminister, damals von Blomberg, Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Dieses Dokument ist wichtig, nicht nur wegen seiner militärischen Anordnungen, sondern auch wegen der darin enthaltenen Einschätzung der europäischen Lage und der Aufdeckung der Haltung der Nazis ihr gegenüber.
»Die allgemeine politische Lage«, so erklärte von Blomberg, und ich zitiere aus der Urkunde, »berechtigt zu der Vermutung, daß Deutschland mit keinem Angriff von irgendeiner Seite zu rechnen hat. Hierfür sprechen in erster Linie neben dem fehlenden Kriegswillen bei fast allen Völkern, insbesondere bei den Westmächten, auch die mangelnde Kriegsbereitschaft einer Reihe von Staaten, vornehmlich Rußlands.«
Er fügte hinzu: »Ebensowenig besteht von seiten Deutschlands die Absicht, einen europäischen Krieg zu entfesseln«, und es mag sein, daß dieser Satz sorgfältig formuliert war; denn wie die Urkunden zeigen werden, hoffte Deutschland, Europa und vielleicht die Welt nach und nach zu erobern; es hoffte, auf einmal nur auf einer Front und nur gegen eine Macht zu kämpfen, und nicht etwa einen allgemeinen europäischen Konflikt zu entfesseln.
Aber von Blomberg fuhr fort:
»Trotzdem erfordert die politisch labile und überraschende Zwischenfälle nicht ausschließende Weltlage eine stete Kriegsbereitschaft der deutschen Wehrmacht,
a) um Angriffen jederzeit entgegenzutreten« – und doch hatte er soeben gesagt, daß kein Angriff zu befürchten sei – und
»b)« – und ich bitte den Gerichtshof wiederum, diese Ausdrucksweise zu bemerken – »um etwa sich ergebende politisch günstige Gelegenheiten militärisch ausnutzen zu können.«
Dieser Satz ist nichts anderes als eine beschönigende Beschreibung des Angriffskrieges. Er offenbart das fortgesetzte Festhalten der deutschen militärischen Führer an der Lehre, daß die Militärmacht, und wenn notwendig der Krieg, ein Werkzeug der Politik sein sollte, jener Lehre, die vom Kellogg-Pakt ausdrücklich verurteilt, und auf die durch den Pakt mit Polen und durch zahllose andere Verträge verzichtet worden war.
In der Urkunde werden dann weiter die allgemeinen Vorbereitungen aufgezählt, die in dem Mobilisierungszeitraum von 1937/38 für einen möglichen Krieg notwendig wären. Dieses Dokument ist zum mindesten ein Beweis dafür, daß die Führer der deutschen Wehrmacht im Sinne hatten, die Militärmacht, die sie aufbauten, zu Angriffszwecken zu verwenden. Es ist, so sagten sie, mit keinem Angriff von irgendeiner Seite zu rechnen. Hierfür spreche der mangelnde Kriegswille. Und doch bereiten sie sich vor, eine günstige Gelegenheit militärisch auszunutzen.
Noch viel bedeutender als Beweis für den Übergang zum planmäßigen Angriff ist das Protokoll der wichtigen Ansprache, die Hitler am 5. November 1937 in der Reichskanzlei gehalten hat. An ihr haben folgende Personen teilgenommen: von Blomberg als Reichskriegsminister, von Fritsch als Oberbefehlshaber des Heeres, Göring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Raeder als Oberbefehlshaber der Marine, und von Neurath, damals Reichsaußenminister. Das Protokoll dieser Ansprache ist schon als Beweismaterial vorgelegt worden. Ich beziehe mich jetzt nur darauf, um die Stellen hervorzuheben, die die Endabsicht, einen Angriffskrieg zu führen, offensichtlich machen. Wie Sie sich erinnern werden, war es Hitlers Hauptthese bei jener Ansprache, daß Deutschland mehr Raum in Europa brauche. Österreich und die Tschechoslowakei wurden dabei besonders in Aussicht genommen. Aber Hitler war sich darüber im klaren, daß die Eroberung dieser beiden Länder die vertraglichen Verpflichtungen Großbritanniens und Frankreichs in Aktion setzen könnte. Er war bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Sie werden sich an die Stelle erinnern:
»Daß jede Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen könne, habe die Geschichte aller Zeiten, römisches Weltreich, englisches Empire, bewiesen. Auch Rückschläge seien unvermeidbar. Weder früher noch heute habe es herrenlosen Raum gegeben; der Angreifer stoße stets auf den Besitzer. Für Deutschland lautet die Frage, wo größter Gewinn unter geringstem Einsatz zu erreichen sei.«
Im Verlauf dieser Konferenz hatte Hitler die Wahrscheinlichkeit vorausgesehen und erörtert, daß Polen in das Spiel hineingezogen werden würde, wenn die aggressiven Erweiterungsziele, die er vorbrachte, im Verlauf ihrer Durchführung durch den Nazi-Staat, einen allgemeinen europäischen Krieg hervorrufen sollten. Und wenn daher an demselben Tag, an dem jene Ansprache stattfand, Hitler zum Polnischen Botschafter vom großen Wert des Paktes von 1934 mit Polen sprach, so kann man nur daraus schließen, daß sein wirklicher Wert in Hitlers Augen darin bestand, Polen ruhig zu halten, bis Deutschland eine derartige territoriale und strategische Stellung erreicht haben würde, daß Polen keine Gefahr mehr darstellte. Diese Auffassung wird durch die darauffolgenden Ereignisse bestätigt. Im Februar 1938 vollzog sich der Wandel von den Angriffsvorbereitungen der Nazis zur tätigen Angriffshandlung selbst. Er war durch die Einsetzung Ribbentrops an Neuraths Stelle als Außenminister, und Keitels an Stelle von Blomberg als Chef des OKW, gekennzeichnet. Die ersten Ergebnisse waren die Einschüchterung Schuschniggs in Berchtesgaden am 12. Februar 1938 und die erzwungene Eingliederung Österreichs im März. Danach wurde der Plan »Grün« zur Zerstörung der Tschechoslowakei in der Art, wie Sie ihn gestern gehört haben, ständig weiterentwickelt, der Plan, der zum Teil durch das Münchener Abkommen vereitelt, oder dessen endgültige Durchführung dadurch zumindest verzögert worden war.
Diese Gesichtspunkte, diese Entwicklungen der Angriffshandlungen der Nazis, sind bereits von meinen amerikanischen Kollegen besprochen worden. Aber es liegt auf der Hand, daß die Erwerbung dieser beiden Länder, ihrer Menschenreserven und ihrer Hilfsmittel für die Erzeugung von Kriegsmaterial, die Lage Deutschlands gegenüber Polen ungeheuer verstärkt haben. Und es ist daher vielleicht nicht überraschend, genau wie der Angeklagte Göring dem Tschechoslowakischen Gesandten in Berlin zur Zeit des Nazi-Einfalls in Österreich versicherte, Hitler erkenne die Gültigkeit des deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrags von 1925 an, und Deutschland führe nichts gegen die Tschechoslowakei selbst im Schilde. Sie erinnern sich an die Worte des Angeklagten Göring:
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.« Genau wie das nicht überraschend ist, so ist es desgleichen vielleicht nicht überraschend, daß man während des Jahres 1938 gegenüber Polen immer wieder Zusicherungen abgab, damit sich dieses Land jeder Einmischung in die Nazi-Angriffe auf Polens Nachbarn enthalte.
Am 20. Februar 1938, kurz vor dem Einfall in Österreich, erlaubte sich Hitler, mit Bezug auf den vierten Jahrestag des Polenpaktes, in einer Reichstagsrede folgendes zu sagen; ich zitiere:
»So gelang es, den Weg für eine Verständigung zu ebnen, die, von Danzig ausgehend, heute trotz des Versuches mancher Störenfriede das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen endgültig zu entgiften und in ein aufrichtig freundschaftliches Zusammenarbeiten zu verwandeln vermochte... Deutschland wird jedenfalls, gestützt auf seine Freundschaften, nichts unversucht lassen, um jenes Gut zu retten, das die Voraussetzung für jene Arbeiten auch in der Zukunft abgibt, die uns vorschweben: den Frieden.«
Fast noch auffallender sind die herzlichen Hinweise auf Polen, die in Hitlers am 26. September 1938 im Berliner Sportpalast gehaltener Rede vorkommen:
»Das schwierigste Problem, das ich vorfand, war das deutsch-polnische Verhältnis. Es bestand die Gefahr, daß die Vorstellung einer ›Erzfeindschaft‹ von unserem wie auch vom polnischen Volke Besitz ergreifen würde. Dem wollte ich vorbeugen. Ich weiß genau, daß es mir nicht gelungen wäre, wenn Polen damals eine demokratische Verfassung gehabt hätte. Denn diese Demokratien, die von Friedensphrasen triefen, sind die blutgierigsten Kriegshetzer. In Polen herrschte nun keine Demokratie, sondern ein Mann! Mit ihm gelang es, in knapp einem Jahr ein Übereinkommen zu erzielen, das zunächst für die Dauer von zehn Jahren grundsätzlich die Gefahr eines Zusammenstoßes beseitigte. Wir alle sind überzeugt, daß dieses Abkommen eine dauernde Befriedung mit sich bringen wird. Wir sehen ein, daß wir zwei Völker sind, die nebeneinander leben müssen, und von denen keines das andere beseitigen kann. Ein Staat von 33 Millionen Menschen wird immer nach einem Zugang zum Meere streben. Es mußte daher ein Weg zur Verständigung gefunden werden. Er ist gefunden worden und wird immer weiter ausgebaut. Das Entscheidende ist, daß die beiden Staatsführungen und alle vernünftigen und einsichtigen Menschen in beiden Völkern und Ländern den festen Willen haben, das Verhältnis immer mehr zu bessern. Es war eine wirkliche Friedenstat, die mehr wert ist als das ganze Geschwätz im Genfer Völkerbundspalast.«
Und so gingen der Annektierung Österreichs Schmeicheleien an Polen voraus und erneute Schmeicheleien gegenüber Polen gingen auch den Plänen zur Annektierung der Tschechoslowakei voran. Die wirklichen Tatsachen, die sich hinter dem äußeren Ausdruck guten Willens verbargen, gehen deutlich aus den Urkunden über den Fall »Grün« hervor, die dem Gerichtshof bereits vorliegen. Sie zeigen, daß sich Hitler der Gefahr völlig bewußt war, Polen, England und Frankreich könnten in einen Krieg verwickelt werden, um die deutsche Annektierung der Tschechoslowakei zu verhindern, daß er aber dieses erkannte Risiko trotzdem in Kauf nahm. Am 25. August 1938 ergingen sehr geheime Befehle an die deutsche Luftwaffe in Bezug auf die gegen England und Frankreich zu unternehmenden Operationen, wenn diese Länder intervenieren sollten. Diese Befehle bestimmten, daß der französisch-tschechoslowakische Vertrag nur für den Fall eines »unprovozierten« Angriffs Hilfeleistung vorsah; infolgedessen dürfte es ein oder zwei Tage dauern, ehe Frankreich und England – und ich vermute wohl auch deren Rechtsberater – imstande wären, zu entscheiden, ob dieser Angriff vom rechtlichen Standpunkt aus unprovoziert war oder nicht; folgerichtig sei deshalb ein Blitzkrieg das zu erstrebende Ziel, bevor Frankreich oder England irgendwie wirksam eingreifen könnten.
Am selben Tag wurde eine Denkschrift an die Luftwaffe über ihre künftige Organisation ausgegeben. Dieser war eine Landkarte beigegeben, auf der die Baltischen Staaten, Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen als Teile des Deutschen Reiches erschienen, und Vorbereitungen zur Vergrößerung der Luftwaffe – ich zitiere: »mit dem Anwachsen des Reichsgebiets« – ebenso erörtert wurden, wie Vorbereitungen zu einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland. Am darauffolgenden Tage wurde ein Ausspruch von Ribbentrop über die Reaktion Polens auf das tschechoslowakische Problem protokolliert; ich zitiere:
»Die Tatsache, daß nach der Liquidierung der tschechoslowakischen Frage allgemein angenommen wird, daß Polen an die Reihe kommen würde, ist unleugbar.«
Das wird also erkannt, aber es wird weiter erklärt:
»Je später diese Annahme Gewißheit wird, desto besser.«
Ich will einen Augenblick beim Tag des Münchener Abkommens stehen bleiben und den Gerichtshof bitten, sich das, was durch Urkunden und historische Tatsachen bis zu dem Tag erwiesen ist, in die Erinnerung zurückzurufen. Unleugbar ist danach sowohl das Bestehen des Angriffswillens bei den Nazis als auch die Tatsache, daß aktive und wirksame Angriffshandlungen unternommen wurden. Nicht nur ersieht man aus der Ansprache von 1937, daß Hitler und seine Genossen die Erwerbung Österreichs und der Tschechoslowakei, wenn notwendig durch Krieg, kaltblütig überlegten, sondern die erste dieser Operationen war im März 1938 bereits durchgeführt; im September 1938 wurde die zweite Operation zum großen Teil sichergestellt, und zwar mit der Drohung eines Krieges, einer Drohung, die, wie wir heute erkennen, mehr war als ein Bluff, eine Drohung, tatsächlich Krieg zu führen, wenn es auch nicht nötig wurde, den Krieg damals wirklich zu entfesseln. Und was noch ominöser war, Hitler hatte dargetan, daß er an den alten Lehren von »Mein Kampf« festhielt, diesen so eindrucksvollen Doktrinen, auf deren Darlegung in »Mein Kampf«, dem Buch, das lange Zeit als die Bibel der Nazi-Partei galt, wir Ihre Aufmerksamkeit hinsichtlich bestimmter Stellen lenken wollen. Zu dieser Zeit zeigte Hitler ganz klar nicht nur seinen Genossen, sondern in der Tat der ganzen Welt, daß er »Lebensraum« suchte und entschlossen war, ihn durch Gewaltandrohung zu erlangen, oder wenn die Gewaltandrohung fehlschlagen sollte, tatsächlich durch Gewalt selbst, nämlich durch den Angriffskrieg.
Bis dahin war der eigentliche Krieg vermieden worden, und zwar wegen der Friedensliebe, der mangelnden Vorbereitung, der Geduld, der Feigheit, nennen Sie es, wie Sie wollen, der demokratischen Mächte. Nach München aber wurden die Gemüter aller denkenden Menschen in sehr großer Sorge von der Frage bewegt: »Wie wird dies alles enden? Ist Hitler jetzt wirklich befriedigt, wie er selbst erklärt hat? Oder wird sein Streben nach Lebensraum zu weiteren Angriffshandlungen führen, selbst wenn er, um sein Ziel zu erreichen, zu einem offenen Angriffskrieg übergehen muß?«
Die Antwort auf diese Fragen sollte im Zusammenhang mit der Rest-Tschechoslowakei und mit Polen erteilt werden. Bis dahin, bis zu der Zeit des Münchener Abkommens, war keine unmittelbare Drohung gegenüber Polen ausgesprochen worden. Die beiden Urkunden, aus denen ich soeben zitiert habe, zeigen ja, daß hohe Offiziere im Stabe der Luftwaffe des Angeklagten Göring die Erweiterung des Reichsgebietes und, wie es scheint, die Zerstörung und Einverleibung Polens bereits als beschlossene Sache betrachteten. Sie nahmen sogar schon das letzte Stadium der in »Mein Kampf« entwickelten Hitler-Politik vorweg, nämlich die Zerstörung Frankreichs und die Gewinnung von Lebensraum in Rußland, und der Schreiber des auf Ribbentrop bezüglichen Protokolls nahm es bereits als gegebene Tatsache an, daß nach der Tschechoslowakei Polen angegriffen werden würde. Noch bedeutsamer aber als diese beiden Urkunden ist die Tatsache, daß, wie ich bereits gesagt habe, in jener Konferenz vom 5. November 1937 der Krieg mit Polen vollkommen kühl und gelassen in Aussicht gestellt worden war für den Fall, daß Polen es wagen sollte, dem deutschen Angriff gegen die Tschechoslowakei Hindernisse in den Weg zu legen, wobei die Nazi-Führer bereit waren, das Risiko auf sich zu nehmen. Auf dieselbe Art war das Risiko eines Krieges gegen England und Frankreich, und zwar unter den gleichen Umständen, erwogen und angenommen worden. Wie ich schon erwähnte, wäre ein solcher Krieg von Deutschlands Seite aus natürlich ein Angriffskrieg gewesen, und sie planten auch einen Angriffskrieg, denn einen Staat zu zwingen, zu den Waffen zu greifen, um einen anderen Staat gegen Angriffe zu verteidigen, mit anderen Worten, seine Vertragsverpflichtungen zu erfüllen, bedeutet unzweifelhaft einen Angriffskrieg gegen den ersten Staat. Aber trotz dieser Pläne, trotz dieser hinter den Kulissen bestehenden Absichten, muß erneut festgestellt werden, daß bis zum Tage des Münchener Abkommens die Entscheidung, Polen unmittelbar anzugreifen und es durch einen Angriffskrieg zu zerstören, von Hitler und seinen Genossen anscheinend noch nicht getroffen worden war.
Ich will mich jetzt mit dem Übergang von der Absicht und der Vorbereitung zum Angriffskrieg, die in Bezug auf die Tschechoslowakei offensichtlich waren, zur eigentlichen Einleitung und Führung des Angriffskrieges gegen Polen befassen. Jener Übergang nahm die elf Monate vom 1. Oktober 1938 bis zum eigentlichen Überfall auf Polen am 1. September 1939 in Anspruch.
Innerhalb von sechs Monaten nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens hatten die Nazi- Führer den Rest der Tschechoslowakei besetzt, obgleich sie ihre Bereitschaft, gerade diesen Rest zu garantieren, durch dieses Abkommen kundgetan hatten. Am 14. März 1939 wurden der alte, kränkliche Präsident der Rumpf-Tschechoslowakei, Hacha, und sein Außenminister nach Berlin gerufen. In einer Sitzung, die zwischen 1 Uhr und 2.15 Uhr, also in den frühen Morgenstunden des 15. März, in Gegenwart von Hitler und der Angeklagten Ribbentrop, Göring und Keitel stattfand, wurden sie eingeschüchtert und bedroht, und man erklärte ihnen sogar rundweg, daß Hitler »Befehle zum Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei und zur Einverleibung der Tschechoslowakei ins Deutsche Reich erlassen hätte«.
Es wurde ihnen ganz deutlich auseinandergesetzt, daß jeder Widerstand nutzlos wäre und »durch Waffengewalt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln« gebrochen werden würde. Auf diese Weise wurde das Protektorat Böhmen und Mähren gegründet und die Slowakei in einen deutschen Satellitenstaat verwandelt, der dem Namen nach allerdings ein unabhängiger Staat sein sollte. So erwarben die Deutschen durch ihre eigene einseitige Handlung, unter Vorwänden, die keinen Schein von Gültigkeit hatten, ohne Erörterung mit der Regierung irgendeines anderen Landes, ohne Vermittlung, und in direktem Widerspruch zu Sinn und Geist des Münchener Abkommens das, worauf sie seit September des vorhergehenden Jahres, ja sogar viel früher hingezielt hatten. Damals hatten sie sich nicht für fähig gehalten, dieses Ziel vollkommen zu erreichen, ohne ihre Angriffsabsichten zu deutlich werden zu lassen. Der einmal erfolgreich durchgeführte Angriff erhöhte den Appetit auf künftige Angriffe. Es wurden Proteste erhoben. England und Frankreich sandten diplomatische Noten. Selbstverständlich wurden Proteste erhoben. Die Nazis hatten ihre Karten aufgedeckt. Bisher hatten sie vor der Außenwelt geheimgehalten, daß ihre Ansprüche darüber hinausgingen, deutschstämmige, in den Grenzländern lebende Personen ins Reich zurückzuführen. Jetzt zum erstenmal rissen sie ihren feierlichen, gegenteiligen Zusicherungen zum Hohne, nicht-deutsches Gebiet und nicht-deutsche Bevölkerung an sich. Diese Erwerbung der gesamten Tschechoslowakei, zusammen mit der ebenso widerrechtlichen Besetzung des Memellandes am 22. März 1939, führte zu einer ungeheuren Stärkung der deutschen Lage, sowohl in politischer als auch in strategischer Hinsicht, genau wie Hitler es vorausgesagt hatte, als er bei jener Konferenz im November 1937 die Angelegenheit besprach.
Aber schon lange vor der Vollendung des Angriffs der Nazi-Führer auf die Tschechoslowakei hatten diese angefangen, Forderungen an Polen zu stellen. Am 25. Oktober 1938, weniger als einen Monat nach Hitlers beruhigender Rede über Polen, auf die ich bereits Bezug genommen habe, und nur einen Monat nach dem Münchener Abkommen, berichtete Herr Lipski, der Polnische Botschafter in Berlin, an den Polnischen Außenminister Herrn Beck, daß der Angeklagte Ribbentrop bei einem Mittagessen am Tage vorher, nämlich am 24. Oktober 1938, Forderungen in Bezug auf die Wiedervereinigung Danzigs mit dem Reich gestellt habe, ebenso wegen des Baues einer exterritorialen Autobahn und Eisenbahnlinie durch Pomorze, die Provinz, welche die Deutschen den »Korridor« nennen. Von diesem Augenblick an bis zu dem Zeitpunkt, da die Polnische Regierung klarstellte, wie sie es gelegentlich eines Besuchs des Angeklagten Ribbentrop in Warschau im Januar 1939 getan hatte, daß sie nicht darin einwilligen würde, Danzig der deutschen Souveränität zu überlassen, dauerten die Verhandlungen über diese deutschen Forderungen an. Und sogar nach der Rückkehr Ribbentrops aus Warschau hielt es Hitler für angebracht, in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 zu sagen:
»In diesen Tagen jährt sich zum fünftenmal der Abschluß unseres Nichtangriffspaktes mit Polen. Über den Wert dieser Vereinbarung gibt es heute unter allen wirklichen Friedensfreunden wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit. Man braucht sich nur die Frage vorzulegen, wohin vielleicht Europa gekommen sein würde, wenn diese wahrhaft erlösende Abmachung vor fünf Jahren unterblieben wäre. Der große polnische Marschall und Patriot hat seinem Volk damit einen genau so großen Dienst erwiesen, wie die nationalsozialistische Staatsführung dem deutschen. Auch in den unruhigen Monaten des vergangenen Jahres war die deutsch-polnische Freundschaft eine der beruhigenden Erscheinungen des europäischen politischen Lebens.«
Aber diese Äußerung war das letzte freundliche Wort Deutschlands an Polen, und es war die letzte Gelegenheit, bei der die Nazi-Führer das deutsch-polnische Abkommen mit Zustimmung erwähnten. Im Laufe des Februar 1939 hörte man nichts mehr von den deutschen Forderungen an Polen. Aber sobald die endgültige Einverleibung der Tschechoslowakei vollzogen war und Deutschland auch Memel besetzt hatte, wurde der Nazi-Druck auf Polen sofort wieder aufgenommen. In zwei Besprechungen zwischen ihm und dem Angeklagten Ribbentrop, die am 21. und 26. März mit dem Polnischen Botschafter stattfanden, wurden die deutschen Forderungen an Polen von neuem nachdrücklich gestellt. Angesichts des Schicksals der Tschechoslowakei und angesichts der ernsten Verschlimmerung der strategischen Lage Polens gegenüber Deutschland, ist es nicht verwunderlich, daß die Polnische Regierung durch die damaligen Entwicklungen in Alarmzustand versetzt wurde. Sie war es auch nicht allein. Die Ereignisse des März 1939 hatten endlich die Englische sowie die Französische Regierung überzeugt, daß die Angriffspläne der Nazis sich nicht auf deutschstämmige Menschen beschränkte, und daß das Gespenst eines aus weiteren Angriffshandlungen Nazi-Deutschlands entstehenden europäischen Krieges nun doch durch das Münchener Abkommen nicht gebannt worden war.
Als Folge der Besorgnis Polens, Englands und Frankreichs wegen der Ereignisse in der Tschechoslowakei und wegen des von neuem angewandten Druckes auf Polen fanden zwischen der Englischen und der Polnischen Regierung Besprechungen statt. Am 31. März 1939 erklärte Neville Chamberlain in einer Unterhausrede, daß die Regierung Seiner Majestät die Zusicherung gegeben habe, sie würde Polen zu Hilfe kommen, sollte eine Handlung begangen werden, die die polnische Unabhängigkeit eindeutig bedrohe, und der entsprechend sich zu widersetzen die Polnische Regierung für lebenswichtig erachte. Am 6. April 1939 wurde ein englisch-polnisches Kommuniqué ausgegeben, in dem es hieß, daß die beiden Staaten bereit seien, ein dauerndes und auf Gegenseitigkeit beruhendes Abkommen abzuschließen, das die gegenwärtige, vorläufige und einseitige, von der Regierung Seiner Majestät abgegebene Zusicherung ersetzen sollte.
Es ist nicht schwer, die Rechtfertigung für die Besorgnis der demokratischen Mächte zu finden. Aus dem jetzt in unserer Hand befindlichen Beweismaterial über das, was sich bei den Beratungen im Deutschen Reich und bei der Wehrmacht in diesen Monaten abspielte, geht deutlich hervor, daß die Deutsche Regierung entschlossen war, ganz Polen zu besitzen, und daß Danzig, wie Hitler selbst etwa einen Monat später erklärte, »nicht das Objekt war, um das es ging«. Die Nazi-Regierung hatte sich zum Angriff entschlossen, und die Forderungen und Verhandlungen in Bezug auf Danzig sollten nur als Deckung und Vorwand für weitere Herrschaftsgelüste dienen.
Wäre das eine geeignete Stelle zur Unterbrechung?
VORSITZENDER: Die Sitzung wird bis 2 Uhr vertagt.